Über das Buch:
War Paulus ein Jude? Oder war er der Gründer des Christentums? Für die einen ist der streitbare Apostel ein Held, weil er die engen Grenzen des Judentums durchbrach und aus dem Christentum eine Weltreligion machte. Für andere gilt er als Abtrünniger und Verräter, der den Glauben seiner Väter verließ.
In neuerer Zeit mehren sich jedoch die Stimmen, die ein anderes Bild von Paulus entwerfen: Das Bild eines Juden, der seinem Glauben treu blieb, aber ihn hineintrug in eine neue und veränderte Welt. Dieses Buch geht den Spuren dieses Weges nach und zeigt, dass für den Juden Paulus der alte Glaube der Bibel nicht im Widerspruch steht zu den neuen Herausforderungen einer veränderten Kultur.

Über den Autor:
Dr. Guido Baltes ist evangelischer Theologe und lebt mit seiner Frau Steffi in Marburg. Er ist Dozent für Neues Testament am MBS Bibelseminar.

Kapitel 7 – „Den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche?“

Einheit und Vielfalt in der Gemeinde

Für viele Christen zeigt sich die vermeintliche Freiheit des Paulus gegenüber dem Gesetz vor allem in den Praxisbeispielen, von denen er in seinen Briefen erzählt. Dabei wird gern der Slogan zitiert, Paulus sei „den Juden ein Jude geworden und den Griechen ein Grieche“. Dieses Zitat dient dann gleichzeitig als Begründung für eine Strategie der kulturellen Anpassung in der heutigen Welt, der zufolge Christen sich in ihrer Lebensgestaltung nicht an biblischen Geboten, sondern je nach Situation an den Maßstäben ihrer Umgebungskultur orientieren sollten. Sucht man jedoch im Neuen Testament nach dem vermeintlichen Paulus-Zitat, dann wird man nicht fündig. Paulus hat es nämlich nie gesagt. Wohl schreibt er in seinem ersten Brief an die Korinther etwas, das recht ähnlich klingt. Bei genauem Hinsehen ist das, was Paulus sagt, aber wesentlich vielschichtiger als das, was normalerweise daraus gemacht wird:

„Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin –, damit ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne. Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich wie einer ohne Gesetz geworden – obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin in dem Gesetz Christi –, damit ich die, die ohne Gesetz sind, gewinne. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette.“1

„Den Griechen ein Grieche“ steht hier also schon einmal nicht. Aber auch abgesehen davon ist fraglich, ob diese Bibelstelle wirklich das hergibt, was in sie hineingelesen wird. Denn Paulus redet hier, im ganzen Kapitel, nicht von seiner Lebensweise. Es geht nicht um ethische Fragen, nicht um Toragehorsam und auch nicht um jüdische „Erkennungsmerkmale“ wie Beschneidung, Speisegebote oder den Sabbat. Paulus redet in diesem Kapitel davon, wie er das Evangelium verkündigt. Paulus spricht hier also über seine Missionsstrategie, nicht über seine Lebensweise. Es geht um Worte, nicht um Handlungen: Wenn er Juden das Evangelium erklärt, argumentiert er von der Tora her, denn nur was in der Tora begründet ist, ist für sie überzeugend. Wenn er dagegen Nichtjuden das Evangelium erklärt, macht es aber keinen Sinn, sich auf die Tora zu berufen, denn sie kennen sie ja nicht oder akzeptieren zumindest ihre Autorität nicht. Hier argumentiert er also anders, zum Beispiel aus der allgemeinen Lebenserfahrung heraus, aus der Natur oder aus dem gesunden Menschenverstand.

Situationsgerechte Predigten bei Paulus

In den Berichten der Apostelgeschichte finden wir genau dieses Vorgehen des Paulus bestätigt: Wo immer er in jüdischen Synagogen predigt, da knüpft er an Bibeltexte, an die Geschichte Israels und an messianische Verheißungen an.2 Als er jedoch im ländlichen Lystra vor einfachen Bauern predigt, spricht er über Regen, Saat und Ernte und den Schöpfer der Welt.3 Vor den gebildeten Zuhörern in Athen dagegen knüpft er an den griechischen Götterglauben an und zitiert sogar einen bekannten griechischen Dichter.4 In vielen anderen Begegnungen mit Nichtjuden macht Paulus gar nicht viele Worte, sondern lässt Menschen durch Heilungen oder andere Wunder die Kraft Gottes erfahren.5 Vor dem römischen Stadthalter Felix argumentiert er mit seiner Loyalität zur staatlichen Ordnung und erklärt die innerjüdischen Streitigkeiten allgemeinverständlich für jemanden, der „ohne Gesetz ist“.6 Vor dem jüdischen König Agrippa dagegen beruft er sich wieder auf die Schrift.7 Paulus verstand sich also darauf, in verschiedenen Situationen jeweils den richtigen Anknüpfungspunkt zu finden. Nirgendwo wird jedoch gesagt, dass er deshalb in solchen Situationen auch seine Lebensweise änderte oder gegen jüdische Gesetze verstieß. Freunde des Paulus-Lukas-Keils weisen zwar auch hier wieder darauf hin, dass man nicht aus der Apostelgeschichte auf den „wahren Paulus“ schließen dürfe. Es gibt allerdings auch in den Briefen des Paulus Hinweise auf eine solche „situative Argumentationsweise“ des Paulus: So finden sich in den Thesaalonicher- und Philipperbriefen, die an vornehmlich nicht-jüdische Empfängergemeinden geschrieben wurden, wesentlich weniger Schriftbezüge als z. B. im Römerbrief, der an eine gemischte jüdisch-nichtjüdische Gemeinde geschrieben wurde. Leider sind uns keine Briefe des Paulus an jüdische Gemeinden erhalten, sonst könnten wir daran auch überprüfen, ob die Berichte der Apostelgeschichte ein zutreffendes Bild von der Strategie des Paulus zeichnen. In jedem Fall aber steht fest: In der oben zitierten Stelle aus dem ersten Korintherbrief spricht Paulus nicht über seine Lebensweise – und schon gar nicht über die Frage, ob und wann er sich an jüdische Gesetze hält. Er spricht nur darüber, wem er auf welche Weise das Evangelium erklärt. Man muss also schon an anderen Stellen der Paulusbriefe suchen, um Beispiele für die vermeintliche „Chamäleon-Strategie“ des Paulus zu finden. Sehen wir uns also einmal die wichtigsten Beispiele an, die als Beleg dafür angeführt werden, dass die jüdischen Gebote für Paulus „unwichtig“ geworden waren. So unwichtig, dass er sich nur dann daran hielt, wenn es ihm angemessen erschien.

