Brandhorst, Andreas Feuerträume

PIPER

PIPER

ISBN 978-3-492-97586-5

© 2008 Andreas Brandhorst

© Piper Verlag GmbH, München 2016

Erstmals erschienen im Wilhelm Heyne Verlag, München 2008

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Covermotiv: Arndt Drechsler

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Prolog

Heres

Der Mann, den alle nur den »Weisen« nannten, trat aus seinem mobilen Haus in den Schein von zwei aufgehenden Sonnen, die eine rot, die andere blauweiß. Das leuchtende Band der dünnen Materiebrücke zwischen ihnen, für die Völker der vier Dominien der »brennende Weg«, verbarg sich noch halb im Dunst der Frühe. Die schlichteren Gemüter der verschiedenen Völker glaubten tatsächlich, dass es sich um einen Weg handelte, der von einem Gestirn zum anderen führte, aber der Weise wusste es besser. Die beiden Sonnen waren sich so nahe, dass die eine der anderen Materie stahl: brodelndes Plasma, Millionen von Grad heiß. Ein solches System war natürlich instabil. Irgendwann würde Adonai, der blauweiße Stern, den roten namens Jovis ganz verschlungen haben und sich aufblähen, was vermutlich das Ende von Heres bedeutete. In einigen Jahrmillionen würde diese Welt verbrennen, was den Weisen an die Vergänglichkeit allen Seins erinnerte, auch daran, dass ihm selbst nicht mehr viel Zeit blieb. Eine lange Reise lag hinter ihm, und der Weg war noch weit.

Die letzte Benommenheit des echten Schlafs fiel von ihm ab, als er über das Plateau schritt, zu einem Felsen, der wie ein Buckel aus der öden Landschaft ragte. Dort nahm er Platz, trotz der morgendlichen Kälte nur in einen dünnen Einteiler aus anpassungsfähigem Gewebe gekleidet, das aus dem Zweiten Dominium stammte, der am stärksten technisch ausgerichteten der vier bekannten Welten. Es enthielt Tausende von winzigen Solarzellen, die das Licht der beiden Sonnen empfingen und daraus wärmende Energie gewannen.

Ein Pfiff veranlasste den Weisen, zu seinem mobilen Haus zurückzusehen. Ein Schemen huschte durch die offene Tür und über die graubraune Felslandschaft, wurde dicht neben ihm zu einem etwa zwanzig Zentimeter großen Geschöpf, das wie eine Mischung aus Katze und Gürteltier aussah: Kiwitt. Das Wesen war ihm im Ersten Dominium zugelaufen und begleitete ihn seit Jahren. Der Weise hatte es inzwischen sehr lieb gewonnen.

Kiwitt sprang an ihm empor, nahm auf der Schulter Platz und reckte die schmale Schnauze den beiden Sonnen entgegen. Der Weise streichelte seinen treuen Begleiter, zog dann die Beine an, stützte die Arme darauf ab und schloss die Augen. Viele Leute, denen er im Verlauf seiner Reise begegnet war, glaubten, dass er meditierte, Kraft und wichtige Erkenntnisse aus der Meditation gewann. Das stimmte nur bedingt. Es ging ihm vor allem darum, diese Momente der Frühe zu genießen, die allein ihm gehörten, sich zu entspannen und die Traumbilder festzuhalten, die ihm der echte Schlaf gelegentlich schenkte. Manchmal, wenn er in der richtigen Stimmung war, meditierte er tatsächlich, und wenn sich ihm dabei Erkenntnisse offenbarten, so galten sie seinem Innenleben, dem komplexen Gleichgewicht zwischen Wünschen, Hoffnungen und den Notwendigkeiten des täglichen Lebens. Die anderen Erkenntnisse, die man oft von ihm erwartete, gewann er nicht auf diese Weise.

Die aufgehenden Sonnen vertrieben die Kälte der Nacht schon nach kurzer Zeit, und das anpassungsfähige Gewebe reagierte, indem es die Wärmeproduktion reduzierte. Von Kiwitt kam ein leises, zufriedenes Gurren, und nach einer Weile öffnete der Weise die Augen wieder und holte ein Gerät hervor. Die Symbole darauf waren ihm in den letzten Jahren vertraut geworden, aber von der Funktionsweise verstand er noch immer sehr wenig. Das Gerät war ein Artefakt der Dominanten, gab ihm Informationen über das Dominium, in dem er sich befand, und zeigte an, wann die Zeit reif war. Der Weise vertraute ihm – es verband ihn mit dem Ziel seiner Reise.

Er schaltete das Gerät ein und wartete, bis die Mitte transparent wurde. Farben und Formen bildeten sich dort, jede mit eigener Bedeutung, und der Weise tastete mit den Fingerkuppen danach, so vorsichtig, als könnte er etwas zerbrechen. Zwei Monate hatte er bei dem Sensitiven im Zweiten Dominium den Umgang mit diesem Gerät gelernt, und er erinnerte sich an Ausdrücke wie »direktes neurales Interface«, »Statusbewertung«, »Ereignispegel« und »autonomer Realitätsanalysator«. Er glaubte, eine recht klare Vorstellung davon zu haben, was sie bedeuteten, aber was wichtiger war: Er konnte das Wogen und Wallen im Display des Geräts deuten, wenn er sich darauf konzentrierte und ihm seinen Geist öffnete. Es bot ihm wertvolle Hinweise.

Einige Minuten später schaltete er das Gerät aus, und kurz darauf näherten sich Schritte. Der Kaufmann Arn Hannaratt blieb neben dem Felsen stehen, auf dem der Weise saß, streckte die Hand aus und streichelte Kiwitt.

»Das Wetter ist gut«, sagte er. »Wir sollten sofort aufbrechen und nach einer Furt suchen.«

Der Weise blickte über den Rand des Plateaus zum breiten Fluss, dessen braune Fluten ebenfalls eine lange Reise hinter sich hatten; sie entsprangen in den fernen Bergen im Osten. »Das ist nicht nötig. Ich kenne die Stelle, an der wir den Fluss überqueren können.«

»Gestern hast du nichts davon gesagt.«

»Heute weiß ich mehr, Arn.«

Der bärtige, kräftig gebaute Hannaratt schnaufte zustimmend. »Wie du meinst, Weiser. Ich gebe den anderen Bescheid.« Er stapfte fort, und die Hautlappen an seinem Hals wehten im aufkommenden Wind.

