Eine in die Jahre gekommene Fünferbande, drei Männer, zwei Frauen, stellt bei einer Bonner Institution den Antrag auf Förderung des Projekts »Zwischen Biologie und Humanwissenschaften: Zum Problem der Entfaltung luxurierender weiblicher Sexualität auf dem Weg von den Hominiden-Weibchen zu den Homo-sapiens-Frauen aus evolutionstheoretischer Sicht mit ständiger Rücksicht auf die Naturphilosophie des Deutschen Idealismus«.

Peer Sloterdijk skizziert das Unternehmen in Form eines klassischen Briefes, worauf die Mitstreiter per E-Mail antworten und auf diese Weise einen regen Austausch untereinander von mehr oder weniger intimen Überzeugungen und Geständnissen in Gang setzen. (Man begegnet sich persönlich nur kurz in Bonn und Karlsruhe nach dem erwartbaren Ablehnungsbescheid, und dabei kommt es zu unerwarteten Gemengelagen).

Die neuen kulturellen Erfahrungen und damit zusammenhängenden erotischen Abenteuer der angeblich nur auf das Projekt konzentrierten Runde präsentieren sich in Erzählungen, die geprägt sind durch die Lehrjahre der Zeit um 1968: Geschichte und persönliche Erfahrungen sind eng miteinander verwoben. So genießt der Leser, da alle Beteiligten sich zur Selbstentblößung auf allen menschlichen Gebieten verpflichten, den erotischen Roman mit den Sloterdijkschen überraschenden Pointen und Übertreibungen. Durch die Erzählweise folgt eine erotische Geschichte auf die nächste: Ironie und Direktheit gehen bei dem philosophierenden Schriftsteller und literarischen Philosophen Peter Sloterdijk eine Liaison ein.

Peter Sloterdijk, geboren 1947, studierte in München und Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. Die 1983 publizierte Kritik der zynischen Vernunft zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. 1987 legte er seinen ersten Roman, Der Zauberbaum, vor.

Peter Sloterdijk

Das Schelling-Projekt

Bericht

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

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Umschlagabbildung mit freundlicher Genehmigung des Museums Mensch und Natur, München, Foto: Markus Manske

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-74515-1

www.suhrkamp.de

Inhalt

I Unsichere Voraussetzungen

II Die Evolutionstheorie

Erste Gynäkologie

Minima Schellingiana

Ab ovo

III Die Form der Enttäuschung

Voi che sapete

Che cosa è amor,

Donne, vedete

S’ io l’ho nel cor.

Für Bea Therese

I Unsichere Voraussetzungen

Peer Sloterdijk,

z. Zt. Grand Hyatt,

Marlene-Dietrich-Platz, Berlin

12. März 2015

Kurt, mein Lieber!

Über unsere erneute Begegnung nach so vielen Jahren freue ich mich unglaublich. Du hast es ja selbst gesehen, frühe Verrücktheit verlernt man nicht.

Tu mir einen Gefallen und schick mir Deine Mail-Adresse in gut lesbarer Form. Bitte in Druckbuchstaben. Ich komme mit Deiner, verzeih, etwas krakeligen Handschrift nicht zurecht. Charaktervoll ist sie gewiß. Eignet nicht dem Charakter oft eine gewisse Unlesbarkeit?

Nach mehreren Versuchen, Dein Kalligramm zu entziffern, bleibe ich noch immer im Ungewissen. Die Postkarte mit dem Schwertknaben von Manet aus dem Metropolitan Museum spricht ja für sich, aber die Mail-Adresse, die Du auf der Rückseite notierst, kommt mir hermetisch vor. Du schreibst, als wärest du ein Ägypter, aufgewachsen mit Hieroglyphen, doch insgeheim ein Sympathisant der jüdischen Schrift. Die bringt es mit sich, daß die Folge von Konsonanten und Vokalen für Verwechslungen anfälliger wird. Bei natürlichen Sprachen fällt das nicht sehr ins Gewicht, jeder schreibt so orthographisch, wie er kann, irgendein Sinn ergibt sich immer. In Netzadressen zieht der geringste Fehler den kompletten Ausfall nach sich. Ein Punkt an der falschen Stelle, ein vergessener Vokal, ein Leerschritt zuviel, sofort kommt eine Nachricht vom mailer-daemon: Ihre Nachricht konnte leider nicht ausgeführt werden. Die erste Maschine, immerhin, die sorry sagt.

Was wir vorhaben, ist ein va-banque-Spiel. Auch Du, lieber Kurt, solltest ununterbrochen auf dem laufenden sein, sieben Tage die Woche, nötigenfalls um vier Uhr morgens. Sende mir eine elektronische Anschrift in klaren Lettern, ich gebe sie sofort an das Team weiter.

Für heute kommt an Dich also noch einmal ein Brief auf Papier. Ich lasse ihn nachher unten beim Concierge ausdrucken. Unterschreiben werde ich ihn nicht, ich habe gegen Abend Termine in der Stadt. Geht alles, wie es soll, bringen sie ihn mit dem letzten Postausgang aufs Amt, dann hast Du den Brief morgen mittag.

