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Titel

Inhalt

  1. Vorwort
  2. „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Psalm 90,12
  3. 1. Eigentlich waren wir fünf Geschwister
  4. 2. Weihnachten mitten im Sommer
  5. 3. Ich trau mich nicht zu springen
  6. 4. Ich konnte ihn einfach nicht lieben
  7. 5. Reicht das für den Segen?
  8. 6. Im Jenseits hat dann jeder so einen Kokon
  9. 7. Ich kann mit meinem Leben sterben
  10. 8. Ich bin nicht totzukriegen
  11. 9. Das alles habe ich getan
  12. 10. Ich bin aus der Kirche ausgetreten
  13. 11. Von der Schönheit Siebenbürgens
  14. 12. Vergessen Sie es, ich stehe nicht mehr auf
  15. 13. Wohin mit dem ganzen Zeug?
  16. 14. Die Party bis zum Schluss auskosten
  17. 15. Einmal gesehen werden
  18. 16. Vertragen und umarmen
  19. 17. So leicht und immer leichter
  20. 18. Eine gute Zeit
  21. 19. Ich bin so neidisch auf Ihr Leben
  22. 20. Und Engel gibt es doch
  23. 21. Ich habe doch noch gar nicht richtig gelebt
  24. 22. Über die Schönheit von Rohrleitungen
  25. 23. Ein breites Lächeln
  26. 24. Vom Adressbuch
  27. 25. Helfen Sie mir, mit meinem Bruder zu sprechen
  28. 26. Die Zügel bis zum Schluss in der Hand behalten
  29. 27. Die große Last
  30. 28. „Dem geht’s gut, der stirbt gerade“

Vorwort

In den Debatten über Sterbehilfe und assistierten Suizid wurden eigentlich alle denkbaren Argumente, alle möglichen Für und Wider eines selbst herbeigeführten Todes schon benannt und diskutiert. Von der Palliativ- und Hospizbewegung wurde die besondere Würde der letzten Lebensphase immer wieder in eindrücklicher Weise formuliert und betont. Trotzdem bleibt bei zahlreichen Menschen in unserem Land die Angst vor einem würdelosen Dahinsiechen, vor unerträglichen Schmerzen, vor dem Sterben. Und so wünschen sich viele einen plötzlichen, schmerzlosen Tod, von dem sie selbst am besten gar nichts mitbekommen.

Als Klinikseelsorgerinnen erleben wir Tag für Tag die Zeit vor dem Tod, die Zeit des Sterbens. Und davon wollen wir erzählen. Es sind Geschichten voller Tragik und Tiefe, aber auch voller Freude und Leichtigkeit – eben voller Leben. Und von einer ganz besonderen Würde.

Dabei wollen wir die letzte Lebensphase nicht verklären. Da sind auch Schmerzen, da ist Angst. Und dennoch wird in jeder Geschichte deutlich: Die Zeit des Sterbens ist kostbar; unser Leben wäre so viel ärmer, würden wir uns dieser Lebensdimension vorsätzlich berauben.

Die Geschichten, die wir erzählen, haben wir so nicht erlebt – jedenfalls nicht genau so. Die handelnden Personen und ihre Namen sind frei erfunden. Auf Grundlage unserer Gespräche haben wir Geschichten neu zusammengefügt, die unsere alltäglichen Erfahrungen widerspiegeln. Insofern sind die Geschichten authentisch, auch wenn sie Fiktion sind.

Christiane Bindseil

Karin Lackus

Übrigens:

Hospize als Einrichtungen zur Sterbebegleitung werden auch in Deutschland immer bekannter. Im Rahmen der Hospizbewegung entstanden in zahlreichen Krankenhäusern Palliativstationen. Hier werden Menschen mit fortgeschrittenen unheilbaren Krankheiten behandelt, um ihre Schmerzen und Symptome zu lindern. Einige Patienten können danach zurück in ihr häusliches Umfeld entlassen werden, andere werden in ein Hospiz verlegt. Aber auch die Palliativstationen selbst bieten diesen Sterbenden einen angemessenen Raum und Begleitung.

„Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Psalm 90,12

Liebe Leser,

Sie haben ein mutiges Buch in der Hand. Ein Buch, das einen Wechsel der Perspektive ermöglicht, wie schon der überraschende, ja beinahe freche Titel zeigt. Für viele ein Tabubruch. In unserer Gesellschaft redet „man“ nicht vom Sterben, schon gar nicht positiv. Zu groß sind die Scheu, ja die Angst vor dem Tod, die Unsicherheit im Umgang mit den Sterbenden.

