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Harro von Senger

36 Strategeme für Manager

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

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5. Auflage 2016

© 2016 Carl Hanser Verlag München Wien

Internet: www.hanser-fachverlag.de

Lektorat: Lisa Hoffmann-Bäuml

Herstellung: Thomas Gerhardy

Kalligraphie Cover: Chen Wentian (Shanghai)

Kalligraphien Innenteil: Frau GUO Li (Freiburg im Breisgau)

Umschlaggestaltung: Stephan Rönigk

Datenkonvertierung E-Book: Kösel Media GmbH, Krugzell

ISBN: 978-3-446-45105-6

E-Book ISBN: 978-3-446-45090-5

Inhalt

Danksagung

Vorwort zur 5. Auflage

Weltwirtschaftsgipfel 2050 in Shanghai

Die 36 Strategeme

Listbilder

Schema

Karikatur

Philosophisches List-Design

16 Grundsteine im Gebäude der Strategemkunde

Strategem und List

Strategem und Listenblindheit

Strategeme, Strategemkunde und Strategemkundigkeit

Strategem und Strategie

Strategem und Täuschung

Strategem und Lüge

Strategem und Weisheit

Strategem und Ökonomie

Strategem und »Wirtschaftskrieg«

Strategem und Manager

Die 36 Strategeme und Meister Sun (Sun Zi)

Eine in Europa nie, in China oft gestellte Frage

Carl von Clausewitz’ Ansicht über die List – fünf Mal vom Kopf auf die Füße gestellt

36 chinesische Strategeme und ihre westliche Nutzanwendung

Sechs Kategorien von Listtechniken

Vier ethische Kategorien von List

Strategemschulung

Verschleierungs-Strategeme

Strategem Nr. 1:

(Übersetzungsvariante 1) Den Himmel täuschend das Meer überqueren/(Übersetzungsvariante 2) Den Kaiser täuschen [, indem man ihn in ein Haus am Meeresstrand einlädt, das in Wirklichkeit ein verkleidetes Schiff ist] und [ihn so dazu veranlassen,] das Meer [zu] überqueren

Strategem Nr. 3:

Mit dem Messer eines anderen töten

Strategem Nr. 6:

Im Osten lärmen, im Westen angreifen

Strategem Nr. 8:

Sichtbar die [verbrannten] Holzstege wieder instand setzen, insgeheim [aber vor beendeter Reparatur] nach Chencang [zu einem Angriff auf den Gegner] marschieren

Strategem Nr. 10:

Hinter dem Lächeln den Dolch verbergen

Strategem Nr. 24:

Einen Weg [durch den Staat Yu] für einen Angriff gegen [dessen Nachbarstaat] Guo ausleihen [, um nach der Besetzung von Guo auch Yu zu erobern]

Strategem Nr. 25:

[Ohne Veränderung der Fassade eines Hauses in dessen Innerem] die Tragbalken stehlen und die Stützpfosten austauschen

Vorspiegelungs-Strategeme

Strategem Nr. 7:

Aus einem Nichts etwas erzeugen

Strategem Nr. 27:

Verrücktheit mimen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren

Strategem Nr. 29:

Einen [dürren] Baum mit [künstlichen] Blumen schmücken

Strategem Nr. 32:

Das Strategem der Öffnung der Tore [einer in Wirklichkeit nicht verteidigungsbereiten Stadt]

Strategem Nr. 34:

Das Strategem des leidenden Fleisches

Enthüllungs-Strategeme

Strategem Nr. 13:

Auf das Gras schlagen, um die Schlangen aufzuscheuchen

Strategem Nr. 26:

Die Akazie schelten, [dabei aber] auf den Maulbeerbaum zeigen

Ausmünzungs-Strategeme

Strategem Nr. 2:

[Die ungeschützte Hauptstadt des Staates] Wei belagern, um [den durch die Hauptstreitmacht des Staates Wei angegriffenen Staat] Zhao zu retten

Strategem Nr. 4:

Ausgeruht den erschöpften Feind erwarten

Strategem Nr. 5:

Eine Feuersbrunst für einen Raub ausnützen

Strategem Nr. 12:

Mit leichter Hand das [einem unerwartet über den Weg laufende] Schaf [geistesgegenwärtig] wegführen

Strategem Nr. 14:

Für die Rückkehr der Seele einen Leichnam ausleihen

Strategem Nr. 15:

Den Tiger vom Berg in die Ebene locken

Strategem Nr. 16:

Will man etwas fangen, muss man es zunächst loslassen

Strategem Nr. 17:

Einen Backstein hinwerfen, um einen Jadestein zu erlangen

Strategem Nr. 18:

Will man eine Räuberbande unschädlich machen, muss man deren Anführer fangen

Strategem Nr. 19:

Unter dem Kessel das Brennholz wegziehen

Strategem Nr. 20:

Das Wasser trüben, um die [ihrer klaren Sicht beraubten] Fische zu fangen

Strategem Nr. 22:

Die Türe schließen und den Dieb fangen

Strategem Nr. 23:

Sich mit einem fernen Feind verbünden, um den nahen Feind anzugreifen

Strategem Nr. 28:

