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Sterne sind aus Plasma und Gas gemacht. Der Vater muss es wissen, ein weit über Salzburg hinaus bekannter Astrophysiker. Hanna Werbezirk hält sie trotzdem für ewig. Und hat wenig Lust, ihm als Assistentin in seinem astronomischen Labor zu dienen. Im Nachtstudio hört sie heimlich die Vortragsfolge eines Autors, dessen Namen sie sich merken wird. Wiesengrund. Er könnte hilfreich sein, für sie die Frage nach der Beschaffenheit der Sterne zu klären. Seine Worte, wendig und wandlungsfähig, eröffnen ihr den Blick in eine Welt mit eigenen Gesetzen. Das Gefühl einer Komplizenschaft mit dem radiophonen Mitternachtsbesucher macht aus der Lektüre seiner Schriften ein von Herzklopfen begleitetes Ereignis.

 Als Studentin der Philosophie reist Hanna einige Jahre später nach Frankfurt am Main, um Wiesengrund in natura zu erleben – und gerät in gänzlich neue Sphären. Die politischen Turbulenzen der Zeit wirken auch in ihre neuen Lebensverhältnisse hinein. Vor allem aber steht sie jenem magischen Feld gegenüber, das sie selbst um den hazardeurhaften Denker errichtet hat.

 

Wiesengrund ist der zweite Roman von Gisela von Wysocki nach ihrem gefeierten Romandebüt Wir machen Musik.

»Sie erzählt mit dem sprühenden Elan einer Autorin, die viel vom Tragischen weiß und die entlastende Funktion der Komik kennt.« (Verena Auffermann, DIE ZEIT)

 

Gisela von Wysocki, geboren in Berlin, Essayistin, Theater- und Hörspielautorin, Literaturkritikerin, studierte Musikwissenschaft in Berlin und Wien und Philosophie bei Theodor W. Adorno. Für ihre Veröffentlichungen Die Fröste der Freiheit; Weiblichkeit und Modernität. Über Virginia Woolf und Fremde Bühnen. Mitteilungen über das menschliche Gesicht wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Gisela von Wysocki lebt in Berlin.

 

 

Gisela von Wysocki
Wiesengrund

Roman

Suhrkamp Verlag

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagfoto: Ilse Bing, »Selbstporträt in Spiegeln«, 1931, Museum Ludwig, ML/F 1988/0178, Köln, Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

 

eISBN 978-3-518-74812-1

www.suhrkamp.de

Inhalt

Äther

Kippfiguren

Gleichzeitigkeit

Ruhelose Nachbarschaft

Vergrößerung

Verwegen planlos

Anwesend, aber nicht da

Andere Welt

Philosophisches Spielzeug

Geisterreich

Fliehkräfte

Heimliches Zentrum

Mixturen

Zeitlupe

Augenmaß

Fernsprecher

Für und wider

Verglasung

Sehenden Auges

Unschärfe

Trennschärfe

Sprechstundenprotokoll I

Ein Schuss Fremdheit

Opernglas

Sprechstundenprotokoll II

Denkspiel

Kuckucksei

Sprechstundenprotokoll III

Im Taumel

Sog

Der Schlenker

Weitwinkelperspektive

Sprechstundenprotokoll IV

Blickwinkel

Äther

Hellwach. Im Dunkeln warte ich ab. Um Mitternacht kommen die Gäste. Sie sind das Beste, was der Tag zu bieten hat. Dieses Mal ist es ein Besucher, der sich stark von den bisherigen unterscheidet. Auf die Schnelle könnte ich nicht sagen, wodurch. Aber ich höre es sofort. Später versuche ich, mich an seinen Namen zu erinnern. Bei seiner Erwähnung bin ich wahrscheinlich damit beschäftigt gewesen, das Radiogerät unter der Bettdecke zu verstauen.

