Cover




Kevin Brooks

Travis Delaney

Wem kannst du trauen

Roman

Aus dem Englischen von
Uwe-Michael Gutzschhahn

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Kevin Brooks

Kevin Brooks, geboren 1959, wuchs in einem kleinen Ort namens Pinhoe in der Nähe von Exeter/Südengland auf. Er studierte in Birmingham und London. Sein Geld verdiente er lange Zeit mit Gelegenheitsjobs. Seit dem überwältigenden Erfolg seines Debütromans ›Martyn Pig‹ ist er freier Schriftsteller. Für seine Arbeiten wurde er mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet, u. a. mehrfach mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis sowie der Carnegie Medal für ›Bunker Diary‹. Seit 2011 schreibt er auch Kriminalromane für Erwachsene.

 

 

Uwe-Michael Gutzschhahn, geboren 1952, hat alle auf Deutsch erschienenen Bücher von Kevin Brooks übersetzt. Er studierte deutsche und englische Literatur in Bochum und lebt als Übersetzer und Autor, Herausgeber und freier Lektor in München.

Über das Buch

Travis weiß, dass der Tod seiner Eltern kein Unfall war.
Und dass er der Einzige ist, der die Wahrheit herausfinden kann …

 

Nach dem Tod seiner Eltern will Travis sein Leben wieder in den Griff bekommen. Doch dann wird Courtney, seine Ermittlungspartnerin in der Detektei Delaney & Co., angegriffen. Ob er will oder nicht, Travis wird hineingezogen in ein Netz aus Lügen, Geheimnissen, korrupten Polizisten und Geheimorganisationen. Und im Zentrum des Netzes gibt es einen Verräter. Jemanden, dem er vertraut …

Impressum

Deutsche Erstausgabe

2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2014 Kevin Brooks

Titel der englischen Originalausgabe:

›Travis Delaney – The Danger Game‹,

2014 erschienen bei Macmillan Children’s Books,

a division of Macmillan Publishers Ltd., London

© der deutschsprachigen Ausgabe:

2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: buxdesign, München

Umschlagbild: Plainpicture und Istock (Junge)

Lektorat: Beate Schäfer

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43018-0 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71702-1

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423430180








Für Teeny –

du hast einen besonderen Platz in meinem Herzen.

1

Es war kurz nach halb vier, an einem kalten, verregneten Freitagnachmittag, als Kendal Price auf mich zukam und sagte, er würde gern mit mir reden. Ich hatte gerade eine Doppelstunde Sport hinter mir – halbe Stunde Aufwärmen, dann eine halbe Stunde Fußballtraining und danach zwei Spiele sieben gegen sieben, jedes zwanzig Minuten lang. Ich war total eingesaut, ausgepowert, und auch wenn mir noch immer der Schweiß lief, zog doch der eisige Wind, der über die Sportplätze blies, langsam in meine Knochen. Deshalb sehnte ich mich einfach danach, in die Umkleide zu kommen, meine verdreckten Fußballklamotten loszuwerden und kurz zu duschen. Genau das sagte ich auch zu Kendal, als er mich direkt vor der Tür der Umkleide einholte und meinte, er wolle mit mir was bereden.

»Ich zieh mich nur eben schnell um, ja?«, erklärte ich ihm und rieb mir die Arme. »Es ist eisig hier draußen.«

»Jetzt gleich wär mir lieber«, antwortete er.

»Dauert nur zehn Minuten. Hat es so lange nicht Zeit?«

»Nein«, sagte er bloß.

Wenn es jemand anderes gewesen wäre, hätte ich mich wahrscheinlich geweigert. Wenn du mit mir reden willst, hätte ich gesagt, musst du warten. Aber das hier war niemand anderes, das hier war Kendal Price.

Jungen wie Kendal gibt es auf jeder Schule – Allround-Superstars, die in allem brillieren, ohne sich groß anzustrengen. Kendal ist Kapitän der Fußball- und der Cricket-Mannschaft unserer Schule, ein Topschüler, klug, beliebt, attraktiv. Die Lehrer finden ihn großartig und halten ihn uns andern ständig als »leuchtendes Beispiel« vor Augen. Alle Mädchen stehen auf ihn, weil er groß, blond und gutaussehend ist. Und alle Jungs mögen ihn (oder beneiden ihn zumindest), nicht nur, weil er wirklich gut Fußball und Cricket spielt, sondern auch, weil er echt tough und mutig ist, auf dem Platz genauso wie außerhalb. Das heißt, obwohl er ein Topschüler und der Liebling aller Lehrer ist – was ihn normalerweise zum perfekten Mobbingopfer machen würde –, legt sich niemand mit ihm an. Jedenfalls keiner, der weiß, was gut für ihn ist. Genau genommen ist Kendal so ein Allround-Held, dass sogar die wirklich harten Typen – die, die behaupten, ihn auf den Tod nicht leiden zu können – weiche Knie kriegen, wenn sie ihm gegenüberstehen.

Ich selber habe mir nie viel aus ihm gemacht, weder auf die eine noch auf die andere Weise. Ich küsse nicht den Boden, über den er schreitet, aber ich verachte oder beneide ihn auch nicht. Er ist, was er ist, und tut, was er tut, und solange mich das nicht tangiert, beschäftige ich mich auch nicht groß mit ihm. Wobei ich zugeben muss, dass es mir wahrscheinlich doch einen kleinen Kick gegeben hätte, wenn Kendal im letzten Trimester mit der Frage auf mich zugekommen wäre, ob er kurz mit mir reden könne.

Aber in ein paar Monaten kann sich allerhand ändern und während der Sommerferien war so viel geschehen, dass ich inzwischen ein ganz anderer Mensch war. Meine Welt war auf den Kopf gestellt worden, meine Lebensauffassung hatte sich vollkommen gewandelt und ich hatte auf die harte Tour gelernt, dass die meisten Dinge, die uns zu schaffen machen, in Wirklichkeit nicht der Rede wert sind.

Das heißt, als mich Kendal an jenem Nachmittag ansprach, gab mir das überhaupt keinen Kick und ich war auch nicht eingeschüchtert oder geschmeichelt. Mir war egal, ob allein schon die Tatsache, dass er mit mir sprach, mein Ansehen hob und mich cool wirken ließ. Es kümmerte mich kein bisschen, ob ich cool wirkte. So was war für mich einfach nicht mehr wichtig.

Wieso sagte ich Kendal dann nicht, dass er warten müsse, wenn er unbedingt mit mir reden wolle?

Weil ich neugierig war, deshalb. Und Neugier gehörte immer noch zu den Dingen, die mir etwas bedeuteten.

Fragen wie: Warum in aller Welt wollte der allheilige Kendal Price mit mir reden? Was wollte er von mir? Und warum war er so versessen darauf, sofort mit mir zu sprechen, bevor ich mich umziehen ging?

Fragen hatten mich in dem Höllensommer, der hinter mir lag, am Leben gehalten und ich hatte nicht vor, gerade jetzt aufzuhören, welche zu stellen.