Ein solches Zugeständnis ans Transportwesen von gestern werde ich vermutlich nicht mehr sehr oft machen. Kann man sich das in unseren Tagen überhaupt noch vorstellen? Ein beschriebenes Blatt Papier muß eine Nacht lang über Schienen rollen, vorbei an abgehängten Dörfern, bevölkert von vor dem Fernseher eingenickten Alten, in einen Briefumschlag gefaltet, frankiert und mit Autorenspucke zugeklebt, als ob der Absender in vorauseilender Zusammenarbeit mit den Behörden einer DNA-Probe zugestimmt hätte? Post und Vergangenheit sind zu Synonymen geworden. Folgen nicht alle abgestandenen Geschichten dem Schema: Nachtzug nach weiß der Teufel wo?

Zu den Nachrichten, die den Zug nehmen, rechnen bei mir nur noch die Lebensbescheinigungen vom Notariat, die ich Jahr für Jahr mit eingeschriebener Briefsendung vorzulegen habe, damit die Pensionskasse das Altersruhegeld nicht einstellt. Jeden Februar, wenn der Himmel am tiefsten hängt, lasse ich mir mein Noch-am-Leben-Sein beglaubigen.

Was wir für unser Unternehmen benötigen, ist alles, nur nicht Post alten Stils. Du verstehst mich? Es ist nicht der Gang zum Briefkasten, der mich abschreckt. Als Briefe-Einwerfer habe ich mein Soll erfüllt, als Markenkleber ebenso. Ich gehe auf die Siebzig zu, und dies so zügig, daß ich mir überhastet vorkomme. Kannst Du Dir vorstellen, wie viele Briefmarken ich geklebt habe, um seelisch am Leben zu bleiben? Und wie viele Klappen von Briefkästen ich habe fallen hören, nicht selten mit dem Gefühl, Post und Schicksal seien dasselbe?

Setzen wir auf Effektivität, sind wir inzwischen vom Netz abhängig geworden. Wir Alten stammen aus einer langsameren Ära, bei der Geschwindigkeit haben wir nun zuzulegen. Zur Zeit machen ja viele auf neue Langsamkeit, weil sie nicht kapieren, daß Lichtgeschwindigkeit nicht nur eine physikalische Konstante ist, sondern auch eine moralische Größe. Licht neutralisiert schädliche Distanzen. Distanz ist ein Maßbereich für erlaubte Gleichgültigkeit. Was weiter entfernt liegt als das Zehntel einer Lichtsekunde, dürfen wir wahrscheinlich auch in Zukunft vernachlässigen. Hingegen, was in die Zehntel-Lichtsekunden-Zone fällt, geht uns früher oder später etwas an. Im 30.000-Kilometer-Raum gelten die Spielregeln einer Betroffenengruppe.

Um die Wahrheit zu sagen, die Monate seit dem letzten Sommer, als wir anfingen, uns über den Antrag zu verständigen, bedeuteten für mich ein Ankämpfen gegen die vielen Anfälle von Entmutigung. Den Kollegen wird es vermutlich kaum anders ergangen sein. Schon früh zweifelte ich daran, ob wir uns an die richtige Adresse wenden. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, guter Himmel, ist sie nicht letztlich nur noch eine Anlaufstelle für Mainstreamer und Abzocker? Zudem machte ich mir Sorgen in bezug auf uns selbst. Obschon wir uns bestens zu ergänzen schienen, trat immer deutlicher ans Licht, wie weit unsere Ausgangspunkte voneinander entfernt liegen. Man kann auf die gemeinsame Sache eingeschworen sein, doch bleibt die Welt ein Tor zu tausend Wüsten, leer und kalt. Entschuldige, Kurt, so war es nicht gemeint. Sobald man Nietzsche zitiert, schießt man übers Ziel hinaus.

Daß wir uns durchgekämpft haben, erklärt sich vor allem aus der Klugheitsregel, den Zweifeln nicht zu viel Energie zu geben. Das war nicht gerade positives Denken, aber damit verwandt. Zwischendurch, als ich den soundsovielten Entwurf redigierte, hatte ich dem Trübsinn kaum noch etwas entgegenzusetzen. In dunkleren Stunden war für mich klar, warum aus unserem Vorhaben unmöglich etwas werden kann. Die Evidenz, daß es schiefgehen würde, saß vor dem Einschlafen auf meinem Brustkorb wie ein grinsender Affe. Am Ende hält man wieder nur einen Sammelband der Einsamkeiten in der Hand. Das war so offenkundig wie die typische Lüge unserer Zeit, im Fall eines Druckverlustes fielen Sauerstoffmasken von der Kabinendecke.

