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Wilhelm Schmid
Das Leben verstehen

Von den Erfahrungen
eines philosophischen Seelsorgers

Suhrkamp Verlag

Inhaltsverzeichnis

 

Vorwort

Was ist eigentlich Leben? Gespräche mit Patienten und Klienten

Überraschende Begegnungen bei der Visite

Bruch im Leben: Jede Krankheit kann eine Lebenskrise sein

Aber nicht jede Lebenskrise geht mit einer Krankheit einher

Wie umgehen mit sich selbst? Die Kunst des Neuanfangs

Was ist schön? Wieder anzufangen, das Leben zu genießen

Werde ich jemals glücklich sein? Was ist der Sinn?

Haben die Krise, die Krankheit, das Leben irgendwelchen Sinn?

Kann es eine Lebenskunst angesichts des Todes geben?

Leben auf zwei Planeten: Die Welten drinnen und draußen

Wie hängt das alles zusammen? Gespräche mit Ärzten und Mitarbeitenden

Transversale Arbeit: Quer durchs ganze Haus

In der Verwaltung: Das Haus von oben her betrachtet

Im Operationssaal, dem Atelier der Chirurgen

Ars Medici: Die Kunst des Arztes und seine Lebenskunst

Die Pflege als Kunst und Lebenskunst

Physiotherapie: Die wahre Bedeutung der Arbeit am Körper

Psychotherapie: Die Möglichkeiten der Kunst und des Ausdrucks

Psychiatrie: Aus welchem Stoff besteht die Seele des Menschen?

Theologie: Religiöse Seelsorge

Was macht ein Philosoph? Grundzüge einer weltlichen Seelsorge

Zur Geschichte der philosophischen Seelsorge

Das philosophische Gespräch: Rat oder Beratung?

Die Fragen der Philosophie: Was die Gespräche antreibt

Die Frage der Autonomie: Was bedeutet Selbstbestimmung?

Die Lebenshilfe der Philosophie: Worin besteht der Gewinn der Gespräche?

Meine eigene Frage nach dem Sinn: Wozu das alles?

Fundamentale Fragen: Was ist Krankheit?

Ein Ort für die Krankheit: Seit wann gibt es Krankenhäuser?

Integrative Idee: Arbeit an einer etwas anderen Art von Krankenhaus

Was ist Lebenskunst? Themen und Diskussionen

Lebenskunst und Kürze des Lebens, Heiterkeit und Zorn

Freiheit und Formgebung, Selbstbestimmung und Selbstbegrenzung

Von der Kunst des Berührens und Berührtwerdens

Schattenseiten des Lebens

Macht und Ohnmacht

Sinn und Sinnlosigkeit

Lebenskunst im Umgang mit sich selbst und Anderen

Liebe und Lieblosigkeit

Andere Dimensionen der Liebe

Mensch sein, in Beziehung sein

Wie finden Theorie und Praxis zusammen? Werkstatt der Lebenskunst

Zum Umgang mit Gewohnheiten im Pflegeheim

Wie umgehen mit Überbelastung in der Arbeit?

Was bleibt nach einem langen Arbeitsleben?

Die Rolle eines starken Teams bei der Betreuung von Krebskranken

Überlegungen mit Pflegenden zum Umgang mit Sterben und Tod

Die Deutung der Seele: Ein Gemeinschaftsprojekt

Haben Schmerzen einen Sinn?

Schlussbetrachtungen

Abschied nehmen

Was bleibt von der Arbeit im Krankenhaus?

Überlegungen zu einer veränderten Philosophie in einer anderen Moderne

Zum Autor

Vorwort

 

 

Zügig bleibt die Stadt zurück und anstelle der Häusersäulen erstrecken sich Wiesen und Äcker, Obstfelder und Mischwälder über sanfte Hügel. Am Zugfenster ziehen schmucke Dörfer mit alten Höfen und neuen Betonbahnhöfen vorbei, dann wieder stoisch vor sich hin käuende Kühe, tatsächlich fast lila, wie in einer Werbung für Milchschokolade. Die Bahntrasse durchschneidet, als wäre es nie anders gewesen, einen Seerosenteich unter leicht bedecktem Himmel, in der Ferne überragen die Zacken hoher Berge den Morgennebel.

