In memoriam Joost Zwagerman

Zeitgenössische Romane brauchen kein Nachwort, es sei denn, es liegen besondere Umstände vor. Kurz nachdem mit Joost Zwagerman und seinem niederländischen Verlag die Übersetzung seiner 2010 erschienenen Novelle Duel ins Deutsche vereinbart worden war, erreichte uns am 8. September 2015 die Nachricht, daß Joost seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Daß eine schwierige Zeit hinter ihm lag und er an einer schweren Depression erkrankt war, hatte er 2012 selbst öffentlich gemacht und dabei versichert, er sei nun auf dem Wege der Besserung. Mit Joost Zwagerman verlor die niederländische Literatur einen der produktivsten und den vielleicht vielseitigsten Autor seiner Generation.

Mitte der achtziger Jahre machte in der niederländischen Literatur eine Gruppe von jungen Dichtern von sich reden, die das, was so an Poesie veröffentlicht wurde, zu unambitioniert fand. Ein Manifest erschien, und die Gruppe nannte sich die »Maximalen«. Wie so oft verpuffte der erste Elan recht bald, doch der Name von Joost Zwagerman tauchte immer häufiger auf. Spätestens nach der Veröffentlichung seines ersten Romans De houdgreep (1986), den die Kritik als »das vielversprechendste Debüt seit Jahren« feierte, galt Zwagerman als großes Talent. Bereits in dieser Geschichte über zwei junge Liebende zeigt der Autor, daß er es versteht, glaubwürdige Figuren in einer realistisch dargestellten Lebenswelt agieren zu lassen und dabei erzählend über die Bedingungen des Daseins in einer modernen Gesellschaft zu reflektieren. Danach veröffentlichte Zwagerman einen Band mit Erzählungen (Kroondomein, 1987) und zwei Bände mit Gedichten (Langs de doofpot, 1987 und De ziekte van jij, 1988), die ebenfalls sehr gut besprochen wurden.

Joost (eigentlich: Johannes Jacobus Willebrordus) Zwagerman wurde am 18. November 1963 in Alkmaar in eine Lehrerfamilie hineingeboren. Nach Beendigung seiner Schullaufbahn strebte er ebenfalls den Beruf des Lehrers an, studierte aber nebenher auch noch niederländische Sprache und Literatur. Dieses Studium brach er jedoch ab, um sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Er heiratete eine Jugendfreundin und bekam mit ihr drei Kinder. Der Durchbruch zum großen Leserpublikum gelang ihm 1989 mit Gimmick!, einem Roman über eine Gruppe von Künstlern in Amsterdam, der Stadt, in der er seit 1984 lebte. In der Folgezeit entwickelte Zwagerman eine rege künstlerische und publizistische Aktivität. In rascher Folge erschienen die Romane Vals licht (1991; dt. Falsches Licht, 1995), De buitenvrouw (1994; dt. Die Nebenfrau, 2000), Chaos en rumoer (1997; dt. Kunstlicht, 2002), Zes sterren (2002; dt. Onkel Siem und die Frauen, 2005) sowie der Erzählungsband Het jongensmeisje (1998) und die Novellen Tomaatsj (1996) und Duel (2010). Vals licht – der Roman erreichte wie Gimmick! eine Auflage von 200.000 Exemplaren – wurde für den bedeutenden AKO Literaturpreis nominiert und 1993 verfilmt. Noch erfolgreicher war De buitenvrouw mit 300.000 Exemplaren. Joost Zwagerman war Ende des vorigen Jahrhunderts so bekannt und populär in den Niederlanden, daß ein großer Lebensversicherer ihn als Werbeträger engagierte! Ein Schriftsteller, der Werbung macht, das wurde von manchen durchaus als Tabubruch empfunden.