Der Weise blickte zu seinem mobilen Haus, das bereits damit begonnen hatte, sich zusammenzufalten, hob dann den Blick zum Himmel. Geistesabwesend kraulte er Kiwitt am Hals.

»Diesmal habe ich mehr gesehen als sonst, Kiwitt«, sagte er leise. »Ich bin auf der Suche nach dem letzten Element, aber jemand anders sucht noch mehr, und unsere Wege werden sich kreuzen.«

Das kleine Tier auf seiner Schulter gurrte leise.

1 Ein Flüstern aus der Vergangenheit

7. Juli 1147 Ära des Feuers (ÄdeF)

Der schwarze Zylinder des Kantaki-Nexus, dreißig Kilometer lang und fast einen Kilometer dick, hing mehr als fünftausend Lichtjahre über dem Orion-Arm der Milchstraße im All. Unter ihm drehte sich die Galaxis, unmerklich langsam für das menschliche Auge. Immer wieder fingen Vorsprünge und Kanten in der Außenhülle das Licht ferner Sonnen ein, funkelten kurz und verschwanden dann wieder in der Finsternis. Das große Kantaki-Schiff, das Dominique und Rupert nach einem fast zwei Monate dauernden Flug zum Nexus gebracht hatte, wirkte zwergenhaft neben dem gewaltigen Zylinder, der alles enthielt, was Raumschiffe der Kantaki für ihre langen Reisen bis zu anderen Galaxien brauchten. Doch wo einst die klickenden Stimmen der insektoiden Wesen erklungen waren, herrschte jetzt Stille.

Den ersten toten Kantaki fanden sie in einem peripheren Wartungszentrum, für kleine Schiffe bestimmt. Seine mumifizierten Reste lagen zwischen zerfetzten Verbindungsbrücken und inaktiven energetischen Transferleitungen ebenso zerschmettert wie ein großer Teil der automatischen Wartungsanlagen. Dominique ließ das Licht ihrer Lampe über Gliedmaßen streichen, die in der Kälte eine glitzernde Patina aus Raureif bekommen hatten – die ambientalen Systeme des Nexus arbeiteten auf minimalem Niveau. Der Kopf war zertrümmert wie von einem heftigen Schlag, die multiplen Augen wie Glas gesplittert.

»Was ist hier geschehen?«, fragte Rupert leise. Seine Stimme kam aus dem kleinen Kom-Servo in Dominiques Helm; sie trugen beide Schutzanzüge, ausgestattet mit bionischen Komponenten von Millennia.

»Hier hat ein Kampf stattgefunden.« Dominique richtete einen Sondierer auf die Reste des Kantaki, und der darin integrierte Datenservo begann sofort mit einer Analyse, bestätigte dann den Eindruck, den sie gewonnen hatte. »Vor fast achttausend Jahren.«

»Kurz nach der Flucht der damaligen Kantaki-Piloten«, sagte Rupert. Er sah sich um und leuchtete mit seiner eigenen Lampe durch das hyperdimensionale Labyrinth des Wartungszentrums. Zwar war das energetische Niveau des Nexus extrem niedrig, aber immer wieder kam es zu den perspektivischen Verzerrungen, wie sie für das Innere von Kantaki-Schiffen typisch waren. Wände schienen ein geisterhaftes Eigenleben zu entwickeln, sich zu verschieben und ineinander zu verkeilen. Gänge bildeten Spiralen, die sich nach oben wanden oder zur Seite neigten. Gelegentlich kippten Deckensegmente nach unten, als wollten sie an einer Stelle den Weg versperren und an anderen neue Verbindungen schaffen. Dominique hatte sich in den vergangenen beiden Monaten an die seltsamen Veränderungen an Bord des Kantaki-Schiffes gewöhnt und fühlte sich dadurch nicht mehr desorientiert. Eigentlich blieb alles starr. Es war ihre Wahrnehmung der Hyperdimension, die ihr Bewegung vorgaukelte, denn die menschlichen Sinne konnten nur einen geringen Teil ihrer Komplexität aufnehmen.

»Nach dem Dritten Konflikt der Konzepte, den Mutter Rrirk erwähnte«, fügte Rupert hinzu. Dominique beobachtete, wie er sich bückte und einige kleine Trümmerstücke aus der Nähe betrachtete. Er nahm eins, hielt es dicht vor die Helmscheibe und legte es wieder auf den Boden. »Ob hier Kantaki gegen Kantaki gekämpft haben?«

Dominique dachte an die seltsame Geschichte von einem »Schattenuniversum«, die Mutter Rrirk ihnen in der letzten Sekunde ihres Kantaki-Lebens erzählt hatte, und wieder sträubte sich etwas in ihr dagegen, jenen Worten zu glauben. Es klang alles zu … abgehoben und absurd. Aber ob Mutter Rrirk nun bewusst gelogen oder unwissentlich die Unwahrheit gesagt hatte: Es blieb die Frage, was vor achttausend Jahren geschehen war.

»Vielleicht finden wir weiter im Innern des Nexus Antworten«, sagte Dominique. Sie betätigte die Kontrollen an ihrem Gürtel, und ein Levitationsfeld ließ sie aufsteigen und durch den Tunnel gleiten, der vom peripheren Wartungszentrum ins Innere der riesigen Raumstation führte. Rupert folgte ihr und blieb dicht an ihrer Seite.

Fast eine Stunde waren sie unterwegs, und in dieser Zeit verwandelte sich die Freude, die Dominique beim ersten Anblick des Nexus empfunden hatte, in Unbehagen und zunehmende Sorge. Immer wieder stießen sie auf Spuren der Gewalt: Stellenweise war der Kampf vor fast acht Jahrtausenden so heftig gewesen, dass ganze Sektoren des Kantaki-Nexus zerstört worden waren. Dominique und Rupert flogen durch einen riesigen Maschinensaal, in dem eine unbekannte Waffe Dutzende von Metern hohe Aggregate offenbar regelrecht pulverisiert hatte. Vielleicht war das der Grund, warum der Nexus fast tot wirkte: die Verheerungen in seinem Innern. Dominique befürchtete, dass sie hier nicht das Ausrüstungsmaterial fanden, das sie brauchten, um mit der Suche nach der Wahrheit und den verschwundenen Kantaki zu beginnen. Das Kantaki-Schiff, mit dem sie hierhergekommen waren, benötigte vor allem Energie, und genau daran schien es der Raumstation zu mangeln. Alles deutete darauf hin, dass ihre energetischen Reserven zur Neige gingen.