2

»Tut mir leid, das mit deinen Eltern«, sagte Kendal. »Muss echt hart für dich gewesen sein.«

Vor vier Monaten waren meine Eltern bei einem Autounfall gestorben und ich hatte mich inzwischen so an Beileidsbekundungen gewöhnt, dass meine Reaktion automatisch kam – ein zur Kenntnis nehmendes Kopfnicken und ein Blick, der besagte: Danke, ich weiß die Anteilnahme zu schätzen.

Kendal reagierte erst einmal wie die meisten – ein trauriges Zurücknicken, gefolgt von verlegenem Schweigen. Ich ließ das Schweigen in der Luft hängen und schaute über die Sportanlagen. Wir waren zu einer Bank am Rand eines kleinen Parkplatzes vor der Umkleide gegangen. Von dort, wo wir saßen, konnte ich die Mädchenumkleide auf der anderen Seite des Schulgeländes sehen. Es gab drei große Fußballfelder, einen weiteren Platz für kleine Matches mit fünf oder sieben Spielern pro Mannschaft und eine Laufbahn, die wohl bis zum nächsten Jahr nicht mehr benutzt werden würde. Ein feiner Novemberregen trieb über die Plätze und ein paar Schüler in schlammverschmierten Fußballtrikots liefen eilig zurück in die Umkleide, um so schnell wie möglich aus der Kälte zu kommen.

Auch Kendal trug immer noch seine Fußballsachen – er hatte gerade mit der U15-Mannschaft gegen eine französische Gastschule gespielt –, aber es schien ihn nicht weiter zu stören, dass er genauso durchnässt und versifft war wie alle andern. Oder wenn doch, dann gelang es ihm jedenfalls perfekt, das zu kaschieren.

»Du wohnst nicht mehr in dem Haus in Kell Cross, oder?«, fragte er beiläufig.

Ich sah ihn an, ein wenig überrascht, dass er nicht das Thema gewechselt hatte. Die meisten Menschen gehen, wenn sie ihre Beileidsbekundungen losgeworden sind, so schnell wie möglich zu etwas anderem über. Aber wie ich schon sagte, Kendal war nicht wie die meisten.

»Ich wohn jetzt bei meinen Großeltern«, erklärte ich.

»Wie klappt das?«

»Gut.«

Er nickte nachdenklich und tat so, als wäre er ernsthaft an meinem Wohlergehen interessiert, doch es war nicht schwer, ihn zu durchschauen. Wenn er vor vier Monaten damit angekommen wäre, hätte ich ihm vielleicht geglaubt und wäre dankbar gewesen für sein Mitgefühl und seine Fürsorge, aber bis zu diesem Tag hatte er mich kaum eines Blickes gewürdigt, geschweige denn mit mir gesprochen oder sich für meine persönliche Situation interessiert. Deshalb war ich mir ziemlich sicher, dass ein anderes Motiv dahintersteckte. Ich war nur neugierig, herauszufinden, was er tatsächlich wollte.

»Deine Eltern waren Privatdetektive, stimmt’s?«, fragte er, als ob ihm der Gedanke gerade erst gekommen wäre.

»Ja«, antwortete ich. »Sie hatten eine Detektei, Delaney & Co.«

»Was ist aus der Detektei geworden?«

»Mein Großvater hat sie übernommen.«

»Verstehe …«, sagte Kendal und nickte wieder ein paarmal nachdenklich. »Und du hast selbst auch immer noch mit der Detektivarbeit zu tun?«

Ich seufzte. Mir reichte es langsam. Ich sah ihn scharf an und fragte: »Sagst du mir jetzt endlich, worum es geht? Weil … ich weiß nicht, wie es mit dir ist, aber mir wird hier draußen langsam echt kalt.«

Einen Augenblick lang war er verblüfft über meine Direktheit, doch er fasste sich schnell. »Also gut, pass auf«, sagte er, »bevor ich dir etwas erzähle, musst du mir versprechen, dass du es für dich behältst. Es ist absolut wichtig, dass kein Wort nach außen dringt.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann überhaupt nichts versprechen.«

»Wieso nicht?«

»Ich weiß ja gar nicht, was du mir erzählen wirst. Könnte doch sein, du willst mir einen Mord gestehen oder sonst was.«

Kendal lächelte. »Nicht sehr wahrscheinlich, oder?«

»Auch Superstars können Mörder sein«, erwiderte ich und grinste ihn an.

Ich dachte, er würde vielleicht beleidigt reagieren – bestimmt war er es nicht gewohnt, dass sich jemand über seinen Status lustig machte –, aber zu seinen Gunsten muss ich sagen, er steckte es sehr gut weg. Ich glaube zwar nicht, dass ihm meine Bemerkung gefiel, doch er machte kein großes Aufhebens. Er warf mir nur so einen herablassenden Blick zu, wie ihn Erwachsene draufhaben, wenn sie einen für kindisch halten. Was irgendwie komisch wirkte, denn Kendal war ja überhaupt nicht erwachsen. Doch auch wenn wir beide ungefähr gleich alt waren, gab es nicht den geringsten Zweifel, dass Kendal mir weit voraus war. Zunächst mal war er viel größer – an die eins achtzig – und auch viel behaarter. Haare an den Beinen, Haare an den Armen, Haare über der Oberlippe, Koteletten. Seine Stimme war tief, sein Gesicht markant und wissend und er strahlte ein Selbstvertrauen aus, von dem ich nur träumen konnte.

Verglichen mit Kendal war ich bloß ein Kind.

Was mir früher echt schwer zu schaffen gemacht hätte.

Aber jetzt nicht mehr.

»Okay«, meinte Kendal in geschäftsmäßigem Ton. »Wie wär’s damit: Du versprichst mir, dass du nichts über unser Gespräch preisgibst, es sei denn, ich sage dir etwas, das dich rechtlich in eine heikle Situation bringt. Ist das für dich akzeptabel?«

»Absolut.«

Er sah mich an, um zu prüfen, ob ich ihn ernst nahm, und dann begann er zu erzählen, worum es ging.

3

Die kleinen Diebstähle in der Umkleide der Jungs hätten im Oktober begonnen, erklärte Kendal. Das erste Mal war es bei einem U14-Spiel zwischen unserer Schule – der Kell Cross Secondary – und der Barton Grammar passiert, unseren stärksten Rivalen. Dann, ein paar Wochen später, passierte es wieder, diesmal bei einem U15-Spiel gegen Seaton College.

»Ehrlich gesagt haben wir es da noch nicht besonders ernst genommen«, sagte Kendal. »Zum einen, weil nichts wirklich Wertvolles gestohlen wurde, zum andern, weil die Jungs, denen die Sachen gehörten, nicht mal sicher waren, ob ihnen das Zeug tatsächlich geklaut worden war.«

»Was waren es denn für Sachen?«, fragte ich.

Kendal runzelte die Stirn. »Das ist ja das Komische. Beim ersten Mal war es eine Graphic Novel und beim nächsten Mal eine Kappe … du weißt schon, so eine Baseballkappe. Sonst nichts. Kein Geld, kein Handy, keine Uhr, nichts. Deshalb haben wir uns wie gesagt keine großen Sorgen gemacht.«

»Was heißt ›wir‹?«

»Mr Jago und ich. Die Schüler haben es natürlich zuerst Mr Jago erzählt und er ist dann zu mir gekommen.«

John Jago war der oberste Sportlehrer an unserer Schule. Er war nicht nur für den gesamten Schulsport verantwortlich, sondern trainierte auch persönlich alle Fußball- und Cricket-Mannschaften von den U14-Spielern aufwärts. Er war besessen, was den sportlichen Ruf der Schule anging, und verbrachte viel Zeit mit unseren begabtesten Talenten. Auch Kendal gehörte zu seinen Schützlingen und er behandelte ihn wie einen getreuen Leutnant.