Testfall 1: Jerusalem

Im Galaterbrief berichtet Paulus von einem Besuch in Jerusalem, den er von Antiochia zusammen mit seinem Mentor Barnabas und seinem Schüler Titus unternahm. Titus war ein Grieche und deshalb offensichtlich nicht beschnitten. Er war also ein Sympathisant der Gemeinde, aber nicht zum Judentum übergetreten. In Jerusalem gab es aber offenbar Juden, vermutlich Mitglieder der dortigen Gemeinde, die verlangten, dass Titus sich beschneiden ließe. Dahinter stand vermutlich die Vorstellung mancher Jesus-Anhänger, dass man, um zur Gemeinde zu gehören, nicht nur an Jesus glauben, sondern auch offiziell zum Judentum übertreten musste. Es sollte also nicht nur „der Glaube allein“, sondern auch bestimmte „Werke des Gesetzes“ als Einlassbedingung in die Jesus-Gemeinde gefordert werden und das nicht nur von Juden, sondern auch von Nichtjuden. Paulus aber berichtet, dass er und Barnabas dieser Forderung widerstanden. So weit, so gut. Bis hierher gibt es keinen Konflikt des Paulus mit dem Gesetz.

Nun setzen aber viele Ausleger bereits hier den Paulus-Jakobus-Keil an und behaupten, Petrus und Jakobus seien diejenigen gewesen, die die Beschneidung des Titus gefordert hätten. Hier habe sich also bereits der Streit der unterschiedlichen Positionen abgezeichnet, die die „Tübinger Schule“ später als „Paulinismus“ und „Judenchristentum“ bezeichnet. Paulus habe den Forderungen der „Jakobus-Partei“ nur mit Mühe widerstehen können und am Ende mühsam einen Kompromiss ausgehandelt, der mit Handschlag besiegelt wurde. Ein kurzer Blick in den Text zeigt jedoch, dass hier die Fantasie mit den Auslegern durchgeht: Die Forderung, Titus zu beschneiden, ging nicht von Jakobus und Petrus aus, sondern von namentlich nicht genannten „falschen Brüdern“. Petrus und Jakobus dagegen waren mit Paulus und Barnabas in dieser Frage einer Meinung. Der Handschlag am Ende besiegelte nicht einen Kompromiss in der Beschneidungsfrage, sondern eine Absprache über die Aufteilung der Missionsgebiete: Paulus sollte sich hauptsächlich Nichtjuden zuwenden, Petrus dagegen hauptsächlich Juden. Bis hierher bleibt Paulus also dem Prinzip treu: Juden bleiben Juden, Nichtjuden bleiben Nichtjuden. Beide sind eins in Christus. Komplizierter wird es allerdings in der Tat, wenn man den Bericht der Apostelgeschichte zum Vergleich heranzieht. Aber dazu gleich mehr.

Testfall 2: Lystra

Zunächst eine weitere Beschneidungsgeschichte: In Apostelgeschichte 16,1-4 wird wieder von der Beschneidung eines Reisebegleiters von Paulus berichtet: Der junge Mann heißt Timotheus, und dieses Mal beschneidet Paulus ihn eigenhändig. Das verwirrt zunächst einmal. Warum handelt Paulus hier anders als bei Titus in Jerusalem? Die neuere Auslegung erklärt das einfach mit dem Paulus-Lukas-Keil: Lukas wollte Paulus eben als gesetzestreu darstellen und habe diese Geschichte deshalb einfach erfunden. Traditionellere Bibelleser aber sind mit dieser Erklärung nicht zufrieden. Sie
schreiben das Verhalten des Paulus daher lieber seinem „Chamäleon-Prinzip“ zu: Er habe sich hier einfach den Forderungen der Leute gebeugt, um keinen unnötigen Anstoß zu erregen. „Den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche“ eben. Aber diese Erklärung ist aus mehreren Gründen nicht schlüssig: Denn in Jerusalem war Paulus unter Juden, aber hat die geforderte Beschneidung abgelehnt. In Lystra dagegen war er unter lauter Griechen, sogar der eigene Vater des Timotheus war ein Grieche. Warum sollte er also ausgerechnet dort auf die Forderungen der wenigen Juden eingehen, die es in der Gegend gab? Paulus hätte ja dann an beiden Orten genau entgegen seinem Anpassungs-Prinzip gehandelt. Der Testfall Jerusalem hatte doch außerdem gezeigt, dass Paulus solche Entscheidungen gerade nicht nach dem Anpassungsprinzip traf, sondern aufgrund der „Wahrheit des Evangeliums“8, zur Not auch gegen den Druck der Umgebung. Warum also hätte Paulus hier in Lystra von diesem Prinzip abweichen sollen? Nein, der Grund für sein Verhalten liegt an anderer Stelle: Paulus will einem anderen Prinzip treu bleiben, nämlich dass Juden Juden bleiben und Nichtjuden Nichtjuden. Der Fall des Timotheus stellte hier einen wichtigen Grenzfall dar: Er hatte einen griechischen Vater und eine jüdische Mutter. Nach jüdischer Tradition war er damit aber von Geburt aus Jude, denn die Religion der Mutter bestimmt die Identität. Offenbar aber war er bisher nicht beschnitten worden, entweder weil der Vater sich dem widersetzt hatte oder weil es der Mutter nicht mehr wichtig war, die jüdische Identität in einem griechischen Umfeld zu bewahren. Es stellte sich also die Frage: Soll man sich als Jude, wenn man an Jesus glaubt, an die griechische Umwelt assimilieren oder soll man die „Erkennungszeichen“ der jüdischen Identität bewahren? Paulus macht deutlich: Das ist keine Frage der Beliebigkeit. Denn Juden sollen Juden bleiben, und Nichtjuden Nichtjuden. Auch in der Gemeinde Jesu. Paulus ist es deshalb ganz und gar nicht egal, ob Timotheus beschnitten ist oder nicht. Als Sohn einer jüdischen Mutter muss er beschnitten werden. Nur wenn jüdische Gemeindemitglieder weiterhin ihre Kinder beschneiden lassen, kann ihre Identität im Gegenüber zu den Nichtjuden auf Dauer gewahrt bleiben. Und nur so kann die Gemeinde auf Dauer eine Gemeinde aus Juden und Nichtjuden bleiben. Die Beschneidung des Timotheus war also kein Kompromiss „aus Rücksicht auf die Juden in der Gegend“. Sondern im Gegenteil: Es war ein wichtiges und deutliches Zeichen, gerade „gegenüber den Juden aus der Gegend“: Sie sollten sehen, dass auch in der neuen Gemeinde der Jesus-Anhänger die jüdische Identität, ebenso wie die nichtjüdische, wertvoll und wichtig blieb.