Auch in den administrativen Bereichen des Nexus stießen sie auf Zerstörungen, und dort fanden sie zwei weitere tote Kantaki, noch schlimmer zugerichtet als der erste. Das Licht von Dominiques Lampe tastete über die zerfetzten Reste hinweg, glitt dann zu zerschmetterten Einrichtungsgegenständen. Eine Wand wies eine tiefe Delle auf, wie von der Faust eines Titanen geschaffen.

Dominique stellte fest, dass es hier nicht ganz dunkel war. Von einigen Leuchtelementen in Decke und Wänden kam ein mattes Glühen, gerade genug, um tiefe Schatten zu schaffen.

»Als es hier zum Kampf kam, befanden sich offenbar nur noch wenige Kantaki im Nexus.«

»Oder die anderen wurden verschleppt«, sagte Rupert, der damit begonnen hatte, die Delle zu untersuchen.

»Bisher haben wir nur drei tote Kantaki gefunden«, setzte Dominique ihre Überlegungen fort. »Aber nicht die Leichen von Akuhaschi und anderen Geschöpfen. In diesem Nexus müssen sich damals, als er zur Ausrüstung und Wartung von Kantaki-Schiffen gedient hat, mehrere tausend Personen befunden haben. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Angreifer sie alle fortgebracht haben. Nein, ich glaube, sie kamen hierher, als die letzten Kantaki damit beschäftigt waren, den Nexus stillzulegen.«

Dominique öffnete ihre Sinne dem Tal-Telas, dessen Kraft alles Existierende durchdrang. Diese Kraft existierte auch in der Hyperdimension der Kantaki, aber es fiel Dominique schwerer, dort mit ihr Kontakt aufzunehmen und sie so zu nutzen, wie sie es gewohnt war. Wie auch an Bord des Schiffes blieben die Muster in Gelmr unklar, und sie ahnte inzwischen, was das bedeutete: Es gab mehrere Wege, die in die Zukunft führten; die nächsten Ereignisse hingen davon ab, wie sie sich verhielten und welche Entscheidungen sie trafen, als stünden sie auf einer kleinen Insel im Strom des Geschehens, noch unbeeinflusst von dem, was um sie herum passierte. Aber schon der erste Schritt ins Wasser würde Wellen erzeugen, aus denen sich wechselseitige Wirkungen ergaben. Und dieser erste Schritt stand unmittelbar bevor, das fühlte Dominique ganz deutlich.

Und sie fühlte noch etwas anderes: ein Flüstern in der Stille, die den dreißig Kilometer langen Zylinder erfüllte, ein vages Raunen in der Ferne.

»Ich höre etwas«, sagte sie. »In Delm.«

Rupert wandte sich sofort von der Delle ab. »Eine telepathische Nachricht?«

»Nein, ein wortloses Flüstern, so leise, dass ich es bisher nicht bemerkt habe. Eine Präsenz. Der Nexus ist nicht ganz tot. Etwas lebt hier noch. Ähnlich fühlte es sich an, als wir in der alten Station am Meeresgrund von Aquaria Mutter Rrirk fanden.«

»Glaubst du, es könnte noch ein Kantaki am Leben sein, in einer Art Hibernation?«

Dominique trat in einen dunklen Gang, der in langen Windungen erst nach oben führte und dann nach rechts abknickte. Sie blieb mit Delm verbunden, der vierten Stufe des Tal-Telas, und ließ sich von dem fernen Flüstern leiten. Nach einigen Metern aktivierte sie wieder den Levitator, und Rupert folgte ihrem Beispiel. Seite an Seite flogen sie durch die Dunkelheit, in der nur gelegentlich einige Leuchtstreifen glühten.

»Nein, ich glaube nicht, dass es ein Kantaki ist«, sagte Dominique. »Das Wispern klingt … anders.«

Sie brachten die lange, kurvenreiche Passage hinter sich, an deren Ende offenbar ein besonders heftiger Kampf stattgefunden hatte. Die Wände waren aufgerissen, und es fehlten ganze Segmente in Boden und Decke. Die Reste mehrerer Kantaki lagen vor dem Zugang zu einem Raum, den Dominique vom Schiff her kannte.

»Das ist ein Meditationszentrum«, sagte sie und leuchtete mit der Lampe. »Dort drin haben die Kantaki das Sakrium aufgesucht, das Teil des Transraums ist, um mit dem Geist zu kommunizieren, der einst Materie wurde.«

»Sie scheinen den Raum erbittert verteidigt zu haben.« Rupert deaktivierte seinen Levitator und bewegte sich in der niedrigen Restschwerkraft des Nexus vorsichtig zwischen den Trümmern. »Und offenbar haben sie den Kampf gewonnen.«

»Diese Kantaki sind tot, Rupert.«

»Zumindest einer von ihnen muss überlebt haben.«

Dominique näherte sich ihrem Gefährten und sah sofort, was er meinte. Zwischen den Kantaki-Knochen und neben dem größten Riss in der nahen Wand standen mehrere schwarze Würfel, jeweils aus fünf Teilen zusammengesetzt. Die in Fünfergruppen angeordneten Symbole an den Seitenflächen schienen sich zu bewegen, als Dominique den Blick auf sie richtete.

»Ich verstehe, was du meinst«, sagte sie. »Es handelt sich eindeutig um Kantaki-Artefakte, und sie müssen nach dem Kampf aufgestellt worden sein. Was auch immer sich hier ereignet hat – diese Objekte hätten das Chaos sicher nicht unbeschädigt überstanden.« Dominique bückte sich und berührte einen der Würfel. Die Fünfergruppen aus Kantaki-Symbolen bewegten sich, und die Sensoren des Schutzanzugs registrierten geringe energetische Aktivität. Über dem Artefakt flirrte die dünne, eiskalte Luft, und Dominique hörte ein rhythmisches Klicken: die Stimme eines Kantaki. Ein instabiles Projektionsfeld entstand, und darin zeigte sich die Gestalt eines insektoiden Wesens. Das Klicken dauerte an.