Mit ihrem Buch „Mir geht es gut, ich sterbe gerade“ lenken die beiden Klinikseelsorgerinnen den Blick weg vom „Tod an sich“ hin zu den Menschen, zu ihren Erfahrungen auf der letzten Wegstrecke des Lebens. Und so kann ich Christiane Bindseil und Karin Lackus nur gratulieren, dass sie den Mut haben, diese „Geschichten voller Tragik und Tiefe, aber auch voller Freude und Leichtigkeit – eben voller Leben“ zu erzählen.

Als Mitglied des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe bin ich täglich damit konfrontiert, dass die Würde des Menschen in Frage gestellt oder verletzt wird. Dabei stellt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Artikel 1, Absatz 1 unmissverständlich fest: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Gerade die Menschen, deren Kräfte nachlassen, deren Wünsche für sich und die ihren verblassen, die täglich mit Schmerzen zu kämpfen haben, diese Menschen, die Abschied nehmen müssen, haben eine besondere Würde, die es zu schützen und zu entdecken gilt.

Entdecken? Ja, denn die Erfahrung eines Lebens verdichtet sich an dessen Ende. Sterbende leben – und sie, oder ihre Geschichten, haben den (noch) Nicht-Sterbenden etwas zu sagen. Leise und fragend, klug, ja weise oft. Auf den folgenden Seiten haben Sie achtundzwanzigmal die Gelegenheit zuzuhören, sich berühren zu lassen, und Fragen an das eigene Leben, die eigene Hoffnung und den eigenen Glauben zu stellen.

Danke für dieses berührende Buch mit seinen auf den Punkt erzählten Geschichten vom Sterben und vom Leben.

Frank Heinrich

1.
Eigentlich waren wir fünf Geschwister

Als ich Herta Albach1 auf der Palliativstation kennenlernte, war ihr die Krebsdiagnose erst kurze Zeit bekannt. Wiederholte Fieberattacken waren der Grund für ihre Einweisung ins Krankenhaus, die geplante Chemotherapie konnte nicht beginnen. Ihre große Sorge war, dass durch die Verzögerung der Chemotherapie ihre Heilungschancen sinken.

In dieser Zeit redete Frau Albach fast ausschließlich über ihren Körper und die unterschiedlichen Symptome der Erkrankung. Das Fieberthermometer war ihr ständiger Begleiter und sie hoffte inbrünstig auf jeden neuen Blutwert.

Doch mit der Chemotherapie konnte nie begonnen werden und Frau Albach verstand nach und nach, dass es für sie eine „Heilung durch Chemotherapie“, von der sie bei meinen ersten Besuchen oft sprach, nicht gab.

Für mich letztlich unvermittelt redete sie plötzlich über den möglichen Tod: „Ich kann doch noch nicht sterben, sonst lebt ja bald niemand mehr aus meinem Dorf.“ Und sie erinnerte sich an ihr kleines Dorf, die Schrecken der Flucht 1945, das langsame Ankommen in Deutschland. „Heute würde mir keiner glauben, wie armselig ich hier angekommen bin“, meinte sie stolz.

Und sie erzählte von ihrem Leben hier, ihrem kleinen Friseurladen, den sie mit Liebe und großer Eigeninitiative aufgebaut hatte, den vielen Lehrlingen, denen sie über manch schwere Zeit hinweggeholfen hatte. „Ohne mich und meine Geduld hätten manche nie durchgehalten“, war sie überzeugt. „Ich habe viel erreicht“, betonte sie mehrmals.

Wenige Tage vor ihrem Tod bat sie mich in ernstem Ton, das nächste Mal mit besonders viel Zeit im Gepäck zu kommen.

Ich kam gleich am nächsten Tag und Frau Albach begann ohne Umschweife, von der Zeit ihrer Flucht in den Westen zu erzählen. Sie erinnerte sich an quälende Kälte, unsagbare Erschöpfung, entsetzliche Angst und furchtbaren Hunger: „Egal was wir taten, wir hatten einfach nicht genug. Mal rückten wir als Familie zusammen, mal verdächtigte jeder den anderen, etwas gegessen zu haben, was ihm nicht zusteht. Es gab Zeiten, da habe ich alles getan für ein Stück Brot.“

„Meine drei kleinen Geschwister haben die Flucht nicht überlebt“, flüsterte Herta Albach, „sie sind unterwegs verhungert.“ Und sie bat mich um eine kleine Segensfeier für diese drei Kinder, zwei Mädchen und ein Junge; sie hatte sich auch schon genau überlegt, wie sie diese Feier gestalten wollte.

