Barth-Grözinger, Inge Beerensommer

PIPER

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ISBN 978-3-492-95027-5

September 2016

© Thienemann Verlag GmbH, Stuttgart/Wien 2006

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Hulton Archive/getty images; Daniel Schoenen/LOOK-foto/getty images

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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1

Anna drückt die Nase fest gegen die Fensterscheibe, immer wieder, bis ein unregelmäßiger kleiner Fettfleck auf der Scheibe zu sehen ist. So hat sie es immer als kleines Mädchen gemacht, bis die Mutter jedes Mal wütend rief: »Anna, was machst du da? Lass den Unfug!« Mamas Stimme! Sie wird sie nie wieder hören. Schnell dreht Anna sich um. Das Wohnzimmer ist in strahlendes Sonnenlicht getaucht. Was für ein Hohn, denkt sie. Die Sonne scheint und Mama liegt begraben unter der dunklen Erde. Wieder spürt sie tief unten in der Kehle das Brennen der Tränen, die sie niederkämpft, den ganzen langen Tag schon. Bloß nicht heulen, denkt sie, nicht heulen, sonst kann ich nicht mehr aufhören. Vielleicht hätte sie doch mitgehen sollen, mit Mamas Freunden, die jetzt in ihrer Lieblingskneipe schräg gegenüber in der Prenzlauer Straße zusammensitzen.

»Willst du wirklich nicht mitkommen?«, hat Pia, Mamas beste Freundin, immer wieder gefragt. »Es ist nicht gut für dich, alleine rumzuhocken.«

Aber Anna hat immer wieder entschieden den Kopf geschüttelt.

»Nee, lass mal. Ich will alleine sein. Das müsst ihr doch verstehen.«

Sie hat verstanden oder es zumindest vorgegeben. Wahrscheinlich sind Pia und die anderen sogar froh, sich nicht mit einer vor Kummer erstarrten Neunzehnjährigen abgeben zu müssen. Was soll man auch sagen … So können sie sich langsam einen antrinken, das Entsetzen darüber wegspülen, dass es eine von ihnen getroffen hat, jetzt schon – »ach, der verfluchte Krebs« –, und sie können sentimental werden und alten Erinnerungen nachhängen.

Es sind schon freundliche Menschen, findet Anna, aber seltsam unbehaust und ruhelos, so als seien sie gar nicht richtig angekommen im Leben. Fast alle sind geschieden und jeder macht irgendetwas, was er eigentlich ursprünglich gar nicht tun wollte. So wie Mama, die Lehrerin geworden ist und doch eigentlich immer von einer Karriere als Journalistin geträumt hat. Oder Pitt, der ein Antiquitätengeschäft hat, in dem nie jemand etwas kauft, oder Pia mit ihrem komischen Service für Kindergeburtstage. Und alle machen immer noch den Eindruck, als sei alles nur vorübergehend, dabei ist ihr Leben doch schon fast vorbei. So jedenfalls kommt es Anna vor.

Von unten dringen die Geräusche aus der Pizzeria herauf. Gianni zieht die Rollläden hoch, um fünf Uhr öffnet er. Sicher würde es gleich klingeln und er würde mit einer Pizza oder einer Extraportion Rigatoni Napoli vor der Tür stehen.

»Du musst essen, mia figlia, sonst macht sich deine Mama Sorgen da oben.« Anna muss unwillkürlich lächeln. Der gute Gianni, er hat vorhin so geweint auf dem Friedhof. Aber essen kann sie jetzt bestimmt nichts. Sie muss etwas tun, irgendetwas, um nicht verrückt zu werden. Ziellos streift sie im Zimmer herum.

Plötzlich, ohne recht zu wissen warum, hockt sie vor der alten, dunkel gebeizten Kommode, die mit den komischen Löwenklauen-Füßchen, und wühlt in den Fächern. Ganz hinten sind die Fotoalben, die ganz alten, die ihr Mama manchmal gezeigt hat, als sie noch ein Kind war. Später wurden sie in die hinterste Ecke verbannt. Mama konnte und wollte sie scheinbar nicht mehr sehen.

»Lass, Kind, ich möchte nicht daran erinnert werden, es war keine schöne Zeit.« Aber Anna hat sie oft heimlich angeschaut, wenn Mama nicht zu Hause war. Letztlich konnte sie wenig anfangen mit diesen alten Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen die Personen so unnatürlich und steif posierten. Trotzdem übten die Fotografien immer einen eigentümlichen Zauber auf sie aus. Das kleine Mädchen da, das erkennt sie sofort, das war Mama, und der schlanke, fast hagere Mann ist Mutters Großvater gewesen.

»Dein Uropa«, hat ihr Mama damals erklärt, und als Anna später mehr von ihm wissen wollte, hat sie unwillig das Album zugeklappt und kurz und bestimmt gesagt: »Er war ein komischer Mensch! Ein Spinner, haben die Leute gesagt, hat sich selber und anderen das Leben schwer gemacht. Deine Geburt hat er noch erlebt und sich sehr darüber gefreut. Vier Jahre später ist er gestorben. Schau –« Und sie hat ihr eines der neueren Bilder gezeigt, diesmal ein Farbfoto. Es zeigt diesen Mann, den Urgroßvater. Er hält ein schreiendes Baby auf dem Arm und schaut es seltsam entrückt und fast verklärt an. Anna hätte so gern mehr über diesen Urgroßvater gewusst. Warum ist er ein Spinner gewesen? Und was heißt das: »Sich und anderen das Leben schwer gemacht«?

Und wer sind die anderen auf den Fotos? Die hübsche Frau beispielsweise mit den dunklen Augen, die immer so traurig aussieht? Es gibt noch eine andere, viel ältere, die ihr sehr ähnlich ist, die aber ein ganz altes und eingefallenes Gesicht hat. Auf vielen Bildern ist auch eine junge Frau abgebildet, von der Anna weiß, dass sie ihre Großmutter war, die ebenfalls Anna hieß. Sie sei früh gestorben, hat Mama einmal erzählt, und auch dass Anna ihr sehr ähnlich sehe. Es gibt noch einen Jungen auf einigen wenigen Fotos, den Anna ganz besonders mag. Er ist so hübsch mit seinen dunklen Locken und lächelt immer so freundlich in die Kamera. Seine Augen sind ebenfalls ganz traurig, aber er lacht voller Zuversicht. Anna hat nie ein Bild von ihm als Erwachsenem gefunden.

