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Auch wenn es den Ort Kappeln und seine liebenswerten Bewohner
wirklich gibt, die Personen und die Handlung
dieses Romans sind frei erfunden.

ISBN 978-3-8270-7893-3
Oktober 2016
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH,
München und Berlin 2016
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Covermotiv: FinePic®, München und Corbis/Masterfile
Datenkonvertierung: psb, Berlin

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Der Himmel über Berlin war noch dunkel, als Tessa in ihrer kleinen Altbauwohnung in Prenzlauer Berg erwachte. Fette Schneeflocken taumelten vor dem Balkonfenster, vom Wind hin und her geworfen und von der Straßenlaterne angestrahlt. Wie wunderbar! Schnee war so selten in Berlin.

Am Vortag war die Gardinenstange mal wieder von den Wänden gekracht, und sie schliefen ohne Vorhänge. Ole neben ihr atmete noch friedlich in sein Kissen. Er schnarchte immer ganz leise, und sobald Tessa ihm übers Gesicht streichelte, hörte er auf. Wenn er schlief, sah er aus wie ein großer, verletzlicher Junge, der sich Kraft holte für den Tag. Überhaupt hatte Ole sich trotz seiner 39 Jahre dieses Jungenhafte bewahrt, das Tessa so an ihm mochte.

Sie sah auf den Adventskalender auf der Kommode mit seinen vielen bereits geöffneten Türchen. ›Eigentlich schade, über Weihnachten immer weg zu sein‹, dachte Tessa. Im Grunde ihres Herzens liebte sie Weihnachten, diese ganz besondere Zeit im Jahr, den Advent, über Weihnachtsmärkte zu bummeln und Plätzchen zu backen. Tessa musste an den sagenhaften Christstollen ihrer Mutter denken, den sie früher zu Hause in der Adventszeit immer zum Nachmittagskaffee mit dick Butter gegessen hatten, und an den Duft der Braunen Plätzchen, die traditionell zum ersten Advent gebacken wurden, alle drei Töchter und die Mutter gemeinsam in der Küche. Tessa und ihre Schwestern hatten damals beschlossen, dass sie später mit ihren Kindern diese Tradition unbedingt fortsetzen wollten. Doch der ganz leise schnarchende Mann neben ihr war ein Weihnachtshasser und zog es vor, das Fest einfach ausfallen zu lassen und stattdessen nach Thailand zu reisen. Nachdem Tessa Ole ein einziges (und letztes) Mal mitgenommen hatte, vor vier Jahren, war ihr die Lust auf Weihnachten mit ihm gründlich vergangen. Wie sollte man die Feiertage genießen, wenn jemand die ganze Zeit spöttisch seine Mundwinkel verzog? Klar, ihre Eltern waren schon extrem, was Weihnachten anging. Beide übertrafen sich immer gegenseitig mit tollen Ideen für die Dekoration, die Mutter mehr im Innenbereich, der Vater im Vorgarten.

Der Radiowecker sprang an, und der aufgekratzte Moderator von Radio Eins versuchte, gute Laune zu verbreiten. »Leute, in vier Tagen ist Weihnachten, und wer seine Geschenke noch nicht besorgt hat, dem rate ich dringend, dranzubleiben und gleich unser Gespräch mit dem berühmten Psychologen Arne von Wesselhaus anzuhören über die Tücken des Schenkens. Vorher aber noch Christmas is all around von Billy Mack.«

»Mach das sofort aus! Furchtbar, dieser Weihnachtsterror«, murmelte Ole schlaftrunken und noch mit herrlich tiefer, satter Stimme.

Tessa schaltete das Radio aus und kuschelte sich in Oles Armbeuge. Ein wunderbarer Platz, um noch mal eine Runde zu schlafen, aber heute musste sie rechtzeitig im Büro sein. Es war ihr letzter Arbeitstag vor Weihnachten und dem dreiwöchigen Thailandurlaub, in den sie übermorgen fliegen würden. Weihnachten auf Ko Samui wie schon die letzten drei Jahre. In einer romantischen Hütte am Strand, einfach nur Chillen, Lesen, Schnorcheln, endlich mal wieder Zeit füreinander. In letzter Zeit war es etwas hektisch gewesen.

»Guck mal, ist das nicht herrlich mit dem Schnee?«, sagte Tessa.