Daß wir uns recht verstehen, Kurt: Von dem Unfug, den man an den Universitäten als Exzellenzcluster feiert, muß unser Vorhaben sich unterscheiden, obschon es ihm der Form nach gleicht. Bei einem Thema wie dem unseren wäre das Zusammenkleistern von »Ansätzen« aus diversen Fachgebieten ein Fehlgriff. Natürlich behaupten die Ansätze-Kleber, es müsse immer strikt interdisziplinär zugehen. In Wahrheit wollen sie bloß Geld und Stellen für ihre Vasallen.

Dergleichen geht uns gar nichts an. Wir haben einen Gegenstand entdeckt, der uns aus der Reserve gelockt hat, egal, womit wir uns zuvor befaßt haben. Früher hätte man gesagt, eine Idee hat uns ergriffen. Keine Angst vor Pathos! Angesichts der Idee müssen unsere Gehirne parallel gepolt sein. Nur dann ist man zu mehreren intelligenter als allein. So laß mich unsere Hypothesen noch einmal rekapitulieren.

Unser Team umfaßt bis jetzt nicht mehr als fünf Leute. Viele neue Mitstreiter werden nicht hinzukommen, zwei oder drei, wenn wir Glück haben. Naturgemäß sollten wir einen Kopf aus der Paläontologie heranziehen, was nicht einfach werden dürfte. Die Neuen hätten ja erst mal zu beweisen, daß sie die philosophische Wette begreifen. Uns wäre nicht damit gedient, könnte uns jemand Knochen für Knochen, Zahn für Zahn erzählen, wie der Übergang vom Hominiden-Weibchen zur Sapiens-Frau verlaufen ist. Hardware-Erkenntnisse bringen uns nicht weiter.

Unsere paläontologischen Freunde, die Knochen-Leser und Zähne-Interpreten, die kennen wir inzwischen mehr, als uns lieb sein kann. Mit ihren Elaboraten haben wir viele Stunden verloren. Sie werden uns nicht helfen, solange sie auf Perspektiven festgelegt sind, die nicht die unseren sein können. Irgendwie mag ich die Leute ja, sie kommen mir vor wie die zivile Abteilung des Skull-and-Bones-Ordens. Finden sie einen Backenzahn in Ostafrika mit einem Höcker mehr als sonst oder einen mit tönenden Löchern markierten Reiherknochen aus der Schwäbischen Alp, schlagen sie gleich Alarm und behaupten, die Menschheitsgeschichte müsse neu geschrieben werden. Wir vertreten die These, man solle sie von Anfang an ganz anders denken.

Damit kommen wir zu dem Punkt, an dem alles hängt: Es fehlt uns jemand, der die Neuro-Gynäkologie vertritt, oder um das schlimme Kind beim Namen zu nennen: die Paläo-Endrokrinologie. Das wird die empfindliche Stelle in unserem Unternehmen bleiben. Vielleicht müssen wir sie bis zuletzt offenhalten. Besser selbst auf eine Lücke aufmerksam machen als eine falsche Besetzung riskieren.

Daß man die Hormone von Adam und Eva nicht mit dem Spaten ausgraben wird, ist leicht einzusehen. Vom Subtilsten ist nichts übriggeblieben. Wie diese Verlegenheit sich aufs Bild der Geschichte von homo sapiens auswirkt, davon hat niemand eine korrekte Vorstellung. Wir jedenfalls, von der philosophischen Sektion, verfügen nicht einmal über die vielsagenden Knochen, um die sich die Debatten der Kollegen von den anthropologischen Instituten ranken.

Noch können wir niemandem klarmachen, warum wir bei unserem Unternehmen spekulativer vorgehen als die Leute von der Altknochen-Abteilung. Daß auch vor hunderttausend Jahren die Lebensprozesse von Hormonen gesteuert wurden, bedarf keines umständlichen Beweises. Die Botenstoffe – was für ein fabelhafter Ausdruck – waren die Hieroglyphen der Tier- und Menschwerdung, und sie sind es geblieben. Das ist so unbestreitbar wie die Kontinentaldrift, die noch niemand mit eigenen Augen gesehen hat. Unmerklichkeit ist die Handschrift aller tiefen Vergangenheit: Irgendwann liegen die Fragmente der vormals zusammenhängenden Landmassen Tausende von Kilometern auseinander, durch einen epischen Ozeangraben getrennt, und niemand war dabei, um die Entfremdung der Kontinente zu bezeugen. Nehmen wir an, eine desinteressierte Kamera im All hätte das Auseinanderdriften von Afrika und Südamerika mit einem Standbild pro Jahrhundert aufgenommen. Man besäße einen mitreißenden Film, der zeigte, wie die Landmassen sich scheiden lassen und nach der Trennung einander immer fremder werden, obschon man am Verlauf der Küsten noch ohne Mühe sieht, wo sie sich früher berührten.

Ähnlich ergeht es uns im Biosphärischen. Seit langem driften wir hormonell in Situationen, die wir nicht mehr überblicken. Gleichwohl sind die Botenstoffe, die dem Leben die entscheidenden Zeichen gaben, ganz real, so real wie die Sonnenwinde, von denen so gut wie keiner unter uns etwas spürt, Übersensible ausgenommen. Man müßte übrigens einmal etwas über Engel, Partikel und Hormone machen.