Allerdings ist sie damals auch noch auf etwas anderes gestoßen, etwas, das ihr Mama auch nie erklärt hat. In eines der Alben ist ganz hinten ein Zeitungsausschnitt gesteckt worden. Er ist ganz vergilbt und die Kanten, an denen er zusammengefaltet gewesen ist, sind brüchig, sodass man dort die Buchstaben nicht mehr erkennen kann. Die Rede ist von einem »der erfolgreichsten Geschäftsmänner im süddeutschen Raum« und dabei steht auch ein Name: Friedrich Weckerlin. Dieser Friedrich Weckerlin ist auch abgebildet und Anna hat das Foto immer wieder interessiert betrachtet. Irgendwie erinnert sie der Mann an den Jungen mit den traurigen Augen und dem hoffnungsfrohen Lachen. Aber als sie die Mutter gefragt hat, warum der Zeitungsausschnitt in einem ihrer Fotoalben steckte und was es mit diesem Friedrich Weckerlin auf sich hatte, hat ihr Mama das Blatt jedes Mal schnell aus der Hand genommen und es wieder ganz hinten in das Album gelegt.

»Ach das«, hat sie gesagt, als handle es sich um eine Sache und keine Person, und hat dabei eine wegwerfende Handbewegung gemacht. Dann hat sie das Album entschieden zugeklappt und nur dies geheimnisvolle »Ach das« ist zurückgeblieben und mit ihm Annas viele Fragen, die nie beantwortet worden sind.

Viel später, beim letzten längeren Krankenhausaufenthalt der Mutter, hat Anna wieder angefangen Fragen zu stellen, als hätte sie geahnt, dass ihr die Zeit davonläuft.

»Komisch, dass es praktisch keine Männer in unserem Leben gibt«, hat sie einmal herausfordernd zu ihrer Mutter gesagt und Marie Helmbrecht, bleich und ausgezehrt vom Krebs und von ständigem Husten geschüttelt, denn die Metastasen hatten sich bereits in der Lunge festgesetzt, hat sich mühsam aufgerichtet und ihre Tochter angeschaut. »Die gibt es schon, aber sie spielen keine Rolle in unserem Leben.«

Daran muss Anna denken, als sie auf dem Boden sitzend und den Kopf gegen die alte Kommode gelehnt die Platanen betrachtet, die vor den hohen Bogenfenstern ihre grün überhauchten Arme ausstrecken. Nein, Mama, da hast du nicht Recht gehabt. Sie seufzt. Für mich spielen sie eine Rolle. Du hast nichts von der Vergangenheit wissen wollen, vor allem nicht, als du die letzten zwei Jahre so verzweifelt um eine Zukunft gekämpft hast. Als dich der Krebs aufgefressen hat, die Krake, die dich erstickt hat. Du hast all deine Kraft für dieses Ungeheuer gebraucht und wolltest dich nicht erinnern. Aber es ist umsonst gewesen und jetzt hast du mich allein gelassen mit all meinen Fragen und ich hab nur diese Fotos mit den Gesichtern, die mir nichts sagen.

Wieder und wieder schluckt Anna die Tränen hinunter. Ich muss es doch auch wegen des Erbes wissen … Das Erbe, also das alte Häuschen dort irgendwo im Schwarzwald, das vom Urgroßvater stammt … So viele Jahre steht es schon leer, aber pünktlich zu Weihnachten ist immer ein Brief nach Berlin gekommen: Krakelige, schiefe Buchstaben auf billigem Papier und die Mutter hat jedes Mal unwillig den Kopf geschüttelt.

»Wie immer Post von der alten Gretl. Was sie mit dem Haus machen sollen, der Holzwurm sei drin! Meinetwegen. Soll doch die alte Hütte eines Tages zusammenfallen. Meinen Fuß setz ich nie wieder da hinein!«

»Warum denn nicht?«, hat Anna damals gefragt. Schließlich sei sie doch darin aufgewachsen.

»Eben«, hat Mama geantwortet. »Und das war schlimm genug, immer der Gestank nach Pisse und Bohnerwachs. Pisse, weil wir ein Plumpsklo hatten, kannst du dir das vorstellen? Nein, Anna, das sind keine schönen Erinnerungen.«

Von unten hört Anna Gianni fluchen und das Geklapper von Töpfen und Pfannen. Plötzlich befällt sie die Angst. Eine mächtige, würgende Angst.

Ich bin allein, denkt sie. Ich bin ganz allein. »Mutterseelenallein«, im wahrsten Sinn des Wortes! Ich, Anna Helmbrecht – Schule geschmissen nach der zwölften Klasse und vom Leben keine Ahnung. Meine Welt besteht bis jetzt aus einem zwanzig Quadratmeter großen, weiß gestrichenen Zimmer, aus hallenden Krankenhausfluren, bangem Hoffen und schließlich dem unendlichen Warten auf das Ende, auf Mamas Tod.

Ihr kommt es in diesem Moment so vor, als sei nun auch für sie alles zu Ende. Wie soll das Leben weitergehen? Was ist das überhaupt: Leben? Und wie soll ich wissen, wie es weitergeht, wenn ich nicht einmal den Anfang von allem kenne? Ein seltsames Gefühl, so in der Luft zu hängen, denkt sie, wie ein einzelner, loser Faden, bei dem man nicht erkennen kann, wozu er eigentlich gehört. Was bin ich jetzt? Halbwaise nennt man das, glaube ich. Waise – das klingt nach Einsamkeit und Entbehrung. Wenigstens die Wohnung gehört mir. Das hat Mama immer gesagt: dass die Wohnung abbezahlt ist und mir gehört. Halbwaise, nur halb, denn einen Vater habe ich ja noch! Einen Vater, den ich nie richtig kennen gelernt habe und der mit seiner neuen Familie im fernen Australien hockt. Er schreibt mir nette Briefe, ich müsste ihn unbedingt besuchen kommen, steht da immer wieder drin. Aber was soll ich da? Ich wäre doch bloß ein Gast, gehöre da nicht hin. Und drüben in der Kneipe, bei Pia und den anderen? Die sitzen jetzt da und träumen ihre alten Träume. Wo gehöre ich denn hin? Bloß noch zu den Bildern da drüben in den vergilbten Alben. Ja, zu den Toten, da gehöre ich hin.