»Wie auch immer«, fuhr Kendal fort, »als das mit den Diebstählen nach den Ferien weiterging und schon bald immer häufiger passierte, wurde uns klar, dass wir irgendwas unternehmen mussten.«

»Waren es wieder so ähnliche Sachen?«

Er nickte. »Ein Buch, ein Schal, noch eine Kappe … meistens, wenn wir gegen eine andere Schule spielten, aber in dieser Woche hat ein Junge nach einem ganz gewöhnlichen Trainingsspiel auf einmal seinen Gürtel vermisst.«

»Ist in der Mädchenumkleide auch mal was weggekommen?«

»Haben wir nichts von gehört.«

»Und die Umkleide ist abgeschlossen, wenn niemand reinmuss? Ich meine, man kommt da nicht rein, solange nicht jemand den Sicherheitscode eingibt?«

»Ja, und der Code ändert sich jeden Tag.«

»Was ist mit der Tür drinnen, die die Umkleide der eigenen mit der der Auswärtsmannschaft verbindet?«

»Wenn es keinen speziellen Grund gibt, sie aufzusperren, ist sie immer abgeschlossen. Mr Jago hat einen Schlüssel und ein zweiter hängt im Sekretariat beim Direx.«

»Irgendwelche Hinweise, dass sich jemand gewaltsam Zugang verschafft hat?«

»Wir haben keine gefunden.«

»Kein eingeschlagenes Fenster oder aufgebrochenes Schloss?«

»Nichts.«

»Habt ihr die Polizei informiert?«

»Bis jetzt nicht.«

»Wieso nicht?«

Kendal sah mich nur an, als ob die Antwort auf der Hand läge.

»Der Partnerstadt-Pokal?«, fragte ich.

»Genau.«

 

Der Partnerstadt-Pokal ist ein Schulturnier, das alle zwei Jahre ausgetragen wird. Vier Fußballteams aus Barton – der Stadt, wo ich wohne – stellen sich vier Mannschaften aus den zwei Partnerstädten: Wetzlar in Deutschland und Rennes in Frankreich. Der Austragungsort wechselt jedes Jahr und diesmal war zum ersten Mal Kell Cross der Gastgeber. Das Ganze war eine ziemlich große Angelegenheit für die Schule, sie mussten Sponsoren suchen, Pressearbeit machen und so weiter. Lehrerschaft und Schulverwaltung hatten seit Monaten an den Reise- und Unterkunftsplänen getüftelt. Das Turnier dauert fast zwei Wochen. In der ersten Woche werden die acht Mannschaften in zwei Gruppen zu je vier Teams aufgeteilt und jede Mannschaft spielt gegen die drei andern ihrer Gruppe. Die beiden Topteams jeder Gruppe kommen dann in die K.-o.-Runde – was dem Halbfinale entspricht – und die Gewinner der Halbfinalspiele treten danach im Finale gegeneinander an.

Heute hatten die Abschlussspiele der Gruppenphase stattgefunden. Nachdem sie am Nachmittag das französische Team geschlagen hatten, war Kell Cross Gruppenerster und musste im Halbfinale gegen die Zweiten der anderen Gruppe spielen.

 

»Wir wissen nicht, wer hinter den Diebstählen steckt«, erklärte mir Kendal. »Kann ein Schüler sein oder jemand von außen. Solange alles derart unklar ist, versuchen wir lieber, die Sache selber zu klären, anstatt die Polizei zu rufen.« Er sah mich an. »Ich meine, stell dir mal vor, wie peinlich das für die Schule wär, wenn plötzlich die Polizei hier aufkreuzt und mitten im Partnerstadt-Turnier jemanden festnimmt. Das hängt uns für immer und ewig nach.«

»Wieso stellt ihr nicht einfach einen Wachposten vor die Umkleiden?«, schlug ich vor. »Zwei Lehrer oder von mir aus zwei Schüler aus der Zwölf, einen vor jede Tür. Dann kommt keiner mehr rein.«

»Genau das haben wir getan. Aber es hat nichts gebracht.«

»Es sind trotzdem Sachen verschwunden?«

»Ja.«

»Aber wie zum Teufel kommt da jemand rein?«

»Das genau sollst du rausfinden.«

4

Nach dem Umziehen hatte ich sowieso ins Büro von Delaney & Co. fahren wollen, also sagte ich Kendal, ich würde nachher gleich mit meinem Großvater und seiner Geschäftspartnerin Courtney Lane über die Sache reden.

»Ich weiß nicht, wie viel sie im Moment zu tun haben«, erklärte ich ihm, »aber ich verspreche dir, sie werden schnellstmöglich etwas unternehmen –«

»Das ist nicht das, was wir wollen«, unterbrach mich Kendal.

»Was soll das heißen?«

»Es soll so wenig Wirbel geben wie möglich. Wenn wir jemanden offiziell beauftragen, dringt früher oder später doch irgendwas durch.«

»Und was wollt ihr stattdessen?«

»Wir hatten gehofft, du könntest das machen.«

»Ich?«

»Du hast doch gesagt, du bist immer noch in dem Detektivgeschäft drin.«

»Ja, schon …«

»Traust du dir zu, das selbst in die Hand zu nehmen?«

Ich überlegte einen Moment, worauf es bei dem Job ankam und ob ich allein dazu in der Lage wäre. Es dauerte nicht lange.

»Ja«, erklärte ich Kendal. »Ich seh keinen Grund, wieso ich das nicht schaffen sollte.«

»Und du wärst auch mit einem mündlichen Vertrag einverstanden?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn ihr’s so wollt.«

»Und du garantierst absolute Vertraulichkeit?«

»Ich muss den Job wenigstens mit meinem Großvater und seiner Geschäftspartnerin durchsprechen.«

»Aber sonst erfährt niemand etwas?«

»Nein.«

»Und was ist mit der Bezahlung? Wir würden gern alles Finanzielle unter der Hand regeln, aber ich denke, wir finden schon eine Lösung.«

»Ich will kein Geld«, sagte ich.

»Echt? Na ja, das ist wirklich nett von dir –«

»Ich will bloß die schriftliche Garantie aller Lehrer, dass ich dieses Jahr nur noch Topnoten kriege.«

Kendals Augen verengten sich ungläubig.

»War ein Witz«, sagte ich grinsend.

Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Sehr komisch.«

Langsam wurde mir klar, dass Kendal bei aller Perfektheit eines nicht besaß, nämlich Sinn für Humor.

»Hast du mit Mr Jago besprochen, wie ich vorgehen soll?«, fragte ich ihn.