Auf das Dach locken, um dann die Leiter wegzuziehen

Strategem Nr. 30:

Die Rolle des Gastes in die des Gastgebers umkehren

Strategem Nr. 31:

Das Strategem des schönen Menschen/der schönen Frau

Strategem Nr. 33:

Das Agenten-Strategem/Das Strategem des Zwietrachtsäens

Strategemverkettung

Strategem Nr. 35:

Das Verkettungs-Strategem/Die Strategemverkettung

Flucht-Strategeme

Strategem Nr. 9:

[Scheinbar unbeteiligt] die Feuersbrunst am gegenüberliegenden Ufer beobachten

Strategem Nr. 11:

Den Pflaumenbaum anstelle des Pfirsichbaums verdorren lassen

Strategem Nr. 21:

Die Zikade entschlüpft ihrer goldglänzenden Hülle

Strategem Nr. 36:

[Rechtzeitiges] Weglaufen ist [bei sich abzeichnender völliger Aussichtslosigkeit] das Beste

Schlusswort

Abkürzungen, Bibliografie

Anmerkungen

Danksagung

Für wertvolle Anregungen, gestützt auf die Durchsicht von Teilen oder des Gesamttextes meines Buchmanuskripts, danke ich den Herren Prof. Dr. phil. Manfred Gross, Chinesisch-Deutsches Hochschulkolleg der Tongji-Universität Shanghai, früher stellvertretender Direktor der Siemens AG (Corporate Human Resources); dem Akademischen Direktor Dr. Klaus Kammerer, Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaftliche Fakultät, Seminar für allgemeine Wirtschaftsforschung, Abteilung für Empirische Wirtschaftsforschung und Ökonometrie (Universität Freiburg im Breisgau); Dr.oec.HSG Reto Müller, Präsident des Verwaltungsrates/Leiter Helbling Gruppe, Zürich; Siegmar Schulz, 1986–2001 China-Manager des VW-Werks, seit 2001 Betreuer eines Regionalbüros des Senior Experten Service SES (Wolfsburg) und Prof. Dr. Bernd Schauenberg, Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaftliche Fakultät, Wirtschaftswissenschaftliches Seminar, Direktor des Betriebswirtschaftlichen Seminars III, Lehrstuhl für Personal- und Organisationsökonomie (Universität Freiburg im Breisgau). Danken möchte ich auch Frau GUO Li, Lehrbeauftragte des Fachbereichs Sinologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau, für ihre Kalligraphien.

1. Juni 2004

Vorwort zur 5. Auflage

Unter dem Titel „China im Jahr 2049: Zukunftsziele im Reich der Mitte“ lenkte ich am 10. April 1985 in der Neuen Zürcher Zeitung die Aufmerksamkeit auf ein 100-Jahresziel der Volksrepublik China: »Wir hoffen, nach Ablauf von 100 Jahren seit der Gründung der Volksrepublik China, also im Jahre 2049, die höchstentwickelten kapitalistischen Länder eingeholt zu haben.« Diese Worte äußerte der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas Hu Yaobang am 19. Januar 1985 vor Absolventen der Zentralen Pekinger Parteihochschule (siehe http://www.supraplanung.eu/pdf/beweis-existenz-supraplanung.pdf, siehe auch »Chinas zwei 100-Jahresziele« in meinem Buch Moulüe – Supraplanung, Hanser Verlag, München 2008, S. 115ff.).

31 Jahre später kann man feststellen, dass sich die Volksrepublik diesem 100-Jahresziel mit eiserner Konsequenz, wenn auch mit Rückschlägen, stetig angenähert hat. Auf dem Weg zu diesem Ziel bedient man sich in der Volksrepublik China eines bunten Fächers von Behelfen. Dazu gehören neben amtlichen Normen der Kommunistischen Partei Chinas und den Gesetzen des chinesischen Staates mit ihrer nicht zu unterschätzenden »normativen Kraft des Normativen« auch antikes Geistesgut, darunter altüberliefertes Militärdenken. Während hierzulande beispielsweise der Konfuzianismus in aller Munde ist, ist die dem antiken Militärdenken entsprungene chinesische Kunst der List wenig bekannt. In komprimierter Form kommt sie in den 36 Strategemen zum Ausdruck. Kennen sollte sie jeder Geschäftsmann, der mit Chinesen in Beziehungen tritt, sei es im Reich der Mitte beim Kampf um chinesische Marktanteile, sei es im Westen angesichts des Auftauchens chinesischer Produkte im hiesigen Markt und angesichts des chinesischen Appetits auf westliche Marken, Technologien, ja auf ganze Firmen und Unternehmen. Aber auch für die rein innerwestliche Geschäftstätigkeit kann die Kenntnis der 36 Strategeme von Nutzen sein. So hätte das Unternehmen VW, wenn es nur eine den Geist des Strategems Nr. 19 umsetzende Maxime (die bereits in der ersten Auflage dieses Buches im Jahre 2004 empfohlen worden ist) befolgt hätte (siehe S. 150), den Abgasskandal und große finanzielle Verluste mit Leichtigkeit vermeiden können.