Ihr Blick fällt auf etwas, das zusammengeknüllt auf der Armlehne des Sofas liegt. Es ist eine kleine gehäkelte Mütze. Zu Dutzenden hat sie diese Mützen gehäkelt, in allen Farben, für Mama, die nach den vielen Chemotherapien alle Haare verloren hat. Diese hier ist ganz bunt, in allen Farben des Regenbogens. »Mein Narrenkäppchen« hat Mama sie einmal lachend genannt und plötzlich muss Anna weinen. Sie kann die Tränen nicht mehr zurückhalten, die jetzt sturzbachartig kommen. Und neben all dem Schmerz und dem Gefühl des Verlorenseins ist ein Gedanke in ihr, der immer stärker wird: Ich will wissen, wer all diese Gesichter sind, ich will wissen, zu wem ich gehöre!

2

Margarethe Haag, von allen im Dorf nur Gretl genannt, legt den Brief sorgfältig zurück auf den Tisch, nicht ohne zuvor noch einmal gewohnheitsmäßig über das tadellos saubere Wachstuch mit dem Blumenmuster gewischt zu haben. Jetzt würde sie also kommen, die Anna, die »kleine Anna«, wie sie Johannes immer genannt hat. Sie hat sie zuletzt gesehen, als sie ein ganz kleines Mädchen gewesen ist, fast noch ein Baby. Johannes ist damals hereingekommen und hat sie auf dem Arm gehalten. »Schau, meine kleine Anna«, hat er gesagt und dabei ganz glücklich ausgesehen. »Meine kleine Anna … Es geht also weiter, Gretl, es gibt wieder eine Anna«, und sie hat ihm wortlos zugenickt und der Kleinen einen Keks hingehalten. Aber die hat nur den Kopf geschüttelt und das Gesichtchen in der Schulter des Urgroßvaters vergraben.

Jetzt würde sie also kommen, endlich! Nachdenklich betrachtet Gretl den Briefumschlag, auf dem in noch kindlich runden Buchstaben ihre Adresse steht. Sie hat lange gebraucht, um den Brief zu entziffern, denn das Lesen fällt ihr trotz der Brille immer schwerer, aber eines ist ihr gleich nach den ersten Zeilen klar geworden: Marie ist tot. So jung gestorben! Der Krebs, denkt Gretl, er ist in der Familie. Nicht bei den Helmbrechts, aber bei den Oberdorfers. Der Vater der alten Marie und auch der Bruder sind jung daran gestorben.

Versonnen sitzt Gretl eine Weile da und lauscht dem Ticken der alten Standuhr, lauscht dem unerbittlichen Klicken des Zeigers und denkt daran, wie die Lebenszeit immer weniger wird. Mit jedem Klicken bricht ein winziges Stück ab. Bald bin ich drüben bei den anderen, denkt sie, ob ich ihn und auch den anderen wiedersehen werde? Nach einer Weile erhebt sie sich schwerfällig und geht hinüber in das angrenzende Schlafzimmer. Mühsam lässt sie sich vor ihrem Bett mit den aufgeschüttelten Kissen nieder und zieht unter Keuchen und Schnaufen einen alten Holzkasten hervor. Vorsichtig öffnet sie ihn und holt einen in ein kariertes Tuch gewickelten Gegenstand heraus, mit dem sie dann wieder hinüber in die Küche schlurft. Auf der Wachstischdecke setzt sie ihn behutsam ab und schlägt den karierten Stoff zurück. Der Gegenstand wirkt in der kärglich eingerichteten Küche seltsam fremd. Es ist ein Schmuckkasten aus Silber und blauem Emaille, sehr kunstvoll gearbeitet, und auch der Deckel ist mit zarten Farben bemalt.

Die Sonnenstrahlen, die schräg durch das gegenüberliegende Fenster fallen, scheinen mit den silbernen Figürchen förmlich zu spielen, denn plötzlich leuchtet der Kasten auf und die alte Gretl schließt für einen Moment wie geblendet die Augen. Als sie sie wieder öffnet, rinnen Tränen über ihre runzligen Wangen und sie wischt mehrere Male liebevoll mit dem Taschentuch über den Kasten, obwohl der makellos glitzert und glänzt. Ob sie es wohl verstehen wird?, denkt sie. Wie soll ich ihr das alles erklären? Aber Johannes hat ja Gott sei Dank einiges aufgeschrieben. Gedankenvoll streichelt sie den Deckel mit den zarten Farben. »Da drin steht es, das Wichtigste jedenfalls, den Rest erzählst du ihnen«, hat Johannes immer gesagt.

Unwillkürlich seufzt sie tief auf. Ob sie es wirklich verstehen kann? Ich will, dass sie das richtige Bild von Johannes bekommt. Und von Friedrich natürlich, und von Marie. Von Georg muss ich ihr auch erzählen. Und von der Stadtmühle, wo alles anfing. Kann sich das ein junger Mensch von heute überhaupt vorstellen? Sie denkt für einen Moment an die knarrenden, schief getretenen Dielen, sieht einen alten wackligen Tisch mit vielen Kerben, die wie Runen eine Erinnerung an die vielen namenlosen Menschen bewahren, die die Stadtmühle bewohnt haben. Sie sieht zwei Jungen am Tisch sitzen, die die Köpfe zusammenstecken, einen hellen und einen dunklen, hört das Gewisper des Windes, der unbarmherzig durch die alten, blinden Fenster gedrungen ist und sie hat frieren lassen in den langen Winternächten. Sie riecht noch einmal diesen unerträglichen Gestank, der vom schiefen Aborthäuschen gleich neben dem Eingang ins Haus gedrungen ist und über dem an den heißen Sommertagen Schwärme von Fliegen hingen, die in Nase und Mund gekrochen sind.