»Grauenvoll. Ich hasse den Berliner Winter. Mann, bin ich froh, dass wir übermorgen hier weg sind!«

»Komm schon, so schlimm ist Weihnachten nun auch wieder nicht!«

»Also, bei deinen Eltern, das war schon hardcore. Ein Weihnachtsbaum mit Lametta! Und der Vorgarten sah aus wie für eine Schwulenparade dekoriert.«

Tessa musste schmunzeln. Als sie mit Ole da war, hatte ihr Vater eine Tannenbaumaußenbeleuchtung in Regenbogenfarben entworfen, die Ole zu der Frage provozierte, ob er die Schwulen- und Lesbenbewegung in Kappeln unterstütze. Irgendwie hatte Ole ja auch recht. Ihre Eltern übertrieben es ein bisschen mit Weihnachten. Sie waren einfache Leute, die vor ein paar Jahren ihr Heizungs- und Sanitärgeschäft aufgegeben hatten und nun im Ruhestand waren. Tessas Mutter war in diversen Handarbeitszirkeln und lernte Filzen, Kilten, Patchworken, immer wieder etwas Neues, um das Haus zu verschönern, und ihr Vater engagierte sich im Sportverein und in der Flüchtlingshilfe. Außerdem gab es die Enkeltochter Stella, die oft bei ihnen war. Leider gab es bisher noch keine weiteren Enkelkinder. Susanne, die Älteste, konnte keine Kinder mehr kriegen, und Tessa und ihre jüngere Schwester Maren hatten noch nicht geliefert. Tessa lächelte bei dem Gedanken. Sicher würden Ole und sie die Sache bald angehen. Sie war 35, es war nicht mehr endlos Zeit.

Tessa warf einen Blick auf die Geschenke, die sich noch verpackt in einer Ecke des Schlafzimmers türmten. Ihre Mutter, ihre Schwester Susanne, ihre Patentante und Tessa schickten sich die Geschenke vor Weihnachten immer gegenseitig zu.

Ole bemerkte ihren Blick. »Wetten, deine Mutter hat dir wieder eine Heizdecke, einen Flanellpyjama, Biberbettwäsche oder warme Wollhausschuhe geschickt, mit Bommeln dran?«

»Sie will eben, dass mir immer schön warm ist und ich mich nicht erkälte. Berlin liegt für sie ja schon fast in Russland.«

Ole schwärmte: »Ach, Baby, Heiligabend sind wir der Kälte entflogen und liegen am Strand und betrinken uns ganz gepflegt mit ein paar Cocktails, hm?«

Er strich Tessa durchs Haar und lächelte sie auf eine Weise an, dass ihr ganz warm wurde ums Herz und sie genau wusste, für wen sie seit Jahren zu Weihnachten auf Tannenbaum, die Gans und den sagenhaften Christstollen ihrer Mutter verzichtete. Mit diesem blendend aussehenden und charmanten Mann würde sie, Tessa Gutzeit, ihre drei Kinder kriegen, na ja, vielleicht auch nur zwei. Es würden hübsche und begabte Kinder werden, das war sicher.

Sie stand auf und ging in ihrem Flanellpyjama mit den großen roten Sternen, den ihr ihre Mutter letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte, zum Adventskalender (den hatten sie wiederum jedes Jahr), fischte aus dem kleinen Kästchen mit der Zwanzig drauf ein Stück Schokolade heraus und hielt es Ole hin.

Als der gerade zubeißen wollte, zog sie es zurück: »Weihnachten, Adventskalender und all das ist also supermegaoberspießig, ja?«

Er guckte sie mit großen braunen Augen treuherzig an: »Nein, es ist ein wunderbares Fest, sinnvoll und tiefgründig, mit den allerschönsten Sitten und Gebräuchen von A wie Adventskalender bis Z wie … äh … Zweige dekorieren!«

»So ist es brav!« Triumphierend steckte sie ihm die Schokolade in den Mund, nicht ohne zuvor die Hälfte abgebissen zu haben.

Ole grinste. »Du Biest, jetzt bist du fällig.« Er zog sie zu sich heran und begann, ihren Hals zu küssen, während sich seine Finger an den Knöpfen ihres Pyjamas zu schaffen machten.