Rupert kam näher. »Verstehst du was?«

»Nein. Der Kom-Servo des Schutzanzugs enthält natürlich einen Linguator, aber er ist nicht auf die Sprache der Kantaki programmiert. Kein Wunder: Bis vor Kurzem galten sie als Legende.«

»Aber wir haben Mutter Rrirk verstanden.«

»Ja. Weil sie ihre Gedanken projizierte.«

Das Projektionsfeld flackerte und verschwand, ohne dass Dominique und Rupert die fast achttausend Jahre alte Botschaft verstanden hatten. Dominique berührte die anderen schwarzen Würfel, aber für welchen Zweck auch immer sie einst bestimmt gewesen waren: Sie enthielten nicht mehr genug Energie, um ihn zu erfüllen.

»Sieh dir das hier an, Dominique.«

Rupert war in einen Seitengang getreten, und im Schein seiner Lampe sah Dominique die Reste eines weiteren mumifizierten, von Raureif bedeckten Kantaki. Doch es gab einen wichtigen Unterschied: Seine Gliedmaßen waren um eine zweite, kleinere Gestalt geschlossen.

Dominique trat näher, lauschte dabei mithilfe der bionischen Komponenten dem Datenflüstern der Anzugsensoren. Tot. Keine Energie.

Rupert berührte die kleinere Gestalt in den Armen des Kantaki, und ihre Kleidung zerfiel zu Staub. Bleiche Knochen kamen zum Vorschein. Dominique trat um die beiden Toten herum und betrachtete sie aus verschiedenen Blickwinkeln. »Ist das möglich? Ein Mensch

»Der Kantaki hat ihm das Genick gebrochen.« Rupert strich im Halsbereich über die Kleidung des Humanoiden, die daraufhin zu Staub zerfiel. Zum Vorschein kam das gebrochene Genick, direkt unter einer Gliedmaße des Kantaki. »Und dann ist er selbst gestorben. Freund und Feind blieben in dieser tödlichen Umarmung vereint.«

Dominique aktivierte den Levitator, stieg ein wenig auf und schwebte näher an die kleinere Gestalt heran. Sie war mumifiziert, wie auch der Kantaki, und eine dünne, ledrige Haut bedeckte die Gesichtsknochen. Haarbüschel ragten aus Rissen in einer Art Kapuze. Die linke Hand hielt einen konusförmigen, silbergrauen Gegenstand, der wie eine Waffe wirkte. Dominique löste ihn vorsichtig aus den vor fast acht Jahrtausenden erstarrten Fingern und hob ihn vors Helmvisier. Sie wischte den Raureif fort und entdeckte an der einen Seite des Objekts Schriftzeichen neben einigen Mulden, die für menschliche Finger bestimmt zu sein schienen.

Rupert schwebte an ihrer Seite. »Kannst du etwas damit anfangen?«

Dominique drehte das Objekt hin und her. »Nein. Wenn dies eine Waffe ist, so weiß ich nicht, wie sie funktioniert.

Und solche Schriftzeichen habe ich nie zuvor gesehen.« Sie blickte wieder zu dem Humanoiden. »Kann es sein, dass Menschen hierfür verantwortlich sind? Haben sie die Zerstörungen verursacht und gegen die Kantaki gekämpft?«

»Dies war kein gewöhnlicher Mensch«, sagte Rupert und betätigte die Kontrollen eines Sondierers. Ein matter Strahl wanderte über den Humanoiden und tastete ihn ab, erweiterte sich dann zu einer pseudorealen Darstellung, die den Knochenaufbau zeigte. Dominique nahm einmal mehr zur Kenntnis, wie schnell ihr Gefährte in den vergangenen Monaten gelernt hatte. Aus dem Mörder und Autisten war jemand geworden, auf den sie sich verlassen konnte. Einst hatte sie nur ein Mittel zum Zweck in ihm gesehen, sogar eine Gefahr für sich selbst, aber inzwischen wollte sie ihn nicht mehr missen.

»Das sind keine normalen Knochen«, sagte Dominique und betrachtete das Bild.

»Nein. Kortikalis und Kompakta sind mit synthetischem Material verstärkt, was den Knochen eine höhere Bruchfestigkeit gibt, und die Spongiosa enthält Metall- und Polymerfäden. Die Knochenmarkhöhle hat offenbar kein Knochenmark enthalten, sondern eine bionische Nährflüssigkeit auf der Basis halbsynthetischer Moleküle. Die Reste des Muskelgewebes deuten darauf hin, dass die Muskeln für einen besonders hohen Stoffwechsel optimiert waren.«

Dominique nickte langsam, den Blick auf die von Ruperts Datenservo eingeblendeten Informationen gerichtet. »Verstärkte Knochen. Aber der Kantaki hat diesem … Menschen das Genick gebrochen.«

»Andernfalls hätte er ihn vermutlich völlig zerquetscht. Kantaki scheinen ziemlich stark zu sein.«

Ein seltsamer Gedanke ging Dominique durch den Kopf: Hatten sich damals, vor acht Jahrtausenden, Menschen auf den Kampf gegen die Kantaki vorbereitet, indem sie ihre Physiognomie verstärken ließen? Aber warum? Was steckte dahinter? Sie blickte noch einmal auf das silbergraue Objekt in ihrer Hand und betrachtete die seltsamen Schriftzeichen, die keine Ähnlichkeit mit der schriftlichen Form von InterLingua aufwiesen.

In Delm hörte sie erneut das Flüstern in der Ferne, wie ein Aufmerksamkeit verlangendes Kratzen an ihren Gedanken.

Dominique ließ den konusförmigen Gegenstand in einer Tasche ihres Schutzanzugs verschwinden. »Stellen wir fest, was hier noch lebt.«

»Ein Mensch, kein Zweifel«, sagte Rupert und sondierte die Gestalt im Stasisfeld.

Eine Falle der Kantaki, vermutete Dominique. An dieser Stelle wurde der Korridor schmaler und bot einem Menschen gerade genug Platz. Sie stellte sich vor, wie der Humanoide – sie war noch nicht ganz bereit, einen Menschen in ihm zu sehen – einen Kantaki hierher verfolgt hatte. An der schmalen Stelle war er langsamer geworden, was Projektoren in den Wänden Gelegenheit gegeben hatte, ihn mit einem Kraftfeld festzuhalten, lange genug, um ihn in Stasisenergie zu hüllen.