Plötzlich richtet sich Gretl energisch auf und holt von einem bunt bemalten Schlüsselbrettchen neben der Küchentür einen großen, altmodisch aussehenden Schlüssel. Sie greift nach ihrem Stock und humpelt energisch zur Haustür hinaus. Der Weg, den sie einschlägt, ist kurz, aber mühsam, denn es geht steil bergauf. Sie muss hinauf zum Waldrand, wo einige alte, mächtige Buchen mit ihren zartgrünen Blättchen den dunklen eintönigen Fichtenwald säumen. Unmittelbar davor duckt sich ein kleines Häuschen unter ihren mächtigen Schatten. Es ist ein Schindelhäuschen, das einstmals weiß gestrichen gewesen ist, jetzt aber bedeckt ein grünlich brauner Film vor allem die vordere Wetterseite. Ihr Ziel immer fest im Blick zieht sich die alte Gretl mühsam die letzte Steigung hinauf und schaut, oben angekommen, auf die hinter ihr liegende Straße. Sie keucht rasselnd und ringt nach Atem. Von Mal zu Mal fällt ihr das Hinaufgehen schwerer. Es wird höchste Zeit, dass sich jemand anderer um das Haus kümmert, denkt sie. Aber trotzdem – es ist immer wieder eine wunderschöne Aussicht von hier oben gewesen. Oft hat sie hier gesessen und zu Johannes gesagt: »Du hast von da oben einen Blick wie ein König. Sitzt hier wie ein Adler im Horst«, und er hat dann jedes Mal mit dem Kopf genickt und gelächelt. Wahrscheinlich hat er auch daran gedacht, dass dieser Ausblick schöner war als der vom großen Haus auf der anderen Seite des Berges, wo man wegen der hohen Bäume nicht ins Tal sehen konnte und nur zur Bergseite hin freie Sicht hatte. Aber der das große Haus gebaut hat, wusste damals sicher, warum das so war.

Mit zitternden Fingern gelingt es ihr endlich nach mehreren Versuchen, den Schlüssel in das Schloss zu stecken, und knarrend weicht die Haustür zurück, von der die braune Farbe fast vollständig abgeblättert ist. Vorsichtig auf den Stock gestützt, tappt Gretl durch die Räume und registriert dabei mit missbilligendem Blick die kleinen Häufchen Sägemehl, die unter den hölzernen Türpfosten und vor allem unter der Flurtreppe sichtbar sind. Der Holzwurm, denkt sie, er frisst das ganze Haus auf. Erst letzte Woche haben wir alles gefegt und jetzt ist wieder alles voll mit dem Sägemehl. Und der elende Holzwurm macht weiter und eines Tages fällt das alles hier zusammen! Sie lässt sich schwerfällig auf einem der Küchenhocker nieder und starrt eine Weile auf die andere Seite des Tisches, als erwarte sie, dass da jemand sitzen müsse. Jemand mit dichten weißen Haaren, den Kopf tief über die Zeitung gebeugt, die er aufmerksam studiert. Ab und zu hat er ihr vorgelesen, wenn ihn etwas besonders bewegt hat, und dabei hat er manchmal mit der flachen Hand auf den Tisch geschlagen. Bis zu seinem letzten Tag konnte er noch wütend werden, denkt Gretl fast belustigt, hat er noch teilgenommen an der Welt.

Ach, wenn er sein Haus, auf das er so stolz gewesen ist, jetzt sehen würde. Der Richard sagt, dass man es nicht mehr retten kann, es würde viel zu teuer kommen. »Es ist alles kaputt«, sagt er immer, »da hilft nichts, Tante Gretl. Höchste Zeit, dass die Erben sich endlich mal entscheiden, bevor noch etwas passiert. Und dir ist es auch nicht mehr zuzumuten. Das ist doch keine Art, sich einfach taub zu stellen. Die Kosten für den Abbruch müssen sie auf jeden Fall tragen. Es hilft alles nichts, das Haus muss weg. Aber das Fundament ist gut.«

Nun, jetzt würde sie ja kommen. Die Anna aus dem fernen Berlin. In den nächsten Tagen müsste man noch einmal fegen, damit es nicht gar so schlimm aussieht. Auf der anderen Seite ist es vielleicht besser, ihr gleich die Wahrheit zu sagen. Aber das muss der Junge tun und Richard – die verstehen ja auch etwas davon.

Sorgfältig schließt Gretl wieder ab und wirft noch einen bekümmerten Blick auf den Garten, wo all die Kohlstrünke und umgefallenen Bohnenstangen auf der unregelmäßig aufgeworfenen Erde liegen, die sich wie Narbengeflecht um das Haus zieht. Einige alte, knorrige Zwetschgenbäume tragen noch den weißen Blütenflaum und erstes frisches Grün an den Ästen. Sie mildern etwas den Eindruck der Vernachlässigung und des Verfalls, der überall sichtbar ist. Noch im letzten Frühjahr hat sie im Garten gegraben, Salatschösslinge gepflanzt und Bohnen gesät, die sich dann an den Stangen hinaufrankten, genauso wie es Johannes immer gemacht hat.

Sie sieht für einen Moment den Garten im flirrenden Licht der schon lange vergangenen Sommer, sieht zwei Kinder übermütig kichernd Verstecken zwischen den dichten Bohnenranken spielen. Sieht einen schwarzen Lockenkopf und ein Köpfchen mit nussbraunen festen Zöpfen. Aber dann schiebt sie die Erinnerung weg, sie tut weh. Vorsichtig tappt Gretl den Weg wieder hinunter, auf der steil abfallenden Straße zwischen den neuen Häusern, großen viereckigen gesichtlosen Kästen, die alle gleich aussehen und ihren Weg säumen wie strammstehende Soldaten. Und das alte Häuschen da oben wirkt, als ob sich in diese wohlgeordnete Parade ein zerlumpter Clown geschoben hätte.

Erinnern, denkt Gretl im Hinuntergehen, ich muss mich an so vieles erinnern, auch wenn es wehtut, denn sie wird es wissen wollen, und ich weiß nicht, was Johannes aufgeschrieben hat. Ich muss mich erinnern an die Stadtmühle, an das, was Mutter mir erzählt hat, wie es angefangen hat, damals.

3

Blinzelnd wachte Johannes auf. Die durch das Fenster fallenden Sonnenstrahlen hatten ihn an der Nase gekitzelt und geweckt. Er musste niesen und blickte erschrocken auf die andere Seite des Zimmers, wo schräg gegenüber eine kleine, gekrümmte Gestalt auf dem alten Sofa lag, ganz eingehüllt in eine zerschlissene dunkelbraune Decke. Hoffentlich hatte er die Ahne nicht aufgeweckt. Sie hatte noch etwas Schlaf bitter nötig, denn gestern hatte sie den ganzen Tag bei der Frau Pfarrer geholfen, wo großer Waschtag war. Die Ahne half vielen Leuten im Dorf, beim Großputz, beim Waschtag und wenn geschlachtet wurde, denn die grobe Arbeit verrichtete sie klaglos und mit größter Zuverlässigkeit für ein paar Pfennige.