»Wir haben beschlossen, dass wir die praktischen Details am besten dir überlassen, aber Mr Jago will dich für die Spiele nächste Woche in die U15-Mannschaft nehmen. So bist du immer in der Nähe, wenn die Spiele laufen, und kannst leichter ein Auge auf alles haben.«

»Er will, dass ich für die U15 spiele?«

»Ja, und?«, sagte Kendal und amüsierte sich über mein Erstaunen. »Meinst du, du bist nicht gut genug?«

»Ich weiß, dass ich nicht gut genug bin.«

Es hatte nichts mit Bescheidenheit zu tun oder so. Ich sagte einfach die Wahrheit. Klar mag ich Fußball – ich spiele gerne selbst und gucke auch gerne zu –, doch ich bin auf keinen Fall gut. Der einzige Sport, den ich wirklich beherrsche, ist Boxen.

»Du hast doch schon ein paarmal bei der B-Mannschaft im Tor gestanden, oder?«, sagte Kendal.

»Aber nur, weil der eigentliche Torwart verletzt war. Für die erste Mannschaft reicht es bei mir auf gar keinen Fall.«

»Mach dir mal darum keine Sorgen«, erklärte Kendal. »Du sollst ja auch nicht spielen, sondern nur Mitglied der Mannschaft sein.«

»Als Ersatzspieler?«

»Genau.«

»Wie viele gehören zur Mannschaft?«

»Sechzehn.«

»Das heißt, es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass ich spielen muss.«

»Absolut.«

Ich nickte. Wenn sichergestellt war, dass ich nicht zum Einsatz kam, war es auf jeden Fall vernünftig, mich als Ersatzspieler in die Mannschaft zu nehmen. Es lieferte mir die perfekte Tarnung für meine Nachforschungen, ohne die Chancen des Teams zu gefährden. Aber auch wenn ich ganz genau wusste, dass mein Können nicht ausreichte, um tatsächlich mitzuspielen, war ich doch ein bisschen enttäuscht.

»Hast du schon irgendeine Idee, wie du den Dieb schnappen willst?«, fragte Kendal.

»Mit versteckten Überwachungskameras sollte das kein Problem sein«, erklärte ich und schob meine irrationale Enttäuschung eilig beiseite. »Eine Kamera in jedem Raum. Ich kann sie mit meinem Handy verbinden –«

»Kommt nicht infrage«, sagte Kendal.

»Wieso nicht?«

»Denk doch mal nach.«

Ich dachte drüber nach und begriff fast im selben Moment, was für eine absolut dämliche Idee das war. Versteckte Überwachungskameras in einer Schulumkleide? Na klar. Das gab ja null Probleme.

»Also keine Kameras«, sagte ich etwas kleinlaut.

»Keine Kameras«, stimmte Kendal zu.

»Dann muss es wohl eine Art Bewegungssensor sein, idealerweise mit WLAN-Verbindung zu meinem Handy.« Ich schwieg und überlegte, ob sich das machen ließe. »Ich bin nicht sicher, was wir im Moment an Ausrüstung im Büro haben. Vielleicht muss ich eine der üblichen Wanzen ein bisschen anpassen.« Ich schaute auf meine Uhr. »Ich hör mal, was mein Großvater zu sagen hat, und melde mich so schnell wie möglich bei dir.«

»Ich geb dir meine Handynummer.«

»Vielleicht müsste ich übers Wochenende in die Umkleideräume.«

»Kein Problem. Ich sag Mr Jago Bescheid. Brauchst du sonst noch was?«

»Wer außer dir und Mr Jago weiß noch über die Diebstähle Bescheid?«

»Na ja, die Jungs, deren Sachen gestohlen wurden, wissen es natürlich, und bestimmt haben sie auch mit ihren Freunden drüber gesprochen, das kann man ja schlecht verhindern. Außerdem die Lehrer, die die Türen bewacht haben – Mr Wells und Mr Ayres.«

»Weiß noch irgendjemand, dass ich die Diebstähle untersuchen soll?«

»Nein.«

»Nicht mal der Direktor?«

»Er weiß, dass sich Mr Jago drum kümmert – er hat ihn ausdrücklich darum gebeten –, aber Details wollte er nicht hören.«

»Das heißt, wenn irgendwas schiefgeht, ist er außen vor?«

Kendal antwortete nicht, was so gut wie ein Ja war. Der Direktor sorgte sich nicht nur um den Ruf der Schule, sondern auch um seinen eigenen.

»Also gut«, sagte ich, stand auf und rieb mir wieder die Arme. »Ich zieh mich jetzt um, bevor ich erfriere.«

Auch Kendal erhob sich. »Ich geb dir noch meine Nummer.«

Während wir zur Umkleide zurückgingen, sah ich, wie ein paar Schüler zu uns herüberschauten und tuschelten. Garantiert würde sich das Gerücht schnell verbreiten – Delaney hängt jetzt mit Kendal rum … Kendal hat einen neuen Kumpel …

Ich grinste still in mich hinein.

5

Barton liegt ungefähr fünf Kilometer von Kell Cross entfernt. Bis ich geduscht und mich angezogen hatte und danach mit dem Rad in die Stadt gefahren war, ging es bereits auf fünf Uhr zu. Delaney & Co. hat sein Büro im North Walk, einer autofreien Straße am Rand der City, da, wo nicht mehr viel los ist. Viele kleine Läden und Firmen hatten bereits geschlossen oder machten gerade zu, als ich mein Rad in Richtung der Detektei schob, und es herrschte so eine merkwürdig gedämpfte Feierabendstimmung. Es war dunkel, die Straßenlampen leuchteten orange. Die Schritte der Büroangestellten, die auf dem Heimweg waren, hallten dumpf durch die Straßen und alles hatte etwas Müdes, Erschöpftes an sich. Es war fast, als ob die Stadt selbst nach einem langen und schweren Arbeitstag einen Gang runterschaltete. In ein paar Stunden würde die Nachtschicht losgehen und die Stadt wieder zu neuem Leben erwachen, aber bis dahin schien sie sich hinzusetzen, die Beine hochzulegen und eine dringend benötigte Pause zu machen.

Delaney & Co. teilt sich ein kleines Bürogebäude mit zwei anderen Firmen. Wir sind im Erdgeschoss, das Sonnenstudio Tantastic Tanning ist im ersten Stock und im zweiten gibt es noch das Rechtsanwaltsbüro Jakes & Mortimer.

Ich öffnete die Haustür und schob mein Rad durch den Flur. Als ich es vor dem Büro von Delaney & Co. an die Wand lehnte, hörte ich plötzlich Schritte die Treppe herunterkommen. Das Sonnenstudio schließt gewöhnlich um vier, also musste es jemand von Jakes & Mortimer sein. Instinktiv schaute ich nach oben, doch gerade, als auf der Treppe zwei Beine auftauchten, rutschte meine Lenkstange an der Wand ab, das Vorderrad drehte sich nach außen und das ganze Fahrrad kippte wie in Zeitlupe nach vorn und glitt zu Boden. Ich sprang vor und versuchte, es noch zu fassen zu kriegen, bevor es hinknallte, doch stieß mir das vordere Kettenblatt voll gegen das Schienbein. Es war kein besonders heftiger Schlag, aber an dieser empfindlichen Stelle tat er höllisch weh. Ich stieß einen spitzen Schmerzensschrei aus und fluchte, dann beugte ich mich nach unten und wickelte das Hosenbein hoch, um den Schaden zu begutachten.

»Alles okay?«, hörte ich jemanden sagen.