Unsere Vorfahren, die Afrikaner, drifteten auf der Kontinentalscholle um den halben Planeten, ohne zu wissen, was mit ihnen geschah, und die Hormone drifteten in ihnen. Laß eine gewisse Zeit vergehen, es müssen nicht einmal erdgeschichtliche Epochen sein. Das Reale verschwindet im Spurlosen.

Bei dem, was uns interessiert, können wir nie solide Evidenzen an die Hand bekommen. Unsere Kollegen von der Paläo-Fraktion wissen ja gar nicht, wie gut sie mit ihren episodisch auftauchenden empirischen Funden daran sind. Sie haben ihre Knochen und ihre Hypothesen. Die sprießen, welken und landen im Archiv. Im Unterschied zu ihnen arbeiten wir wie Paranoiker nur mit Unterstellungen, unter denen eine die andere trägt.

Was lernen wir aus dem Umstand, wir, die Nachkommen der enthaarten Affen, daß von den Sekreten unserer Ahnen nichts geblieben ist, außer dem, was wir davon in uns tragen? Offenkundig betreiben wir einen seltsam ausgerichteten secret service. Er muß mit der Annahme arbeiten, daß vom Entscheidenden nie etwas ans Licht kommt. Die neue Lehre von den ältesten Dingen hängt an diesem Befund. Die Wahrheit ist, daß wir das Älteste nicht haben. Die wirkliche Archäologie ist gegenstandslos. Wer das Vergangene kennenlernen will, kann nur im Dunklen operieren. Das Dunkle ist nicht das Unbewußte, wie manche Psychologen meinten, es ist auch nicht das Mystische, das sich vorgeblich von selber zeigt. Es ist das Nicht-Nichts, das auf den ersten Blick dem vollendeten Nichts gleicht. Spurenlosigkeit ist die erste Tatsache der Naturgeschichte.

Schau: Im ostafrikanischen Sand gräbt man so in der Regel einmal im Jahr, auf jeden Fall jedes zweite, die Beckenschaufel einer Sapiens-Frau aus, die, sagen wir, vor 70.000 Jahren gelebt hat. Das Feuilleton antwortet mit Jubel, wie immer, wenn es neue Argumente für Konvergenz unter den Ahnen der Menschheit gibt. Die Unesco bewilligt Geld für weitere Grabungen. Ein Schulterblatt, ein Eckzahn mit Vorzeichen der Humanität, ein Wadenbein, ein Halswirbel, irgend etwas findet sich immer. Vorfahren existieren unglücklicherweise mehr als genug. Nicht bei allen hat die Zeit zum Verschwinden im Spurenlosen gereicht.

Nenne unsere Beckenschaufelfrau Eva, Lilith, Hannelore. Schon hebt ein Wesen den Kopf, das alle Distanzargumente gegenstandslos macht. Es könnte deine Urgroßmutter gewesen sein oder deine Großcousine.

Von ihrem Alltags- und Liebesleben wissen wir weniger als das Geringste. Hatte das Wort Liebe für sie schon einen Sinn? Die Hüftknochenbesitzerin muß ja auf ihre Weise »in der Welt« gewesen sein und Anteil genommen haben an Leuten und Sachen. Doch dürfen wir wirklich nach dem Eva-Inneren fragen? Wie könnten sich in ihr die Dinge geregt haben? Verfügte sie über etwas, das wir ein Eigenleben nennen würden? Kamen Beklemmungen in ihr auf, wenn die Sonne abends unter die Hügel fiel? War ihr ängstlich zumute, wenn sie gemeinsam mit den Ihren auf den Regen wartete, während der Savannenboden unter der Glut in Stücke sprang?

Sie sah wohl die Elefanten die Rüssel heben und sich den Rücken mit Staub bewerfen. Sie sah neugeborene Gnus aus den aufgeplatzten Scheiden ihrer Mütter auf die Erde poltern, hilflos naß und delikate Beute für die in der Nähe wartenden Gebisse. Sie sah die heimkehrenden Jäger, die sich zu mannhaft gaben, um ihre Niedergeschlagenheit nicht zu verraten. Sie sah das Lagerfeuer in der Savannennacht glimmen. Und sie wußte, die Leute, die das Feuer spüren, mit angstvollen Augen und wärmesuchenden Nervenenden, das sind die Wir.

Du ahnst es wohl, ich möchte auf etwas Bestimmtes hinaus. Lilith-Eva-Hannelore war unbestreitbar eine Frau, oder, um es so ideologiefrei wie möglich auszudrücken, ein weibliches Individuum. In der sozialwissenschaftlichen Fakultät würde man sagen: eine nach femininen Mustern sexuierte Person. Die Leute vom Leipziger Institut bescheinigen uns ohne weiteres, ihr genitaler Apparat könne sich in nichts von dem der zeitgenössischen weiblichen Angehörigen der Gattung homo sapiens unterschieden haben. Dennoch müssen wir einen Unterschied annehmen, da die Vorgänge, die zum aktuellen Stand führten, sonst noch dunkler blieben, als sie ohnedies sind.