Die Armenhäusler mussten schließlich froh sein, wenn man ihnen überhaupt ab und zu etwas zusteckte, man wusste ja, was das für ein Gesindel war. Allerdings konnte man über die alte Babette nichts sagen. Sie war sauber und ehrlich, auch richtig dankbar und angemessen demütig, wenn sie nach getaner Arbeit am Küchentisch saß und ihr Essen verzehrte, das man großmütig als Draufgabe gewährte. Und man gab auch dem Jungen noch etwas ab, der gleich nach der Schule zum Helfen kam. Er schleppte die Wäschekörbe oder die schweren Eimer, weil das die Babette mit ihren morschen Knochen und dem gekrümmten Rücken nicht mehr richtig konnte.

Ein Unehelicher war er, das Kind einer Großnichte der alten Ahne, wie sich die Leute erzählten, aber er war fleißig und anständig, das war wohl ein Trost für die Alte, die solch moralisch bedenkliche Verhältnisse in ihrer Familie eigentlich nicht verdient hatte. Der Junge ließ es allerdings an Demut fehlen, er guckte einen immer so herausfordernd an mit diesen merkwürdig blauen Augen, von denen niemand wusste, wo sie herkamen. Keiner im Dorf hatte solche Augen, wahrscheinlich waren sie vom unbekannten Vater, dem verkommenen Subjekt. Und er sagte auch immer so provozierend »Danke«. Es klang eigentlich richtig unverschämt – aber egal, sie waren fleißig und billig, die alte Babette und der Junge.

Johannes verschränkte die Arme unter dem Kopf und starrte mit verächtlich heruntergezogenen Mundwinkeln auf die rissige, graue Decke. Die Ahne schimpfte immer mit ihm, wenn er nicht »ehrerbietig« genug war, wie sie es nannte.

»Du musst dich verbeugen und darfst den Leuten nicht so frech ins Gesicht schauen, Johannes«, predigte sie immer wieder und er sagte dann jedes Mal: »Warum soll ich die Leute nicht anschauen? Wir sind genauso viel wert wie die, und das, was sie dir bezahlen, ist viel zu wenig. Den alten Trödel, den sie dir oft genug als Lohn aufhalsen, hätten sie sowieso weggeschmissen.«

Das war nämlich das Schlimmste für die Ahne, wenn sie statt des Geldes irgendwelche Gegenstände oder auch Kleider bekam, die sie oder der Junge eigentlich gar nicht brauchen konnten. Mottenzerfressene alte Mäntel oder angeschlagenes Geschirr halfen wenig, wenn man dringend auf Geld angewiesen war, mit dem man Brot, Mehl oder sogar ein paar Eier kaufen konnte; denn die paar Groschen von der Gemeinde reichten nirgends hin. Immerhin war Johannes so zu einer Matratze gekommen, genauer gesagt waren es drei Matratzenteile gewesen, durchgelegen und zerschlissen und nach Schweiß riechend. Aber nachdem er sie ein paar Tage zum Lüften nach draußen gestellt und der prallen Mittagssonne ausgesetzt hatte, ging es einigermaßen und es schlief sich besser auf ihnen als auf dem alten Strohsack, den er vorher gehabt hatte.

In der Zwischenzeit fielen die Sonnenstrahlen in einem steileren Winkel in das Zimmer. Johannes überlegte: Die Kirchenglocken hatten vorher achtmal geschlagen, aber es war Sonntag und er konnte noch ein bisschen liegen bleiben. Vielleicht würde er heute Nachmittag hinaufgehen auf den Eiberg. Am Katzenbuckel gab es viele Brombeerbüsche, an denen die Beeren letzte Woche noch rot gehangen hatten. Wahrscheinlich waren sie jetzt reif, obwohl es ziemlich kühl geworden war in den letzten Tagen. Das war dann ein extra Zubrot, wenn er sie heute Abend an eines der Hotels in Wildbad verkaufen konnte.

Aber erst gab es noch etwas viel Wichtigeres, und wenn er daran dachte, schlug ihm das Herz hoch bis in die Kehle. Er musste sehen, wie es den neuen Bewohnern der Stadtmühle ging, die heute Nacht unter so dramatischen Umständen zu ihnen gekommen waren. Er lauschte. Im Haus war alles ruhig, man hörte ab und zu nur das röchelnde Schnarchen von den unteren Räumen, wo die Mühlbecks hausten. Wahrscheinlich hatte der Alte gestern wieder zu viel getrunken, weil er auf irgendeine Art und Weise zu ein paar Pfennigen gekommen war. Und die Kinder haben keine richtigen Kleider, von Hemden und Unterhosen ganz zu schweigen, dachte Johannes erbittert. Aber dann richtete er seine Gedanken wieder auf die Ereignisse der letzten Nacht.

Jetzt ist Friedrich Weckerlin tatsächlich bei uns, dachte er.

Schläft hier, mit uns unter einem Dach. Der reiche Friedrich Weckerlin, der in der Schule immer ganz weit hinten saß, bei den Klugen und Wohlhabenden, nicht vorne wie Johannes, der bei Gott nicht dumm war. Aber er war eben ein Stadtmühlenkind und musste deshalb vorne sitzen, bei den Dummen und den Armen – denn das war meist dasselbe. Und jetzt ist er hier, vielleicht muss er morgen auch vorne sitzen, vielleicht sogar neben mir, dachte Johannes und sein Herz klopfte noch lauter und heftiger.

Nach einer Weile hörte er Stimmen, die von unten kamen, aus der Küche, die sich die Bewohner der Stadtmühle teilen mussten. Hastig schlug Johannes die dünne graue Wolldecke zurück und schlüpfte in seine Kleider. Vorsichtig tappte er die schief getretene Stiege hinunter, an der noch Reste der einstmals weißen Farbe klebten, die von vergangenen, besseren Zeiten der Stadtmühle kündete. Obwohl er auf Zehenspitzen ging, knarrten die Stufen fürchterlich. Dabei wollte er doch keinen Lärm machen, warum, wusste er selber nicht. Mühlbecks Schnarchen drang jetzt lauter an sein Ohr und im Schutz dieses Lärms lief er die letzten Stufen schnell hinab und huschte hinüber zur angelehnten Tür der großen Küche, aus der die Stimmen kamen.

Ein Kind quengelte, es verlangte nach Essen, dazwischen hörte er die hohe, nervöse Stimme einer Frau, die das Kind zu beruhigen versuchte. Unbemerkt trat Johannes in die Tür. Auf den wurmstichigen Stühlen, von denen keiner zum anderen passte, saßen drei Kinder um den wackligen Tisch. Es waren Friedrich, der fast bewegungslos dahockte, den Kopf zwischen die Hände gepresst, und ein kleiner Junge, den Johannes schon öfter in Begleitung von Frau Weckerlin gesehen hatte. Es war der jüngere Sohn, Wilhelm hieß er, so glaubte Johannes zumindest ein paarmal gehört zu haben.