Die Leute, die nachts hier eintreffen, haben keine Mäntel an der Garderobe abzugeben. Sie fläzen sich auch nicht in irgendwelchen Sesseln herum. Mit solchem Allerweltsgebaren halten sie sich gar nicht erst auf. Ich betrachte sie als Elementargeister. Sie hausen in der Luft, schwingen sich durch Frequenzbereiche und teilen sich durch Wellenlängen mit. Was mir an ihnen wichtig ist, sind ihre Stimmen. Sie reden mit mir. Sie teilen mir unerhörte Dinge mit. Wie gesagt, das Beste, was so ein Tag im Angebot hat. Jetzt, in diesem Moment, ist Mitternacht und Nachtstudio-Zeit von Radio Wien. Stützpunkt und Herzstück der Stunde ist ein Gerät der Firma GRUNDIG Radio-Werke. Braunes Holz, grün schillerndes Glas und die Namen diverser Sendestationen.

Mir genügen ein paar Sekunden für die Entscheidung, welcher der weitgereisten Besucher vorgelassen wird. Wer nach Hause geschickt wird, bekommt es mit der weißen Taste zu tun. Die Kandidaten haben wenig Zeit. Es geht um alles oder nichts. Sie haben Neues mitgebracht: dann dürfen sie bleiben. Sie langweilen oder strapazieren mich: die Taste! Weg sind sie. Viel habe ich ihnen nicht zu bieten, sie haben nicht mehr als einen stickigen Hohlraum, eher eine Höhle zu erwarten. Ich kann ihnen aus ganz bestimmten Gründen keinen besseren Empfang bereiten.

Meine Besucher reisen schallwellenverschlüsselt an. Ihnen ist es egal, wo und von wem sie am Ende aufgepickt werden. In einem gut klimatisierten, schön beleuchteten Wohnzimmer. Oder in einer erbärmlichen, luftlosen Unterkunft, die überhitzt und dunkel ist. So wie bei mir. Zu allem Überfluss hat ihre Ankunft lautlos, so unbemerkt wie nur möglich zu geschehen. Nur ich darf von ihnen wissen, nicht der Vater, der im Nebenzimmer mit seinen astronomischen Skalen, Notizen, Büchern und Berechnungen beschäftigt ist. Ich nenne ihn »Alasco«. Nach einem Hauptreihenstern im Sternbild des Kleinen Bären. Hundert Lichtjahre von uns entfernt. Dort würde ich ihn in der Mitternachtsstunde am liebsten sehen. In Wirklichkeit sitzt er nebenan und kann hören, was sich in meinem Zimmer tut.

Kein Laut von der Gasse, sie führt wie ein totes Gleis am Haus vorbei. Salzburg versackt um diese Zeit in einer Stille, die an den nachdrücklichen Ernst der Totenstille erinnert. Sie ist mein Feind. Sie macht, dass meine Besucher so tun müssen, als gäbe es sie gar nicht. In den Augen des Vaters sind es Unruhestifter. Für ihn handelt es sich um unrechtmäßige Begegnungen, die sich unter seinem Dach abspielen. Nach zweiundzwanzig Uhr soll ich schlafen und nicht Radio hören. Deshalb muss ich mich unter die Bettdecke verziehen, zusammen mit meinem Radiogerät. Jenem Gehäuse, in dem meine Gäste mithilfe einer Vielzahl physikalischer Vorgänge ihren großen Auftritt haben. »Denk an deine schlechten Noten, Hanna. Denk an die verpatzten Mathematikarbeiten. Denk an die Matura!«

Die Stimme, ungewohnt streng, passt nicht zum Vater. Eher gehört sie dem Herrn Professor Werbezirk, der sich vor den Fachkollegen der Wiener TU für seine depperte Tochter schämt. Er selbst gibt mir ein Beispiel für entsagungsvolle Ausdauer und Disziplin, schlaflos, in seinem Bemühen, der Entstehungsgeschichte der Sterne auf den Grund zu gehen. Staub zuerst, lückenhaft Koordiniertes auf seinem Weg, einen Körper zu bilden, zu einem Stern zu werden. Ich sehe ihn vor mir, den wachen, wachsamen Alasco. Fast als wäre überhaupt keine Wand zwischen uns. So kommt es, dass sich die Gäste nur im Flüsterton äußern dürfen. Nur als verheimlichte Anwesende. Sie behaupten sich als top secret in einer nur mir zugänglichen Umgebung. Heiß ist es, beengend. Ich muss die Bettdecke immer wieder zur Seite schlagen. Muss auftauchen, Atem holen. Dabei stelle ich jedes Mal überrascht fest, wie unbekannt mir mein Zimmer in der Dunkelheit vorkommt. Ich weiß auf einmal nicht mehr, wo was steht und wie sich der Tisch, die beiden Sessel und die Lampe anordnen im Raum. Oder der Bücherschrank. Dabei habe ich doch jedes Mal nur wenige Minuten, höchstens zwei, vielleicht drei, unter der schallschluckenden Decke zugebracht. Genauestens dosiert ein- und ausatmend, Luft einsparend. So lange es nur geht.