Tessa entzog sich lachend. Er schien etwas enttäuscht. »Nie willst du morgens!«

»Ole, ich muss los! Im Büro wartet ein Riesenberg Arbeit. Dann muss ich noch Geschenke für meine Sippe besorgen, und heute Abend ist Weihnachtsfeier, das wird spät bei Mama Hase. Vor Mitternacht bin ich sicher nicht zurück.«

Ole setzte sich auf und stopfte sich das Kissen in den Rücken. Er sah süß aus mit seinen noch vom Schlaf zerstrubbelten Haaren. »Letztes Jahr kamst du hackedicht nach Hause. Du hast bestimmt eine Minute lang gebraucht, um die Wohnungstür aufzuschließen.«

»Anders ist das dort auch nicht auszuhalten, da müssen Nadja und ich uns einfach betrinken.«

Wie jedes Jahr graute Tessa vor der Weihnachtsfeier im Büro. Sie betreute bei der Firma film for kids eine Zeichentrickserie mit dem Titel »Familie Hase«, ein Einkauf aus den USA. Tessa war für die Überprüfung der Synchronisation zuständig und dafür, dass nichts Anstößiges in den Folgen vorkam. Die Gefahr dafür war allerdings gering, da »Familie Hase« eine äußerst biedere Familienserie war, ja, fast schon ein bisschen langweilig. Tessa hätte gern mal was anderes gemacht, aber ihr Chef Sebastian behauptete, er könne bei dieser Serie unmöglich auf sie verzichten. Einen Vorteil hatte das Ganze jedoch, abgesehen vom soliden Gehalt, das ihr der Job einbrachte: Sie hatte Ole als Synchronstimme für Papa Hase unterbringen können.

Sein Job als Schauspieler lief alles andere als gut. Ab und zu hatte er kleine Rollen, aber dazwischen lagen lange Wartezeiten, in denen niemand was von ihm wollte, und das zehrte an seinen Nerven und seinem Selbstbewusstsein.

Jetzt verstellte Ole seine Stimme und klang wie Papa Hase: »Lass dich bei der Weihnachtsfeier bloß nicht von fremden Rammlern beschnuppern, die zu viel Glühwein getrunken haben und nicht mehr wissen, wo ihnen die Löffel stehen. Dann hoppelst du schnell weg, versprochen?«

Tessa musste grinsen, wie immer, wenn er Papa Hase nachmachte, mit diesem leichten Lispeln und dem naiven Ton. Sie fand, dass Ole die beste Stimme für Papa Hase war, die man sich vorstellen konnte.

Sie ging an die Wäschekommode und suchte nach der Angoraunterhose, die ihr ihre Mutter vorletztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Bisher war die Hose noch ungetragen, aber der heutige Wintertag schien doch genau richtig, um sie einzuweihen.

Ole erging sich währenddessen weiter in seinem Weihnachtsbashing: »Glühwein, warmer, süßer Rotwein, noch so eine Sache, die ich nicht nachvollziehen kann. Ständig sind alle Leute knülle, weil sie das Zeug nicht vertragen.«

Seine Glühweinallergie war auch der Grund, warum sich Tessa mit ihm niemals nur in die Nähe eines Weihnachtsmarktes traute, obwohl sie Weihnachtsmärkte eigentlich liebte. Sie hatte die Angoraunterhose inzwischen gefunden und schlüpfte hinein.

»Die Kaninchenfellunterbüx war doch sicher auch ein Geschenk von deiner Mutter.«

Tessa stand jetzt vor ihrem Kleiderschrank und überlegte, was sie heute für die Weihnachtsfeier anziehen sollte. »Wann hast du heute das Casting?«

»Um drei, muss aber noch den Text lernen.«

»War das nicht die Rolle mit nur einem Satz?«

Ole grinste. »Aber es ist der wichtigste Satz des ganzen Films!« Er setzte eine bedeutende Miene auf. »Zeigen Sie mir bitte Ihre Ausweise!«

»Wow!«, sagte Tessa.

»Das wird die Rolle meines Lebens. Wenn die mich nicht nehmen, dann bringe ich mich um! Ach ja, ich habe gestern noch eine Anfrage für einen Tatort bekommen.«

Tessa freute sich. »Echt? Cool!«

»Als Leiche«, fügte er hinzu, bitter und doch nicht ohne Ironie.

»Weißt du«, versuchte Tessa, ihn aufzumuntern, »wenn du dich erst mal als Leiche profiliert hast, darfst du bestimmt auch bald ein Killer sein.« Sie ging zu Ole, der noch eine Runde schlafen wollte, und strich ihm durch die Haare. »Auf jeden Fall gibt es bald wieder neue ›Familie Hase‹-Folgen zum Synchronisieren, falls Hollywood nicht vorher anruft.« Sie gab ihm einen Kuss, voller Liebe, Zuneigung und Wärme, aber da war auch Routine, Alltag, so ein »Tschüss-bis-heute-Abend-mach-es-gut«-Kuss.