Hier in der zentralen Sektion des Nexus war die künstliche Schwerkraft ein wenig höher als in den peripheren Bereichen, und Dominique verzichtete auf ihren Levitator. Sie trat an das Stasisfeld heran und beobachtete den Mann, der einige Zentimeter über dem Boden schwebte und sich langsam, wie von unsichtbarer Hand bewegt, um die eigene Achse drehte. Er trug eine Art Overall, der aus mehreren streifenförmigen Funktionsteilen mit integrierten Objekten bestand. Alle wirkten fremdartig auf Dominique, in Form und Beschaffenheit kaum mit den Instrumenten und Waffen zu vergleichen, die ihr vertraut waren. Die einzelnen Streifen hatten unterschiedliche Farben – Blau- und Rottöne überwogen –, aber durch die Drehung schienen ihre Ränder manchmal zu zerfließen. Es fehlte ein Gürtel, doch dafür gab es in Hüfthöhe mehrere Schnallen im gleichen Silbergrau wie der Gegenstand, den Dominique eingesteckt hatte, und dort bemerkte sie weitere Schriftzeichen.

»Das Stasisfeld ist sehr schwach.« Rupert sah auf die Anzeigen seines Sondierers. »Es gelang den Kantaki damals, einen ihrer Gegner gefangen zu nehmen, aber aus irgendeinem Grund kamen sie nicht mehr dazu, ihn fortzubringen.«

»Er blieb hier, fast achttausend Jahre lang«, murmelte Dominique nachdenklich. »Und die anderen Menschen, die damals in diesem Nexus waren … Sie kümmerten sich nicht um ihn. Warum?«

»Vielleicht verfolgten sie die fliehenden Kantaki«, spekulierte Rupert. »Oder dies war der Letzte von ihnen.«

Dominique beobachtete den sich langsam drehenden Mann, der ihnen nun sein Gesicht zuwandte: Brauen, die eine dünne Linie bildeten, eine lange, gerade Nase und ein Mund mit dünnen Lippen. Es hätte das Gesicht eines gewöhnlichen Menschen sein können, wenn nicht die Augen gewesen wären. Sie waren geöffnet, nicht weit aufgerissen im Moment der Erkenntnis, in eine Falle geraten zu sein, sondern so wachsam wie die eines Raubtiers auf der Jagd, selbst in der Sekunde der Überraschung und Niederlage. Die Pupillen erschienen Dominique recht groß, vielleicht ein Zeichen von Erregung, und die Iris glänzte kobaltblau.

»Seine Knochen sind ebenfalls verstärkt«, sagte Rupert und blickte noch immer auf die Anzeigen des Sondierers. »Auch die inneren Organe scheinen modifiziert zu sein, aber Einzelheiten lassen sich leider nicht feststellen. Das Stasisfeld stört die Sondierungssignale.«

Dominique bemerkte ein kurzes Flackern in dem Kraftfeld, das den Mann gefangen hielt. Sie sah zu den Projektoren in den Wänden. »Wann wird die Stasisenergie endgültig instabil?«

»Schwer zu sagen. Vielleicht in einem Monat. Oder in hundert Jahren. Kommt darauf an, wie groß die energetischen Reserven des Nexus sind und welche Versorgungspriorität die Kantaki damals dieser Falle gegeben haben.«

»Er könnte uns bestimmt die eine oder andere Frage beantworten«, sagte Dominique.

Rupert trat näher und richtete einen besorgten Blick auf sie. »Willst du ihn aus der Stasis holen?«

»Er könnte uns sagen, was damals hier geschehen ist.«

»Er hat gegen die Kantaki gekämpft«, sagte Rupert. Dominique sah seine dunklen Augen hinter der Helmscheibe; das Flackern des Wahnsinns war aus ihnen verschwunden und einer Wärme gewichen, die ihr galt. »Er könnte sehr gefährlich sein, und wir sind unbewaffnet.«

»Wie fühlst du dich, wenn du nach dem Sprung durch eine Transferschneise aus der Hibernation erwachst? Zumindest ein wenig Benommenheit ist immer die Folge, selbst bei einem kurzen Sprung. Dieser Mensch hat die letzten achttausend Jahre in Stasis verbracht. Er dürfte geschwächt sein. Und außerdem, Rupert: Wenn wir mehr erfahren und die Wahrheit herausfinden wollen, müssen wir früher oder später etwas riskieren.«

Dominique trat noch etwas näher an die schmale Stelle im Gang heran. Vor ihr drehte sich der Mann im Kraftfeld, das ihn zu einem Gefangenen gemacht, ihn aber auch am Leben erhalten hatte, über den Abgrund der Zeit hinweg. Sie sah den Glanz in seinen Augen, als er ihr erneut das Gesicht zuwandte, gewann dabei fast den Eindruck, dass er sie sah.

»Ich kann hier keine Kontrollen für das Stasisfeld erkennen«, sagte Rupert.

»Ich versuche es in Crama.« Dominique konzentrierte sich trotz des störenden Einflusses der Hyperdimension auf die dritte Stufe des Tal-Telas und tastete mit ihren Gedanken nach den Materiestrukturen im Innern der dunklen Wände. Schon nach wenigen Sekunden fand sie einen komplexen Mechanismus und spürte einen schwachen energetischen Fluss, der gerade noch ausreichte, das Stasisfeld stabil zu halten.

Sie trat zurück. »In Ordnung, versuchen wir es.«

»Ich würde mich wohler fühlen, wenn ich jetzt einen Variator dabei hätte«, sagte Rupert. »So ganz ohne Waffen …«

»Wir haben die Kraft des Tal-Telas. Das sollte Schutz genug für uns sein.« Dominique verband ihre Gedanken erneut mit Crama und schickte sie zu dem Mechanismus in der linken Wand. Einige kleine Veränderungen unterbrachen den schwachen Energiestrom, und von einem Augenblick zum anderen existierte das Stasisfeld nicht mehr.

Die langsame Drehung des Mannes fand ein Ende, und er fiel zu Boden, blieb reglos liegen. Einige Sekunden herrschte Stille, und dann erklang ein dumpfes Schnaufen, das von dem Menschen am Boden stammte, und in Delm stellte Dominique verstärkte geistige Aktivität fest.

»Er kommt zu sich«, sagte Dominique. Sie spürte, wie der Schutzanzug auf ihre wachsende Anspannung reagierte: Nanowurzeln der biologischen Komponenten bohrten sich tiefer in ihren Körper, verbanden sich mit dem Nervensystem und stimulierten ihr Denken.