Der Name des heutigen Reisenden, vom Radiosprecher angekündigt, hat nicht mehr als ein schnell vorbeiziehendes Geräusch erzeugt. Ich versuche, es in seinem Nachhall zu erwischen, so, wie man sich beim Schlagen einer Uhr im Nachhinein um die genaue Zahl der Schläge bemüht. Das Resultat ist ein bunter Mix aus Konsonanten. Das Wort »Wesendonck« schält sich heraus, dem aber die »i«- und »u«-Laute fehlen. Auch möglich: Musenkind. Hund oder Mund. Riesenmund! So heißt bestimmt niemand! Viele Nachtstudio-Besucher haben sich schon bei mir zu Wort gemeldet. So also geht's zu bei den belesenen Berühmtheiten, dachte ich oft. Sie machen dir Angebote. Da ist die Welt, und wir haben dies und das über sie herausgefunden. Der Mitternachtsbesucher von heute hat kein Interesse daran, mir etwas zu zeigen. So ist es, das Denken, teilt er mir mit. Es ist ruhelos, und es ist rabiat. Friss, Vogel, oder stirb. Ich zeige mit meinen Worten auf ein Feuer, gibt er mir zu verstehen. Deine Sache, was du damit machst!

Zuerst mal für Luft sorgen. Gerade jetzt gehen die Reserven zu Ende. Ich muss auftanken, mich hinüberretten in die sauerstoffhaltige Region meines Zimmers. In der Regel lässt sich überblicken, in welcher Richtung der Sprecher weitermachen wird. Dieses Mal nicht. Der namenlose Sendbote hinterlässt keine Spuren, nur ein Staunen bei mir.

Das Zimmer empfängt mich mit einer unnatürlichen, betretenen Stille. Unter dem Plumeau, knapp oberhalb der Hörbarkeitsgrenze, zieht währenddessen die pausenlose Wortflut weiter, gleich bin ich wieder dabei. Noch ein paar tiefe Atemzüge, das kostet Zeit. Wieder ein Bruchstück, das mir fehlen wird. »Domizile des Augenblicks«, so hat der Radiosprecher den Beitrag genannt. Ich komme gerade noch rechtzeitig in mein Bettenbergdomizil, um den unbekannten Gast über Franz Schubert sagen zu hören, seine Musik habe sich des Potpourris bedient, um zu eigenem Leben zu finden. Schuberts Musik ein Melodienreigen? Ich atme aus, wenig. Vorsichtig. Jeder Atemzug eine Verknappung der Reserven. Bedenken Sie die Heruntergekommenheit des Potpourris, möchte ich dem Mann aus dem Radio zurufen. Seine Armseligkeit! Sein Kurorchesterniveau, Herr WiesenmundundUntergrund! Der geschäftige Mitteilungsstrom ähnelt einem schnellfahrenden Zug. Einem Zug, der sich in Bögen und Schleifen eilig vorwärts bewegt. Ein von Geisterhand beschleunigtes Vehikel.

Kaltblütig ist dieser Nachtstudio-Gast. Eine Ahnung sagt mir aber, er werde auf irgendeine Weise noch das Ruder herumreißen. Wie ein Kind verlasse ich mich darauf, dass Franz Schubert nicht im Desaster enden wird. Ich setze darauf, dass die Rettung zum Greifen nah ist. Dass es nur eines winzigen Schlenkers bedarf, um den zum Brettlmusiker herabgestuften Komponisten auszulösen. Ich halte durch unter dem heißen Deckbett. Eine Plage, das menschliche Atmungssystem! In diesem Moment fällt das Wort »Symphoniesatz«, und die mächtige Stimme breitet lauter Wörter vor mir aus, die mit »K« beginnen. Konflikt. Konfrontation. Kraftprobe. Ludwig van Beethoven geistert als Gebieter durch das Gelände, ein mithilfe von Kollision und Zuspitzung zu Höhepunkten befähigter Meister. Vom Krieg der Strukturen ist die Rede. Tonfolgen entpuppen sich als Führungskräfte. Klangliche Motive stehen auf Kriegsfuß miteinander.

