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Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte wurden Namen, Orte und Personen verändert. Handlungen und Gespräche beruhen auf wahren Gegebenheiten, sind jedoch aus der Erinnerung rekonstruiert und erheben nicht den Anspruch, die alleinige Wahrheit zu sein.



ISBN 978-3-492-97558-2
© Piper Verlag GmbH, München 2016
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Innenabbildungen: Dido Walstra, Nürnberg
Datenkonvertierung: Uhl+Massopust, Aalen



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Und am Ende bleibt nur eine Geschichte.

Irgendwo in Hannover, früher Morgen, Herbst 1995

Das Blut läuft dünn wie Wasser aus den Einstichstellen an meinen Armen und Handrücken. Immer wieder jage ich mir die Nadel im Schein der Straßenlaterne in den linken und dann in den rechten Arm. Am liebsten würde ich die Nadel an der Halsschlagader ansetzen, aber dazu bin ich auch mit Spiegel nicht mehr in der Lage. Meine Hände zittern und vor meinen Augen verschwimmt alles.

Tränen schießen mir in die Augen. Durch den Nebel in meinem Kopf sehe ich den Sensenmann auf mich zukommen. Jedes Mal, wenn ich mir die Kanüle ins Fleisch bohre, kommt er einen Schritt näher, so nahe, dass ich glaube, ihn berühren zu können, wenn ich die Hand nach ihm ausstrecken würde. Trotzdem höre ich nicht auf, mich mit dem Stahl zu penetrieren. Auf dem Asphalt zwischen meinen Füßen glänzt eine Blutlache.

Als die Kripo das erste Mal hinter mir vorbeifährt, fingere ich nach der Geldrolle in meiner blutverschmierten, schmutzigen Jeans und lege sie neben mir auf die Bank. Ein schneller Griff in die Socken und knapp zehn Gramm Koka wandern direkt daneben. Ich verstecke beides am Fuß eines Baumes, dann setze ich mich wieder zurück auf die Bank.

Völlig überdosiert und jetzt auch noch mit Bullenstress im Nacken stochere ich in meinen Venen herum. Einen Druck schaffe ich bestimmt noch, bevor sie mich verhaften. Wieder und wieder versuche ich, mir einen Knaller zu setzen. Doch entweder steche ich durch die Vene oder ich rutsche sofort wieder raus. Ich vibriere wie ein Dildo auf Stufe drei. Immer wieder kommen mir die Tränen und verschleiern mir die Optik. Die Jungs von der Staatsgewalt drehen ihre dritte Runde. Vielleicht hab ich noch zwei, drei Minuten, bevor der Bullenfilm losgeht. Eher weniger.

Getroffen! Das Blut schießt in die Pumpe, ich greife um und drück mir die komplette Ladung in die Vene. Der Kokainexpress rast mit einem Höllentempo durch meinen Schädel. Langsam ziehe ich die Nadel aus der Vene und das Blut läuft mir am Unterarm runter, über den zerstochenen Handrücken, sammelt sich an der Spitze meines Zeigefingers, tropft im Sekundentakt auf den Asphalt.

Wenige Augenblicke später stehen zwei Beamte der Kriminalpolizei neben mir. Einer sagt was von »Spritze weglegen« und »Personenkontrolle«. Die Worte kommen von ganz weit weg, wie durch einen langen, dunklen Tunnel, der in meinem betäubten Schädel endet.

Ich stehe auf, schwankend wie ein Volltrunkener. Die Zugfahrt in meinem Kopf ist noch nicht vorbei. Ich krame alles aus meinen Taschen heraus und werfe es auf die Bank.

Einer der Beamten schnappt sich mein Portemonnaie und wühlt darin nach meinen Personalien. Natürlich findet er nichts, außer etwa 200 Mark in kleinen Scheinen und ein paar Zettel mit Telefonnummern und akas statt Namen.

Ich bin müde, völlig ausgelutscht und nur wenige Schritte trennen mich vom Exitus. Also gebe ich meinen richtigen, vollständigen Namen und mein Geburtsdatum an. Ich allein bin nicht mehr in der Lage, aus diesem Teufelskreis auszubrechen.

Seit Tagen schon wusste ich, dass der Tod und ich aufeinander zurannten, aber ich hörte einfach nicht auf, mir den Dreck in die Venen zu jagen. Wie von Sinnen kam ich dieser unglaublichen Gier nach, die das Kokain mit sich bringt, und machte innerhalb von knapp zehn Monaten ein zerschlissenes Nadelkissen aus meinem Körper.

Es liegt ein Haftbefehl gegen mich vor. Einer der beiden Polizisten will mir die Acht anlegen, doch der andere hält ihn davon ab.

»Versuchst du wegzurennen, wenn wir auf die Handschellen verzichten?«, fragt er mich fast väterlich.

Ich schüttele den Kopf und gehe schwankend auf ihr Dienstfahrzeug zu, die beiden Beamten links und rechts an meiner Seite. Ich bedanke mich mechanisch, als sie mir die Wagentür öffnen und lasse mich auf die Rückbank fallen. Ein zweites Mal befreit mich eine Verhaftung aus den Klauen meiner Sucht. Dieses Mal rettet sie mir tatsächlich das Leben.

Als wir am Waterlooplatz bei den Arrestzellen ankommen, fordern die Beamten sofort einen Arzt an. Sie sind ziemlich besorgt wegen meines Zustands, und es dauert nicht lange, bis ein Doktor in dem kleinen Büro auftaucht und mich untersucht. Nach wenigen Minuten bekomme ich eine 6-ml-Dosis Methadon, muss meine Schnürsenkel und meinen Gürtel abgeben und werde in eine der winzigen Zellen gebracht. Ein vielleicht eins fünfzig breiter Raum, etwa drei Meter lang, eine Stahlpritsche mit schwarzem Kunststoffbezug, zwei JVA-Wolldecken darauf und das ist alles. Keine Toilette, kein Waschbecken, nur ein Notfallknopf, eine Ampel, rechts neben der Zellentür. Aber das alles ist mir egal!

Ganze zehn Monate hatte mich die Hure Koka im wilden Galopp durch ihr weißes Wunderland geritten. Jetzt ist der letzte Kokainexpress schon lange abgefahren. Das Methadon kommt wie eine warme Welle über mich. Ich sacke auf die Pritsche, ziehe mir eine der Decken über und schlafe ein.