Testfall 3: Antiochia

In Gal 2,11-14 wird ein Streit zwischen Petrus und Paulus berichtet, der sich in der Gemeinde von Antiochia ereignet: Antiochia war damals die wichtigste Stadt im östlichen Mittelmeerraum. Wenn Jerusalem das Altötting oder das Bad Liebenzell der damaligen Zeit war, dann war Antiochia das Berlin oder New York. Deshalb musste es dort früher oder später auch einen Ableger der neu entstehenden Jesus-Bewegung geben, die „Hauptstadtgemeinde“ sozusagen. Zunächst waren es vermutlich Diaspora-Juden, die zur dortigen jüdischen Gemeinde gehörten und zum Glauben an Jesus kamen. Dann aber kamen sehr schnell auch viele Nichtjuden zum Glauben und schlossen sich der wachsenden Gemeinde an. Für die jüdischen Gemeinden Antiochias war das nicht unproblematisch. Denn sie hatten sich über die Jahre durch geschickte Diplomatie einen Sonderstatus in der heidnischen, von Römern regierten Großstadt ausgehandelt: Als jüdische Sondergruppe waren sie von den Pflichten des römischen Kaiserkults befreit und genossen andere religiöse Privilegien. Durch die typisch jüdischen „Erkennungsmerkmale“ war ja auch für alle klar, wer dazugehörte und wer nicht. So genoss die jüdische Gemeinde einen mühsam erkämpften Minderheitenschutz. Die neue „Jesus-Bewegung“ innerhalb der Synagoge aber sorgte nun für Probleme: Denn sie lud nun plötzlich auch jede Menge von Nichtjuden in die Gemeinde ein. Diese glaubten zwar an den Gott Israels und an den jüdischen Messias, aber dennoch machten sie nicht den entscheidenden Schritt, ganz zur jüdischen Gemeinde überzutreten, indem sie sich beschneiden ließen. Denn sie folgten dem Paulus-Prinzip: Juden sollen Juden bleiben, und Nichtjuden sollen Nichtjuden bleiben. Deshalb wurden sie von den jüdischen „Jesus-Leuten“ als vollgültige Mitglieder der Gemeinde behandelt, denn sie sagten: Durch den Glauben an den Messias gehört jeder zum Volk Gottes, egal ob Jude oder Nichtjude. Die anderen Juden jedoch, die nicht an Jesus glaubten, betrachteten die Neuen skeptisch und allenfalls als „Gäste“. So wuchs mit der Zeit eine „Grauzone“ rund um die mühsam etablierte jüdische Gemeinde. Vor allem aber lösten die klaren Grenzen sich auf. Es war umstritten, wer nun wirklich dazugehörte und wer nicht. Wenn die etablierten Grenzen der Mitgliedschaft aber dermaßen ins Schwimmen gerieten, dann drohte die Gemeinde ihren Sonderstatus in der Stadt zu verlieren. Vor diesem Hintergrund nun ereignet sich der Streit zwischen Petrus und Paulus, von dem Paulus berichtet.

Kronzeuge des Paulus-Jakobus-Keils

Der Streit in Gal 2,11-14 ist für die Bibelforschung der wichtigste Kronzeuge des „Paulus-Jakobus-Keils“. Für gewöhnlich wird er etwa so nacherzählt: In der Gemeinde von Antiochia war es wegen der paulinischen Botschaft von der „Freiheit vom Gesetz“ allgemein üblich, dass Juden und Nichtjuden zusammen aßen (was, so meint man, im Judentum ansonsten verboten war, weil Nichtjuden als unrein galten). Natürlich wurden bei solchen gemeinsamen Mahlzeiten auch verbotene Speisen wie etwa Schweinefleisch oder Garnelen gegessen (man war ja „den Griechen ein Grieche“). Selbst Petrus schloss sich, wenn er mal zu Besuch war, dieser Gewohnheit an, denn er hatte ja einige Jahre zuvor in einer Vision ausdrücklich von Gott gesagt bekommen, dass unreine Speisen ab jetzt für ihn erlaubt sind (so deutet man einen Bericht in Apostelgeschichte 10-11). In Jerusalem jedoch war man (noch) nicht so frei: Hier regierte die Partei der Judenchristen, allen voran Jakobus, der nicht nur auf der Einhaltung von jüdischen Speisegeboten, sondern vor allem auch auf der Beschneidung von Nichtjuden bestand. Als deshalb eines Tages Kontrolleure der „Jakobus-Partei“ nach Antiochia kamen, bekam Petrus es mit der Angst zu tun: Er war nämlich in dieser Frage etwas inkonsequent. In Antiochia passte er sich zwar den freieren Bräuchen des Paulus an, in Jerusalem aber hielt er sich an die strikteren Regeln des Jakobus. Nun aber drohte sein Doppelleben aufzufliegen: Er entfernte sich daher schnell aus der Gemeinschaft der Nichtjuden und aß, wie es sich für einen Juden gehörte, nur noch mit den jüdischen Gemeindemitgliedern. Paulus jedoch rügt Petrus für sein wetterwendisches Verhalten. Denn in diesem Verhalten offenbart sich letztlich ein tiefer Riss zwischen der Pauluspartei und der Petrus-Jakobus-Partei, der nicht zu kitten ist: Beim sogenannten Apostelkonzil von Apg 15 (das man auch in Gal 2,1-10 zu erkennen glaubt) hatte man sich auf Minimalanforderungen für die nicht-jüdischen Jesusnachfolger in Antiochia geeinigt: Sie sollten nicht genötigt werden, die jüdischen Gebote einzuhalten, koscher zu essen oder sich beschneiden zu lassen. Sie sollten aber Götzendienst und Götzenopferfleisch meiden, sich an die Sexualethik der Tora halten, kein Blut vergießen und auch kein blutiges Fleisch essen. Beide Seiten waren aber (so meint man) letztlich mit diesem Kompromiss unglücklich: Für Paulus nämlich sei eigentlich „alles erlaubt“, selbst Götzenopferfleisch.9 Jakobus und Petrus hätten eigentlich gern weiterhin an der Beschneidung und an koscherem Essen, auch für Nichtjuden, festgehalten. Die Begegnung in Antiochia war daher der erste echte Belastungstest für das mühsam abgeschlossene Abkommen, und es zeigte sich, dass es nicht funktionierte: Petrus hätte seinen „starken Glauben“ dadurch beweisen müssen, dass er – wie bisher – auch unkoscheres Essen isst. Stattdessen aber kehrte er zurück zum „schwachen Glauben“ der Jerusalemer, die sich immer noch an die Speisegebote hielten. Deshalb musste es zum endgültigen Bruch zwischen Petrus/Jakobus und Paulus kommen.