Das Herz schlägt. Angestrengt. Beschleunigt. Ich bin ein verschwitztes Schlafanzugbündel. Schubert, höre ich, ist ein Symphoniesatz-Deserteur. Ein musikalischer Überläufer. Mein Kopf muss aufgebläht aussehen. Und puterrot. Eine Minute noch, dann platze ich. Schubert, ein Abtrünniger. Abgestellt auf Nebenschauplätze. Die Verkörperung des Wiener Gmiat – ein Fahnenflüchtiger! Das ist der Stand der Dinge. Der Mitternachtsbesucher hat Hand an sie gelegt, ich erkenne sie nicht wieder. Aus sehr weitem Abstand blicken sie zu mir hinüber. Die Stimme bahnt schnelle Verbindungen, sie hat schon auf mich abgefärbt. Sindbad der Seefahrer baut sich plötzlich vor mir auf. Ein schäbiges, lose verkeiltes Wrackteil ist neben ihm zu sehen. Der aus Holz und Hanfseilen verknotete Klumpen hat ihm geholfen, sich vor dem riesigen Vogel Rock in Sicherheit zu bringen. Das schäbige Potpourri! Der Rettungsanker! Es fügt sich alles, aber wie unter anderem Namen.

So lange wie überhaupt nur möglich werde ich durchhalten in meinem bettverhangenen Käfig. Das Potpourri der Lieder und Ländler schaut nicht auf erhobene Häupter, sondern auf gebrochene Herzen, sagt die Stimme. Sie ist als ätherisches Erzeugnis, als ungreifbare Welle vitaler als ich in diesem Moment. Es hat sich an diesem Abend kaum die Gelegenheit ergeben, dem nächtlichen Studiogast wie sonst immer meine Einwände, meine Zurechtweisungen zuzuzischeln. Der geisterhafte Besucher hat mich nicht dazu kommen lassen, den aufgebrachten Zwischenrufer, das gescheitere Gegenüber zu spielen. Es wird wieder Zeit, ich muss mich aus der Decke winden. Ohne den Lautstärkeregler zu vergessen. Ohne zu versäumen, ihn auf die leiseste Stufe zu stellen, bevor ich mit dem Kopf nach oben tauche, Luft hole. Manchmal arbeitet Alasco durch bis zum Morgen. Immer dann, wenn er am nächsten Tag nicht nach Wien im Institut sein muss. Dann kann ich hören, wie er seinen Stuhl beiseiteschiebt oder noch spätabends telefoniert. Ich weiß, wie leicht eine Stimme durch die Wand dringen kann.

In der Stille des Zimmers schnappe ich nach Luft. In hohen Konzentrationen ist Sauerstoff für die meisten Lebewesen giftig, hat der Chemielehrer gesagt. Ich glaube ihm nicht, nicht in diesem Moment. Ich kann gar nicht genug davon kriegen. Ohne zu zögern, würde ich zur Höchstdosis greifen. Mein Zeitgefühl sagt mir, dass die Sendung in wenigen Augenblicken zu Ende ist. So schnell es geht, tauche ich in meine Unterweltbleibe zurück. Bloß jetzt nichts falsch machen. Bloß nicht die Ansage versäumen, den Namen des Besuchers, beinahe wäre es schon wieder passiert. Ich hätte mit dem raschelnden Geräusch der Bettdecke rechnen müssen. Ich hätte sie entweder blitzschnell, mit einer flinken Bewegung zur Seite schlagen müssen. Oder langsam, lautlos. Deshalb habe ich den vollständigen Namen wieder nicht richtig verstanden. Dem Klang nach ist er nicht allzu weit von der Wesendonck-Riesenmund-Vermutung entfernt. Es kann Wiesengrund geheißen haben.