Ich darf die Zwischenschritte überspringen. Wahrscheinlich ließ Lilith sich zu passenden Zeiten von zugangsberechtigten männlichen Stammesgenossen besteigen. Zu diesem Zeitpunkt herrschte wohl noch die reine a-tergo-Zeit. Man vergißt heute gern, daß bis vor kurzem – kurz, in evolutionären Zeiträumen gedacht – die Menschenfrau, wie ihre Vorgängerinnen unter den Großaffen, das von hinten zu begattende Lebewesen war. Indirekt erkennt man das bis heute an manchen afrikanischen Ausprägungen des weiblichen Rückenprofils, übrigens auch an den brasilianischen Bottom-Skulpturen, die unverkennbar noch immer die bio-konservative Drift bestärken. Hominiden-Erbe verpflichtet. Die Evolution verleiht selbst in der Ära der Globalisierung lokal ziemlich indiskrete a-tergo-Rundungsprämien, auch nachdem hier und dort der Übergang zum face-to-face-Liebesspiel eingesetzt hat. Das dümmliche Wort »Missionarsstellung« denunziert im übrigen sehr zu Unrecht die menschheitsweite Tendenz zur Betonung des Begegnungscharakters von Sexualität, selbst wenn die neuen Trolle so tun, als solle das flüchtige Aufreiten erneut das Alpha und Omega im Liebesgeschehen werden, ob eine Kamera den Vorgang festhält oder nicht.

Jetzt taucht aus der Tiefe der Zeiten unser Problem auf, wenn ich so sorglos reden darf. Mit größter Sicherheit ist anzunehmen, daß Eva während der erotisch dunklen Jahrzehntausende relativ wenig angenehme Empfindungen verspürte, wenn der dunkle Aufreiter vorbeikam. War es kurz und lief ohne Beschwerden ab, mußte sie den Vorgang gut sein lassen. Gelassenheit weiblich begann, wenn Lilith den Kopf senkte und nicht nach dem Paß des Besuchers fragte. Eine unvermeidbare Zudringlichkeit setzte ein, die zuweilen nicht allzu abstoßend geriet, sofern der Gast sich für sein Vorhaben einige Minuten Zeit nahm, vielleicht sogar etwas mehr, sollte er ein verfrühter Trödler gewesen sein, ein vager Vorgänger der historischen Lüstlinge. Der Mann der ältesten Zeiten mag seine Lizenz daraus bezogen haben, daß er die treibenden Hormone für Geister hielt, die ihm den Auftrag gaben, die Nähe des Frauenunterleibs zu suchen. Wer damals Mann war, wußte unmittelbar, es gibt Dämonen, die in uns fahren und auf hitzige Entladung drängen. In unberechenbaren Intervallen treten sie ein, um ihre Absicht durchzusetzen. Ein Mann ist ein Medium für entladungswillige Geister.

Aus der Sicht der Frau zog der erregte Mann als Zufall ohne Gesicht vorbei. Der erigierte Aufreiter war nicht mehr als ein keuchender Schatten, der sich nach der Verrichtung seines Anliegens lautlos entfernte.

Irgendwann legten sich die Verwandtschaftssysteme über das formschwache Geschehen. Dann wurde das Aufreiten zu einem Element der Gesellschaftsstruktur. Mein Gott, sogar der große Lévi-Strauss ließ sich von der Idee der Verwandtschaft überrumpeln. Immerhin hatte er begriffen, daß aus Passanten paarungsbereiter Frauen früher oder später Ehegatten werden sollten. Von da an unterlagen die Zugangsrechte zum providentiellen Kanal einer strengeren Bewirtschaftung.

Lassen wir das Thema. Die Domestikation des Mannes ist ein zu weites Feld und die der Frau ein zu betrübliches.

Jetzt mache ich einen gewaltigen Sprung. Heute nacht habe ich meine Verlobte umarmt, die mich für einen Tag besuchte. Ja, mein Lieber, es gibt Neues unter der Sonne. Der Sache wegen füge ich an, die Aktion geschah in einem vorwiegend alteuropäischen Modus. Mehr ist hier nicht zusagen. Ich brauchte die Spiegelneuronen nicht zu bemühen, um zu wissen, daß es für meine Liebste schön war, in jedem Sinn des Worts, und für mich im Rahmen des Möglichen ebenso.

Verstehst Du, warum ich darüber spreche? Ich erwähne die private Episode nicht aus dem törichten Stolz eines Alternden, der einen letzten Pokal auf sein Trophäenregal stellt. Die apathische Beckenschaufel der Afrikanerin, die seit einer Weile in einem Leipziger Archiv liegt, und das Seufzen meiner Liebsten – um genau zu sein, ein etwas unzivilisiertes Schreien, garniert mit einem koketten Protest gegen das Zuviel –, sie sind, wenn man es recht betrachtet, unvermeidlich Teile ein und derselben Geschichte.