Harro von Senger, 1. Juli 2016

Weltwirtschaftsgipfel 2050 in Shanghai

»Die asiatischen Supermächte, darunter China, verhandeln mit den USA über neue Freihandelsabkommen. Am Katzentisch sitzen die Europäer. Deutschland, Großbritannien und Frankreich wollen sich mit Schutzzöllen gegen Importe aus Asien verteidigen. Die traditionsreichen Ökonomien sind wirtschaftlich in die zweite Liga abgestiegen.«

(Aus: Joachim Althof: »Asien: Der unaufhaltsame Aufstieg«, in: Finanzen, München, Nr. 4, 01.04.2004, S. 26f.)

Vielleicht

kann zur Verhinderung einer derart düsteren Zukunft ein Denkanstoß aus dem Reich der Mitte einen Beitrag leisten. Dieses Buch beleuchtet ein jahrhundertealtes, im Westen kaum beachtetes geistiges Orientierungssystem des Einmilliardenvolkes zum Sichzurechtfinden in einer unübersichtlichen Welt. Hiesigen Managern kann es zu einer in dieser kompakten Form für sie neuen – listigen – Sichtweise auf alte und neue Tatbestände, auf vergangene und zukünftige Vorgänge verhelfen. Es kann den etwas verstaubten, inzuchtgefährdeten europäischen Geist beleben, der europäische Manager bedroht, und es kann deren infolge eines »listenblinden Flecks« eingeschränktes Gesichtsfeld auf eine »Geheimressource« ausweiten, über die sie bisher nie systematisch aufgeklärt wurden und die sie daher nie umfassend nutzen konnten! Chinesischen wirtschaftlichen Standortvorteilen mag schwer beizukommen sein, aber chinesische Gesichtspunktvorteile, z.B. infolge der Kultivierung von List, lassen sich wettmachen – indem sich europäische Manager den ihnen in dieser Form fehlenden Gesichtspunkt selbst auch aneignen und ihr Gehirn mit einer zusätzlichen – und zwar strategemischen – »Software« ausstatten.

Zu diesem Zweck

vermittelt der vorliegende Band speziell für westliche Manager eine Einführung in die chinesische Strategemkunde. Das Buch beginnt mit drei Bildern. Plastisch führen sie vor Augen, was ein »Strategem« bzw. eine »List« ist, und sie visualisieren eine der chinesischen Auffassung von List zu Grunde liegende philosophische Annahme. Danach spannt sich der Bogen vom Allgemeinen – den »16 Grundsteinen im Gebäude der Strategemkunde« – zum Besonderen – zur »Strategemschulung« für Manager. Im allgemeinen Teil werden grundlegende Begriffe geklärt und Missverständnisse, zum Beispiel bezüglich der Beziehung von Sunzi zu den 36 Strategemen oder von Machiavelli und Clausewitz zur List, ausgeräumt. Die in diesem Zusammenhang entscheidende Frage wird eingeführt, die man sich in Europa nie, im Reich der Mitte aber oft stellt. Auch die ethische Dimension der 36 Strategeme wird beleuchtet. Im Hauptteil, welcher der »Strategemschulung« gewidmet ist, werden westliche Manager in die offensive und defensive, taktische und strategische Nutzanwendung der 36 Strategeme, aber auch in die damit verbundenen Risiken eingeweiht.

Das vorliegende Buch ist, soweit bekannt, die weltweit erste westliche Auswertung chinesisch geschriebener Werke zum Thema »Die 36 Strategeme in Wirtschaft und Management«, die in den letzten Jahren in der Volksrepublik China und Taiwan zu Dutzenden und in hohen Auflagen erschienen sind. Es soll das der westlichen Wirtschaft schadende große Listvirtuositätsgefälle zwischen chinesischen und europäischen Führungskräften überwinden helfen.

Die 36 Strategeme

Gemäß dem Traktat 36 Strategeme [Das geheime Buch der Kriegskunst – Sanshiliu Ji (Miben Bingfa)] aus der Zeit um 1500 u.Z.