Auf dem Schulweg am nächsten Morgen denke ich an den Abend wie an eine Art von Ausnahmezustand zurück. Hat es mit den Einflüsterungen im Dunkeln zu tun? Mit der Anspannung und Gier, sich nichts von ihnen entgehen zu lassen? Mit dem Geheimnis einer unverhältnismäßigen Nähe? Nähe der Stimme? Dazu noch die Daunendecke. An sie erinnere ich mich wie an eine Bandage. Sie passt nicht zu dem, dachte ich, was mir von dem Gehörten im Gedächtnis geblieben ist. Kaum Details. Merkwürdig. Nur im Ganzen ein Ton.

Kippfiguren

Ich weiß auch nicht, warum ich am nächsten Tag unentwegt an Alascos Sterne denken muss. Das heißt an Kindheit. An das Hin und Her, das Einerseits und Andererseits. An Stückwerk, das von mir verlangt, auf irgendeine Weise zusammengesetzt zu werden. Der Unbekannte von gestern Abend hat eine neue Bühne eröffnet. Die Bühne könnte ein Boot sein. Ich sitze mit im Boot. Es gibt einen Dreh, ich kann ihn aber nicht beschreiben. Nur einer Bewegung, gymnastisch, temporeich, nachspüren. Den schnellen Umschaltungen von Sinn und Bedeutung. Und wie sie die Dinge an sich reißen, keins kann ausscheren. Kippfiguren. Philosophen, dachte ich immer, haben mit der Wahrheit zu tun. Ich wundere mich darüber, dass der gestrige Mitternachtsgast sich wenig darum kümmerte. Bemitleidenswert wirkt sie trotzdem nicht auf mich, die Wahrheit. Eher im Gegenteil, sie platzt aus allen Nähten. Kommt in abenteuerlichen Aufzügen daher mit Gesichtern, die mal so und mal so aussehen.

Alasco sorgt in seiner Welt dagegen für Ordnung. In seinem Weltall, könnte man im Hinblick auf seinen Beruf sagen. Ich turne etwas ratlos zwischen ihren Beständen herum. Meistens treffen wir am Abendbrottisch zusammen, die wichtigen Mitteilungen finden immer dort statt. Ich werde über Meteoritenfunde am Südpol informiert und über Kometen, die wie der Teufel leuchten und deren Kern schwärzer als Asphalt ist. »Meteoriten verglühen, Kometen explodieren.« Alascos Worte sind vom Geklapper des Bestecks und von Essgeräuschen begleitet. »Sterne steabn a.« Immer, wenn seine Gemütslage, und sei es nur minimal, aus ihrer Mittellage ausschert, verfällt er in sein österreichisches Idiom. Ich weiß noch genau, dass der Satz in zwei Hälften zerfiel, er hatte einen Hänger. Alasco war nach dem ersten Wort, mitten im Satz, mit Weintrinken beschäftigt gewesen und dann erst mit der Todesmeldung der Sterne herausgerückt. Acht Jahre war ich alt, und das Herz klopfte in diesem Moment lauter als sonst. Wie ein Werkzeug, das kräftig zuschlagen muss. Ich lachte laut auf, ich setzte darauf, dass Alasco sich einen Spaß mit mir machte.

Er musste meine Verwirrung bemerkt haben, später rief er mich in sein Arbeitszimmer und zeigte mir ein Foto. Ich schaute auf eine in Dunst gehüllte Ansammlung von Getupftem und Gesprenkeltem. In ihrer Mitte ein vereinzelter heller Punkt. »A Stern«, sagte er, »von dem in hundattausend Joan nix mehr üba is.« Es fielen Worte wie »auskühlen«, »noch einmal aufleuchten« und »erlöschen«. Ich hatte etwas so Furchtbares wie das Ableben der Sterne nicht für möglich gehalten. Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass sich in ihrer Welt ein derart herzergreifender Vorgang wie der des Erlöschens ereignen könnte. Das Wort klang nach einem in die Länge gezogenen Todeserlebnis. So, als könne ein Stern sich selber dabei zuschauen, wie er stirbt und sein Licht allmählich immer schummriger wird, sich immer weiter verdüstert. Es war der erste Himmelskörper in meinem Leben, der eine Krankengeschichte hatte. So leicht aber würde ich mir das ewige Leben der Sterne nicht kaputt machen lassen. Nicht erlauben, dass man ihnen etwas so Tollpatschiges wie einen Erschöpfungszustand in die Schuhe schob. Sie wie ein Tier dastehen ließ, das alle viere von sich streckte.