Geschichte? Ein zufälliger Anfang dort in der Savannendämmerung, eine vorpersönliche Intimkollision zwischen zwei geschlechtsreifen Individuen biologisch modernen Typs. Hier, an einem spätwinterlich-vorfrühlingshaften Abend zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Mitteleuropa, eine Episode zwischen einem Mann und einer Frau, beide dem juvenilen Alter entwachsen, die einer Kultur des verlängerten Liebesspiels und des weiblichen Höhenflugs angehören.

Diese Entwicklung besteht fast nur aus Unterbrechungen. Was wir die Evolution nennen, ist ein Schwarzfilm mit ein paar hellen Flecken, die zumeist wenig Sinn ergeben.

Damit will ich nicht sagen, die althergebrachten Minuten-Kopulationen seien in der Savanne zurückgeblieben. Sie folgten dem Exodusvolk namens Menschheit, von Afrika bis nach Feuerland. Wahrscheinlich nimmt der Kurzzeit-Verkehr noch heute den größten Teil der erotischen Interaktionen zwischen den Vertretern des aufrechten Gangs in Anspruch, ja, ein gut Teil der heutigen Männer benehmen sich beim sogenannten Vollzug der Ehe wie Fernfahrer, die sich am Rastplatz erleichtern.

Und doch, beim vorzeitlichen Standard konnten die Dinge nicht überall stehenbleiben. Eine Fraktion der Ausgewanderten ging im Sexuellen andere Wege. Irgendwann taucht unter den Späteren der neue Archetypus für die Abmessung von erotischer Zeit auf, der sich die Liebesnacht nennt, wobei es töricht wäre, allzu buchstäblich an die Spanne zwischen Abend- und Morgendämmerung zu denken. Die Liebesnacht ereignet sich, wenn ein Paar die Zeit anhält und beiseite läßt, was dann als bloße Außenwelt erscheint. Wo ein Paar ist, fällt die Nacht herein. Im übrigen bin ich davon überzeugt, daß die Liebesnacht ein Modernismus ist, eine Nebenwirkung des Hütten- und Häuserbaus. Nur im Schutz des Innenraums konnte die Atmosphäre luxuriöser Geborgenheit entstehen, ohne welche die Einschiffung nach Kythera im Flachwasser endet.

Zwischen dem alten Zufall in der Savanne und der Episode in der Rheinebene von heute wölbt sich ein Regenbogen nie gestellter Fragen. Mit Sicherheit weiß ich über ihn nur eines: Er ist kein Spezialeffekt zur Beeindruckung eines Publikums. Auch stellt er keine optische Täuschung dar, wie sie nach Gewittern auftritt, sobald die Sonne ihre Präsenz wiederbehauptet. Der Bogen ist die Spanne, die die Lust brauchte, um auf die Höhe des Möglichen zu kommen. Über Zehntausende von Jahren dehnt sich in den Frauen eine Lichtbrücke. Über sie wandern unruhige Fluoreszenen, über ihren Pfeilern flackern energetische Auswüchse. Fast alles geschieht durch unsichtbare Transmissionen zwischen Nerven-Polen. Noch sind keine personalen Adressen eingerichtet, die diese Entladungen wie eingeschriebene Briefe des Universums ans Ich empfangen könnten.

Das alles verweist auf relativ Bekanntes: Zwischen Himmel und Erde bewegen sich grenzenlose Mengen an Energien, mit denen für uns keine gemeinsamen Frequenzen existieren. Der phänomenale Raum ist ein schmaler Schlitz im Sein. Da ist ein Auge, das diese und jene Dinge bemerkt, dort sind Wellen, die durchs Unendliche vagabundieren. Zwischen Auge und Welle besteht kaum eine Begegnungschance.

Unsere einzige Option auf Zugang zu den Wellenmeeren wird ausgeübt durch das, was man die Wahrnehmung nennt. Doch Wahrnehmungen sind, Dir muß ich das nicht sagen, nur Episoden. Die wirkliche Welt ist alles, was außerhalb der Wahrnehmung der Fall ist. Es sei denn, das Auge wird hellsichtig und schaut für einige Momente in einen sonst nicht zu beobachtenden Bereich hinüber. Oder die entrückten Schwingungen erbarmen sich unser und wechseln für die Dauer von Sekunden auf für uns zugängliche Frequenzen.

Wenn wir also spekulative Physik treiben, mit Schelling als unserem Schutzheiligen, verstehen wir recht gut, was wir tun. Wir wissen auch ungefähr, was wir nicht wissen. Mit Esoterik hat das nichts gemein. Von der fast anästhetischen Schnellkopulation im Bann periodisch ausgeschütteter Hormone unter der afrikanischen Nacht zu den von Seife und Seide gehegten Liebesnachtfeiern der osteuropäischen und hanseatischen Damen, die sich in ihrem Vorsatz nicht beirren lassen, in diesem Leben zu erfahren, was erotisch auf Erden möglich ist: Von dort nach hier führt etwas, was man einen »Weg« nennen darf.