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Eine halbe Stunde später, Tessa hatte noch geduscht und ein Müsli gegessen, verließ sie in ihrer dunkelblauen Daunenjacke und mit ihrem blauen Lieblingsbeanie auf dem Kopf die Wohnung. Im Erdgeschoss bei den Briefkästen traf sie Steffi aus dem Seitenflügel. Steffi war Stewardess, Ende dreißig, sah super aus und kam wohl gerade von einem Einsatz zurück. Unter dem offenen Mantel war noch ihr Lufthansa-Kostüm zu sehen, und auf dem Boden stand ihr Rollkoffer. Sie war für morgens halb neun bewundernswert perfekt gestylt, die blonden Haare topfrisiert, ihre Katzenaugen mit einem Lidstrich umrandet, eine sehr attraktive Frau. Steffis Mann Konrad war mal Texter in einer angesagten Werbeagentur gewesen, aber jetzt seit einem guten Jahr arbeitslos. Wenn Tessa ihn mal auf der Straße oder im Treppenhaus traf, versuchte er immer, einen energischen und vielbeschäftigten Eindruck zu machen, doch Tessa spürte seine zunehmende Hoffnungslosigkeit. Es war wohl gar nicht so einfach, mit Mitte vierzig noch was Neues zu finden. Kinder hatten sie und Konrad keine.

Steffi öffnete gerade ihren Briefkasten und holte Briefe heraus, die sie nicht zu erfreuen schienen.

»Morgen, Steffi!«

»Hallo, Tessa! So früh schon ins Büro?«

»Ja, ich muss noch einiges fertig machen vor Thailand.«

»Ach, wie ich euch beneide! Konrad und ich, wir feiern wieder bei seinen Eltern in Luckenwalde, das zieht uns beide immer ganz schön runter.«

»Warum bleibt ihr dann nicht gemütlich hier, zu zweit?«

»Ach, das ist noch schlimmer«, sagte Steffi, »dann krieg ich den ganzen Frust alleine ab.« Sie lächelte tapfer, und Tessa zog mit einem »Dann tschüss!« weiter, sie wollte unbedingt um neun Uhr im Büro in Mitte sein.

Es schneite immer noch ein bisschen, als Tessa zur Straßenbahn ging. Diese war gerammelt voll. Tessa war warm in der Daunenjacke (und der Angoraunterhose), denn die Heizung in der Bahn war voll aufgedreht, und Tessa fragte sich, wann die Berliner Verkehrsbetriebe endlich kapierten, dass Menschen im Winter in der Regel nicht nackt in U-Bahnen, Straßenbahnen und Busse einstiegen. Ihre Angoraunterhose kratzte ein bisschen auf der Haut.

Am Rosenthaler Platz stieg Tessa aus, ging noch ein paar Hundert Meter und stand dann vor dem Gebäude, in dem sie arbeitete. Ihr Büro bei film for kids lag im dritten Stock, sie nahm den Fahrstuhl. Als sie das Büro betrat, war Nadja, mit der sie seit Jahren nicht nur das Zimmer, sondern auch Freud und Frust teilte, bereits da. Nadja war von einer Kollegin zu einer guten Freundin geworden und ein fetter Pluspunkt bei film for kids. Ihretwegen kam Tessa gern zur Arbeit. Nadja, die sonst nie vor zehn Uhr kam, musste heute vermutlich ebenfalls ihre Stapel vor Weihnachten abarbeiten.

»Morgen, Tessa!«

»Morgen! Ist das nicht herrlich mit dem Schnee?«

»Ja«, sagte Nadja, »aber in einer halben Stunde geht er wieder in Regen über, und dann haben wir Schneematsch und den typischen Schmuddelwinter, wo du eher eine warme Regenjacke brauchst.«

»Du redest ja schon wie Ole, der Winter- und Weihnachtshasser!«

Nadja strich sich ihre halblangen dunklen Haare hinters Ohr und sah Tessa mit ihren rehbraunen Augen an. »Mir graut auch schon vor Weihnachten zu Hause in Wuppertal. Bestimmt löchert mich die ganze Sippe wieder drei Tage lang, ob ich endlich einen Kerl habe. Mit so einer Panik in den Augen! Hilfe, das Kind ist schon 36! Du weißt gar nicht, wie gut du es hast – drei Wochen in Thailand am Strand abhängen, herrlich!«