Der Paulus-Lukas-Keil

Der Konflikt wird zudem noch dadurch verschärft, dass viele Bibelausleger an dieser Stelle auf eine ganze Reihe von eklatanten Widersprüchen zwischen der Darstellung des Paulus und der Darstellung des Lukas hinweisen. Für gewöhnlich identifziert man nämlich, wie gesagt, die in Gal 2,1-10 beschriebene Begegnung zwischen Paulus, Petrus und Jakobus mit dem sogenannten „Apostelkonzil“ von Apg 15. Vergleich man jedoch beide Berichte miteinander, so gibt es jede Menge Unstimmigkeiten.

Es beginnt mit dem Anlass des Treffens: Laut Gal 2,2 kam Paulus aufgrund einer göttlichen Offenbarung nach Jerusalem. Laut Apg 15 jedoch wurde die Reise aufgrund eines Streits über die Beschneidungsfrage angeordnet. Der jüdische Gelehrte Hyam Maccoby sieht hier daher den „Mythenschmied“ Paulus am Werk:

„Anstatt zuzugeben, dass er nach Jerusalem einbestellt worden ist, um sich wegen Beschwerden, die gegen ihn vorgebracht wurden, zu verantworten, behauptet Paulus, er sei aufgrund einer göttlichen Offenbarung nach Jerusalem gereist.“10

Die Widersprüche gehen aber weiter: Paulus nämlich behauptet in Gal 1,15-24, dass er seit seiner Bekehrung und bis zum Apostelkonzil nur ein einziges Mal in Jerusalem war. In Apg 11,27-30 und 12,25 wird jedoch von einem weiteren Besuch berichtet. Ausleger erklären diesen Widerspruch entweder so, dass Paulus diesen Besuch absichtlich verschwiegen hat, um seinen inneren Abstand zu den „Judenchristen“ von Jerusalem zu demonstrieren. Oder so, dass Lukas, der Harmoniemensch, diesen Besuch einfach erfunden hat, um die enge Verbundenheit zwischen Paulus und Jerusalem zu unterstreichen. Auch in der Beschreibung der Inhalte des Jerusalemtreffens gehen die Berichte weit auseinander: Nach Gal 2,1-10 ging es nicht, wie in Apg 15, um die Beschneidungsfrage allgemein, sondern nur um einen strittigen Einzelfall. Zudem sei die Beschneidung gar nicht das Hauptthema des Gesprächs gewesen, sondern die Aufteilung der Missionsgebiete. Vor allem aber verschweigt Paulus im Galaterbrief völlig das wichtigste Ergebnis des Treffens, nämlich die Beschlüsse über die „Minimalanforderungen“ für Nichtjuden, die nach Apg 15,23-29 ausdrücklich dokumentiert und in einem offiziellen Schreiben feierlich an die Gemeinde von Antiochia geschickt wurden. Paulus verschweigt das nicht nur, sondern er behauptet sogar ganz offen, die Apostel hätten ihm „nichts weiter auferlegt ..., nur dass wir an die Armen dächten.“11 Dass das Thema der Armut bei den Beschlüssen eine Rolle spielte, davon wird wiederum in Apg 15 nichts gesagt. Bibelausleger deuten das so, dass Paulus schon in Jerusalem mit den Beschlüssen des Treffens eigentlich nicht einverstanden war und sie deshalb hier verschweigt. Denn selbst „Minimalanforderungen“ im Blick auf das jüdische Gesetz widersprachen – nach dieser Ansicht – der Lehre des Paulus von der völligen „Freiheit vom Gesetz“. Der Bericht des Paulus von seinem Streit mit Petrus zeigt, dass die Beschlüsse des Apostelkonzils von den unterschiedlichen „Parteien“ (Paulus bzw. Petrus/Jakobus) ganz verschieden gedeutet wurden: Jakobus war demnach der Meinung, dass die Minimalanforderungen sich nur auf „Heidenchristen“ bezogen, während „Judenchristen“ sich weiterhin an die Tora halten sollten. Paulus dagegen ging davon aus, dass das Gesetz auch für Judenchristen aufgehoben wurde. Petrus dagegen war sich noch unsicher, zu welcher Seite er gehörte. Für Paulus zeigte gerade der Streit von Antiochien, dass die Gegensätze unüberbrückbar waren und man von nun an getrennte Wege gehen musste. Lukas dagegen, der die Einheit betont, erwähnt diesen doch so entscheidenden Zwischenfall in der Apostelgeschichte nicht einmal.

Eine alternative Chronologie

Sieht man sich die lange Liste der Widersprüche an, die sich bei einem Vergleich zwischen Apg 15 und Gal 1-2 ergeben, dann könnte man fast auf die Idee kommen, dass Paulus und Lukas hier von zwei völlig unterschiedlichen Ereignissen reden. Und in der Tat haben viele Forscher schon in den frühen Tagen der Paulusforschung genau diese Frage gestellt: Woher stammt eigentlich die Idee, dass Paulus in Galater 2 das Apostelkonzil beschreibt? Es gibt doch kaum Ähnlichkeiten und eigentlich nur Widersprüche. Die einzige Gemeinsamkeit besteht darin, dass in beiden Texten am Anfang von einem Streit um die Beschneidung die Rede ist. Und dass beide Berichte in Jerusalem spielen. Aber das ist noch nicht viel. Es lohnt sich also, die beiden Texte noch einmal genauer miteinander zu vergleichen. Vielleicht haben wir uns ja in der Chronologie der Ereignisse verrechnet?