Vielleicht ist es nicht einmal ein Weg. Eher eine ballistische Kurve. Sie gleicht einer feuerwerksartigen Steigerung, bei der das Frühere dem Späteren einen Anstoß mitgibt. Ist es ein Zufall, wenn in den Ausrufen von Zuschauern bei Feuerwerken dieselben Vokale überwiegen, mit denen sich libidinöse Gipfel anzeigen?

Die fröhliche Wissenschaft steht an ihrem Anfang. Sie stellt die Frage, ob man den angedeuteten Bogen noch als ein Kapitel der Naturgeschichte begreifen darf? Fällt er nicht bereits in die Geschichte der Zivilisation? Müssen wir auch hier die immer weniger plausible Unterscheidung von Natur und Kultur fallenlassen? Könnte es nicht sein, daß sich die Avantgarde der geistigen Evolution in den Nerven-Enden der weiblichen Organe festsetzte?

Lieber Kurt, um auf Deine Postkarte zurückzukommen. Genau zur kritischen Zeit erkundigst Du Dich, wie weit die Sache mit Bonn gediehen ist. Nach den ersten Reaktionen von dort bin ich nicht in der Stimmung, den Stand der Verhandlungen zu schildern. Sobald ich von Berlin zurück bin, schicke ich Dir den Antwortbrief in Kopie, dann siehst Du die Bescherung mit eigenen Augen.

Polemik treibe ich in meinen fortgerückten Jahren nicht mehr. Der Streit um Ansichten ist ein Genre für begabte Junge und mißratene Alte. Du erinnerst Dich vielleicht, bereits in meinen ersten Zeiten an der Universität habe ich regelmäßig Nietzsche gelesen, eine Gewohnheit beibehaltend, die sich auf der Oberstufe des Gymnasiums bei mir festgesetzt hatte. Nietzsches Prosa ist der einzige Deutsch-Unterricht, den ich bis heute gelten lasse. Seine Meinungen interessieren mich kaum noch, doch wie er Sätze bildet, bleibt das Maß der Dinge.

Was Du vielleicht nicht weißt, das ist, daß ich schon damals für den Umgang mit den letzten Menschen übte. Natürlich ließ ich mir nie etwas anmerken. Die Leute brauchten nicht zu wissen, daß der nette junge Mann, den sie vor sich sahen, das böse Auge hatte. Satan nach dem Fall ist ein höflicher Beobachter, der alles läßt, wie es ist. Mehr Hölle, als es schon gibt, muß man nicht veranstalten. Der Teufel ist der Konservator der Zustände. Bereits damals wußte ich, was sich in einem Reihenhaus des Seins abspielt. Wie der letzte Mensch sich im Spiegel zublinzelt, war mir schon in jenen Tagen kein Rätsel. Ihn zusätzlich zu beleidigen, spürte ich zu keiner Zeit ein Bedürfnis.

In späteren Jahren hütete ich eine Weile bei den Kritischen von Frankfurt die Säue. Es war eine lehrreiche Zeit, jenseits von Frustration und Befriedigung. Irgendwann dämmerte mir, daß man von Soziologie und leeren Überlegenheitsgefühlen nicht leben kann. So begann die Suche nach haltbaren Überzeugungen, ich machte mich zu meinen indischen Exkursionen auf. Osterweiterung der Vernunft nannte ich meine Morgenlandfahrt. Von den Kollegen wurde das wie üblich für eine literarische Pointe gehalten. Wir beide, Du und ich, hatten uns damals seit einer Weile aus den Augen verloren.

Es muß nach 1980 gewesen sein. Zurück aus Indien, begann ich, nach Überwindung einiger Widerstände, mich mit Martin Heideggers Werk zu befassen, das damals in unseren Kreisen schon ähnlich verpönt war wie heute, nur aus anderen Gründen. Was die Widerstände anging, sage ich nichts. Sollen andere sich mit dem Rätsel plagen, wie ein beachtlicher Denker eine so verschrumpelte Person sein konnte. Von seiner Notzüchtigung der deutschen Sprache ist hier auch nicht zu reden.

Heideggers Leitvokabel »Seinsvergessenheit« habe ich nie benutzt, doch hin und wieder leise vorausgesetzt. Da ich unter dem Zwang leide, Begriffe mit Bildern zu verbinden, stellte ich mir unter Seinsvergessenheit gern ein meteorologisches Phänomen vor. Vom Atlantik treibt eine Wolkenfront aus gewitterträchtiger Unbelehrbarkeit auf Europa zu, um von der Bretagne bis zum Ural abzuregnen. Was uns da von Westen überkommt, ist keine Dumpfheit wie jede andere. Man sagt dazu auch Pragmatismus, was nach Campusgrün, Faculty Clubs und Studentinnen in BH-losen T-Shirts klingt. Bewässert durch die ständige Westströmung, bilden wir uns ein, wir seien freier und wissender als jene, die vor uns waren.