Ich schaute auf und sah ein Mädchen mit hochhackigen Stiefeln, das über mir auf der Treppe stand. Sie musste so sechzehn oder siebzehn sein. Kurze blonde Haare, stark geschminkte Augen und atemberaubend schön. Zu den High Heels trug sie einen schwarzen Minirock und eine kurze schwarze Jacke, außerdem hatte sie eine Handtasche dabei und einen Armvoll Post.

»Ich bin Bianca«, sagte sie und lächelte mich an. »Die neue Sekretärin von Mr Mortimer. Hab vorletzte Woche hier angefangen.«

»Ah, verstehe …«, murmelte ich, rollte das Hosenbein wieder runter und richtete mich auf. »Ich bin Travis … Travis Delaney.« Dabei deutete ich dümmlich auf die Eingangstür zum Büro, als ob das alles erklären würde.

»Alles in Ordnung mit deinem Bein?«, fragte Bianca.

»Ja … ja, nichts passiert.«

Sie grinste. »Hat aber nicht so geklungen.«

Ich starrte sie bloß an, unfähig zu einer Antwort. Mein Kopf war total leer. Und als ob das nicht reichte, spürte ich auch noch, wie ich rot wurde. Mein Gesicht fühlte sich glühend heiß an. In dem vergeblichen Versuch, mich zu fassen, senkte ich den Blick zu Boden und genau da sah ich, dass ich das Hosenbein nicht ordentlich runtergerollt hatte. Ich stand also mit roter Birne und halb aufgerolltem Hosenbein da, murmelte zusammenhangloses Zeug und wedelte mit der Hand, während das Fahrrad zu meinen Füßen lag.

Super, Travis, dachte ich mir. Du hast es wirklich drauf, Frauen zu beeindrucken.

»Na gut«, sagte Bianca. »Ich geh dann mal besser, bevor die Post zumacht. War nett, dich kennenzulernen, Travis.«

Ich schaute hoch und versuchte verzweifelt, die Situation mit irgendeinem coolen Spruch zu retten, doch während Bianca anmutig zur Tür schritt und mit einem ungezwungenen Lächeln zu mir zurückschaute, brachte ich nur ein dümmlich wirkendes Grinsen und ein weiteres albernes Wedeln mit der Hand zustande.

Ich sah zu, wie sie hinausging und die Tür schloss, danach schüttelte ich bloß den Kopf, stieß einen Seufzer aus und beugte mich nach unten, um mein Fahrrad aufzuheben.

6

Bevor er sich 1994 selbstständig machte und Delaney & Co. gründete, hatte mein Großvater fünf Jahre bei der Militärpolizei und zwölf Jahre als Offizier beim militärischen Geheimdienst gearbeitet. Meine Eltern waren gleich nach der Uni bei ihm eingestiegen, und als sich Großvater vor etwa zehn Jahren aus dem Geschäft zurückzog, hatten sie die Detektei zusammen weitergeführt. Deshalb hatte Delaney & Co. immer eine große Bedeutung in meinem Leben gehabt und ich war mehr oder weniger mit dem Geschäft aufgewachsen – ich hatte ständig im Büro rumgehangen und meinen Eltern geholfen, wann immer sie mich ließen. Doch wie bei manchem, das wir für selbstverständlich halten, hatte ich erst nach dem verhängnisvollen Autounfall von Mum und Dad gemerkt, wie viel mir Delaney & Co. tatsächlich bedeutete. Das Geschäft verkörperte meine Eltern, es war unser Leben gewesen. Und die Vorstellung, dass das alles plötzlich nicht mehr existieren sollte, war für mich unerträglich.

Ich bin mir nicht sicher, wie ich Großvater davon überzeugt habe, seinen Ruhestand aufzugeben und Delaney & Co. wieder zu übernehmen – ehrlich gesagt weiß ich nicht mal, ob ich überhaupt den Ausschlag gegeben habe. Doch egal, was ihn überzeugt haben mochte, dass er es tatsächlich machte, war mir unendlich wichtig.

Auch wenn er zäher und klüger war als viele, die erst halb so alt sind, war Großvater trotzdem nicht mehr so leistungsfähig und gesund wie früher. Deshalb hatte er Courtney Lane gefragt, ob sie in die Firma einsteigen wolle. Courtney hatte bei meinen Eltern als Assistentin gearbeitet. Sie war erst Anfang zwanzig, aber supersportlich und unglaublich intelligent – gebildet und gewieft zugleich –, und sie entwickelte sich blitzschnell zu einer wirklich guten Privatdetektivin.

In den ersten Monaten, nachdem Großvater das Büro wiedereröffnet hatte, erledigte Courtney weiter den ganzen Telefon- und Papierkram, doch vor gut zwei Wochen hatte Großvater eine neue Assistentin eingestellt. Die Person, für die er sich entschied, war eine alte Bekannte aus seinen Geheimdienstzeiten, eine Frau namens Gloria Nightingale. Ich wusste nicht genau, wie alt Gloria war, aber ich nahm an, dass sie ähnlich wie Großvater um die zweiundsechzig, dreiundsechzig sein musste. Nicht steinalt, aber auf jeden Fall nicht mehr jung.

Als ich an diesem Nachmittag ins Büro kam, immer noch rot im Gesicht von meiner Begegnung mit Bianca, saß Gloria an ihrem Schreibtisch im großen Büro und tippte in ihren Laptop.

»Hallo, Travis«, sagte sie, schaute hoch und lächelte mich an. »Alles okay? Du siehst ein bisschen erhitzt aus.«

»Bin mit dem Rad gekommen«, erklärte ich ihr und versuchte, locker zu klingen.

»Oh, verstehe.« Sie warf einen Blick zum Fenster. »War das Bianca, die da gerade zur Post gegangen ist?«

»Glaub schon, ja.«

Gloria schaute wieder mich an. »Scheint ein nettes Mädchen zu sein, findest du nicht?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Kann sein …«

Glorias spöttischer Blick zeigte mir, dass sie ganz genau wusste, warum ich so rot geworden war, und dass sie sich auf meine Kosten amüsierte. Das war bestimmt nicht böse gemeint, und bei jedem anderen wäre es mir wahrscheinlich egal gewesen. Aber sie war niemand anderes, sie war Gloria, und mein Verhältnis zu ihr war, vorsichtig ausgedrückt, kompliziert.

 

Ungefähr eine Woche nachdem Gloria angefangen hatte, bei uns zu arbeiten, war ich eines Abends zufällig im Wohnzimmer gewesen und hatte meine Großeltern in der Küche über Gloria reden hören. Zuerst dachte ich, sie würden sich nur unterhalten, wie sie mit dem neuen Job zurechtkäme, doch bald wurde klar, dass Großvater gerade zum ersten Mal erzählte, dass er Gloria als Assistentin eingestellt hatte. Ehrlich gesagt war ich ganz schön geschockt. Großvater bespricht sonst alles mit meiner Großmutter und ich war natürlich davon ausgegangen, dass er sich auch wegen Gloria mit ihr beraten hatte. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum er es diesmal nicht getan hatte.