In den Jahren 2003 und 2004 übernahm er die Moderation der traditionsreichen Talkshow Zomergasten, die in den Niederlanden alljährlich im Sommer fünf-, sechsmal ausgestrahlt wird und in der jeweils ein Gast interviewt wird. Im Mittelpunkt seiner letzten Sendung am 29. August 2004 stand Ayaan Hirsi Ali, die in der Sendung ihren zusammen mit dem Regisseur Theo van Gogh produzierten Kurzfilm Submission erstmals öffentlich zeigte. Mit dem Film protestierte Hirsi Ali gegen die, ihrer Ansicht nach, in islamischen Familien häufiger vorkommende und vom Koran legitimierte Gewalt gegen Frauen. Der Film sorgte für große Aufregung, vor allem im muslimischen Teil der Bevölkerung. Ayaan Hirsi Ali, die damals Abgeordnete im niederländischen Parlament war, erhielt Morddrohungen und mußte untertauchen. Theo van Gogh wurde gut zwei Monate später von einem radikalen Moslem in Amsterdam ermordet. Nachdem der Täter acht Kugeln auf van Gogh abgefeuert hatte, heftete er mit einem Messer einen an Hirsi Ali gerichteten Drohbrief an die Leiche.

Bereits in den neunziger Jahren waren drei Bände mit Essays erschienen. Das betrachtende Schreiben nahm einen immer größeren Raum in Zwagermans Werk ein. Auf den im Jahr 2000 erschienen Band Pornotheek Arcadië folgten fünfzehn weitere Bücher, in ­denen Zwagerman sich mit – insbesondere angelsächsischer – Literatur, Popmusik, Photographie, Film und und vor allem der Kunst auseinandersetzt. Aber auch in aktuelle politische Diskussionen mischte Joost Zwagerman sich ein. So erschien 2007 eine Schrift, in der er die Krise der niederländischen Sozialdemokratie analysiert und ihr empfiehlt, sich wieder auf die politischen Ziele zu konzentrieren, die sie groß gemacht haben: soziale Gerechtigkeit und Teilhabe.

Die Beschäftigung mit Kunst findet ihren Niederschlag auch in der vorliegenden Novelle, in der Zwagerman überaus subtil Realität und Fiktion vermischt. Dabei nimmt er die Ende 2003 aus bautechnischen Gründen von der Feuerwehr verfügte Schließung des Stedelijk Museums in Amsterdam zum Ausgangspunkt für eine beinahe schon groteske, sich um ein fiktives Gemälde von Mark Rothko drehende Vertauschungs­geschichte. Mit feiner Ironie schildert er die Kunst- und Museumswelt und beleuchtet erzählend grundlegende Probleme der modernen Kunst. Zentral steht dabei gewiß die Frage nach dem Stellenwert eines Originals, doch auch die Frage nach dem Verhältnis von Marktwert und ästhetischem Wert von Kunst sowie der Anspruch und die Erwartung, daß Kunst immer wieder Grenzen verschieben muß, werden angesprochen, ohne daß das Buch jemals theorielastig ist. Ein wenig im Schatten dieses vor Geistesfunken nur so sprühenden Textes steht die melancholisch angehauchte, nicht realisierte Liebesgeschichte zwischen Jelmer Verhooff und Emma Duiker, die wie die zwei Königskinder des Kunstbetriebs nicht zueinanderkommen können.

Und ein weiteres Thema tauchte in den Texten, die Zwagerman nach der Jahrtausendwende veröffentlichte, immer wieder auf: der Suizid. Äußere Anlässe dafür waren die chronischen Depressionen und die daraus folgenden Selbsttötungsversuche eines engen Freundes sowie der gescheiterte Suizid des eigenen Vaters. In seinem 2002 erschienenen Roman Zes sterren führt Justus Merkelbach die Zeitschrift seines Onkels und Mentors Siem fort, der durch eigene Hand aus dem Leben geschieden ist. Wie die anderen Hinterbliebenen ist Justus zwischen Trauer und Wut, Scham und Verständnislosigkeit hin und her gerissen. In Zwagermans Essayband Het vijfde seizoen (2003) beschäftigte sich eine Reihe von Texten damit, wie Depressionen entstehen, wie sie sich auswirken, ob es eine ererbte Veranlagung zum Suizid gibt und ob Künstler besonders gefährdet sind. Im Jahr 2005 widmete er dem Thema mit Door eigen hand. Zelfmoord en de nabestaanden (Durch eigene Hand. Selbstmord und die Hinterbliebenen) ein ganzes Buch, in dem immer wieder betont wird, welch schwere Belastung es für Angehörige und Freunde darstellt, wenn sich jemand das Leben nimmt oder es zumindest versucht. Joost Zwagerman fühlte sich erblich vorbelastet, und in seinem Buch heißt es: »Mein Freund und mein Vater begaben sich auf ein Terrain, um das ich einen hohen Zaun ziehe. Aber ich würde lügen, wenn ich sage, dieses Terrain ist mir vollkommen unbekannt.«