Geht man noch einmal zurück an den Anfangspunkt, die Bekehrung des Paulus, dann wird diese in Gal 1,15-16 und Apg 9,1-9 geschildert. Der nächste Besuch des Paulus in Jerusalem, drei Jahre nach seiner Bekehrung, wird in Gal 1,18-19 und in Apg 9,26-30 beschrieben. Der folgende Besuch in Jerusalem wird dann aber schon in Apg 11,27-30 und 12,25 berichtet.12 Was wäre also, wenn Paulus in Gal 2,1-10 diesen Besuch in Jerusalem beschreibt, und nicht das Apostelkonzil von Gal 15? Dann würden sich plötzlich sehr viele Widersprüche in Luft auflösen: Tatsächlich nämlich ist der Anlass dieser Reise eine göttliche Offenbarung, nämlich eine Prophetie des Propheten Agabus (Apg 11,28 und Gal 2,2). Tatsächlich ist das Thema dieser Reise die Armut der Gemeinde von Jerusalem (Apg 11,29 und Gal 2,10). Tatsächlich gibt es bei dieser Reise keinerlei Auflagen an Paulus. Und tatsächlich ist das Ergebnis dieser Reise die Beauftragung des Paulus für die Heidenmission (Apg 12,25-13,3 und Gal 2,9). Der Streit zwischen Petrus und Paulus wäre dann auch von Lukas nicht vertuscht worden, sondern er wird ausdrücklich als Anlass für das Apostelkonzil erwähnt: Apg 15,1-2 und Gal 2,11-12 stimmen hier sogar bis ins Detail darin überein, dass der „nicht geringe Streit“ ausgelöst wurde durch Besucher, die aus Judäa nach Antiochia kamen. Und nicht zuletzt hätte auch Paulus im Galaterbrief nicht, wie es ihm viele Ausleger vorwerfen, die Beschlüsse des Apostelkonzils „verschwiegen“. Denn das Konzil hatte ja noch gar nicht stattgefunden, als es zum Streit zwischen ihm und Petrus kam. Möglicherweise schrieb Paulus den Galaterbrief sogar noch vor dem Konzil und schildert deshalb darin den Streit, der sich gerade erst ereignet hatte.13 Die oben aufgezählten Widersprüche zwischen Paulus und Lukas lösen sich also fast vollständig auf, wenn wir dieser Chronologie der Ereignisse folgen. Für manche Forscher jedoch liegt gerade in der „Harmonie“ zwischen Lukas und Paulus der Grund, diese Erklärung abzulehnen:

„Bei einer genauen Abwägung der für die Provinzhypothese14 vorgebrachten Argumente entsteht der Eindruck, dass sie ebenso wie die Frühdatierung des Galaterbriefs letztlich eine apologetische Funktion im Blick auf die Apostelgeschichte und ihre Paulus-,Biografie‘ erfüllt. Ein nicht unwesentlicher Nebeneffekt der Provinzhypothese ist nämlich, dass der Galaterbrief dann die Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte bestätigen würde, d. h. insbesondere die Historizität der ersten Missionsreise, für die sich in den Briefen des Paulus andernfalls keine Hinweise finden lassen. Dies nährt den Verdacht, dass sich die Provinzhypothese dem Wunsch nach einer Harmonisierung divergierender Angaben in den (echten) Paulusbriefen und der Apostelgeschichte und damit einem argumentativen Zirkelschluss verdankt. Deshalb plädiert die kritische Forschung bis heute sicher zu Recht mehrheitlich für die Landschaftshypothese.“15

Mit anderen Worten: Gerade weil dann alles zusammenpasst, muss man diese Erklärung als guter Wissenschaftler ablehnen. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass die Bibelwissenschaft immer in der Gefahr steht, über Fallen zu stolpern, die sie sich selbst gestellt hat.

Eine andere Sicht des Streits von Antiochia

Wenn aber Apostelgeschichte und Galaterbrief in ihrer Darstellung der Ereignisse gar nicht so unterschiedlich sind, dann ist der Streit zwischen Petrus und Paulus vielleicht auch gar nicht so grundlegend wie oft angenommen. Mark Nanos, jüdischer Neutestamentler an der Universität von Kansas, hat daher eine andere Deutung dieses Streites vorgeschlagen. Er stellt dabei verschiedene Grundannahmen infrage, die in der (oben vorgestellten) üblichen Auslegung vorausgesetzt werden, aber nicht im Text stehen: Die erste und wichtigste ist die Frage nach dem „koscheren Essen“: Nirgendwo ist im Bericht des Paulus davon die Rede, dass bei den gemeinsamen Mahlzeiten in Antiochia verbotene Speisen konsumiert wurden. Das wäre auch eigentlich eher überraschend: Warum sollte man bei gemeinsamen Mahlzeiten von Juden und Nichtjuden unbedingt Schweinefleisch servieren wollen? Es gibt doch genug neutrale Alternativen. Ich habe vergleichbare Situationen in den Jahren, in denen ich in Israel gelebt und gearbeitet habe, immer wieder erlebt. Wenn ich als Christ in einem jüdischen Haushalt eingeladen war, gab es selbstverständlich koscheres Essen. Aber selbst wenn wir Juden in unserem Haus zu Gast hatten, war es doch für uns kein Problem, Nudelauflauf oder Hähnchenschnitzel zu kochen. Warum sollten die ersten Christen unbedingt Schweinefleisch oder Garnelen gegessen haben? In der älteren Paulusforschung hätte man vielleicht annehmen können, dass Paulus und die ersten Christen damit bewusst provozieren und ihren Bruch mit dem Judentum demonstrieren wollten. Von dieser aggressiven Sicht der Dinge ist man aber heute abgekommen. Und der Text selbst sagt nichts über die Speisen, die auf dem Tisch standen. Man kann nur – aus Gründen der historischen Wahrscheinlichkeit – annehmen, dass es Speisen waren, die für alle Beteiligten unbedenklich waren. Denn es gab ja, in Antiochia und anderswo, schon eine lange Tradition jüdisch-christlicher Tischgemeinschaft und Gastfreundschaft, bei der sich solche Regeln der gegenseitigen Rücksichtnahme eingebürgert hatten.

War die Tischgemeinschaft mit Nichtjuden verboten?