Großmutter klang überhaupt nicht begeistert. Am Anfang dachte ich, es läge nur daran, dass er nicht vorher mit ihr geredet hatte, doch dann sagte Großvater so was wie: »Hör zu, es tut mir leid, Schatz, ich versteh ja, wie du dich fühlen musst, aber –«

Und da war Großmutter an die Decke gegangen. »Weißt du das?«, hatte sie ihn angefaucht. »Weißt du das wirklich? Wie kommst du dann dazu, deine Exfreundin einzustellen? Einfach so, ohne mich zu fragen?«

Und dann war Großmutter beleidigt rausgestürmt und hatte Großvater in der Küche stehen gelassen – und mich im Wohnzimmer, völlig verwirrt. Seine Exfreundin? Gloria war mal mit Großvater zusammen gewesen?

Ich musste einfach herausfinden, was dahintersteckte, und ich wusste auch schon, wer dafür die perfekte Quelle war. Meine Urgroßmutter, Oma Nora, wohnt mit uns im Haus. Sie ist sechsundachtzig und leidet an chronischer Arthritis, deshalb verbringt sie die meiste Zeit oben in ihrem Zimmer, das wie eine eigene Wohnung ausgestattet ist. Nora ist Großvaters Mum, also weiß sie natürlich mehr über ihn als jeder andere und ich war sicher, dass sie ein paar Antworten hätte.

Normalerweise ist Oma nur allzu bereit, mit mir stundenlang über Gott und die Welt zu reden, doch als ich an dem Abend zu ihr kam, machte ihr die Arthritis mal wieder ziemlich zu schaffen und sie hatte große Schmerzen, also blieb ich nicht lange. Als sie hörte, was Großmutter über Gloria gesagt hatte, und ich sie fragte, was das denn hieße, setzte Oma nur ihr diabolisches Grinsen auf und sagte, das sei eine lange und komplizierte Geschichte, die sie mir ein andermal erzählen würde, wenn es ihr wieder besser ginge. Doch der Kern des Ganzen war, dass Gloria Nightingale tatsächlich für kurze Zeit Großvaters Freundin gewesen war, ehe er Großmutter kennenlernte und sie heiratete.

»Großmutter mag sie nicht, oder?«, fragte ich.

Oma Nora kicherte. »Jede Frau, die behauptet, sie käme mit der Exfreundin ihres Mannes klar, ist eine Lügnerin.«

 

So verhielt sich das also mit Gloria. Zu wissen, dass sie Großvaters Ex war, machte die Sache echt unangenehm, und ich wusste nicht recht, wie ich damit umgehen sollte. Seit meine Eltern tot waren, betrachtete ich Großmutter und Großvater in gewisser Weise als meine Ersatzeltern. Sie konnten natürlich Mum und Dad nie wirklich ersetzen – das war undenkbar – und waren auch nicht mein Ein und Alles, so wie es meine Eltern gewesen waren. Trotzdem hatte ich das Gefühl, zu ihnen zu gehören. Sie sorgten für mich, waren meine Familie, meine Welt. Und auch wenn Großvater nicht mein Dad war und Großmutter nicht meine Mum, fühlte sich das mit Großvater und Gloria doch so an, wie wenn du plötzlich herausfindest, dass ein Elternteil von dir viel Zeit mit jemandem verbringt, mit dem er mal ein Verhältnis hatte.

Wie ich schon sagte, es war einfach unangenehm.

Irgendwie nicht in Ordnung.

Ein bisschen schmierig, wenn du verstehst, was ich meine.

Es gefiel mir ganz einfach nicht. Und vor allem deshalb fühlte ich mich in Glorias Gegenwart ziemlich unwohl.

Ein weiterer Grund, zumindest am Anfang, war ihre Ausstrahlung. Sie wirkte ein bisschen hochnäsig und altmodisch, sie war eine dieser gepflegten älteren Damen, die sich immer korrekt kleiden – Tweedrock, feste Schuhe, Strickweste, Bluse, Perlenkette –, und hatte fast etwas Aristokratisches an sich, das erst mal einschüchternd wirkte. Doch wie Mum mal gesagt hatte: Man soll sich von der äußeren Erscheinung eines Menschen nicht in die Irre führen lassen. Und je mehr ich Gloria kennenlernte, desto mehr merkte ich, dass sie gar nicht so eine klassische vornehme Dame war. Vornehm wirkte sie schon irgendwie, das ließ sich nicht leugnen, aber sie hatte dabei nichts Hochnäsiges. Sie war absolut freundlich, manchmal auch ziemlich witzig und – vielleicht das Überraschendste – sie kannte sich besser mit moderner Technik aus als praktisch jeder, dem ich in meinem Leben begegnet war. Computer, Smartphones, Cyberspace, Überwachungsgeräte … es gab fast nichts, wovon sie keine Ahnung hatte.

Ich musste zugeben, Gloria war in vieler Hinsicht eine ziemlich coole alte Lady, und wenn ich nicht von ihrer Geschichte mit Großvater gewusst hätte und dem, was Großmutter darüber dachte, hätte ich es bestimmt völlig in Ordnung gefunden, dass sie in unserem Büro hockte.

Aber ich wusste nun mal von ihr und Großvater.

Und das fand ich nicht in Ordnung.

Immer wieder versuchte ich mir zu sagen, dass es war, wie es war, dass solche Dinge eben passierten und ich kein Recht hatte, irgendwen zu verurteilen.

Aber leider war das nicht so leicht, wie es klingt.

 

»Und, wie war der Tag?«, fragte ich Gloria an dem Nachmittag, nachdem sie mich wegen Bianca aufgezogen hatte. »Ist irgendwas Aufregendes passiert?«

»Dein Großvater sitzt schon den ganzen Nachmittag in seinem Büro«, erklärte sie mir und schaute zu der Tür, hinter der einmal das Zimmer von meinen Eltern gewesen war. »Und Courtney ist unterwegs wegen des Sonnenstudio-Falls.«

Ich ging zu den Mantelhaken neben Glorias Schreibtisch und hängte meinen Parka auf. »Und Sie?«, fragte ich, drehte mich um und warf einen Blick auf ihren Laptop-Bildschirm. »Arbeiten Sie an was Interessantem?«

»Geht dich nichts an, du neugieriger Vogel.« Eilig klappte sie den Laptop zu.

Auch wenn sie das ganz nebenbei machte, wirkte es doch ein bisschen merkwürdig. Um ehrlich zu sein, es ärgerte mich irgendwie. Delaney & Co. war der Laden von meinem Großvater und bis vor ein paar Monaten war es die Firma meiner Eltern gewesen. Da war es ja wohl absolut nicht in Ordnung für jemanden, der gerade mal ein paar Wochen hier arbeitete, irgendwelche Arbeitsdinge vor mir zu verstecken.

Doch dann dachte ich wieder, vielleicht war ich einfach zu empfindlich. Als Großvaters Sekretärin musste Gloria mit vielen vertraulichen Informationen umgehen und womöglich nahm sie ihre Verantwortung eben ein bisschen zu ernst. Oder es war etwas ganz anderes, was ich nicht sehen sollte, irgendwas Persönliches – ihre Facebook-Seite, eine private E-Mail oder so.