  1. Den Himmel täuschend das Meer überqueren/Den Kaiser täuschen [, indem man ihn in ein Haus am Meeresstrand einlädt, das in Wirklichkeit ein verkleidetes Schiff ist] und [ihn so dazu veranlassen,] das Meer [zu] überqueren
  2. [Die ungeschützte Hauptstadt des Staates] Wei belagern, um [den durch die Hauptstreitmacht des Staates Wei angegriffenen Staat] Zhao zu retten
  3. Mit dem Messer eines anderen töten
  4. Ausgeruht den erschöpften Feind erwarten
  5. Eine Feuersbrunst für einen Raub ausnützen
  6. Im Osten lärmen, im Westen angreifen
  7. Aus einem Nichts etwas erzeugen
  8. Sichtbar die [verbrannten] Holzstege wieder instand setzen, insgeheim [aber vor beendeter Reparatur] nach Chencang [zu einem Angriff auf den Gegner] marschieren
  9. [Scheinbar unbeteiligt] die Feuersbrunst am gegenüberliegenden Ufer beobachten
  10. Hinter dem Lächeln den Dolch verbergen
  11. Den Pflaumenbaum anstelle des Pfirsichbaums verdorren lassen
  12. Mit leichter Hand das [einem unerwartet über den Weg laufende] Schaf [geistesgegenwärtig] wegführen
  13. Auf das Gras schlagen, um die Schlangen aufzuscheuchen
  14. Für die Rückkehr der Seele einen Leichnam ausleihen
  15. Den Tiger vom Berg in die Ebene locken
  16. Will man etwas fangen, muss man es zunächst loslassen
  17. Einen Backstein hinwerfen, um einen Jadestein zu erlangen
  18. Will man eine Räuberbande unschädlich machen, muss man deren Anführer fangen
  19. Unter dem Kessel das Brennholz wegziehen
  20. Das Wasser trüben, um die [ihrer klaren Sicht beraubten] Fische zu fangen
  21. Die Zikade entschlüpft ihrer goldglänzenden Hülle
  22. Die Türe schließen und den Dieb fangen
  23. Sich mit dem fernen Feind verbünden, um den nahen Feind anzugreifen
  24. Einen Weg [durch den Staat Yu] für einen Angriff gegen [dessen Nachbarstaat] Guo ausleihen [, um nach der Besetzung von Guo auch Yu zu erobern]
  25. [Ohne Veränderung der Fassade eines Hauses in dessen Innerem] die Tragbalken stehlen und die Stützpfosten austauschen
  26. Die Akazie schelten, [dabei aber] auf den Maulbeerbaum zeigen
  27. Verrücktheit mimen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren
  28. Auf das Dach locken, um dann die Leiter wegzuziehen
  29. Einen [dürren] Baum mit [künstlichen] Blumen schmücken
  30. Die Rolle des Gastes in die des Gastgebers umkehren
  31. Das Strategem des schönen Menschen/der schönen Frau
  32. Das Strategem der Öffnung der Tore [einer in Wirklichkeit nicht verteidigungsbereiten Stadt]
  33. Das Agenten-Strategem/Das Strategem des Zwietrachtsäens
  34. Das Strategem des leidenden Fleisches
  35. Das Verkettungs-Strategem/Die Strategemverkettung
  36. [Rechtzeitiges] Weglaufen ist [bei sich abzeichnender völliger Aussichtslosigkeit] das Beste

Zur Einführung: KdL, Klaviatur; 36 Strategeme; List; MSK SP, s. auch www.36strategeme.ch; www.supraplanung.eu

Listbilder

Schema

Die gerade Linie versinnbildlicht den unlistigen, also »normalen«, routinemäßigen Weg vom Ausgangspunkt zum Ziel oder, wie es Carl von Clausewitz sagt, »die gerade, schlichte, das ist unmittelbare Handlungsweise«.1 Die gewundenen Linien symbolisieren schlaue, nicht normgemäße, außerroutinemäßige, verblüffende, also listige Wege zum Ziel. Die Linie, die auf das andere Ziel hinführt, verdeutlicht die Kategorie des Flucht-Strategems.

Karikatur

Die Bildlegende zu der Zeichnung von Zheng Xinyao2 lautet: »Einige ›Schlaumeiereien‹ von Männern pflegen dem Druck, den Frauen auf sie ausüben, zu entspringen.«

Wie wird die »Schlaumeierei« – also die List – in der Zeichnung veranschaulicht? Die Gattin wartet mit einem Besen in der Hand spät in der Nacht auf ihren Mann. Sie plant offensichtlich, ihn mit einer Gardinenpredigt zu empfangen. Unlistig, wie sie ist, beobachtet sie nur den normalen Heimweg. Der Gatte aber hat schon längst eine List ersonnen, die ihm erlaubt, von der Gattin unbemerkt auf einem anderen, außergewöhnlichen Weg nach Hause zu gelangen.

Die Karikatur könnte auch Managern zu denken geben. Sie sehen vielleicht nur in eine Richtung – in die Richtung, in die man eben normalerweise den Blick richtet. Doch der listige Konkurrent hat bereits längst auf einer ganz anderen Route die Nase vorn. Ist man listenblind wie die chinesische Gattin, merkt man dies vielleicht erst dann, wenn man längst von der schlauen Konkurrenz überrundet worden ist.

List taucht in unerwarteten Augenblicken und an verblüffenden Stellen auf. List durchschaut man daher nur durch den Ausbruch aus dem Routinedenken. Man unterschätzt manches Gegenüber, wenn man annimmt, dass seine Handlungen ausschließlich Schema F folgen.

Beispiel

Über eine Reise des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Teufel im Jahre 1994 nach China konnte man lesen:

»In einem Industriegebiet werben die Chinesen um Investitionen aus Baden-Württemberg. Ein Zelt ist aufgebaut, auch eine Delegation aus Singapur ist da. Dann etwas ganz Peinliches. Teufel muss zusehen, wie ausgerechnet japanische Unternehmer einen Millionenvertrag abschließen. Gemeinsames Foto mit den Japanern! Der Bürgermeister zu Teufel: ›Das soll Ihre Unternehmen ermuntern, dass sie hier auch Verträge abschließen‹« (B, Stuttgarter Ausgabe, 26.4.1994, S. 5).