Das bringt uns aber gleich zur zweiten Frage: Woher stammt eigentlich die Idee, dass Juden nicht mit Nichtjuden zusammen essen durften? Sie gründet sich nicht auf historische Quellen, sondern auf das weiter oben schon beschriebene Klischee vom exklusiven und ausgrenzenden Judentum: Demnach war es Juden, nicht nur aufgrund der Speisegebote, sondern auch wegen einer vermeintlichen „Unreinheit“ von Nichtjuden, verboten, mit ihnen zusammen zu essen. Blicken wir jedoch in jüdische Texte, dann stellen wir fest, dass dieses Klischee nicht der historischen Wirklichkeit entspricht:16 Schon in verschiedenen biblischen Erzählungen wird berichtet, wie Juden mit Nichtjuden Tischgemeinschaft haben: Dass sie sich dabei dennoch an die jüdischen Speisegebote halten können, wird dabei immer vorausgesetzt und auf verschiedene Weise realisiert: Der jüdische Gast konnte sein eigenes Essen mitbringen.17 Oder der Gastgeber konnte dafür Sorge tragen, dass nur erlaubte Speisen serviert wurden.18 In besonders strengen Fällen konnte der jüdische Gast an einem eigens für ihn gedeckten Tisch speisen19 oder an der Tischgemeinschaft teilnehmen, ohne selbst zu essen.20 Dagegen ist uns aus der gesamten jüdischen Literatur der Zeit Jesu nur ein einziger Text bekannt, der gemeinsames Essen ausdrücklich verbietet.21 Dieser stammt aber, das ist allgemein anerkannt, aus der Feder eines besonders strengen jüdischen Autors, der sich – nicht nur in diesem Punkt – deutlich abhebt von dem, was sonst üblich war. Keinesfalls kann man aus diesem einen Zitat eine allgemeingültige Regel machen. In den späteren rabbinischen Schriften finden sich sehr unterschiedliche Meinungen zu diesem Thema: Für Rabbi Shimon ben Eleazar etwa war eine Tischgemeinschaft auch dann verboten, wenn der jüdische Teilnehmer sein eigenes Essen mitbrachte.22 Der auch sonst für seine Strenge bekannte Rabbi Eliezer ben Hyrkanus (1. Jh. v. Chr.) war der Meinung:

Jeder, der mit Heiden zusammen isst, verehrt damit automatisch ihre Götzen und opfert den Toten.23

In vielen anderen rabbinischen Diskussionen werden Tischgemeinschaften zwischen Juden und Nichtjuden jedoch als völlig selbstverständlich vorausgesetzt. Gegenstand der Diskussion sind dabei lediglich Einzelheiten der Gestaltung. So wird etwa geregelt, wie man bei einem solchen gemeinsamen Essen erlaubten von unerlaubtem Wein unterscheidet,24, ob man gemeinsame Mahlzeiten nur an Wochentagen oder auch am Sabbat und an Feiertagen veranstalten darf 25 und welche Speisen bei gemeinsamen Mahlzeiten erlaubt waren.26 Die Teilnahme an gemeinsamen Mahlzeiten wird allerdings dann ausdrücklich untersagt, wenn diese mit heidnischen Festen verknüpft waren.27 Einem rabbinischen Ausspruch zufolge konnte bei gemeinsamen Mahlzeiten sogar ein gültiger Tischsegen von Nichtjuden gesprochen werden:

„Wenn ein Nichtjude beim Essen den Tischsegen spricht und dabei den Namen Gottes gebraucht, dann kann man [als Jude] das abschließende Amen mitsprechen.“28

Es gab also hier wohl, wie in vielen anderen Fragen, strengere und weniger strenge Ansichten innerhalb des Judentums. Auch innerhalb der Urgemeinde gab es offenbar Gruppen, die die Tischgemeinschaft vermieden und es sogar für unzulässig hielten, mit Nichtjuden zu essen oder ihre Häuser zu besuchen.29 Petrus jedoch hatte ihnen klargemacht, dass es für eine solche Haltung keine Grundlage in der Tora gibt.30

Sind Nichtjuden unrein?

In vielen Predigten und Auslegungen hört man, dass die Tischgemeinschaft zwischen Juden und Nichtjuden deshalb ein Problem darstellte, weil Nichtjuden als unrein galten und die Juden deshalb Angst hatten, sich zu verunreinigen. Auch diese Annahme ist jedoch ein Missverständnis, und zwar gleich ein doppeltes: Denn erstens gibt es in der Tora keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass Nichtjuden unrein sind. Und auch für die spätere pharisäische und rabbinische Auslegung ist es keineswegs sicher, dass es eine solche Vorstellung gab. Zweitens gilt jedoch: Selbst wenn Nichtjuden, ähnlich wie Aussätzige oder Frauen während ihrer Menstruation, als unrein gegolten hätten, wäre das kein Grund gewesen, nicht mit ihnen zu essen. Denn es war im Judentum weder verboten noch verwerflich, sich zu verunreinigen. Es kam im Alltag sogar ständig vor und war eine normale Folge des zwischenmenschlichen Umgangs. Das Klischee, dass Juden den Kontakt mit unreinen Menschen meiden mussten oder diese sogar ausgrenzten, konnte nur entstehen, weil die meisten christlichen Bibelleser mit den sehr komplexen jüdischen Reinheitsgeboten nicht wirklich vertraut sind.

In meinem Buch „Jesus der Jude“ habe ich eine ausführliche Einführung in die jüdischen Reinheitsgebote gegeben, die ich hier nicht in voller Länge wiederholen kann.31 Wichtig für den Testfall Antiochia sind aber nur zwei Einsichten. Erstens: Es gibt kein biblisches Gebot, das einen Nichtjuden prinzipiell für unrein erklärt. Die biblischen Reinheitsgebote gelten ohnehin nur für Israeliten, daher lässt sich die Kategorie „rein oder unrein“ auf Nichtjuden gar nicht anwenden. Die Idee, dass man sich durch den Kontakt mit Nichtjuden verunreinigen konnte, entstand daher erst im 1. Jahrhundert v. Chr., als solche Kontakte häufiger wurden. So entschieden die jüdischen Weisen, dass man sich durch eine Reise in nicht jüdische Länder verunreinigte, weil dort andere Bestattungsriten als in Israel herrschten und man daher nicht sicher sein konnte, ob Straßen und Wege nicht hin und wieder auch über Friedhöfe führten. Es wurde beschlossen, dass man sich durch den Besuch eines nicht jüdischen Hauses verunreinigte, weil es in anderen Religionen durchaus üblich war, Totgeburten im eigenen Haus zu beerdigen. Dennoch bedeutete das weder, dass Juden keine Auslandsreisen unternahmen, noch, dass sie ihre nicht jüdischen Nachbarn nicht besuchten. Es bedeutete lediglich, dass sie anschließend ein Reinigungsbad nehmen mussten. Ob es über solche Einzelregelungen hinaus unter den Rabbinen die Annahme gab, Nichtjuden seien als Personen unrein, ist in der judaistischen Forschung umstritten. Ältere Forscher waren der Meinung, dass dieses Konzept, das sich in der Tora noch nicht findet, von den Rabbinen im 1. Jh. v. Chr. zwar theoretisch eingeführt, aber nie wirklich umgesetzt wurde.32 Neuere Forschungen aber stellen die Existenz eines solchen Konzepts grundsätzlich infrage.33 Echte Belege gibt es dafür in der antiken jüdischen Literatur nicht.