Dann kam das Jahr 2011, das Zwagerman in einem Interview mit der Journalistin Sara Berkeljon als das »Katastrophenjahr« bezeichnet hat. Zwagermans Ehe scheiterte, und er, der sich immer als ausgesprochener Familienmensch gefühlt hatte, empfand dies als größte Niederlage seines Lebens. Er zog in den kleinen, nördlich von Alkmaar gelegenen Ort Tuitjenhorn, wo er ein Ferienhaus bewohnte. Der Dorfarzt, den er wegen einer Bagatelle konsultierte, diagnostizierte eine schwere klinische Depression und verordnete ihm eine Therapie. 2012 glaubte er die Krankheit überwunden zu haben. Er zog nach Haarlem in ein »Normale-Leute-Haus«, er lebte wieder in einer festen Beziehung, schrieb für eine große Zeitung über Kunst und war regelmäßig gerngesehener Gast einer populären Talkshow, wo er ebenfalls meist über Kunst sprach. Im Sommer 2015 wurde bekannt, daß Zwagerman, der seit 1986 einunddreißig Bücher im Verlag De Arbeiderspers veröffentlicht hatte, den Verlag wechseln wollte. In einem Telefongespräch, das ich mit ihm wegen der Übersetzung von Duel führte, kündigte er an, in den beiden kommenden Jahren zwei neue Romane schreiben zu wollen. Am 8. September 2015 erschien sein neuer Essayband De Stilte van het Licht. Zwagerman war eingeladen, in einer Radiosendung über sein Buch zu sprechen. Er kam nicht. Bald darauf wurde bekannt, daß er sich in seiner Wohnung in Haarlem das Leben genommen hatte. In einem Werbetext zu seinem letzten Essayband heißt es: »Vielleicht verkörpert Stille in der Kunst die Sehnsucht, nicht mehr zu sein. Diese Sehnsucht ist in ›Die Stille des Lichts‹ Zwagermans Antrieb.« Am Ende war diese Sehnsucht vielleicht auch stärker als alles, was Kunst und Leben bieten können.

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Über das Buch

Was passiert, wenn die Faust des ­Museumsdirektors ein 30 Millionen Euro teures Gemälde durchschlägt?

 

Diese Frage beantwortet Joost Zwagerman in seiner 2010 in Holland erschienenen Novelle. Es geht dabei um ein (fiktives) Werk von Mark Rothko, das von einer Konzeptkünstlerin entführt wurde. Die meisterhafte Satire auf den Kunstbetrieb erreichte in Holland eine Auflage von 960.000 Exemplaren.

 

Über den Autor

Joost Zwagerman (1963–2015) war einer der bedeutendsten niederländischen Autoren, er schrieb Lyrik, Romane und Essays. Vor Duell erschienen bereits vier Romane in deutscher Übersetzung.

 

Gregor Seferens (*1964) übersetzt seit vielen Jahren aus dem Nieder­ländischen, u. a. Harry Mulisch, Louis Paul Boon, Maarten t’Hart, Geert Mak. Er lebt in Bonn.

 

Joost Zwagerman

 

Duell

 

Novelle

 

Aus dem Niederländischen
und mit einem Nachwort
von Gregor Seferens

 

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

 

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2016

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe, »Duel«, erschien 2010 bei De Arbeiderspers, Amsterdam. © 2010 Joost Zwagerman.

Wir danken der niederländischen Stiftung für Literatur für die Förderung der Übersetzung.