Der Mann auf dem Boden winkelte die Arme an und stemmte sich langsam in die Höhe. Er bewegte sich wie jemand, der aus tiefem Schlaf erwachte und Mühe hatte, in die Realität zurückzufinden. Der Kopf kippte wie haltlos von einer Seite zur anderen. Das Haar hatte bisher einen Wulst im Nacken gebildet, fiel jetzt zur Seite und wurde zu einem wogenden seidenen Schleier, der wie Silber glänzte.

Dominique streckte ihre Gedanken in Delm vorsichtig dem Fremden entgegen und sah mit dem inneren Auge, wie sich das mentale Durcheinander im Selbst des Mannes ordnete. Seltsame Symbole entstanden, einzelne Sinnelemente eines völlig unvertrauten Denkens – und dann gab es plötzlich eine Barriere, die Dominique vom Bewusstsein des Mannes trennte.

»Er hat sich geistig abgeschirmt«, sagte sie. Ihre Worte galten Rupert, deshalb hatte sie den externen Lautsprecher des Schutzanzugs nicht eingeschaltet, aber der Fremde schien ihre Stimme zu hören. Er verharrte abrupt, halb aufgerichtet, und sein Kopf ruckte zur Seite, dem Licht der beiden Lampen entgegen.

Dominique hob langsam die rechte Hand. »Können Sie uns verstehen? Wir haben Sie aus dem Stasisfeld befreit.« Diesmal kamen ihre Worte aus dem externen Lautsprecher des Kom-Servos.

Wie in Zeitlupe richtete sich der Mann ganz auf, und seine kobaltblauen Augen bewegten sich – ihr Blick huschte zwischen Rupert und Dominique hin und her. Sein Atem kondensierte in der kalten Luft.

Dominique richtete den Lichtstrahl ihrer Lampe auf den Boden, um den Mann nicht zu blenden. Rupert folgte ihrem Beispiel und sagte: »Mit seiner Kleidung geschieht etwas. Meine Sensoren registrieren energetische Aktivität.«

Daten scrollten durch Dominiques Helmdisplay und gaben Auskunft über die gemessenen Emissionen, aber sie achtete nicht darauf und beobachtete, wie die farbigen Streifen des Overalls zusammenwuchsen und dabei offenbar ihre Beschaffenheit veränderten. An einigen Stellen versteifte sich das Material, an anderen wurde es flexibler. Und als sich der Mann dann bewegte, schien er teilweise durchsichtig zu werden.

»Ein Tarnanzug«, sagte Rupert.

Der Mann schwankte ein wenig, und Dominique staunte über seine Konstitution – die fast achttausend Jahre der Stasis schienen ihn kaum geschwächt zu haben, und er erholte sich schnell. Er trat näher, die ersten Schritte noch ein wenig unsicher, sah sich dabei um wie jemand, der Gefahr witterte. Dann richtete er einen forschenden Blick erst auf Rupert und anschließend auf Dominique. Das silberne Haar wogte, als er den Kopf von einer Seite zur anderen drehte. Er öffnete den Mund, und es erklangen Geräusche, mit denen weder Dominique noch ihr Linguator etwas anfangen konnten.

»Verstehst du was?«, fragte sie Rupert.

»Kein einziges Wort. Und das ist seltsam, findest du nicht, Domi? Die Algorithmen unserer Linguatoren sollten mit allen jemals von Menschen gesprochenen Sprachen fertig werden.«

Dominique warf einen Blick auf die ambientalen Anzeigen des Helmdisplays und öffnete dann das Visier. Eiskalte Luft schlug ihr entgegen.

»Wir haben keine feindlichen Absichten«, sagte Dominique, obwohl sie ziemlich sicher war, dass der Fremde sie nicht verstand. Aber irgendetwas musste sie sagen. Bevor sie noch etwas hinzufügen konnte, kniff der Mann die Augen zusammen, zischte etwas und schien auf eine Antwort zu warten.

»Es tut mir leid«, sagte Dominique und breitete die Arme aus. »Ich verstehe Sie nicht. Vielleicht können uns die Datenbanken der Kantaki bei der Kommunikation helfen …«

Der Mann hielt plötzlich einen konischen Gegenstand in der Hand und richtete ihn auf Dominique. Sie fühlte, wie etwas in ihr Bewusstsein eindrang, blitzartig alle erreichbaren Gedanken packte und hin und her drehte. Mentale Hitze folgte, und sie schnappte erschrocken nach Luft.

»Dominique?«, entfuhr es Rupert. »Was macht er mit dir?«

Sie reagierte, baute eine Brücke zum Tal-Telas und errichtete in Delm eine Barriere, die sie von dem externen Einfluss schützte – er ging nicht vom Selbst des Mannes aus, sondern von etwas anderem in oder an ihm.

»Das war nicht besonders freundlich«, sagte sie und atmete tief durch, das Helmvisier noch immer offen. »Wir haben Sie befreit und möchten nur …«

Die Verbindung zum Tal-Telas bestand noch immer, und in Gelmr sah Dominique ein Muster, das sie zu sofortigem Handeln zwang. Sie gab Rupert in Crama einen Stoß, der ihn zu Boden warf, und gleichzeitig hechtete sie selbst zur Seite. Etwas donnerte über sie beide hinweg, traf die dunkle Wand und riss sie auf. Dominique fühlte den Boden unter sich zittern, sah aus dem Augenwinkel, wie der Mann die Hände drehte und erkannte das neue Muster in Gelmr und seine Bedeutung. Sie sammelte die Kraft von Iremia, der neunten Stufe des Tal-Telas, manipulierte damit die physischen und energetischen Strukturen in ihrer Umgebung. Das Etwas, das zuvor einen Teil der Wand zerfetzt hatte, traf sie nur noch als ein heißer Hauch, der für eine Sekunde die Kälte verdrängte.

Die hohen Stufen, unter ihnen Iremia, waren anstrengend, und hinzu kam der störende Einfluss der Hyperdimension. Dominique sammelte neue Kraft, um Rupert und sich selbst vor den Angriffen zu schützen. Sie drehte den Kopf und sah, wie Rupert auf die Beine kam und sich dem Fremden zuwandte, mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen. Sein Gesicht veränderte sich, wurde fast zu einer Fratze, und als er den Mund öffnete, krümmte sich Dominique aus einem Reflex heraus am Boden zusammen, kniff die Augen fest zu und formte die Kraft des Tal-Telas zu einem Schild, groß genug für sie selbst.