Südwestlich von Zürich liegt Affoltern am Albis, ein kleines, unspektakuläres Städtchen, in einer halben Stunde vom Hauptbahnhof aus mit der S-Bahn zu erreichen. Zum Spital, etwas bergan gelegen, gehe ich eine Viertelstunde zu Fuß. Es ist ein normales, schulmedizinisches Krankenhaus für die Grundversorgung von mehreren zehntausend Menschen in der Region Knonauer Amt (im Volksmund auch »Säuliamt« genannt). Zwischen Geburt und Tod wird ein weites Diagnosespektrum behandelt: Menschen mit allerlei Wunden, Rheuma, Rückenleiden, Darmerkrankungen, Herzleiden, Krebs, Hirnschlag, aber auch Menschen in Lebenskrisen, etwa im Falle von Panikattacken, Unfallverarbeitung, Depressionen, Suizidgefahr, psychotischen Episoden. Behandelt wird im so genannten Akutspital in den Abteilungen Innere Medizin, Chirurgie, Gynäkologie und Geburtshilfe. Der Inneren Medizin zugeordnet sind (zu dieser Zeit) ein Pflegeheim, ein Altersheim, ein geriatrisches und ein psychiatrisches Tagesheim. Eine besondere Errungenschaft ist die Abteilung für Psychotherapie, in der mehrere Kunst- und Ausdruckstherapeuten arbeiten. Nach jahrelangem Ringen entsteht außerdem eine Palliativstation, in der Menschen bis in den Tod begleitet werden.

Wie kam ich dazu, als Philosoph in diesem Krankenhaus zu arbeiten? Den Anfang machte ein Essay, »Vom Sinn der Schmerzen«, den ich 1995 in der Basler Zeitung publizierte.* Ein Arzt in Affoltern am Albis las ihn und fand ihn interessant, der Chefarzt der Inneren Medizin, Dr. Christian Hess, nahm Kontakt auf und lud mich ein, die Thesen im Rahmen der hauseigenen Weiterbildung vorzustellen, nebst einem gemeinsamen »Nachtessen«. Der Vortrag fand Anklang und zog die Einladung nach sich, für einige Zeit im Krankenhaus zu arbeiten und die Ideen zu einer neuen Lebenskunst – die den weiteren Rahmen zum erwähnten Essay bildeten – in der Praxis zu erproben. Die Praxis ist für so manchen Philosophen freilich ein Ärgernis. Im praktischen Leben können theoretische Überlegungen scheitern, denn das Leben hält sich nicht immer an die Begriffe, mit denen es zu fassen versucht wird. Philosophen lasten die Schuld dafür nicht so sehr den Begriffen an, eher dem Leben, das sich nicht fügen will. Umso schlimmer für das Leben, das ohnehin die Gefahr mit sich bringt, die Distanz zur Unmittelbarkeit zu verlieren, die für jedes Denken wesentlich ist.

Die größten Zweifel, ob die Philosophie dort hilfreich sein kann, wo es doch oft in einem sehr direkten Sinne um Leben und Tod geht, hegte ich selbst. Was soll ein Philosoph im Krankenhaus? Das war zuallererst meine Frage. Da ich mich aber um die Neubegründung einer Philosophie der Lebenskunst bemühte, konnte ich mich nicht gut vor der Erprobung in der Praxis drücken, denn wozu Lebenskunst, wenn sie im wirklichen Leben nichts taugt? Lebenskunst ist nicht in erster Linie für das gelingende Leben da, sie wird vielmehr vor allem dann gebraucht, wenn das Gelingen ausbleibt und Lebensfragen aufbrechen. Das aber geschieht verschärft dort, wo Menschen das Leben nicht mehr verstehen, da sie mit Lebenskrisen und Krankheiten konfrontiert sind. Also sagte ich zu und nahm die Arbeit auf, erstmals im September 1998, dann jedes Jahr wieder für die von Anfang an so genannten Philosophiewochen, während derer ich auf dem Klinikgelände wohnte. Ich bat lediglich um eine zeitliche Begrenzung des Engagements auf zehn Jahre: Der überschaubare Zeitraum, so hoffte ich, würde alle Beteiligten und mich selbst dazu motivieren, alles zu geben, mit der Aussicht, dann auch wieder etwas Anderes machen zu können. So kam es zum schwierigsten und zugleich lehrreichsten Projekt, auf das ich mich bis dahin eingelassen hatte.

Da ich durch nichts auf diese Tätigkeit vorbereitet war, wurde alles zum Experiment. Zwar hatte ich mir viele Gedanken zu den Bedingungen und Möglichkeiten des Lebens gemacht, doch was davon würde sich in der Praxis bewähren? Es bedurfte eines tastenden Vorgehens, um Schritt für Schritt ausfindig zu machen, was unter den gegebenen Umständen möglich ist. Zunächst war ungewiss, ob das Angebot überhaupt Anklang bei Patienten und Mitarbeitenden finden würde, sodann ungewiss, was daraus werden würde. Aber der Zuspruch war vom ersten Tag an groß und ließ auch nicht nach, als die Anfangsjahre vorbei waren, in denen das ungewöhnliche Projekt viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Es musste etwas damit verbunden sein, das nicht nur mir, sondern auch Anderen viel bedeutete, jedenfalls stellte sich mir die anfängliche Frage nach ein paar Jahren genau andersherum: Wie kommen eigentlich all die vielen Krankenhäuser ohne Philosophen aus?