Der tiefere Grund des Konfliktes

Ein Blick in den Bibeltext und in die jüdischen Quellen zeigt also: Das Problem in Antiochia waren weder verbotene Speisen noch verbotene Tischgemeinschaft noch eine vermeintliche Unreinheit der nicht jüdischen Gemeindemitglieder. Warum aber verließ Petrus dann die Tischgemeinschaft mit den Nichtjuden, als die Gäste aus Jerusalem kamen? Und wovor oder vor wem hatte er Angst? Die Heftigkeit des Konflikts ist nur dann zu erklären, wenn es hier nicht einfach nur um ein gemeinsames Essen, sondern um ein Essen mit Symbolwert ging. Vermutlich ist also die Mahlgemeinschaft innerhalb der Gemeinde gemeint, die ein Symbol der Zugehörigkeit bedeutet: Durch die gemeinsamen Mahlzeiten drückten Juden und Nichtjuden in Antiochia aus, dass alle durch den Messias als Vollmitglieder zum Gottesvolk gehörten: Juden als Juden, Nichtjuden als Nichtjuden. Durch seinen öffentlichen Rückzug stellte Petrus also die Grundsatzfrage, wer zur Gemeinde gehört. Sein Verhalten konnte von den Nichtjuden in der Gemeinde nur so gedeutet werden, dass sie als „Mitglieder zweiter Klasse“ behandelt wurden, solange sie sich nicht beschneiden ließen und ebenfalls Juden wurden. Deshalb wirft Paulus dem Petrus auch vor, er zwinge sie mit seinem Verhalten dazu, „jüdisch zu werden“ (judaizein). Hier sieht Paulus eine klare Grenze verletzt. Aber was hatte Petrus eigentlich zu seinem Verhalten bewogen? Die traditionelle Auslegung geht davon aus, dass es die „Leute des Jakobus waren“, die zu Besuch kamen. Daraus wird dann meistens sogar eine „Jakobus-Partei“ konstruiert, die die Forderung der Beschneidung propagiert habe. Ein Blick in die Apostelgeschichte zeigt jedoch das Gegenteil: Jakobus war in Apg 15 derjenige, der sich ausdrücklich gegen einen solchen Beschneidungszwang einsetzte. Wenn die „Leute des Jakobus“ also tatsächlich in Antiochia solche Forderungen stellten, dann sicherlich nicht im Auftrag oder mit Wissen des Jakobus. Die Formulierung „Leute des Jakobus“ kann auch einfach nur Bekannte oder Verwandte des Jakobus bezeichnen, die anderer Meinung waren als er. Überhaupt ist jedoch, bei einem genauen Blick in den Text, fraglich, ob es die „Leute des Jakobus“ waren, die Petrus zu seinem Verhalten bewegten. Denn der Text sagt, dass Petrus aus Angst vor „denen aus der Beschneidung“ handelt, was bei Paulus einfach nur eine Umschreibung ist für „die Juden“. Gemeint sein könnten also auch einfach Juden aus Antiochia, vielleicht sogar jüdische Gäste der Gemeinde, die gar nicht an Jesus glaubten. Dann wäre folgendes Szenario denkbar:

Normalerweise waren in der Gemeinde von Antiochia die gemeinsamen Mahlfeiern ein Zeichen der endzeitlichen messianischen Einheit von Juden und Nichtjuden durch den Glauben an Jesus. Der Besuch einer hochrangigen Delegation aus Jerusalem (Vertraute des Gemeindeleiters und Jesus-Bruders Jakobus) war Anlass dazu, ein großes Fest zu feiern, zu dem auch viele jüdische Gäste aus der Nachbarschaft eingeladen wurden. Nun fürchteten Petrus und Barnabas sich, dass es mit den anderen Juden zu Auseinandersetzungen kommen könnte wegen der ungewöhnlichen „messianischen“ Praxis der Jesus-Nachfolger. Sie hielten sich daher an die in anderen jüdischen Gemeinden übliche Regel, dass die anwesenden Nichtjuden bei der Mahlfeier nur als „Zaungäste“ an eigenen Tischen teilnehmen durften. Paulus jedoch, ganz und gar nicht Vertreter einer „Chamäleon-Taktik“, setzte sich dafür ein, auch öffentlich zu der neuen Mahlpraxis zu stehen. Das würde die Schärfe des Streites erklären.

Vermutlich werden wir die Einzelheiten nie vollständig rekonstruieren können. Wie auch immer aber das genaue Szenario in Antiochia tatsächlich aussah: Von einem Bruch mit jüdischen Speisegeboten oder anderen jüdischen Gesetzen ist im gesamten Text nicht die Rede. Auch nicht von einer Meinungsverschiedenheit darüber, ob man jüdische Gesetze einhalten sollte oder nicht. Es geht darum, ob Juden und Nichtjuden zusammen öffentlich Mahlzeiten feiern dürfen, die ihre Einheit in Jesus demonstrieren. Oder ob Nichtjuden erst dann Vollmitglieder der Mahlgemeinschaft sind, wenn sie sich beschneiden lassen. Hier gab es offenbar Klärungsbedarf, der dann dazu führte, dass wenig später beim Apostelkonzil endgültig über diese Frage entschieden wurde. Das Apostelkonzil macht jedoch deutlich, dass Paulus und Jakobus in dieser Frage nicht etwa auf unterschiedlichen Seiten stehen, sondern einer Meinung sind. Und Petrus, der noch in Antiochia unsicher war, hat sich inzwischen auch ihrer Ansicht angeschlossen. Der Streit in Antiochia zeigt aber jedenfalls eines ganz deutlich: Paulus verfolgte ganz und gar keine Chamäleon-Strategie. Wie schon beim „Testfall Jerusalem“ setzt er gerade dort seine Meinung durch, wo seine Umgebung anderer Meinung ist. Er richtet sich nicht danach, was die anderen denken. Sondern danach, was für ihn „die Wahrheit des Evangeliums“ ist.34