Nein, sagt der Meister von Meßkirch, wir sind nur viel verlorener. Die westliche Welt gleicht einer Plantage, in der nur noch die Saaten der Überheblichkeit gedeihen. Auf Feldern wie den unseren, meint der Mützenmann, wächst Ursprüngliches nicht mehr. Die falsche Aufputschung ist in allem. Schon bei den Pflanzen hat der Mißwuchs vor über hundert Jahren angefangen. Sämtliche Verbrechen des letzten Jahrhunderts waren bereits im Kunstdünger enthalten. Daß man Getreide von Drogen abhängig macht, das besagt doch alles.

Der Rest ergibt sich wie von selbst. Die Böden sind versiegelt, die Horizonte verbaut, das Kommende gefangen in Gittern, die man Projekte nennt. Machtblödheit hängt ihre Selbstportraits auf jede freie Fläche. Überall wütet die Seuche, es den Amerikanern gleichzutun, dem rätselhaften Kindvolk, das immer übergroß sein will, während es den Rest der Welt in Grund und Boden grinst. Soft power nennen es die Ignoranten.

Wie stets bei Heidegger ist vieles schief gesehen und plump gesagt. Doch triftig oder nicht, von seinem Gezeter um das Sein bleibt etwas hängen.

Bei Frustration setze ich mich normalerweise aufs Fahrrad. Nach zwei Stunden im Freien komme ich positiv leer nach Hause. Die Unsportlichen haben Mühe, einzusehen, daß man die meisten Probleme mit den Beinen löst. Ich bin nicht sicher, Kurt, ob Dir klar ist, Radfahrer sind keine Sportler wie die übrigen. Sie zeugen für den realen Eskapismus. Sie stellen unter Beweis, daß nur die Flucht nach vorn Lösungen bringt.

Für mich war angesichts des Karlsruher Wetters in den letzten Tagen nicht daran zu denken. Dieses Jahr ist der Frühling spät dran. Nur Extremvelomanen wagen sich hinaus, meist Leute, die mit dem Doping im Februar beginnen, um für die Frühjahrskriterien in Form zu kommen. Manchmal beneide ich sie, doch als ambitionsloser Senior kann ich es mir leisten, einige Wochen auf bessere Verhältnisse zu warten.

Ich mußte gestern nach Berlin fliegen zu einer Podiumsdiskussion an der Katholischen Akademie über mein vor kurzem erschienenes Buch »Religion in der Moderne: Umrisse einer Allgemeinen Dichtungstheorie«. Ich frage mich, ob Du es schon erhalten hast. Den Verlag hatte ich gebeten, Dir ein Exemplar zu senden.

Dort mache ich den Vorschlag, Theologie als Poetik neu zu formulieren. Die Reaktionen der Betroffenen sind bisher distanziert zustimmend, was mich ein wenig wundert, da Theologen meistens wie Pflichtverteidiger Gottes agieren. Vom Besserwissen lassen sie sich nicht abbringen. An manchen Tagen wäre ich auch gern gläubig. Dann würde alles, was ich lese, zur Hilfswissenschaft bestehender Überzeugungen. Da ich den Zweifel für tiefer halte als den Glauben, wird bei mir alles Hilfswissenschaft des Gegenteils.

Die Grundidee des Buchs ist schlicht wie alles, was man am Abgrund formuliert: Was dich ergreift, wird dein Gott. Die Sprache, die du alltäglich sprichst, hat dich tiefer erfaßt, als du dir jemals klarmachen kannst. Wir dichten, ob wir es wissen oder nicht. Kollege Herder grüßt herüber. Die Sprecher moderner Sprachen wissen aber nicht, daß Phrasengeister bei ihnen ein und aus gehen.

Die Berlin-Reise paßte mir eigentlich nicht ins Programm, weder nach meiner inneren Verfassung noch vom Kalender her. Eine Absage hätte zu viele freundliche Helfer vor den Kopf gestoßen. Halbwegs ratlos ließ ich den Brief aus Bonn auf dem Stapel mit den unerledigten Papieren zu Hause liegen. Während des Flugs nach Tegel dachte ich noch manchmal an ihn. Wirklich verärgert war ich nicht, eher in sarkastischer Stimmung. Die Erkenntniswirtschaft, man macht sich über sie keine Illusionen mehr! Auch die mit öffentlichen Mitteln finanzierte Theorie-Factory rotiert im Modus business as usual. Dann kommen Leute wie wir daher und möchten Funktionären ein extraterrestrisches Produkt verkaufen.

Als ich in Tegel das Taxi bestieg, klang die gereizte Verfassung nach. Im Flugzeug kann man ja nichts loswerden, weil man stillgestellt ist. Dann nützt dir auch ein Gangplatz wenig. Ich vergaß die Irritation erst, als der Wagen durch die lange Unterführung hinter dem Hauptbahnhof fuhr.