Tessa hängte ihre Jacke an einen Garderobenständer in der Ecke. Sie trug Skinny-Jeans, Stiefeletten und einen himbeerroten Mohairpulli, der ihre offenen blonden Haare umso blonder erscheinen ließ. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, wo ein Foto von Ole und ihr am Strand auf Ko Samui stand. Sie blickte darauf und freute sich plötzlich wieder sehr auf die gemeinsame Reise, die Wärme, das Meer. Keine Daunenjacke und keine kratzige Angoraunterwäsche! Klar, Weihnachten zu Hause war eine gemütliche Zeit, aber die drei Wochen in Thailand würden auch superflauschig werden und ihnen guttun. Sie kamen jedes Mal erholt und voller Kraft aus Asien zurück. Und dazu das leckere Essen, das überhaupt nicht dick machte!

»Man sagt ja, dass man die Menschheit in zwei Gruppen einteilen kann: in Bader und Duscher und in Weihnachtsliebhaber und Weihnachtshasser«, hörte sie Nadja, während sie ihren Rechner hochfuhr.

»Weißt du«, sagte Tessa versonnen, »ich liebe diese Zeit, wenn überall die Weihnachtsbeleuchtung an ist, ich liebe Braune Plätzchen und vermisse den sagenhaften Stollen meiner Mutter und unsere Gutzeit’schen Bratäpfel am Abend vor Weihnachten. Wenn du die mal probiert hast, weißt du, was echt leckere Bratäpfel sind, mit einer Marzipan-Nuss-Rosinen-Füllung. Aber am allerliebsten mag ich den Moment, wenn am Tannenbaum die Kerzen angezündet werden. Diese besondere Stimmung, das ist für mich Weihnachten.«

»Du bist wirklich eine echte Romantikerin.«

»Aber Ole findet das alles einfach nur kitschig. Vor vier Jahren mit ihm in Kappeln war das schlimmste Weihnachten in meinem Leben. Dann lieber Schnorcheln, Massage und Thaicurry.«

Ihre Praktikantin Julia beendete die Unterhaltung, als sie die Post brachte. Wie immer trug sie ein luftiges T-Shirt, das ihre Tattoos zeigte. »Morgen, die Damen!«

»Hallo, Julia, wie geht’s?«, fragte Tessa.

»Heute ist mein Gespräch mit Sebastian wegen der Festanstellung.«

»Wie lange machst du jetzt schon dein Praktikum?«, fragte Nadja.

»18 Monate«, seufzte Julia.

»Na dann, toi, toi, toi! Wir drücken dir die Daumen«, fügte Tessa hinzu.

Als Julia den Raum wieder verlassen hatte, drehte sich Tessa auf ihrem Schreibtischstuhl zu Nadja um und raunte mit verschwörerischer Stimme: »Stell dir vor, was ich gestern Nachmittag auf dem Flur mitgekriegt habe: Mr. Pechvogel ist solo und wieder zu haben! Er hat sich vor drei Monaten von seiner Freundin getrennt.«

»Echt? O mein Gott.« Nadja wurde rot – ob vor Aufregung oder Freude, war schwer zu sagen.

Mr. Pechvogel war Kollege Arne, der die Rabenserie »Die Pechvögel« betreute, eine entzückende witzige Serie aus Kanada. Nadja schwärmte heimlich schon lange für ihn, was im Büro niemand außer Tessa wusste. Aber es hatte immer geheißen, er sei ja mit dieser Schwedin zusammen, angeblich ein Unterwäschemodell, wobei solche Sachen in der Firma schnell mal erfunden wurden. Auf jeden Fall war es jetzt mit der Schwedin aus und Arne wieder frei. Er selbst mochte seine beiden Kolleginnen Tessa und Nadja offensichtlich, denn er kam öfter mal vorbei, den Kaffeebecher in der Hand, und sie redeten und witzelten über die Firma, die Projekte, das Wetter, über Berlin und manchmal auch über Fußball. Arne war Hertha-Fan und entsprechend gebeutelt. Und er war ein netter, humorvoller Typ und passte nach Tessas Meinung hervorragend zu Nadja.