Er sah seinem großen Bruder sehr ähnlich, beide hatten dieselben dunklen Locken und die braunen Augen.

Das dritte Kind, das an der anderen Seite des Tisches saß, war wohl die kleine Schwester, sie konnte das Näschen kaum über den Tischrand strecken. Sie begann mit den Beinchen ungestüm zu schlenkern und gegen die Tischbeine zu stoßen, sodass der Tisch regelrecht ins Wackeln geriet.

»Will Milch«, greinte sie, »Milch, kein Brot.« Dabei schubste sie mit einer zornigen Handbewegung ein Stück Brot weg, das vor ihr auf der Tischplatte gelegen hatte. Es war ein großes Stück Graubrot, Kommissbrot nannte man es. Frau Weckerlin stand vor dem Ausguss aus Speckstein und schnitt gerade eine weitere Scheibe ab, die sie Friedrich anbot. Der aber schüttelte den Kopf und schob das Brot in die Mitte des Tisches.

Wo sie das Brot wohl herhaben?, dachte Johannes. Wahrscheinlich hatte Frau Weckerlin es noch mitnehmen können, gestern Abend, zusammen mit den paar Habseligkeiten, die in ihre Schürze und die Kommodenschublade gepasst hatten. Es hatte also auch schon vorher kein Weißbrot mehr gegeben im Hause der Weckerlins, kein duftendes, feinkrumiges Weißbrot, wie es Friedrich oft als Pausenvesper dabeigehabt hatte. Knapp sei es geworden bei den Weckerlins, das hatte er die Leute in der letzten Zeit oft sagen hören und die Ahne hatte das eine um das andere Mal gemeint: »Ja, ja, Hochmut kommt vor dem Fall. Haben die Nase ja immer mächtig hoch getragen, die Weckerlins. Mit dem Zylinder ist er zur Arbeit gegangen und wenn sie ihm zum Mittagessen im Henkelmann Bohnen gebracht hat, stand er auf und hat die Bohnen auf die Erde gekippt. ›Ein Weckerlin frisst keine Bohnen!‹, hat er gebrüllt und dabei schallend gelacht und seine Gesellen und Lehrlinge mit ihm. Und dann haben sie ihn eines Tages tot aus der Enz gezogen! Mich hat sie früher nicht einmal angesehen, hat für die Wäsche die Keppler'sche genommen mit ihrem Getue, obwohl die doppelt so viel verlangt wie ich. Nicht angeschaut hat sie unsereins! Nun ja, aber Leid tut sie mir trotzdem.«

Und jetzt stand sie in der Küche der Stadtmühle, die stolze Frau Weckerlin. Die graue Bluse und der Rock aus schwarzem Taft waren sicher nicht ihre besten Kleider, die hatte sie wohl zurücklassen müssen im schönen Haus oben in der Herrengasse. Aber trotzdem sah sie immer noch richtig vornehm aus, jedes einzelne Härchen ihres hellbraunen Haares war zurückgestrichen und hinten zu einem akkuraten Knoten aufgesteckt. Sie passt gar nicht hierher, dachte Johannes, sieht aus wie – ihm fiel auf Anhieb kein passender Vergleich ein, dann erinnerte er sich an die Schwäne auf der Enz. Das war es! Sie wirkte wie ein stolzer Schwan auf einem schmutzigen Tümpel. Mitten in seine Überlegungen hinein brüllte wieder das kleine Mädchen, das mit seinen glatten braunen Haaren das Ebenbild der Mutter war.

»Milch, will Milch!«, plärrte sie weiter. Blitzschnell stieß sich Johannes vom Türrahmen ab und rannte die Treppe wieder hinauf. Die Ahne lag immer noch wie ein Häufchen Lumpen da und brabbelte unverständliches Zeug vor sich hin. Wahrscheinlich hatte sie wieder Schmerzen im Rücken. In einem kleinen wurmstichigen Schränkchen bewahrten Johannes und die Ahne ihre Lebensmittelvorräte auf. Die Küche, zu der alle Zugang hatten, wäre ein zu unsicherer Ort gewesen. Jeder Stadtmühlenbewohner hütete ängstlich sein bisschen Brot und Schmalz. Das Essen war eine Frage des Überlebens und vor allem dem verkommenen Mühlbeck traute man nicht über den Weg. Es kam allerdings auch vor, dass man den einen oder anderen Kanten Brot abgab, wenn beispielsweise eines der Mühlbeck-Kinder vor Hunger weinte, weil der Alte das letzte Geld wieder einmal in Schnaps umgesetzt hatte.

Ohne lange zu überlegen, griff Johannes nach dem Milchtopf, den die Ahne ganz nach hinten gestellt hatte. Den halben Liter Milch hatte sie gestern nach dem Waschtag in der Molkerei erstanden, sie war eine Kostbarkeit, ausschließlich für Johannes bestimmt. Bei der letzten Untersuchung in der Schule hatte der Doktor nämlich zu Johannes gesagt, er sei viel zu klein und zu schwächlich für sein Alter. »Und auf der Lunge höre ich Geräusche«, hatte er vorwurfsvoll zur Ahne gemeint und sie dabei über den Rand seines goldenen Kneifers missbilligend angesehen. »Der Junge braucht gute Kost, Milch, Sahne und Butter.«

Und die Ahne, die hinter Johannes stand, hatte sich noch mehr zusammengekrümmt und demütig »Jawohl, Herr Doktor« gemurmelt.

Johannes hasste diese Untersuchungen, hasste die endlose Reihe von blassen jungen Leibern und den süßlich dumpfen Schweißgeruch. Am meisten aber hasste er die Scham, die jedes Mal brennend in ihm aufstieg. Er wurde ausgelacht, das merkte er ganz genau, kichernd und prustend stießen sich die anderen an, und er hörte das Getuschel der Mütter und spürte die gehässigen Blicke in seinem Rücken. Zwar trugen viele Kinder Unterwäsche, die vielfach gestopft und grau vom häufigen Waschen war, aber er hatte nicht einmal richtige Wäsche, nur eine Unterhose, die ihm viel zu groß am schmächtigen Leib hing. Sie wurde nur von einer Schnur festgehalten und trotzdem rutschte sie immer, sodass er sie mit beiden Händen hochziehen musste, wenn er nach vorne zum Doktor ging. Die Ahne hatte die wenigen Wäschestücke, die sie besaßen, aus den Lumpensäcken gerettet, einstmals hatten sie wohl dem Herrn Pfarrer oder der Frau Oberlehrer gehört.