Rupert schrie und setzte seinen Zorn, der so oft den Tod gebracht hatte, ganz bewusst als Waffe gegen den Mann ein. Auch er konnte sich mit dem Tal-Telas verbinden, auf eine andere Weise als Dominique, und inzwischen hatte er gelernt, diesen Vorgang zu kontrollieren – er war nicht mehr das willenlose Werkzeug, zu dem ihn das Projekt Brainstorm hatte machen wollen.

Der Schrei brach abrupt ab.

Nach einigen Sekunden der Stille wagte es Dominique, die Augen wieder zu öffnen. Rupert stand wie erstarrt da, das Gesicht noch immer eine Grimasse, der Mund noch immer geöffnet. Das lange silberne Haar des Fremden bewegte sich wie in einem Wind, der nur für ihn wehte, als er langsam um Rupert herumging und ihn neugierig ansah. Schließlich wandte er sich von ihm ab, trat zu Dominique und blickte auf sie hinab. Er sagte etwas, das für Dominique wie eine Aneinanderreihungen von Knurrlauten klang. Diesmal wartete er nicht auf eine Antwort, drehte sich um und kehrte zu der engen Stelle im Korridor zurück. Dort löste er etwas von seiner Kleidung, das nach einer mehrere Zentimeter langen Nadel aussah, und warf es hoch.

Das nadelartige Objekt verharrte dicht unter der Decke wie von einer unsichtbaren Hand gehalten, und ein Wabern drang nach außen, bildete einen dünnen Vorhang in der Luft. Der Fremde warf Dominique und Rupert noch einen letzten Blick zu, trat dann ins Wabern hinein … und verschwand.

Der Pilotendom des Kantaki-Schiffes war ein vertrauter Ort für Dominique, ein neues Zuhause, in dem die »Stimmen« des Schiffes sie willkommen hießen. Aber die Stimmen – die Statussignale der verschiedenen Bordsysteme – waren nicht mehr kraftvoll und laut, sondern schwach und leise. Mutter Rrirks Schiff brauchte dringend neue Energie.

Dominiques violett verfärbte Hände ruhten in den Sensormulden des Pilotensessels und empfingen Daten, die über den Zustand des Kantaki-Riesen Auskunft gaben. »Es sieht nicht gut aus«, sagte sie besorgt.

Rupert schien sie gar nicht zu hören. Er saß an einer der Konsolen, den Blick auf die Nadel gerichtet, die sie nach dem Verschwinden des Fremden auf dem Boden gefunden hatten. Langsam drehte er sie hin und her, hob sie dann vor ein Auge und blickte hindurch.

»Wie eine Patrone«, murmelte er.

»Was?«

»Wie die Hülse eines Geschosses. Leer. Was enthielt sie?« Rupert drehte die Nadel erneut, wie in der Hoffnung, irgendwo an ihr einen Hinweis zu finden.

»Keine Ahnung. Aber was auch immer das Objekt enthielt: Es ermöglichte dem Fremden, den Nexus zu verlassen.« Dominique steuerte Mutter Rrirks Schiff vorsichtig von der großen Raumstation über dem Orion-Arm der Milchstraße fort.

Rupert schüttelte den Kopf und steckte die Nadel ein. »Wohin ist er verschwunden? Nach all der Zeit … Und wer war er?«

»Ich hoffe, das sind rhetorische Fragen, denn von mir kannst du keine Antworten erwarten.« Die fensterartigen Darstellungsbereiche an den gewölbten Wänden zeigten den Nexus der Kantaki – er schien immer mehr zu schrumpfen, als sich das Schiff von ihm entfernte. »Wir haben ein echtes Problem, Rupert. Unsere energetischen Reserven sind sehr gering.«

»Schaffen wir es bis zum nächsten Nexus?«

»Er ist fast neunzehntausend Lichtjahre entfernt«, sagte Dominique. »Es wird sehr, sehr knapp. Und wenn dort etwas Ähnliches geschehen ist wie hier …«

Rupert verließ seinen Platz an der Konsole, stieg die fünf Stufen des Pilotenpodiums hoch und nahm im Sessel neben den Kontrollen Platz. Er wirkte noch immer sehr nachdenklich. »Er hätte dich fast getötet. Wenn doch nur eine Verständigung mit ihm möglich gewesen wäre …«

In ihrer Erinnerung hörte Dominique noch einmal die letzte Äußerung des Humanoiden. Welche Bedeutung verbarg sich in den Knurrlauten?

Das Kantaki-Schiff wurde schneller. Es befand sich weit abseits der Transferschneisen, aber jene Verbindungen zwischen den Sternen brauchte es nicht. Dominique konzentrierte sich auf die Fäden im Transraum, die alles miteinander verbanden, und suchte nach dem, der sie zum nächsten Nexus bringen konnte. Sie fühlte sich noch immer ein wenig geschwächt, und außerdem fiel es ihr schwer, ihre Gedanken unter Kontrolle zu halten. Immer wieder kehrten sie zu den toten Kantaki im Nexus zurück, zu den Bildern der Zerstörung und zu dem rätselhaften Fremden, der fast achttausend Jahre in Stasis gefangen gewesen war.

Schließlich fand sie einen Faden, der ihr geeignet erschien, und machte sich daran, ihn mit dem Schiff zu verbinden. Die Bordsysteme reagierten mit ungewohnter Trägheit, und Dominique nahm noch mehr Kraft im Tal-Telas auf, um die notwendige Verbindung herzustellen und das Schiff in den Transraum zu bringen. Es war nicht annähernd so schnell wie sonst – der Flug zum nächsten Nexus würde einige Monate dauern. Viel Zeit, während der viele Dinge passieren konnten. Dominique fragte sich, was während der vergangenen zwei Monate in den ehemaligen Allianzen Freier Welten geschehen war und was dort in naher Zukunft geschehen würde. Griffen die Graken erneut an? Landeten vielleicht in diesem Moment Moloche auf den Planeten des Kernbereichs, um dort das gesamte intelligente Leben geistig zu versklaven? Dies war mehr als eine Suche nach Wahrheit, wusste Dominique. Wenn es Rupert und ihr gelang, die Kantaki zu finden … Vielleicht konnten sich die Menschen und ihre Verbündeten mit der Hilfe jenes alten, weisen Volkes vor den Graken schützen.