Auf Tessas Monitor erschien jetzt als Bildschirmschoner ein braunhaariges Mädchen, das gerade über einer Eiswaffel mit drei Kugeln eine herrliche Schnute zog: Stella, Tessas Nichte und Patenkind und ein wahrer Schatz. Das Bild war im Sommer entstanden, als Ole und sie in Kappeln zu Besuch gewesen waren und Tessa ihrer Nichte ein Eis spendiert hatte. Die Kleine war inzwischen neun, und Tessa staunte jedes Mal über ihre ganz eigenen Ansichten und ihren sehr speziellen Humor. Schade, dass sie Stella erst wieder im nächsten Jahr sehen würde!

Sie öffnete die Datei für die Folge »Familie Hase – Einschulung«, setzte sich die Kopfhörer auf und schnappte sich das Dialogbuch, dann startete sie den Film. Sie musste darauf achten, ob die Synchronisation auf die Lippenbewegungen der Hasen passte. Es war der letzte Durchcheck, meist war da aber alles in Ordnung.

Der Vorspann mit fröhlicher Musik lief, während die »Familie Hase« wie auf Memorykarten entfaltet wurde. Allein das war schon voll sechziger Jahre! Mama Hase, Papa Hase, die drei Kinder Bunny Blue, Bunny Green und Bunny Yellow, darüber eine pädagogische Stimme (die ebenfalls hoffnungslos altmodisch war und die Tessa gern durch eine junge, freche Kinderstimme ersetzt hätte, aber bisher hatte sie bei ihrem Chef Sebastian auf Granit gebissen): »Das ist ›Familie Hase‹, eine Familie wie jede andere auch, mit Mama, Papa und drei Kindern.« Man sah eines der Kinder mit einer Schultüte, aus der oben Karottengrün herausragte, und die Stimme fuhr fort: »Heute seht ihr, wie Bunny Blue in die Schule kommt, in eine Hasenschule, versteht sich, und was die kleinen Hasen dort alles lernen müssen. Ja, man kann nicht immer nur in der Gegend herumhoppeln und den ganzen Tag lang Büschchen-wechsel-dich spielen! Für Bunny Blue beginnt heute der Ernst des Lebens, doch um ihm den Anfang zu versüßen, hat Mama Hase ihm in die Schultüte ein Bund frischer Möhren getan!«

Die Einschulungsfolge war die erste der siebten Staffel, die Mitte des folgenden Jahres ausgestrahlt werden sollte. »Familie Hase« lief wöchentlich am Samstagnachmittag um Viertel nach drei auf dem Kinderkanal. In Amerika war sie schon ein Riesenhit gewesen, aber auch beim deutschen Publikum kam sie gut an und hatte sensationelle, vor allem aber stabile Quoten. Doch dafür fühlte Tessa sich nicht verantwortlich, die kreativen Macher der Serie saßen irgendwo in Hollywood, sie war lediglich dafür da, dass die Übersetzung stimmte und eben manches an die deutsche Kultur angepasst wurde. Wie so oft driftete Tessa mit den Gedanken bei der Arbeit ab und malte sich in ihrer Fantasie anhand der Hasenfamilie ihre eigene Zukunft aus: Mama Hase lag auf einer Liege unter Palmen am Strand mit einem Cocktail in der Hand, neben ihr kniete Papa Hase und nahm ihre Hand: »Willst du meine Frau werden?« Und Mama Hase nickte und sagte: »Ja, gern!« Und Papa Hase rief fröhlich: »Das müssen wir feiern! Ich hol schnell eine Flasche prickelnden Möhrchensaft!«

Eine Hand auf ihrer Schulter ließ Tessa zusammenfahren, sie drückte die Stopptaste und nahm die Kopfhörer herunter. Niemand anderes als Sebastian Brückle, ihr Chef, stand da und grinste breit. Sebastian war Schwabe und hatte seinen Dialekt auch nach vielen Jahren in Berlin nicht verloren. Er hatte sich vom ehemals militanten Hausbesetzer zum cleveren Geschäftsmann gewandelt, der besonders gern hübsche Praktikantinnen ausbeutete. Auch Tessa hatte hier nach ihrem Amerikanistikstudium vor vielen Jahren mal mit einem Praktikum angefangen, das niemals zu enden schien, Nadja ebenfalls.