Das chinesische Verhalten ist, jedenfalls aus der chinesischen Perspektive, keineswegs »peinlich«. Chinesen empfinden es vielmehr als Anwendung des Provokations-Strategems Nr. 13 »Auf das Gras schlagen, um die Schlangen aufzuscheuchen«. Man wollte die deutschen Geschäftsleute dazu reizen, möglichst bald und günstig mit Chinesen ins Geschäft zu kommen, beflügelt von der Furcht, die Konkurrenz aus Japan und Singapur könnte ihnen alles wegschnappen.

Das Beispiel zeigt: Mit westlichen Denkmustern allein lässt sich die nichtwestliche Welt, insbesondere die fernöstliche, nicht umfassend begreifen und nicht angemessen behandeln. Man sollte daher die chinesische »List-Software« in sein westliches Denksystem einbauen und assimilieren und lernen, Situationen auch unter dem Gesichtspunkt der chinesischen Strategemkunde zu analysieren. Denn wer nur auf westliche Vorstellungen und »Rationalität« baut, der wird bei Konfrontationen mit List, sei es in China, sei es in unserem Kulturkreis, genauso hilflos dastehen und nichts begreifen wie die Ehefrau auf der Karikatur. Wer unter Globalisierung nur den weltweiten Fluss von Geldströmen und Waren versteht, nicht aber den weltweiten Wissensaustausch aus dem Okzident in den Orient und umgekehrt, wer unter Globalisierung nicht auch die Ausweitung des eigenen Denkhorizonts durch den Zugewinn nichtwestlichen Know-hows, z.B. was das Strategemwissen betrifft, versteht, der dürfte keine lichte Zukunft haben.

Philosophisches List-Design

Gemäß dem uralten chinesischen, die Welt versinnbildlichenden Yin-Yang-Symbol kann erstens das strahlende Yang (rechts) ohne das dunkle Yin (links) nicht bestehen und befindet sich zweitens mitten im Yang, also im Symbol für Licht, ein schwarzer Yin-Punkt. Yang und Yin sind aufeinander angewiesen. Würde man ein Element abtrennen, ginge das andere Element zugrunde. Yang bedeutet den Himmel, die Sonne, den Mann und auch das Licht und damit die Nicht-List. Yin steht für die Erde, den Mond, die Frau und auch für das Dunkle und damit die List. Gemäß dem ältesten chinesischen Orakelklassiker, dem Buch der Wandlungen (erste Hälfte des ersten Jahrtausends v.u.Z.), hat Yang die Kennziffer »9« und »Yin« die Kennziffer »6«. Die Zahl »36« erscheint demnach als das Quadrat des Yin-Elements und somit als Sinnbild für eine Überfülle von Listen. Das könnte der Grund sein, weshalb man in China die Zahl 36 zur Auflistung von Listtechniken benutzte. Im Westen ist »die zentrale Metapher der Aufklärung das Licht« (Der Spiegel, Nr. 33, 2001, S. 175), weshalb die Aufklärung (im Französischen: »les Lumières«, wörtlich »die Lichter«) das Dunkle, angeblich Irrationale, und damit auch die List eher in den Hintergrund drängte. Im Westen ist man auf die Aufklärung stolz und betrachtet sie als eine der bedeutendsten Errungenschaften abendländischen Geistes. Gewiss gibt es im Westen auch antiaufklärerische Strömungen, etwa die deutsche Romantik, die für das Dunkle und Untergründige ein offeneres Auge haben. Doch im Vordergrund gerade des modernen westlichen Denkens steht die Aufklärung mit ihrem Streben nach Licht und Klarheit und nach einer Überwindung der Dunkelheit. Kein Wunder, dass in der aufklärerischen Oper »Die Zauberflöte« die Königin der Nacht das Böse versinnbildlicht – und dass in dieser Oper gleich im ersten Satz die List negativ erwähnt wird: »Zur Hilfe, zur Hilfe, sonst bin ich verloren, der listigen Schlange als Opfer erkoren.« Gedanken wie »Wer das Licht bringt, darf die Finsternis nicht scheuen« (NZZ, 17.03.2004, S. 45) sind kaum verbreitet. Die aufklärerische Denktendenz, wonach die menschliche Ratio weitgehend listlos funktioniert, dürfte man bis auf Platon mit seiner ewigen Ideenwelt zurückführen können (Strategeme2, S. 27ff.; KdL, S. 38ff.).

Die das abendländische Denken zumindest teilweise prägende einseitige Hinwendung zum Licht muss auf Chinesen mit ihrer Yin-Yang-Symbolik, wonach Licht und Schatten einander bedingen und ergänzen, einseitig wirken (SP, Klaviatur). Selbst noch im das Licht symbolisierenden Yang-Element gibt es, wie gesagt, einen dunklen Punkt. Er weist darauf hin, dass sogar im hellsten Licht, also nicht nur in der Nacht, sondern auch am Tag, unter den Augen aller, List zu gewärtigen ist. Ebenso leuchtet im Yin-Teil, also im Symbol für die Dunkelheit, ein weißer Punkt auf. So ist auch die Schwärze nicht total: Grundsätzlich hat jede List einen Pferdefuß.