Printausgabe: © Weidle Verlag 2016

Lektorat: Kim Keller

Korrektur: Nele Kather, Hendrik Vatheuer

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: August 2016

ISBN 9783959880534

Prolog

Verdammt, die Hand, die Faust! Jelmer Verhooff sah auf die zerrissene Leinwand und spürte, daß tief in seinem Inneren ein kleiner Knirps aufzustehen versuchte, der nach seiner Mutter rief. Nun ja, ein kleiner Knirps. Ein Junge. Ein großer Kerl. Ein großer Kerl von neun Jahren, der beim Schulschwimmen endlich den Kopfsprung gelernt hatte und am Ende dieser Schwimmstunde, während der letzten zehn Minuten des »freien Schwimmens« und vor den Augen all seiner Klassenkameraden, furchtlos auf das hohe Sprungbrett stieg. Fast sechs Meter hoch. Er wollte der ganzen Welt zeigen, wer er war.

Der große Kerl stieß sich mit den Fußballen ab – und von dem Moment an, als seine Füße vom Sprungbrett federten und er das Wasser auf sich zukommen sah, wußte er, daß er einen fürchterlichen Fehler gemacht hatte. Wie ein Versorgungssack, der aus nicht geringer Höhe aus einem Hubschrauber geworfen wird, fiel der große Kerl senkrecht in die Tiefe. Als er mit dem Bauch auf der Wasseroberfläche landete, brannte seine Haut sofort lichterloh. Sobald er unter Wasser war (immer noch brennend), sah und hörte er nichts mehr, und der große Kerl wünschte, er würde nie wieder auftauchen. Am Beckenrand stand natürlich die ganze Klasse, achtundzwanzig Schüler mit Stielaugen, die nicht wagten zu lachen – das taten sie erst später, im blau-weiß gefliesten Umkleideraum und im Bus zurück zur Schule, und dieses Lachen sollte das ganze Schuljahr anhalten, ein Tornado aus Gejohle und Gekicher.

Doch zuerst waren da die Hände, die er auf dem Rücken und in der Taille spürte. Wie sich zeigte, war der Bademeister ihm mit Kleidern und allem hinterhergesprungen und lotste ihn mit fester Hand zum Beckenrand. Prusten, husten, schlucken, heulen. Der große Kerl mußte auf dem Rücken liegen bleiben, auf den kalten Fliesen. Er wurde beklopft und befingert, der Bademeister in seinem durchweichten Shirt hielt die ganze Zeit mit einer Hand seinen Nacken.

Als er endlich aufstehen durfte und schwankend auf den Beinen stand, sah er, daß seine Lehrerin, die herbeigeeilt war, schreckensbleich auf seine Oberschenkel und den Bauch starrte. »Mensch, Junge ...« Frau Vreugdehil trug blaue Plastiktüten um ihre Schuhe, eine Art Bademütze für Füße.

Sein Bauch war knallrot. Vielleicht, dachte er, geht die Farbe nie wieder weg. Sein Gesicht brannte am stärksten. Die Lehrerin hatte sich über ihn gebeugt und streichelte ihm mit beiden Händen das Haar – auch das noch! Diese Geste war der Gnadenstoß; die Hände von Frau Vreugdehil waren die geschweiften Klammern um seine Erniedrigung.

In den Tagen nachdem seine Hand, halb zur Faust geballt, die Leinwand berührt hatte, mußte Verhooff des öfteren an jenen Nachmittag im Schwimmbad denken. Aber konnte man die beiden Situationen wirklich miteinander vergleichen? Was kostete Chlorwasser eigentlich? Hing ein Preisschild an all den Kubikmetern Wasser im Schwimmbad? Das Wasser hatte ihm Schmerz zugefügt, doch hatte er auch das Wasser beschädigt? Ach, was!

Über den Wert der zerrissenen Leinwand würde niemand Scherze machen. Der betrug – er hatte zur Sicherheit bei Olde Husink nachgefragt – schlappe dreißig Millionen Euro. Das war eine konservative Schätzung. Und dann die komische Figur, die er bei dem Ganzen gemacht hatte. Achtundzwanzig Klassenkameraden hörten, so kam es ihm vor, das ganze Schuljahr nicht auf zu lachen. Haha, da kommt der Ziegelstein Verhooff! Wenn herauskam, daß er eigenhändig Untitled No. 18, 1962 beschädigt hatte, von wem würde er dann bis ans Ende aller Zeiten verspottet und ausgelacht werden? Er mußte Realist sein: von – und auch das war eine konservative Schätzung – der ganzen Weltbevölkerung.