»Mädle, net vergesse: Heut zur Weihnachtsfeier gute Laune mitbringä! Des isch Anordnung von ganz oba!« Er grinste, und Nadja und Tessa warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Die alljährliche Weihnachtsfeier, bei der er es »so richtig krachen ließ«, war Sebastian immer ein besonderes Anliegen. »Des isch wichtig, dass mir mal so richtig feiern!«, war dann sein Motto, das er angetrunken auf der Weihnachtsfeier so oft wiederholte, dass es in der Firma bereits eine stehende Redewendung war.

»Un auch net vergesse: Die Geschenkle für de Julklapp bei der Moni abgebä!« Moni war seine Assistentin, und manche in der Firma behaupteten, sie sei vielleicht auch mehr. Das konnte gut sein, denn dass Sebastian gern mal zu nahe kam, hatte seit einiger Zeit aufgehört. Gott sei Dank, es gab nichts Ätzenderes als einen Chef, der zutraulich wurde. »Uffbasse, nur kloine Sache, maximal drei Euro, und schö grauslig!« Der Julklapp war sein besonderer Spleen. Sebastian war der Meinung, dass gerade der Julklapp mit den kleinen, geschmacklosen Geschenken das Betriebsklima nachhaltig verbesserte.

Er zog einen Briefumschlag aus seinem Cordjackett. Damit wedelte er vor Tessas Nase herum. »Da, ä Bschwerde von oiner Frauenbeauftragten. Unsere »Familie Hase« isch reaktionär und entspricht nicht dem modernen Frauen- und Familienbild!«

Tessa holte tief Luft, das war die Vorlage, um Sebastian endlich auch ihre Meinung zur »Familie Hase« zu sagen. »Na ja, darüber will ich ja schon länger mit dir reden. Ich habe das Gefühl, dass die Serie behäbig ist, altmodisch. Schon allein diese Sprecherstimme, da könnten wir doch eine freche Kinderstimme nehmen!«

Sebastian winkte ab. »Aber die Kids möga se, und die Quode isch au super. Grad weil des a bissele altmodisch isch, des isch ja grad cool. Noi, noi, Gutzeitle, da wird nichts geändert, solange i hier d Boss bin!«

Tessa hasste es, wenn Sebastian sie »Gutzeitle« nannte, das war noch so eine Frechheit. Eines Tages würde sie hier kündigen und ihm bei der Kündigung all das an den Kopf werfen. Wie oft hatte Tessa sich schon ausgemalt, was sie Sebastian bei dieser Gelegenheit alles sagen wollte.

Ihr Chef war schon auf dem Weg zur Tür, drehte sich aber noch mal um und zeigte auf den Brief: »Wenn sich oine Frauenbeauftragte aufregt, dann liege mir grad richtig!«

Als er endlich verschwunden war, öffnete Tessa ihre Schublade, holte eine Krawatte mit Glitzer und hässlicher Weihnachtsdeko heraus und hielt sie hoch. »Mein Julklapp-Präsent habe ich jedenfalls schon!«

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Kurz nach vier ging Tessa los, um Geschenke für ihre Familie zu kaufen, die dringend am nächsten Tag zur Post mussten, und dann hatte sie noch einen Termin bei der Kosmetikerin. Nadja hatte ihr eingeschärft, zur Weihnachtsfeier bloß pünktlich wieder da zu sein, sonst würde Sebastian, der Gute-Laune-Diktator, böse. Anschließend hatte sie noch Sebastians Mantra parodiert: »Des isch wichtig, dass mir auch mal so richtig feiern!«

Die Straßen waren voll und vom Schnee nichts mehr zu sehen. Es war bereits wieder dunkel und die Weihnachtsbeleuchtung schon eingeschaltet, was Tessas Herz höher schlagen ließ. Auch wenn sie die Adventszeit liebte, in den letzten Jahren war ihr der Advent immer etwas sinnlos vorgekommen, denn er endete nicht mit Weihnachten, sondern manchmal noch vor dem Entzünden der vierten Kerze mit einem Flug nach Bangkok. Wie aufregend war das früher vor Weihnachten als Kind gewesen, mit dem Adventskalender, dem Adventskranz und den vier Kerzen, von denen Woche für Woche eine mehr angezündet wurde. Zu sehen, wie Weihnachten immer näher rückte. Aber diese Großstadthektik hier fand Tessa grauenvoll. Alle drängelten und waren so gestresst, weil sie noch ihre endlos langen To-do-Listen abarbeiten mussten. Wie dumm von ihr, die Geschenke auf den letzten Drücker zu besorgen! Die Verkäuferinnen taten ihr leid. Sie wirkten so, als wenn sie Heiligabend um 16 Uhr bestimmt nur todmüde ins Bett fielen. Und die Dauerberieselung mit ausgeleierter Weihnachtsmusik war ja schon nicht auszuhalten, wenn man sie bloß zehn Minuten lang anhören musste.