Von da an schaute ich hin, wenn sich abends ihr unruhig flackerndes Licht am Himmel zeigte. Man konnte es tatsächlich für ein Zittern halten. Zur Not auch wirklich für das Zittern eines Patienten. Ich setzte fest auf seine Widerstandskraft. Insgeheim überhäufte ich Alasco, den unwillkommenen Überbringer schlechter Nachrichten, mit Vorwürfen. Ich nahm ihm seine Unverfrorenheit, seine Schamlosigkeit übel. Für einen kurzen Augenblick hielt ich ihn sogar für den leibhaftigen Mörder der Sterne. Für einen tollwütigen Täter, der Hand an ihre Unvergänglichkeit legte. Er, der auf Du und Du mit den Sternen stand, der sich von früh bis spät mit ihnen beschäftigte. In seinem Arbeitszimmer, auf Vortragsreisen, in seinem Wiener Institut. Der gutmütige Alasco. So anmaßend konnte er sein. Und so gewissenlos. Glaubte er tatsächlich, der dürftigen Abbildung vertrauen zu dürfen? Grobkörnig fotografiert, vermutlich verwackelt?

Seit diesem Abend litt ich mit den Sternen. Sie machten jetzt manchmal einen abgerissenen, entrechteten Eindruck auf mich. Wie Könige nach ihrer Absetzung. Könige im Exil, einem Schicksal ausgesetzt, das nicht für sie bestimmt war. Alasco schien sich damit abgefunden zu haben. Ihm machte es offenbar nichts aus, dass seinen Sternen keine Ewigkeit zustand. Im Gegensatz zu mir traute er ihnen kein mit dem Himmel fest verwachsenes Dasein zu. Keinen Für-immer-und-ewig-Anblick. Der Zwiespalt, in dem ich mich befand, fühlte sich tiefgreifend an. Eine Ungereimtheit war aufgetaucht, die ich nicht auf sich beruhen lassen konnte. Es war ein Ding mit Ecken und Kanten, es wollte sich nicht fügen, nicht so ohne weiteres.

In klaren Nächten sah ich ein glitzerndes Vibrieren dort oben, ein überbordendes Leben. Ich war der Meinung, diesem Anblick könne man jede Art von Unvergänglichkeit zutrauen. Jede Art von Ewigkeit. Je länger ich mich in den mit funkelnden Lichtpunkten übersäten Himmel vertiefte, desto sicherer war ich mir, dass die Sterne ihren Tod verkraften würden. Alasco nannte ihn den Fingerzeig der Materie. Das dürfte zumutbar für sie sein. Ein Fingerzeig!, was ist das schon! Mit diesem Gedanken verabschiedete ich mich von der Aufgabe, mir tote Sterne vorstellen zu müssen. Das wollte ich mir für später aufheben.

Was gar nicht so einfach war. Unaufgefordert setzten sich alle möglichen Vorstellungen und Überlegungen bei mir fest. Sie hatten mit der Welt weit oberhalb der Häuser, der Gärten und Gassen zu tun. Mit jenen fernen Gebieten, in denen Alasco sich wie ein Fisch im Wasser bewegte. Ich hätte es ihm gerne nachgemacht. Eine Ahnung sagte mir, dass ich es nicht hinbekommen würde. »Sonne, Mond und Sterne«, antwortete er lachend, wenn ich nach seinem liebsten Spielzeug fragte. Er fügte die Begriffe so schnell zusammen, dass sie wie ein einziges Wort klangen. Märchenhaft und ein bisschen überirdisch. Die metallisch blitzenden oder schwarzlackierten Instrumente in seinem Arbeitszimmer konnte ich deshalb lange nicht mit SonneMondundSterne in Verbindung bringen. Die helle, blaue oder wolkenverhangene Decke über uns und die lotrecht konstruierten Geräte im Arbeitszimmer machten den Eindruck, als gäbe es auf der ganzen Welt nichts Gegensätzlicheres als den Himmel und sie. Geräte, die, wie ich später erfahren würde, Rekonstruktionen sind. Altertümliche, in die Zeit von Kopernikus zurückreichende Apparaturen: Messgeräte für das Ausmaß der Gestirne, die Stellung der Fixsterne, den Stand der Sonne. Alasco bezeichnete sie als die jeweils fortgeschrittensten Erfindungen ihrer Zeit.