Testfall 4: Cäsaräa

proskoptei,

Aufgrund dieser und anderer Fragen schlägt der jüdische Neutestamentler Mark Nanos eine andere Auslegung der Stelle vor, die auch konsequent zu der Linie passen würde, die wir bisher in den Paulusbriefen beobachtet haben. Demnach geht es hier nicht um „starkgläubige“ und „schwachgläubige“ Christen, sondern um jüdische Glaubensgeschwister, die (noch) nicht an Jesus glauben. Es geht, ähnlich wie in Antiochia, um die Frage, wie das „versöhnte Miteinander“ der Juden und Nichtjuden in der neu entstehenden Jesus-Gemeinde auf Außenstehende wirkt. Denn auch in Rom war die Jesus-Gemeinde, wie in Antiochia, aus der jüdischen Gemeinde heraus entstanden und stand vermutlich noch in engem Kontakt zu ihr. Nach Ansicht von Nanos sind hier mit den „Kranken“ also nicht die jüdischen Mitglieder der Gemeinde gemeint, sondern die jüdischen Nachbarn, die (noch) nicht an Jesus glauben. Ihr Blick ist – aus der Sicht des Paulus – noch eingeschränkt, ihre Beziehung zu Gott geschwächt, weil sie den Messias nicht kennen oder sogar ablehnen. Das wird ganz deutlich in den Kapiteln 9–11 des Römerbriefs, wo Paulus sie als „gestrauchelt“, „gefallen“, „abgeknickt“, „betäubt“ und mit eingeschränkter Fähigkeit zu hören und zu sehen beschreibt,41 also zwar als „eingeschränkt“, aber nicht als verworfen oder verloren. In diesem Kontext und (außer in Röm 14 nur noch hier) erscheint im Römerbrief auch das Wort proskoptein: Es bezeichnet diejenigen Juden, die nicht an Jesus glauben, sondern an ihm, dem Stolperstein, „zu Fall gekommen“ sind.42

Paulus drückt also in Röm 14 seine Befürchtung aus, dass diese nicht jesusgläubigen Juden durch das Verhalten der Jesus-Nachfolger endgültig „zu Fall gebracht werden“, dass sie „ins Verderben gebracht“ würden und dadurch „Gottes Werk zerstört“ werde. Worum geht es? Wenn unsere bisherigen Beobachtungen stimmen, dann war es üblich, dass die jüdischen Mitglieder sich weiterhin an die jüdischen Speisegebote hielten, die nicht jüdischen Mitglieder aber nicht. In dieser Verschiedenheit feierten sie offenbar versöhnte, messianische Tischgemeinschaften, bei denen die Juden koscher aßen, die Nichtjuden dagegen nicht. Außenstehenden Juden musste das ein Dorn im Auge sein, der sie davon abhielt, an den Versammlungen der Gemeinde teilzunehmen und überhaupt ihre Botschaft unvoreingenommen zu hören. Das aber ist ein Anstoß, der nach der Ansicht des Paulus vermieden werden kann: nicht, indem man die Tischgemeinschaft aufhebt (wie es Petrus in Antiochia tat), sondern indem die nicht jüdischen Geschwister bei den gemeinsamen Mahlzeiten auf unkoscheres Essen verzichten. Das tut ihnen keinen Abbruch, sie werden dadurch auch keine Juden. Und es gibt, wie schon gesehen, viele Möglichkeiten, koscher und trotzdem lecker zu essen. Schweinefleisch ist für Nichtjuden nicht heilsentscheidend, denn „das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist“43. So verstanden, bleibt Paulus also auch hier seinem Grundprinzip treu: Juden bleiben Juden. Nichtjuden bleiben Nichtjuden. Zusammen gehören sie zur Gemeinde des Messias. Einen Hinweis darauf, dass jüdische Gemeindemitglieder in Rom sich von den Speisegeboten verabschieden sollen oder das schon taten, finden wir dagegen im Text nicht.

Einheit und Vielfalt als Zeichen der Versöhnung

Die Annahme, dass es Paulus einerlei gewesen sei, ob Juden weiterhin die jüdischen Gebote halten oder nicht, lässt sich aus seinen Briefen nicht begründen. Ebenso wenig finden sich Beispiele dafür, dass Paulus selbst jüdische Gebote gebrochen oder andere dazu ermutigt hätte. Das Gegenteil ist eher der Fall: Es ist durchaus möglich, die Apostelgeschichte und die Paulusbriefe – entgegen einer langen christlichen Auslegungstradition – so zu verstehen, dass Paulus zeit seines Lebens als gesetzestreuer Jude lebte und sich an der Tora orientierte. Ohne Zweifel war das für ihn keine Frage der Rechtfertigung oder des ewigen Heils: Denn das gab es allein durch den Glauben an Jesus. Paulus aber machte es zum Grundprinzip seiner Mission, den alten jüdischen Glauben bekannt zu machen in einer veränderten Kultur. Dafür war es wichtig, beides ernst zu nehmen. Den alten Glauben und die veränderte Kultur: Die nichtjüdischen Völker waren nun eingeladen, sich dem Bund Gottes mit dem jüdischen Volk anzuschließen und so ein Teil des erwählten und erneuerten Gottesvolkes zu werden. Wenn das alte jüdische Glaubensbekenntnis „Der Herr unser Gott ist einer“ wirklich stimmte, dann war dieser „eine Gott“ derselbe Gott über Juden wie über Nichtjuden. Und diese Wahrheit sollte verdeutlicht werden in einer versöhnten Gemeinde von Juden und Nichtjuden, die durch ihren Glauben an den Messias Jesus eins wurden. Damit diese Botschaft aber wirklich erkennbar blieb, mussten zwei Irrwege unbedingt vermieden werden: der Irrweg, dass nun alle Nichtjuden Juden werden, also durch Beschneidung zum Gottesvolk übertreten müssen. Und der Irrweg, dass alle Juden Nichtjuden werden müssen, also ihre jüdische Identität und alle damit verbundenen „Grenzmarkierungen“ aufgeben, einschließlich des Toragehorsams. Für Paulus war es fundamental wichtig, dass beide erkennbar das blieben, was sie waren – und so gerade in ihrer Unterschiedlichkeit die versöhnte Einheit widerspiegeln, die Gott der Welt durch Jesus bringen wollte.