Was ist dran an der Philosophie, die doch niemanden behandeln, niemanden im engeren Sinne therapieren kann? Sie kann helfen, das Leben besser zu verstehen, indem sie der Besinnung Raum gibt, also der Frage nach Sinn, um allein oder gemeinsam mit Anderen nach Antworten zu suchen. Sie ist ein Innehalten und Nachdenken, um Probleme zu identifizieren und zu analysieren, sie mit handlichen Begriffen fassbarer zu machen und mögliche Lösungen zu erkunden. Dass es im Krankenhaus außer um Behandlung auch um Besinnung geht, liegt nahe, aber ich bemerkte es erst vor Ort: Viele Menschen, die darniederliegen, verspüren ein existenzielles Bedürfnis, über ihre Situation, ihre Krankheit, ihr Leben und die Welt, in der sie leben, nachzudenken. Die Schlüsse, zu denen sie kommen, sind von Bedeutung dafür, wie sie ihre Situation bewältigen können. Und auch diejenigen, die für sie sorgen, sei es im direkten Umgang mit ihnen oder im Hintergrund, werden von Fragen zu ihrer Arbeit und ihrem Leben umgetrieben. Die Antworten, die sie finden oder die offenbleiben, sind von Bedeutung dafür, wie die Institution »funktioniert«, denn die lebt von den Menschen, die in ihr arbeiten.

In früheren Büchern habe ich die Lebenskunst im Umgang mit sich selbst, mit Anderen und der Welt insbesondere im vertrauten persönlichen Umfeld thematisiert.* Das vorliegende Buch widmet sich dem Leben und Arbeiten von Menschen außerhalb dieses Kokons. Auch wenn Lebenskunst als bewusste Lebensführung immer vom Ich ausgeht, kann sie nie beim Ich stehenbleiben, sonst wäre sie keine Kunst, sondern eine Dummheit. Das Ich ist verloren ohne Andere, die ihm zur Seite stehen, im engeren Umfeld wie auch außerhalb. Die Voraussetzung für den Beistand Anderer aber ist, dass es seinerseits Anderen beisteht und dies als Element seiner Lebenskunst begreift. Die Sorge für sich dient im Wesentlichen dazu, sich zur Sorge für Andere zu befähigen, aus bloßer Freude, aus Menschen- und Nächstenliebe oder eben in der Hoffnung, dass Andere sich zu gegebener Zeit um das Ich sorgen. Meist erst dann, wenn ein Ich die Sorge für Andere wahrnimmt, bemerkt es außerdem, wie sehr dies zu einer Erfüllung seines Lebens beiträgt, die es aus sich allein heraus kaum gewinnen kann.

Aus all diesen Gründen geht die Lebenskunst mit einer Ethik der Sorge einher, die außer der Selbstsorge eines Ich für sich auch die Sorge für Andere umfasst, um ihnen wiederum bei der Sorge für sich behilflich zu sein, und dies gerade dann, wenn ihr Leben schwierig wird. Die Ethik der Sorge macht andere Ethiken nicht überflüssig, die nach allgemein verbindlichen Werten und Prinzipien (Prinzipienethik) und nach gut begründeten Vorgehensweisen und Entscheidungen etwa in medizinischen Grenzfragen suchen (Angewandte Ethik). Aber jede Ethik ist letztlich auf die Haltung (das Ethos im Griechischen) und bewusste Lebensführung Einzelner angewiesen, die sich um ethische Fragen kümmern. Noch dazu ist die individuelle Ethik der Sorge die einzige, die auch Lebensfragen ernst nimmt und sie nicht als trivial abtut, also Fragen, die sich in Bezug auf kleine Alltagsdinge oder große Zusammenhänge des Lebens stellen, ohne dass es endgültige Antworten darauf geben könnte. Wo einst eine Religion mit heteronomer Sorge vorgeben konnte, letzte Antworten zu kennen, geht es in der philosophischen Lebenskunst um die Stärkung der autonomen Sorge Einzelner, um sie in die Lage zu versetzen, eigene Antworten zu finden, ausgehend von ihrem eigenen Interesse am Leben, ihren Erfahrungen und allem, was damit zusammenhängt. Mit dem Innehalten und Nachdenken, dem Philosophieren in diesem Sinne, beginnt die Suche nach provisorischen Antworten, die in der aktuellen Situation weiterhelfen und zugleich für andere Erfahrungen und Einsichten offenbleiben.