16 Grundsteine im Gebäude der Strategemkunde

Strategem und List

»Strategem« ist ein deutsches Fremdwort für »Kriegslist« sowie allgemein für »List«, »Trick«. Das deutsche Wort »List« hat oft eine negative Färbung. Daher ist das eher unbekannte, wertneutrale Wort »Strategem« vorzuziehen. Denn in der chinesischen Sprache haben Wörter für »List«, wie insbesondere »zhi« , eine wertneutrale oder gar positive Färbung. Im Kapitel »Strategem und Weisheit« gehe ich ausführlicher darauf ein.

Das Wort »Strategem« bezeichnet hier zweierlei. Erstens eine bestimmte Listtechnik, z.B. jene, die darauf abzielt, etwas (wie z.B. eine Firmenbilanz) viel schöner aussehen zu lassen, als es tatsächlich ist. Zweitens bezeichnet »Strategem« die sprachliche Umschreibung dieser Listtechnik. Für die Listtechnik, etwas schöner aussehen zu lassen, als es tatsächlich ist, haben Chinesen die Listformel »Einen [dürren] Baum mit [künstlichen] Blumen schmücken« geprägt. Auch für diese und andere Listbenennungen benutze ich »Strategem« oder manchmal »Strategemformel«. Der Ausdruck »36 Strategeme« bezeichnet also zweierlei: erstens 36 Listtechniken, also Vorgehensweisen, und zweitens 36 Benennungen von Listtechniken, also 36 Strategemformeln, welche die verschiedenen Listtechniken in einprägsamer und konziser Form sprachlich auf den Punkt bringen.

Strategem und Listenblindheit

Bei Chinesen, denen die 36 Strategeme oder auch nur einige von ihnen präsent sind, leuchtet schnell einmal eine rote Warnlampe auf, wenn sie mit einem ungewöhnlichen Vorgang konfrontiert sind. Diesen ordnen sie, durch populäre Listgeschichten von Kindesbeinen an mit Strategemen vertraut, oft unwillkürlich irgendeinem Strategem zu. Eine List wird womöglich selbst dann vermutet, wenn objektiv gar keine List vorhanden ist. Aber die hochgradige Listsensibilität vieler Chinesen, vor allem solcher in Führungspositionen, wirkt wie ein Schutzschild. Wenn auch der Listverdacht in neun von zehn Fällen ins Leere greift und nichts nützt, so mag er doch im zehnten Fall vor einer Schädigung schützen.

Listenblindheit bezeichnet die Unfähigkeit, List zu erkennen, sei es bei einem Gegenüber, bei einem bloß von außen beobachteten Geschehen unter Drittpersonen oder bei eigenen spontanen listigen Aktionen bzw. Reaktionen. Listenblindheit führt zur Listinkompetenz. Selbst eine listenblinde Person wird hier und da eine List anwenden, aber eher unbewusst, aus dem Bauch heraus, ohne das Listige daran zu erkennen. Entsprechend fragwürdig und mangelhaft wird die eigene Listanwendung vielfach sein (s. KdL, S. 142ff.). Hier kann die chinesische Strategemkunde helfen. Denn »Modelle und Theorien haben ihre Berechtigung, ohne sie wäre alles noch schwieriger – die viel beschworene Intuition reicht allein kaum zum nachhaltigen Erfolg« (HandelsZeitung, Zürich, 10.03.2004, S. 15). Oftmals wird eine listenblinde Person die Gelegenheit zur Anwendung einer hilfreichen, ethisch vertretbaren List verpassen, weil sie nicht über die Kenntnis eines ganzen Arsenals an Listen verfügt. »Seid sanft wie die Tauben und klug wie die Schlangen«, rät Jesus Christus. In diesem weitgehend unbekannten Bibelwort könnte man unter »Klugheit« die Befähigung verstehen, destruktive List zu durchschauen und, wenn möglich, zu durchkreuzen. Es wäre also eigentlich durchaus ein christliches Anliegen, nicht listenblind zu sein. Jesus selbst demonstrierte das Gegenteil von Listenblindheit, nämlich Listenwachheit, als er in der Wüste die listige Versuchung Satans durchschaute und durchkreuzte. Leider ist die Aufforderung, klug wie die Schlangen zu sein, in der westlichen Zivilisation auf taube Ohren gestoßen. Aber aus einer anderen Zivilisation bietet sich eine gute Medizin gegen Listenblindheit an: die 36 Strategeme aus dem Reich der Mitte.

Strategeme, Strategemkunde und Strategemkundigkeit

Die chinesische Listkenntnis beschränkt sich nicht nur auf 36 listige Redewendungen, also auf 36 Umschreibungen von Listtechniken, sondern beruht auf einer jahrtausendealten Auseinandersetzung mit List in militärtheoretischen Werken, auf einer veritablen Listfibel (s. www.36strategeme.ch, »Traktat«), sowie auf einer in China in neuester Zeit aufgeblühten, hunderte von Werken umfassenden Spezialliteratur über die 36 Strategeme. Die chinesische »Strategemkunde« brauchen Europäer nicht sklavisch zu übernehmen, sondern können sie weiterentwickeln, getreu einem Ausspruch Johann Gottfried Herders (1744–1803):

»Lasset uns lernen, was wir lernen können, denn es ist schon da, andere haben es für uns erfunden. Lasset uns hinzuthun, was wir hinzuthun können, damit wir in der großen Schule der Menschheit auch unsern Platz würdig besitzen, und mehr […] zurücklassen, als wir empfangen haben.«2a

So übersetze ich im vorliegenden Buch nicht einfach chinesische Texte über Management und Strategeme, sondern ich präsentiere teilweise auch eigene auf der chinesischen Strategemkunde aufbauende Einsichten.