Zum Glück wusste Tessa genau, was sie wollte, und fand es schnell. Für ihre Mutter besorgte sie in der Galerie Lafayette ein edles Wolltuch in gedeckten Farben und eine schöne Glasvase, die sie sich bruchsicher verpacken ließ. Für Susanne suchte sie in einem angesagten Laden Modeschmuck einer Designerin aus, der etwas ausgefallener war. Mit Maren schenkte sie sich schon seit Jahren nichts mehr, und bei ihrem Patenkind Stella hatte Tessa den Verstärker für eine E-Gitarre spendiert, den ihre Schwester aber besorgen wollte. Für ihren Vater, den alten Tüftler, hatte sie bereits übers Internet einen Gutschein für den Baumarkt in Kappeln besorgt. Tessa vermisste seine schrägen Erfindungen zu Weihnachten. Ein schneiender Springbrunnen zur Jahrtausendwende war ihr Favorit, leider war die Sicherung am ersten Weihnachtstag durchgeschmort. Auch die Türklingel, die Jingle Bells spielte, von vor vielleicht fünf, sechs Jahren war super, aber eierte nach zwei Tagen und klang dann so, als wenn ein Betrunkener lallte.

Tessa stand vor dem Kosmetiksalon Beauty Deluxe, trat ein mit ihren Tüten. Alina, eine der angestellten Kosmetikerinnen, begrüßte sie. »Wieso kaufst du Geschenke, Schätzchen, wenn du wegfährst in Urlaub?«

»Ach, für die Familie zu Hause in Kappeln«, sagte Tessa.

Alina hatte schwarz gefärbte lange Haare und immer sehr stark betonte Augenbrauen über ihren grünen Augen. Tessa hatte noch nie ein so ausdrucksstarkes Augenpaar erlebt. Der Salon war schlicht, an den weißen Wänden hingen ein paar gerahmte Fotoreproduktionen von stark vergrößerten Blütenkelchen. Alina führte sie in die kleine Kabine, wo Tessa sich bis auf die Unterwäsche auszog. Man kannte sich seit Jahren. Alina wusste alles über ihre Kundinnen, meist nur durch wenige Fragen. Sie selbst war Russin und früher mal Sportlehrerin gewesen, jetzt lebte sie seit einigen Jahren in Berlin. Tessa fühlte sich bei Alina gut aufgehoben, auch wenn die Angelegenheit, derentwegen sie kam, schmerzhaft und unangenehm war. Beinenthaarung. Die natürlich nur deshalb nötig war, weil sie mit Ole in den Badeurlaub fuhr. Hätte sie Weihnachten brav in Kappeln gefeiert, wäre sie drum herumgekommen.

Als Tessa sich auf den Rücken auf die mit weißem Papier bedeckte Liege gelegt hatte, begann Alina mit dem Einwachsen der Unterschenkel und redete nebenbei die ganze Zeit über irgendwelchen Ärger mit ihrer Hausverwaltung, sodass Tessa sich bald dem Schwall der Worte mit dem leichten russischen Akzent hingab. Sie versuchte, während der Prozedur an etwas Schönes zu denken: an Sonne, Strand, Schnorcheln, Chillen in der Hängematte und prächtige Sonnenuntergänge, die sie gemeinsam mit Ole bei einem Cocktail betrachtete.

Alina riss sie aus ihren Tagträumen: »Wie lange seid ihr jetzt zusammen, du und Ole?«

»Vier Jahre und neun Monate. Zusammenleben tun wir schon viereinhalb Jahre, also, da ist Ole mit seinem Koffer bei mir eingezogen.«

Alina lächelte. »Und wann wird geheiratet?«

Tessa guckte etwas unsicher. »Na ja, Ole ist ja Künstler. Er findet Heiraten spießig, und wenn, dann will er nur mit den Füßen im Indischen Ozean getraut werden. – Aua!«

Alina hatte ein Blatt abgerissen.

»Und du? Willst du etwa im Bikini im Indischen Ozean heiraten?! Ohne Brautkleid?« Da war sie wieder, diese postsozialistische Strenge einer ehemaligen Sportlehrerin. Und dazu die erhobenen Augenbrauen.