Dann ging die Bürotür auf, und als ich mich umdrehte und Courtney reinkommen sah, vergaß ich Gloria schnell. Courtney sieht immer ziemlich atemberaubend aus und heute fiel sie einem noch mehr ins Auge als sonst. Die eine Kopfseite war raspelkurz geschnitten, auf der anderen waren die Haare zu einer platinblonden Welle hochfrisiert. Ein rauchschwarzer Lidstrich umrahmte ihre Augen, die Lippen glänzten in leuchtendem Pink, dazu trug sie eine kurze Jeansshorts, eine gelb-rot gestreifte Strumpfhose und eine schwarze Bikerjacke über einem bauchfreien weißen Shirt.

»Hi, Travis«, sagte sie und lächelte strahlend. »Wie läuft’s?«

»Super, danke«, antwortete ich.

»Gut.« Sie grinste mich an. »Willst du mal sehen, was ich rausgefunden habe?«

7

Bei der Sonnenstudio-Geschichte, an der Courtney gearbeitet hatte, ging es anscheinend um eine ganz normale Schadenersatzklage. Jakes & Mortimer, die Anwaltskanzlei im obersten Stock, handelte im Auftrag einer jungen Frau, die nach eigener Aussage seit dem Besuch in einem Sonnenstudio namens Tanga Tans an einer Augenschädigung litt. Angeblich hatte man ihr keine Schutzbrille gegeben, die Zeituhr an der Sonnenbank sei defekt gewesen und die Mitarbeiter hätten sich unaufmerksam und unprofessionell verhalten. Jakes & Mortimer hatten ihren Fall übernommen und Delaney & Co. beauftragt, Tanga Tans unter die Lupe zu nehmen und Beweise zu finden, die die Anschuldigung ihrer Klientin stützten. Deshalb war Courtney am Nachmittag mit einer versteckten Minikamera in dem Studio gewesen und kam nun mit den Ergebnissen zurück.

Inzwischen teilte sie sich das ehemalige Büro meiner Eltern mit meinem Großvater, und als wir hineingingen, um das Überwachungsvideo anzuschauen, erwartete ich schon so halb, dass Gloria mitkäme. Doch während ich Courtney zu ihrem Schreibtisch folgte, ging Großvater hinaus ins vordere Büro und sprach einen Moment lang leise mit Gloria, und als er zurückkam, war Gloria nicht dabei. Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, und Großvater hatte sein ausdrucksloses Gesicht aufgesetzt, also brachte es nichts, ihn zu fragen. Doch es war nicht das erste Mal, dass er so etwas tat – hinausschleichen und heimlich mit Gloria reden –, und so langsam ging mir das echt auf die Nerven.

»Und, wie läuft es bei Tanga Tans?«, fragte er Courtney, als er zurückkam und sie gerade die Minikamera an ihren Laptop anschloss. »Ich meine, was ist dein Eindruck von dem Laden, im Großen und Ganzen?«

»Na ja, ist nicht gerade hochklassig«, antwortete sie. »Liegt in einer dieser miesen kleinen Seitenstraßen, die direkt von der Slade Lane abgehen, gar nicht weit von der Siedlung entfernt. Zwischen einem Hähnchengrill und einem Minicar-Büro. Ich will ja nicht gemein sein, aber ich würde da garantiert nicht hingehen, um meinen Teint aufzufrischen.«

Ich verstand, was sie meinte. Die Slade-Lane-Siedlung ist wirklich eine üble Gegend und die Leute, die dort wohnen, sind nicht gut auf Fremde zu sprechen. Selbst wenn du jemanden kennst, der dort wohnt, was bei mir der Fall ist, musst du ziemlich aufpassen.

»Also«, sagte Courtney und tippte auf eine Taste an ihrem Laptop. »Los geht’s.«

Ich schaute zu, wie das Videomaterial auf dem Bildschirm erschien. Zuerst sprang das Bild hin und her und ich wusste nicht recht, was ich sah, doch dann sagte Courtney: »Das Studio ist im ersten Stock. Das bin ich, wie ich die Treppe hochgeh.«

Danach beruhigte sich das Video und man konnte sehen, wie Courtney das Studio betrat und zum Empfangstresen ging. Nach dem, was zu erkennen war, wirkte es nicht so, als ob jemand allzu viel Geld reingesteckt hätte. Gegenüber dem Tresen gab es einen winzigen Wartebereich mit ein paar billig aussehenden Sesseln und einem schäbigen Tischchen, auf dem ein Stapel Zeitschriften lag. Der Raum selbst wirkte so, als ob er von jemandem, der vorher noch nie einen Pinsel in der Hand gehabt hatte, eilig gestrichen worden sei.

Die Frau hinter dem Empfangstresen hatte ziemlich kurz geschnittene Haare und eine leicht olivfarbene Haut. Sie trug ein einfaches blaues T-Shirt und Jeans. Ihr Gesicht erinnerte mich vage an jemanden, ohne dass ich wusste, an wen, und war auf eine schlichte Art schön. Auch wenn die Frau nicht besonders alt war – Mitte dreißig, schätzte ich –, verblasste diese Schönheit bereits. Ihr Gesicht wirkte gezeichnet von Trauer und Angst.

Das Video lief weiter und zeigte, wie sich Courtney nach den Preisen erkundigte und die Frau mit müder Stimme antwortete. Dann wurde Courtney in eine Kabine geführt und die Frau zeigte ihr, wie alles funktionierte. Sie klang zu Tode gelangweilt.

»Von einer Schutzbrille war nicht die Rede?«, fragte Großvater Courtney.

»Mit keinem Wort.«

»War sonst noch jemand da? Irgendwelche anderen Angestellten?«

»Später kommt jemand rein«, sagte Courtney, »den du bestimmt interessant finden wirst. Aber zu diesem Zeitpunkt war Lisa allein.«

»Lisa?«, fragte Großvater.

»Ich hab sie im Gehen nach ihrem Namen gefragt.«

»Einfach nur Lisa?«

»Es wär ein bisschen verdächtig gewesen, wenn ich sie nach ihrem vollen Namen gefragt hätte.«

Großvater grinste. »War nur ein Test.«

Courtney tippte auf die Tastatur und das Video spulte im Schnelllauf vor. »In den nächsten gut zehn Minuten passiert nichts weiter«, erklärte sie.

»Bist du wirklich auf die Sonnenbank?«, fragte ich.

Courtney sah mich böse an. »Das ist jetzt ein bisschen indiskret, findest du nicht?«

»Tut mir leid«, murmelte ich und spürte, wie ich sofort wieder rot wurde. »Ich wollte nur –«

»Du lernst es wohl nie, was?« Courtney grinste mich an. »Dich kann man so leicht aufziehen, dass es schon fast keinen Spaß mehr macht.«

Ich sah sie an und suchte nach einer cleveren Antwort, doch mir fiel nichts ein.

Courtney warf mir noch mal ein kurzes Grinsen zu, dann widmete sie sich wieder dem Laptop, drückte eine Taste und der Schnellvorlauf stoppte. »Das ist der Moment, als die Zeituhr für die Sonnenbank losgeht«, erklärte sie und ließ das Video weiterlaufen.

»Dann war sie also gar nicht kaputt?«, fragte Großvater.