Unter »Strategemkundigkeit« verstehe ich das durch das Studium der Strategemkunde erworbene Vermögen, mit List kompetent umzugehen, sei es bei der offensiven Anwendung von List, sei es beim defensiven Durchschauen von List. Strategemkundigkeit ist also auf Schläue basierendes rational strukturiertes problemlösungsorientiertes »Routineabweichungsvermögen«. Natürlich muss man als Manager, gerade im Umgang mit China, dem ganz normalen, gewöhnlichen Problemlösungsvermögen hochgradige Bedeutung zumessen. Ich vertrete keinen »Panstrategemismus«, wonach alles und jedes nur noch in den Kategorien von Strategemen zu analysieren und zu lösen wäre. Gewiss kann es geboten sein, auch scheinbar völlig unlistige, »ganz normale« Vorgänge durch die strategemische Brille zu betrachten, denn gerade dort mag sich eine List verbergen, die man vielleicht noch rechtzeitig zu durchschauen vermag. Aber bei allem Respekt vor Wachsamkeit und Vorsicht: Über der Beschäftigung mit Strategemen darf man das »Normalwissen«, beispielsweise das juristische, aber auch die Regeln der Etikette und des Anstands, nicht aus den Augen verlieren. Es ist – gemäß dem Yin-Yang-Symbol – maßgebend für eine Hälfte der Wirklichkeit und in dieser Hälfte die unentbehrliche Grundlage für Problemlösungen (SP, Klaviatur).

Ein Beispiel: Die deutsche Firma »Diehl« ließ ihren Namen ins Chinesische übersetzen und auf die Visitenkarten ihrer Manager drucken. Der einheimische chinesische Übersetzer verwechselte offenbar das deutsche »ie« mit einem »ei« wie in »Osterei«. Er übersetzte »Diehl« mit »Dai’ao«.3 Das Schriftzeichen »dai« bedeutet »stellvertretend« und das Schriftzeichen »ao« »Anmaßung, Arroganz«. So ergab der chinesische Firmenname den natürlich imageschädigenden Gesamtsinn »stellvertretende Arroganz«.

An diesem Beispiel zeigt sich die Wichtigkeit der sorgfältigen Bearbeitung völlig unlistiger, »normaler« Vorgänge im Allgemeinen und im Geschäftsverkehr mit Chinesen im Besonderen. In Fällen wie dem vorliegenden ist zur Kontrolle unbedingt deutschsprachiges sinologisches Fachpersonal hinzuzuziehen. Manager sein sollte stets bedeuten: aus allen Quellen des Wissens schöpfen und davon profitieren.

Strategem und Strategie

Die beiden Wörter werden oft verwechselt. »Strategem« ist ein anderes Wort für »List«. Unter »Strategie« verstehen Manager üblicherweise »langfristige Planung im Hinblick auf die grundsätzlichen Unternehmensziele«, im Gegensatz zu »Taktik« im Sinne von »kurzfristiger Planung«. Ein langfristiger Plan, also eine Strategie, aber auch ein kurzfristiger Plan, eine Taktik, können völlig unlistig sein. Daher sollte man Strategem, Strategie und Taktik auseinander halten. Ein Strategem kann sowohl strategisch eingesetzt werden, also mit einer langfristigen, die grundsätzlichen Unternehmensziele betreffenden Zielsetzung, als auch taktisch, also kurzfristig, sowie operativ, also bei einer übergreifenden Planung mehrerer taktischer Einzelschritte. Zu unterscheiden ist also zwischen einer strategischen, operativen und taktischen Strategemanwendung.

Strategem und Täuschung

Strategem ist ein unbelastetes Wort für »List«. Also ist zu erklären, was eine »List« ist. List wird meist mit Täuschung gleichgesetzt. Doch von dieser Verengung der List sollte man sich lösen. Die beste chinesische Umschreibung der »List« lautet: »Chu qi zhi sheng« – »Etwas Außergewöhnliches erzeugen, um den Sieg zu erringen«. Dieser Aussage entspricht die Duden-Umschreibung der List: »Mittel, mit dessen Hilfe man (andere täuschend) etwas zu erreichen sucht, was man auf normalem Wege nicht erreichen könnte«. »Andere täuschend« wird im Duden von runden Klammern umrahmt, weil die Täuschung nicht zum Wesen der List gehört. Es gibt also auch täuschungsfreie List. Kurz gesagt: List ist eine schlaue, außergewöhnliche, verblüffende Problemlösung, bei der manchmal – aber keineswegs immer – Täuschung eingesetzt wird.