Sogar ein Kometensucher war dabei. Und ein Heliostat. Dieses Wort beherrschte ich schon, bevor ich es schreiben konnte. Der Heliostat stand auf einem Extratischchen und nahm viel Platz im Arbeitszimmer ein. Sein verzweigtes Gefüge aus kleinen Rädern, Scheiben und Stäben bot einen befremdlichen, kuriosen Anblick. Er ließ erahnen, wie hochgradig die Unbekanntheit war, die es zu bewältigen galt. Eine Puppe zum Spielen für mich wäre keine schlechte Idee gewesen. Als Möglichkeit einer Annäherung an die etwas naheliegenderen Eigenschaften des Erdballs. Auch eine holzgeschnitzte Kuh zum Beispiel, ein Hund, eine Ente, die auf Knopfdruck quaken konnte.

Die Bilder, die Fotos in Alascos Büchern stellten mir die immer gleiche Frage, »Ich bin ein Stern, und wer bist Du?« Ich hätte ihnen antworten können: »Das weiß ich nicht. Aber mein Vater ist einer von euch«, er trägt den Namen »Alasco«. Zu einer Zeit, als ich Jack Londons Alaska Kid las, hatte er einmal einen Stern erwähnt, der Alasco hieß. »Alasco gehört zum Sternbild des Kleinen Bären«, erklärte er mir. Ein Wort, das nach Schnee, nach dem Weiß des winterlichen Himmels, nach dem kühlen Licht von Gestirnen klang. »Sag noch was über ihn.« Wir saßen zusammen in seinem Arbeitszimmer, dem geheimen und geheimnisvollen Zentrum der Wohnung, und ich erfuhr, dass Alasco knapp hundert Lichtjahre entfernt und größer als die Sonne ist. Größer also als 4 ‌379 ‌000 Kilometer. Wie mit seinem Gedächtnis verwachsen, die Zahlen. »Der Gute bringt a Menge unverbrauchten Brennstoff mit. So viel, dass er heut noch genauso ausschaut wie in der Antike.« »Alasco, du weißt viel«, sagte ich. Seit diesem Gespräch stellte ich mir den Vater wie einen Behälter vor, ein Riesengerät, das Zeiträume, Entfernungen und Sterne hortete.

Als ich sie zum ersten Mal am Himmel entdeckte, hatten sie einen überaus lebendigen, geradezu leibhaftigen Eindruck auf mich gemacht. Wir standen an einem Dezemberabend auf dem Residenzplatz, und Alasco zeigte mit dem Arm nach oben zum Himmel. Ich hatte die weißen, einschüchternd feierlich aussehenden Pünktchen dort schon früher bemerkt. An diesem Abend aber ließ mich Alasco durchs Fernglas blicken und dicke, knusprig aussehende Mehlspeisstreuseln sehen, ein dicht belegtes Kuchenblech, das sich in den Himmel verirrt hatte. Am nächsten Morgen war nichts mehr von ihnen zu sehen. Kein Fernglas der Welt hätte sie jetzt hervorzaubern können. Nur nachts ließ sich beobachten, was für ein Betrieb da oben herrschte. Wie sich die Sterne, dicht an dicht, regelrecht auf die Füße traten. Erst dann, erst nachts, gaben sie Lebenszeichen von sich. Als Blechkuchen oder als die unbegreiflichen Geschöpfe, die man Gestirne nennt und für ewig hält. Immun gegen alle Fernrohre der Welt und widerstandsfähig gegenüber Alascos Bemühungen, sie zu seinen Untersuchungsgegenständen zu machen.

Es war wie mit den Vexierbildern meiner Tante Gerwisa Vogel. Wenn sie uns besuchte, hatte sie immer eine Überraschung dabei. In ihren Bildern waren Gesichter, Bäume, Berge, gedeckte Tische, alles Mögliche untergebracht. Und alles auf einmal. Aber irgendetwas davon war immer unsichtbar. Hatte sich versteckt im Hinterhalt sich überkreuzender Linien, sich überlappender Silhouetten. War der Baum zu sehen, hatte der Tisch sich in Luft aufgelöst. Wenn der Tisch zu sehen war, gab es die Frau mit Hut nicht mehr. Es waren Bilder voller Schlupflöcher und Fallen. Jedes Ding führte sein ganz eigenes Leben, aber immer nur für kurze Zeit. Es erschien auf der Bildfläche, tauchte im nächsten Augenblick in die Unsichtbarkeit ab, nur um woanders wieder neu zu sehen zu sein.