In einer Institution, die ganz auf die Sorge für Andere ausgerichtet ist, nehme ich selbst nun diese Ethik der Sorge wahr. Nach dem engeren Kreis des Umgangs mit sich und nahen Anderen ist dies der weitere Wirkungskreis der Lebenskunst: Vom individuellen zum institutionellen Rahmen. Fragen stellen sich: Was können Institutionen, auch Unternehmen, für die bewusste Lebensführung von Menschen tun? Was können Menschen in Institutionen und Unternehmen für sich und Andere und für die Rahmenbedingungen ihres Lebens tun?

Ein solches Nachdenken wäre an vielen Orten wünschenswert, nicht nur in Krankenhäusern. Alle Institutionen und Unternehmen nehmen Einfluss auf die Haltung und das Verhalten von Menschen, strukturieren zeitlich und räumlich ihr Leben vor, stellen Zusammenhänge zwischen ihnen her, ermöglichen ihnen Entfaltung oder hemmen sie, stellen Arbeit und Einkommen zur Verfügung oder auch nicht, eröffnen Chancen fürs Leben oder verschließen sie. Dass sie das Ich übergreifen und überdauern, gibt ihnen Bedeutung weit über das einzelne Leben hinaus: Viele Individuen können in ihnen aufblühen, aber auch verwelken. Individuen sind es im Gegenzug, die die Institutionen und Unternehmen mit Leben erfüllen oder leerlaufen lassen, je nachdem, wie sie die Sorge für sich und Andere wahrnehmen.

Auf dem Weg zur Lebenskunst und Ethik der Sorge können Philosophen behilflich sein, nicht zwingend nur Berufsphilosophen, sondern auch philosophisch interessierte Psychologen, Therapeuten, Theologen und Andere, die sich durch das Bemühen um einen weiten Horizont des Denkens und der Erfahrung auszeichnen. Auf der Suche nach einem Begriff für meine eigene Arbeit als Philosoph im Krankenhaus kam mir die philosophische Seelsorge in den Sinn, in Erinnerung an Sokrates, der seine Tätigkeit, Gespräche mit Menschen über Lebensfragen und Fragen einer Ethik der Sorge für sich und Andere zu führen, Seelsorge nannte. Erst später wurde ein Begriff der Theologie daraus. Die erneute Befassung mit der Seelsorge könnte eine notorische Schwäche der modernen Philosophie beheben und den Praxisbezug stärken, den diese bräuchte, um ihre Theorien erproben und korrigieren zu können. Nicht nur die immer neue Produktion von Theorien ist von Interesse, sondern auch deren gelegentliche Überprüfung, um aussortieren zu können, was sich nicht bewährt.

 

Was ich der Zeit in Affoltern verdanke, ist ein enormer Reichtum an Empirie im Sinne von Erfahrungen, die zum Korrektiv für meine eigenen Theorien werden konnten. Der vorliegende Bericht davon will nicht etwa ein Modell schildern, das auf andere Situationen und Institutionen übertragbar wäre, sondern diskutable Beispiele für eine philosophische Praxis im weiteren Sinne vorstellen. Einige Erkenntnisse könnten in eine philosophische Aus- und Weiterbildung einfließen, die über die weiterhin erforderlichen theoretischen Grundlagen hinaus auch auf praktische Tätigkeitsfelder vorbereitet. Die akademische Philosophie sollte sich verstärkt auf dieses Terrain der Lebenshilfe vorwagen, das sie grundlos scheut: Ihre denkerische Kompetenz, historisch und systematisch geschult, kann für Menschen in praktischen Nöten sehr hilfreich sein, auch wenn sie selbst das kaum für möglich hält.

Da die Arbeit im Krankenhaus eine sehr persönliche Erfahrung war, die mir naheging, obwohl sie vergleichsweise wenig Zeit beanspruchte, habe ich dieses Buch aus der Ich-Perspektive geschrieben. Namen und Daten wurden geändert, wenn es um des Persönlichkeitsschutzes willen nötig erschien, angezeigt mit einem Sternchen* bei der ersten Nennung. Das Buch enthält keine objektiven Wahrheiten, sondern subjektive Wahrnehmungen. Ich widme es den Menschen, denen ich begegnet bin und die damals dort gearbeitet haben, wo ich so viel über das menschliche Leben, die Bedingungen einer Institution und die Möglichkeiten der Philosophie lernen konnte. Gemeinsam praktizierten wir die Philosophie in ihrer einfachsten Form: Als Methode, sich zu besinnen. Ein auf Schritt und Tritt spürbares Entgegenkommen vieler Menschen hat die Erfahrung der Fremdheit an diesem ungewohnten, ungewöhnlichen Ort abgemildert. Zu keinem Zeitpunkt musste ich befürchten, ein unerwünschter Fremdkörper zu sein. Nur selten hatte ich den Eindruck, fehl am Platz zu sein. Von Grund auf fühlte ich mich aufgenommen in das Haus mit dem Wort, das ich zuallererst hörte: »Willkommen!«