Und so lachten sie ihn aus. Die Armen lachten über ihn, den noch Ärmeren, diese lächerliche, magere Gestalt in der zerschlissenen und viel zu großen Hose. Und auch über die Ahne lachten sie, diesen kleinen, gebückt gehenden Zwerg mit dem spitzen Buckel im verblichenen Kattunrock und dem schwarzen Wollumhang, den sie immer fest um sich gezogen hatte, als könne sie so die Blicke und den Spott abwehren. Aber um Johannes sorgte sie sich und die Worte des Doktors nahm sie ernst. Wann immer es ihr möglich war, zwackte sie ein paar Pfennige ab, um Johannes Milch zu kaufen, richtig gute, fette Milch und keine verwässerte graue Molke, wie sie die Mühlbeck-Kinder zu trinken bekamen.

Diese kostbare Milch nahm Johannes und trug sie vorsichtig hinunter in die Küche, wo die Kleine immer noch nach Milch schrie und dazwischen immer wieder ein stoßweise herausgepresstes »Will nach Hause!« brüllte. Erschrocken sah Johannes, dass Frau Weckerlin weinte. Das Kommissbrot lag mit dem Messer auf dem Tisch und daneben stand sie und presste das Gesicht in die Hände, von zuckendem Schluchzen geschüttelt. Der kleine Wilhelm saß mit weit aufgerissenen Augen da, er kaute mechanisch, als sei diese gewohnte Tätigkeit ein letztes Bollwerk gegen die Schrecken des Neuen, die über ihn hereingebrochen waren.

»Hier, nehmen Sie, Frau Weckerlin.« Johannes streckte ihr rasch den angeschlagenen Topf mit den blauen Tupfen entgegen. »Es ist Milch, richtige Milch. Für die Kleine da.« Er zögerte einen Moment und dann fügte er mit unsicherer Stimme hinzu: »Und für ihre Söhne.«

Was rede ich da für einen Quatsch?, dachte er, es sind ja alles ihre Kinder, und er vermied es geflissentlich, in die Ecke zu schauen, wo Friedrich saß. Stattdessen blickte er gebannt auf Frau Weckerlin, die sich erschrocken zu ihm herumgedreht hatte und ihn anstarrte. Das kleine Mädchen hatte zu weinen aufgehört und es war für einen Moment totenstill. Johannes bemerkte zu seinem Erschrecken, dass ihm eine heiße Röte ins Gesicht stieg. In die Stille hinein sagte Frau Weckerlin plötzlich: »Danke, mein lieber Junge. Aber das kann ich nicht annehmen.«

Statt einer Antwort schüttelte Johannes den Kopf und streckte ihr auffordernd den Milchtopf entgegen, den sie dann auch wirklich zögernd in die Hände nahm. Sie umklammerte den Topf so fest, dass Johannes für einen Moment meinte, sie müsse ihn zwischen ihren schmalen Fingern zerbrechen. Aber dann streckte sie mit einer ruckartigen Bewegung den Topf wieder Johannes entgegen.

»Das geht nicht. Die Milch gehört dir.« Ein scheuer Blick streifte Johannes. »Du brauchst sie doch selber. Aber trotzdem, danke. Du bist ein guter Junge.« Ungeschickt nahm Johannes den Topf wieder an sich und kam sich mit einem Mal lächerlich vor. Gedemütigt von dieser Frau, die sich eben mit beiden Händen unter den Augen entlangstrich, um schnell die Tränenspuren zu verwischen. Stolz und hochnäsig ist sie immer noch, dachte er plötzlich und spürte, wie ein wilder Zorn in ihm hochkroch. Nimmt nichts von uns, den Armenhäuslern.

Er wollte sich abrupt umdrehen und hinausgehen, als auf einmal die Tür aufgestoßen wurde und Lene hereinkam. Sie blieb für einen Moment verblüfft stehen und raffte den Morgenrock über dem hochgewölbten Bauch enger zusammen. Der Morgenmantel war auf den ersten Blick ein prachtvolles Stück, das gar nicht in die schäbige Küche passte. Er war purpurrot und über und über mit silberblauen und grüngoldenen Blüten bedruckt. Beim näheren Hinsehen bemerkte man aber, dass das gute Stück schon arg zerschlissen und an einer Stelle auch gestopft war. Wahrscheinlich war es das Geschenk eines ihrer »Kavaliere«, wie sie die Männer nannte, die in der Abenddämmerung verstohlen nach oben huschten, vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf die knarrende Treppe setzend, und dann mit abgewandtem Gesicht in Lenes Zimmer verschwanden. Es waren richtig vornehme Herren darunter. Johannes kannte sogar den einen oder anderen. Bei den Festzügen, die sich bei einem der vielen Vereinsfeste durch die Dorfstraßen wälzten, gingen sie immer in den vorderen Reihen, gleich neben dem Bürgermeister und dem Herrn Pfarrer.

Seit Lene vor zwei Jahren vom Dienst in Stuttgart in ihr Heimatdorf zurückgekommen war, ging das so und Johannes, der sich zuerst verwundert gefragt hatte, was diese Männer plötzlich alle in der Stadtmühle zu suchen hatten, wurde der Zweck ihres Kommens erst allmählich klar. Der älteste Mühlbeck-Junge, Ludwig, hatte auf seine harmlose Frage eines Abends in der Küche ein hässliches Wort geschrien und brüllend gelacht, als Johannes entsetzt zurückgewichen war. Die Mühlbeck-Kinder wussten Bescheid, lebten ja alle in einem Zimmer und waren Augen- und Ohrenzeugen, wenn der Alte, wie sie ihren Vater nannten, betrunken heimkam und von seiner Frau die ehelichen Rechte einforderte. Die Mühlbeck’sche drehte sich dann seufzend auf den Rücken und ließ ihn gewähren. Die Geräusche, das Ächzen des Bettes und das Seufzen und Stöhnen waren die gleichen, die von oben aus Lenes Zimmer drangen. Und die Ahne schüttelte dann jedes Mal missbilligend den Kopf und begann mit ihrer dünnen Stimme einen Psalm vorzulesen. Johannes mochte die Lene trotzdem gern, er suchte förmlich ihre Nähe, denn sie roch so gut. Sie roch ganz anders als die Ahne oder die Frau Mühlbeck, sie roch ein bisschen nach Veilchen und Sommerwiese. Das kam von dem Parfum, das sie ab und an von den »Kavalieren« geschenkt bekam, und manchmal tupfte sie lachend ein paar Tropfen hinter Johannes’ Ohr und nannte ihn scherzend »mein jüngster Kavalier«.