»Nein.«

»Und das ist eindeutig die Kabine, die auch die Klientin von Jakes & Mortimer benutzt hat?«

»Ja, ich hab’s extra noch mal mit ihnen abgecheckt, bevor ich los bin. Ihre Klientin war in der, die direkt bei der Eingangstür liegt. Und das ist die, in der ich hier bin.«

»Vielleicht wurde die Zeituhr ja repariert, seit die Klientin sie benutzt hat«, überlegte Großvater.

»Hör dir das mal an«, sagte Courtney und drehte die Lautstärke auf.

Der gedämpfte Klang erregter Stimmen krächzte aus dem Lautsprecher – erst eine brüllende Männerstimme, dann Lisas Stimme, die zurückschreit.

»Zu dem Zeitpunkt war ich noch in der Kabine«, sagte Courtney. »Aber sobald ich den Krawall draußen gehört habe … na ja, wie ihr seht, bin ich raus, um zu sehen, was los war.«

Die Perspektive der Kamera zeigte, wie Courtney die Tür öffnete und in den Empfangsbereich trat. Drüben am Tresen schrie ein fies wirkender Typ in einem teuer wirkenden Anzug auf Lisa ein und stieß ihr wütend den Finger ins Gesicht. Er schien etwas jünger zu sein als sie – Mitte bis Ende zwanzig –, doch er war ohne jeden Zweifel der Boss.

»Du sollst den Laden hier schmeißen«, brüllte er sie an. »Das ist doch wirklich nicht schwer, verdammte Scheiße.«

»Ich tu ja, was ich kann«, erklärte ihm Lisa.

»Das reicht aber nicht.« Er starrte sie an. »Du weißt, was mit dir passiert, wenn da irgendwas rauskommt, oder?«

»Es ist nicht meine Schuld, Dee Dee«, sagte Lisa. »Ich nehme doch nur das Geld an und sage den Leuten, in welche Kabine sie gehen sollen.«

Der Typ, der Dee Dee hieß, drehte sich zur Kamera um, weil er plötzlich merkte, dass Courtney da stand. »Und?«, knurrte er. »Was glotzt du so?«

»Entschuldigung«, antwortete Courtney zögernd. »Ich hab nur … ich wollte Sie nicht unterbrechen …«

Jetzt, als Dee Dee direkt in die Kamera blickte, war klar, dass er nicht nur fies wirkte, es war viel mehr als das. Er war der furchteinflößendste Mann, den ich je gesehen hatte. Körperlich war er gar nichts Besonderes – mittelgroß, mittelschwer, kein richtiger Muskelprotz oder so –, aber seine toten Augen wirkten bedrohlicher als bei den brutalsten aller Brutalos. Sein Blick war nicht einfach nur böse und hart, sondern er schaute, als ob er dich umbringen könnte, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

Er hatte sich von Courtney abgewandt und starrte jetzt wieder Lisa an.

»Ich bin noch nicht fertig mit dir«, sagte er zu ihr.

Sie nickte.

Er warf wieder einen kurzen Blick auf Courtney, dann ging er zu einer Tür an der Rückseite des Studios und verschwand.

»Netter Typ, was?«, sagte Courtney und schaltete die Aufnahme ab.

»Ich glaub, ich weiß, wer das ist«, sagte ich leise.

Großvater und Courtney sahen mich an.

»Lisa hat Dee Dee zu ihm gesagt«, erklärte ich. »Es gibt einen Typen namens Drew Devon, der von allen so genannt wird.«

»Und wer ist dieser Drew Devon?«, fragte Großvater.

»Er kontrolliert die Slade-Lane-Siedlung.«

8

Von Dee Dee hatte ich durch einen Freund von mir gehört, der Mason Yusuf heißt. Mason ist ein paar Jahre älter als ich. Er wohnt in der Slade und weiß so gut wie alles, was dort läuft. Er kennt die meisten Gang-Typen und weiß, was sie gerade vorhaben, und es würde mich ziemlich überraschen, wenn er nicht zumindest ab und zu selbst in den Sachen mit drinhinge. Mason ist kein Engel, das ist klar. Aber er ist mein Freund, seit ich einmal seiner jüngeren Schwester geholfen habe, und ich kann mich absolut auf ihn verlassen. Ich stehe tief in seiner Schuld wegen der Unterstützung, die er mir bei der Lösung des Falls gegeben hat, an dem meine Eltern dran waren, als sie starben.

»Wenn du sagst, dieser Dee Dee kontrolliert die Slade-Lane-Siedlung«, fragte mich mein Großvater, »was genau meinst du damit?«

»Er ist der Kopf der größten Gang in der Slade«, antwortete ich. »Und die Gangs beherrschen die gesamte Siedlung. Es war Dee Dee, der den Krawall im North Walk organisiert hat, kurz nachdem Mum und Dad gestorben sind, erinnerst du dich?«

Großvater nickte. Der Krawall war inszeniert worden, um einen Einbruch in das Büro von Delaney & Co. zu vertuschen. Eine Geheimorganisation mit dem Namen Omega hatte nach Unterlagen über den Fall gesucht, an dem meine Eltern damals arbeiteten, und Dee Dee dafür bezahlt, einen Haufen Jugendliche aus der Slade Randale machen zu lassen. Damit der Einbruch bei uns keinen Verdacht erregte, hatten sie alle Läden und Büros im North Walk kurz und klein geschlagen.

»Nach dem, was mein Freund Mason sagt«, fuhr ich fort, »ist Dee Dee ein extrem einflussreicher Mann.«

»Was macht er dann in einem heruntergekommenen Sonnenstudio?«

»Vielleicht gehört ihm der Laden«, schlug Courtney vor.

»Warum sollte jemandem wie ihm ein derart schäbiger kleiner Laden gehören?«, fragte Großvater Courtney. »Gab es noch andere Kunden, während du dort warst?«

»Nein.«

»Wirkte das Studio auf dich wie ein Laden, der Gewinn macht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab fünf Pfund für eine Sitzung von zehn Minuten bezahlt. Ich war insgesamt etwa eine Viertelstunde oder zwanzig Minuten dort und ich hab mich ungefähr zwanzig Minuten vor dem Laden rumgetrieben, ehe ich rein bin. Nachdem ich gegangen war, hab ich mich dann noch mal zehn Minuten in dem Hähnchenimbiss nebenan aufgehalten. Die ganze Zeit habe ich keinen einzigen Menschen rein- oder rausgehen sehen.«

»Das heißt, in der Stunde, in der du dort warst, hat Tanga Tans einen Umsatz von fünf Pfund gemacht«, schloss Großvater. »Nicht gerade das große Geld, oder?« Er stand auf und lief im Büro hin und her. »Aber eigentlich spielt das gar keine Rolle«, sann er vor sich hin. »Wir werden nicht bezahlt, die Besitzverhältnisse des Ladens zu klären oder herauszufinden, warum irgend so eine lokale Gangstergröße einer Frau droht, die dort arbeitet. Das geht uns nichts an, stimmt’s?«

Es war keine richtige Frage – er redete mehr mit sich selbst –, also machte sich auch keiner die Mühe, ihm zu antworten.

»Wir haben getan, wofür wir bezahlt werden«, fuhr er fort. »Wir haben den Videobeweis, den Jakes & Mortimer wollte. Was sie damit anfangen, ist ihre Entscheidung.«

Er blieb stehen, dachte einen Moment intensiv nach und schaute dann uns an. »Was meint ihr?«