Die Duden-Definition der List ist leider weitgehend unbekannt. Das Listbewusstsein der meisten Menschen ist zutiefst geprägt von der Vorstellung, List sei ein anderes Wort für Täuschung. Darum hat man hierzulande zunächst etwas Mühe mit dem chinesischen Listbegriff, denn dieser fasst die List sehr weit und erstreckt sich auf vielfältige Verhaltensweisen: Dabei qualifiziert er sogar noch solche Verhaltensweisen als »listig«, die derjenige als »unlistig« empfindet, der unter List üblicherweise nur Täuschung versteht. Auf den (chinesischen) weiten Listbegriff muss man sich einlassen und ihn sich aneignen, wenn man nicht auf Verhaltensweisen hereinfallen will, hinter denen man keinerlei List vermutet.

Strategem und Lüge

Die List wurde meines Wissens noch nie von einem abendländischen Philosophen definiert, die Lüge aber schon früh. Bereits Augustinus (354–430) – falls man ihn als Philosophen bezeichnen darf – erklärte, was eine Lüge sei, nämlich »eine falsche, mit dem Willen zur Täuschung vorgebrachte Bezeichnung«.4 Später fügten andere Denker noch zwei Elemente hinzu, nämlich dass beim Empfänger tatsächlich eine falsche Vorstellung hervorgerufen werde und dass dieser einen Anspruch auf eine wahre Auskunft habe.

Im heutigen deutschsprachigen Schrifttum wimmelt es geradezu vor Büchern mit dem Wort »Lüge« im Titel. Rar gesät sind dagegen Werke mit dem Wort »List« im Titel. Die Lüge zielt immer auf Täuschung, ob sie nun etwas vorspiegelt oder etwas vertuscht. Somit gehört sie in die Kategorie der Täuschungs-Strategeme. Im Wesentlichen wird sie bereits abgedeckt durch ein bestimmtes Strategem, nämlich Strategem Nr. 7 »Aus einem Nichts etwas erzeugen« (Vorspiegelung) oder – im umgedrehten Sinne – »Aus einem Etwas nichts erzeugen« (Vertuschung). Wenn man sich allzu intensiv mit der Lüge, die nur einen kleinen Teil der Strategeme abdeckt, beschäftigt, läuft man Gefahr, das weite lügen- und täuschungsfreie Feld der List zu übersehen und in dieser Hinsicht listenblind zu bleiben.

Strategem und Weisheit

Findet man für ein Problem eine Lösung jenseits ausgetretener Pfade, welche den Gegenspieler überrascht, so zeugt das aus chinesischer Sicht von Klugheit und Findigkeit. Kein Wunder, dass das zentrale chinesische Schriftzeichen für »Weisheit«, »Klugheit«, das unter anderem eine konfuzianische Kardinaltugend bezeichnet, nämlich (zhi), gleichzeitig auch »Strategem« bedeutet. Strategemkundigkeit erscheint also als Zeichen der Klugheit. Der Weise darf, ja soll sich in Listen auskennen, sie vor allem durchschauen – und wird dafür bewundert.

Listenblindheit gilt als Dummheit und ist der Lächerlichkeit preisgegeben. Natürlich ist die Klugheit des Listigen stets relativ. Ein Dummer ist im Vergleich zu einem noch Dümmeren ein bisschen klüger und vermag ihn mit seiner »kleinen Klugheit (xiao congming)« über den Tisch zu ziehen.

Selbst in solch einem Fall verfügt der Listanwender über etwas mehr Intelligenz als das Listopfer. Wenn man weiß, dass Chinesen List als schlaue außergewöhnliche Problemlösungsmethode verstehen, wundert man sich nicht, dass sie die List als einen Ausfluss von Kreativität und Klugheit bewundern. Aus chinesischer Sicht ist die List ein Produkt der Weisheit, des Intellekts. Für Chinesen mit ihrer Auffassung von sapientia (Weisheit) ist der Homo sapiens immer auch ein Homo dolosus. Ganz anders im Abendland – schrieb doch beispielsweise der englische Aufklärer John Locke, die List sei bloß der Affe der Weisheit. Sie ähnele der Weisheit, sei aber von der Weisheit genauso wesenhaft verschieden wie der Affe vom Menschen. Gewiss hatte die Weisheit (métis) im antiken Hellas auch einen listigen Einschlag, doch »begegnen wir in Griechenland nirgendwo einer Theorie über sie« (Jullien, S. 22). Selbst das deutsche Wort »List« bedeutete in einer frühen Phase »Weisheit«. Aber das waren Episoden in der Geschichte des abendländischen Weisheitsbegriffs. Im Reich der Mitte behielt das oben abgebildete Schriftzeichen über die Jahrtausende die Doppelbedeutung »Weisheit« und »Strategem«.

Chinesen kultivierten also die List seit Äonen. Abendländer verniedlichten, verteufelten oder ignorierten die List zumindest in der christlichen Ära. Angesichts dessen ist es nicht erstaunlich, dass nicht Europäer, sondern Chinesen die (soweit bekannt) einzige Listenliste der Welt – die 36 Strategeme – zusammengestellt haben.