Jetzt, als sie in der Tür stand, drang wieder der vertraute und geliebte Veilchengeruch zu ihm herüber. Unwillkürlich war Frau Weckerlin einige Schritte zurückgetreten, hin zu Friedrich, als wollte sie sich zwischen ihn und diese Person stellen, für die jemand wie die stolze Frau Weckerlin sicher keinen Namen hatte. Lene hatte diese Bewegung gesehen und die Röte in ihrem Gesicht, um das sich unordentlich die gelben Locken ringelten, vertiefte sich. Seit sie das Kind erwartete, dessen Vater wohl nur Gott alleine kannte, trug sie immer diese ungesunde Röte im Gesicht und die Ahne hatte wieder und wieder mit Unheil verkündender Stimme gesagt, das bedeute nichts Gutes. Achselzuckend wollte Lene sich umdrehen, aber dann fiel ihr Blick auf die Kleine und ihr verheultes, rotzverschmiertes Gesicht. Unwillkürlich beugte sie sich zu ihr hinunter und streichelte ihr über das Köpfchen, dabei berührte sie mit den weiten Ärmeln des Morgenrocks das Gesicht der Kleinen. An die Ärmel waren künstliche Federn angenäht und diese Federn kitzelten das kleine Mädchen an der Nase, sie musste niesen und Lene begann daraufhin erneut das Näschen zu kitzeln und die Kleine prustete, nieste und verschluckte sich, nieste wieder und fing quietschend an zu lachen. Sie jauchzte und krähte vor Vergnügen, als Lene das Spiel immer weiter trieb, und plötzlich war der kahle, schäbige Raum erfüllt vom Lachen des Kindes, das hoch und höher stieg, bis es das ganze Zimmer ausfüllte und sich um die Menschen legte, die in diesem Zimmer standen und atemlos das Kind betrachteten, das sich ganz diesem unschuldigen Spaß hingab.

Das Lachen verebbte, als Lene endlich aufhörte, aber es klang immer noch nach und plötzlich hob Frau Weckerlin zaghaft ihren Arm, sie streckte ihn wahrhaftig Lene entgegen, die ihn nach kurzem Zögern ergriff. Beide Frauen zogen sofort ihre Hände wieder zurück, als seien sie über sich selbst erschrocken. Aber es war doch etwas passiert, denn in die kurze Stille hinein sagte Lene plötzlich: »Mein Gott, Johannes, was stehst du hier herum mit deiner Milch wie ein Ölgötze?«

Das Wort »Milch« hatte die Kleine elektrisiert, sie begann wieder mit ihrem Geschrei. Lene nahm Johannes sanft den Milchtopf aus den Händen und holte zwei Becher, in die sie etwas von der Milch goss. Den größeren reichte sie Johannes und den kleineren reichte sie dem Mädchen, das schnell danach griff und gierig und schmatzend trank.

»Lassen Sie nur«, wehrte sie Frau Weckerlin ab, die rasch dazutrat und ihrer Tochter den Becher wieder wegnehmen wollte. »Der Johannes kann das sowieso nicht alles auf einmal trinken und Sie können ihm später etwas Milch zurückgeben.« Dann beugte sie sich zu Wilhelm hinüber, der immer noch fast atemlos mit weit aufgerissenen Augen dasaß.

»Willst du auch etwas?«, fragte Lene, und als Wilhelm schnell nickte, schob sie ihm einen weiteren Becher mit Milch hinüber, den Wilhelm zögernd ergriff und dann in einem einzigen Zug austrank. Mit einem fragenden Blick drehte Lene den Kopf zu Friedrich, aber der starrte verbissen auf die weiß gescheuerte Tischplatte und schüttelte auf ihre stumme Frage schnell den Kopf. Wie ein Stich fuhr Johannes dieses Kopfschütteln ins Herz.

Aber Frau Weckerlin hatte aufgegeben, hatte ihren Stolz weggeworfen, wie sie jetzt auf dem Stuhl neben ihrer kleinen Tochter saß, die immer noch gierig und schmatzend ihre Milch trank. Johannes konnte es an ihren Händen sehen, die kraftlos im Schoß lagen, und an der Haltung ihres Kopfes, der nach vorne hing, als sei er zu schwer geworden für diesen schmalen Körper im schwarzen Taft.

Auch Lene schien das zu spüren, denn sie sagte auf einmal mit heiserer Stimme, ohne jemanden besonders anzusprechen: »Es ist schwer hier, vor allem für die Kinder. Aber man kommt durch, irgendwie geht es. Und für die Kinder muss man Hoffnung haben.« Sie starrte für einen Moment auf ihren schweren Bauch, dann lächelte sie und trotz einiger fehlender Zähne sah sie plötzlich richtig schön aus. »Und wir halten auch zusammen, so gut es geht. Nicht wahr, Johannes?«

Als habe er ein geheimes Zeichen erhalten, nahm Johannes den Topf und goss der Kleinen noch einmal ein. Er nickte und sagte leise: »Sie können sie mir ja später wiedergeben.« Instinktiv griff er noch einmal Lenes Worte auf, denn er spürte, dass das für Frau Weckerlin wichtig war. Es war eine letzte Schranke, die sie brauchte, hinter der sie sich einrichten konnte, hier mitten unter ihnen. Ermutigt fuhr Johannes fort: »Ich gehe nachher hinauf in den Wald. Auf dem Katzenbuckel gibt es noch Brombeeren. Ich weiß ein paar gute Stellen. Die Guste und der Ludwig und der Otto von den Mühlbecks gehen auch mit. Wir verkaufen sie dann in Wildbad, im ›Badhotel‹, dort zahlen sie zwanzig Pfennig für das Pfund. Das ist viel, weil es späte Beeren sind.«

Er zögerte, sah in Friedrichs Richtung und fragte dann stockend: »Möchtest du nicht mitkommen? Wir teilen das Geld. Und in der Sonne ist es schön dort oben, und …«