»Wir könnten sie untersuchen.«

Dominique hob schwere Lider. »Was?«, fragte sie benommen und begriff, halb eingeschlafen zu sein.

»An Bord dieses Schiffes gibt es doch bestimmt ein Laboratorium oder so«, sagte Rupert. Er hielt erneut die Nadel in der Hand. »Dort könnten wir dieses Objekt analysieren. Vielleicht finden wir dabei etwas heraus.«

Dominique stand auf, um sich ein wenig Bewegung zu verschaffen. Sie trat zwei Schritte beiseite – und blieb abrupt stehen, als der Boden unter ihr erbebte.

Rupert taumelte. »Was war das?«

Die Vibrationen wiederholten sich und wurden stärker. Mit ihnen kam ein hochfrequentes Pfeifen, das Dominique fast als schmerzhaft empfand.

Sie begriff plötzlich, was geschah. »Der Faden löst sich vom Schiff!«

Mit einem Satz war sie wieder im Pilotensessel und legte die Hände in die Sensormulden. Fast hätte sie sie sofort wieder zurückgezogen – Mutter Rrirks Schiff schrie. Tausend Alarme heulten durch die Datenkanäle, als das energetische Niveau bestimmter Bordsysteme unter die kritische Schwelle sank. Dominique spürte, wie sie durch eine Verlagerung der künstlichen Gravitation im Sessel zur Seite gezogen wurde. Rupert rief etwas, aber sie achtete nicht darauf. Sie durfte sich jetzt nicht von ihm ablenken lassen, schloss die Augen und wies das Schiff an, die noch zur Verfügung stehende Energie in die Stabilisatoren zu leiten. Sie fuhr das Triebwerk auf die niedrigste Stufe herunter, erweiterte dann ihr Selbst im Tal-Telas und griff nach dem Faden, der sich draußen im Transraum wie eine Schlange hin und her wand. Als sie ihn festhalten wollte, löste er sich endgültig vom Schiff, und ein neuer Prioritätsalarm erreichte Dominiques Wahrnehmung: Ein unkontrollierter Transit fand statt. Wenn der Kantaki-Koloss jetzt in den Normalraum zurückkehrte, so gab es keine Möglichkeit, den Retransferpunkt zu bestimmen – schlimmstenfalls materialisierte er im Innern einer Sonne.

Als Meisterin der Tal-Telassi hatte Dominique die Gabe, ein Kantaki-Schiff zu fliegen, aber sie war alles andere als eine erfahrene Pilotin. Sie reagierte instinktiv, griff nach dem ersten Faden in der Nähe und verband ihn mit dem Schiff, in der Hoffnung, es auf diese Weise zu stabilisieren. Doch die Erschütterungen wurden noch stärker, und Sensoren teilten ihr mit, dass sich Risse in den peripheren Segmenten bildeten – ihre Bindungskräfte reichten nicht mehr aus, Kohärenz zu gewährleisten. Der neue Faden zuckte wie die Schnur einer Peitsche und schleuderte das Schiff in eine graue Zone, in der es nur noch wenige Fäden gab.

Die nichtlineare Zeit …

Ein anderes Universum, voller Möglichkeiten und Alternativen zu dem, was in Dominiques Kosmos Realität war. In den beiden ersten Stufen des Tal-Telas, in Alma und Berm, sah sie hinaus in endlose Weiten, in ein Universum, in dem nur wenige Sterne leuchteten, einer von ihnen … ganz nah.

Der zweite Faden löste sich wie der erste vom Schiff, und bevor Dominique etwas unternehmen konnte, verließ der dunkle Riese den Transraum. Sofort meldeten die Sensoren enorme Hitze: Das Schiff war nur zwanzig Millionen Kilometer von einer blauweißen Sonne entfernt in den Normalraum zurückgefallen, und seine Energie konnte die Schutzfelder nicht aufrechterhalten.

Dominique öffnete die Augen.

Stellares Plasma loderte in den fensterartigen Projektionsfeldern, und unter einem der Darstellungsbereiche lag Rupert reglos vor einer Konsole. Eine der Erschütterungen musste ihn zu Boden geworfen haben.

Dominique vergewisserte sich in Delm, dass er noch lebte und nicht ernsthaft verletzt war, konzentrierte sich dann auf die Steuerung des Schiffes und brachte es fort von der blauweißen Sonne, die über eine Materiebrücke mit einer roten verbunden war. Dadurch schwanden die energetischen Reserven so sehr, dass an eine Rückkehr in den Transraum nicht mehr zu denken war. Dominique reduzierte die Schwerkraft an Bord und legte einige nicht unbedingt notwendige Bordsysteme still. Die nächste halbe Stunde verbrachte sie damit, die Geschwindigkeit des Kantaki-Schiffes zu reduzieren: Es flog mit fast sechzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit durchs All, ohne Kraftfelder, die es vor Asteroiden und Meteoriten schützten. Rupert kam wieder zu sich und wankte die Stufen zum Pilotenpodium hoch. An seiner Stirn bemerkte Dominique den roten Striemen einer Platzwunde.

Ein Planet erschien in den Projektionsfeldern: graubraun und türkis dort, wie Wolken nicht den Blick auf die Oberfläche versperrten.

»Es wird ziemlich knapp«, sagte Dominique.

Eine knappe Stunde später versagte das Triebwerk, weil es keine Energie mehr bekam.

»Wir sind noch immer zu schnell.« Dominique zog die Hände aus den Sensormulden; sie konnte den Kantaki-Riesen ohnehin nicht mehr steuern. »Ich fürchte, Mutter Rrirks Schiff bricht in der Atmosphäre auseinander.«

»Gibt es Rettungskapseln an Bord?«

»An Bord eines Kantaki-Schiffes? Nein. Sie sind nie nötig gewesen.«

»Du kannst uns auf den Planeten teleportieren«, erwiderte Rupert.

»Und dann? Was machen wir auf einem Planeten mitten im Nichts, in der nichtlinearen Zeit? Wenn es dort Bewohner gibt, eine Zivilisation … Teile des Schiffes könnten auf Städte stürzen.« Dominique lauschte kurz in Delm, hörte aber nichts. Ihre Gedanken fühlten sich seltsam an, wie in Watte gehüllt, und die Kraft des Tal-Telas schien nicht mehr so nah zu sein wie sonst.