Wenn wir bei Dunkelheit unterwegs waren, zeigte Alasco mir meistens irgendein glitzerndes Detail am Himmel. »Andromeda«, sagte er. »Das Kreuz des Südens, der Große Bär.« Namen, in deren Nähe man sich sofort hätte Geschichten ausdenken können. Aber dazu kam es erst gar nicht. Alasco trug seinen teleskopischen Blick immer bei sich. Dann blieb den Sternen nicht einmal mehr ihr Funkeln, ihr zitterndes, flirrend ruheloses Licht, es verwandelte sich unter der Hand in eine Eigenschaft der Erdatmosphäre, in ein Resultat ihrer Turbulenzen. »Was du siehst, ist ein Störfeld.« Alasco wollte mich unbedingt zu seiner Mitwisserin machen. Am liebsten hätte ich zu ihm gesagt, »Du bist hier das Störfeld«. Sterne, die eben noch bebten, in ihrem seltsamen Taumel zwischen Licht und Dunkelheit fahrig vor sich hinflackerten, lebendig bewegte Körper, Naturgeschöpfe, machten sich klein, wenn er zupackte. Krümmten sich und nahmen gefährliche Eigenschaften an. Gasriesen nannte er sie. Temperaturbomben. Eine Zeit lang hielt ich es sogar für möglich, dass es an den vielberedeten Linsen, Prismen und Okularen lag. Dass sie schuld daran waren, wenn aus den Sternen etwas so Unschönes, ja, Todbringendes werden konnte wie eine Bombe.

Das ist alles lange her. Wie gesagt, ich kanns mir nicht erklären, kann nur vermuten, warum ich heute an diese alten Geschichten denken muss. Während ich hier mit Alasco am Abendbrottisch sitze, fällt mir immer wieder die Radiostimme von gestern ein. Liegt es an ihr, dass mir diese frühen Fragen auf einmal wieder in den Kopf kommen? Dinge, an die ich ewig nicht mehr gedacht habe? Und selbst wenn es so wäre, könnte ich im Augenblick den Grund dafür nicht erkennen. »Alasco, was hast du heute gemacht?« »Das kann ich dir ganz genau sagen. Ich habe mich in den Unterlagen über Simon von Stampfer umgetan.« Er plant seit langem eine Untersuchung über Salzburgs bedeutendsten Astronomen. »Eine Größe, berühmt in ganz Europa. Gestorben? Wie sie alle starben, unsere Genies! Erst verehrt, dann vereinsamt. Der Stampfer. Er hat uns die Abfolge der Sonnenfinsternisse berechnet. Unter anderem.«

Das habe ich nun davon! Aber es war ja meine Idee, den Vater umzutaufen, ihm einen Sternennamen zu geben. Sein gutes Recht, sich daran zu halten. Ein guter Esser ist er aber trotzdem, also ein ganz diesseitiges Gestirn. Jetzt zum Beispiel beißt er in ein Radieschen und fuhrwerkt mit Messer und Gabel in einer Frikadelle herum. »Was würdest du dem wirklichen Alasco, dem vom Sternenhimmel, von uns und unserem Leben erzählen?« »Das, was für ihn am interessantesten ist. Da wäre zum Beispiel die Gasse, in der wir wohnen, der alte Handelshof, die Flachdächer und Turmspitzen. Die Blumenrabatten im Mirabellgarten nicht zu vergessen, der Ausblick, den man von der Festung aus hat!« »Ich weiß schon, was du denkst«, sage ich. »So ein Sternenauge möchte wenigstens ein Mal in seinem Leben etwas anderes sehen als das schwarze Nichts.« »Da schau her! Nicht, dass du mir irgendwann eine Dichterin wirst! Du sollst doch meine Assistentin werden, nach der Matura.« Dann erzählt er mir von Kometen, die den Namen »schmutzige Schneebälle« haben. Heller Stern oder schmutziger Schneeball. Das ist die Frage, Alasco wird sie mir nicht beantworten können.