Zunächst nannte sie den Namen jedes Geschwisterkindes. Dann erzählte sie alles, was sie von diesem Kind wusste: die Frisur, ein Lispeln, der ausgefallene Zahn, die Geschichte eines Streits. Sie rang jedes Mal lange mit sich und ihren Erinnerungen, mühte sich, bat mich um Nachfragen. Sie ließ sich viel Zeit und freute sich über jedes Detail, das ihr einfiel. Am Ende jeder kleinen Biografie formulierte sie selbst ein Gebet und bat mich um den Segen.

Bei meinem nächsten Besuch war Herta Albach nicht mehr ansprechbar. In den Tagen bis zu ihrem Tod erlebte ich sie ganz ruhig und entspannt.


1 In diesem Buch werden reale Erfahrungen verarbeitet. Die konkreten Personen, ihre Namen und Handlungen sind dagegen frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen oder Persönlichkeiten ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

2.
Weihnachten mitten im Sommer

Hans Ludwig war sehr schwach, als ich ihn kennenlernte. Er wird wohl bald sterben, war die Einschätzung in der Besprechung des Palliativteams. Wenn ich kam, war Herr Ludwig freundlich und erkannte mich auch, war jedoch nach wenigen Worten sehr erschöpft und schloss die Augen. Ich redete dann mit seiner tieftraurigen Ehefrau, die fast den ganzen Tag an seiner Seite war.

Doch Herr Ludwig starb nicht wie erwartet und einige Zeit später besprachen wir im Palliativteam, ob es nicht doch sinnvoll sei, ihn im Hospiz anzumelden.

Als ich das nächste Mal wieder zu Besuch kam, war ausnahmsweise seine Ehefrau nicht da, sie hatte selbst einen Arzttermin. Es war ein heißer Sommertag und ich war sehr müde, so setzte ich mich nach den gewohnten Begrüßungsworten einfach zu Herrn Ludwig ans Bett.

Nach etwa zehn Minuten, für mich in dieser Situation völlig unerwartet, begann Herr Ludwig zu erzählen, langsam, angestrengt, aber überraschend deutlich. Er redete von seiner Konfirmation, wie sehr er diesen Tag mochte und erinnerte sich sehr genau an seinen Konfirmationsspruch. Bis dahin war ich mir nicht sicher gewesen, ob Herr Ludwig wusste, dass ich als Pfarrerin zu ihm kam, aber offensichtlich hatte er das sehr klar wahrgenommen.

Und mitten im heißen Sommer begann er von Weihnachten zu erzählen, detailgenau: Wo der Baum stand, welchen Kartoffelsalat es gab, wann die Bescherung war, welche Lieder gesungen wurden, wie sie spät am Abend in die Kirche gingen. Er erinnerte sich in vielen Einzelheiten, wie die kleine Familie vor vielen Jahren Weihnachten feierte. Und ich stutzte, als er dabei von einem Kind sprach. Mit seiner Frau hatte ich viel und lange geredet, aber von einem Kind wusste ich nichts. Nach einer Weile fragte ich ganz vorsichtig nach dem Kind und er erzählte mir weinend von seinem großen Kummer. Sie hatten eine gemeinsame Tochter, die vor vielen Jahren jeden Kontakt zu ihnen abgebrochen hatte – kein Anruf, kein Besuch. Der Sohn der Nachbarn, der einen losen Kontakt zu seiner ehemaligen Sandkastenfreundin pflegte, war ihre einzige Informationsquelle. Von ihm wussten sie, dass sie schon vor Jahren Großeltern geworden waren, von ihm wussten sie überhaupt nur, wo die Tochter lebte.

„Ich verstehe nicht, was passiert ist. Wir haben doch nichts getan“, formulierte Hans Ludwig wiederholt ratlos und unendlich traurig.

Diese Ratlosigkeit war schwer zu ertragen, unser Gespräch wechselte bald wieder hin zu Weihnachten, dem Adventskranz und den Liedern und wir fingen mitten in der Hitze des Tages an, „Alle Jahre wieder“ zu singen.

Am nächsten Tag sprach mich die Ehefrau darauf an, dass ihr Mann mir ja von ihrem großen Leid erzählt habe, ihrer Tochter, „die es für uns nicht mehr gibt“, so formulierte sie es. Ich erlebte sie ähnlich ratlos: „Wir hatten Streit, ja, wegen der Ausbildung, wegen ihren Freunden, aber das ist doch normal, das ist doch bei anderen auch so.“ Ich sah Herrn Ludwig plötzlich an, dass er eine Idee hatte und er fragte mich ganz eindringlich: „Wollen Sie nicht mal bei Willi, dem Nachbarssohn, anrufen und fragen, was man tun kann? Können Sie das für uns tun?“

Er wiederholte diese Bitte mehrfach und seine Frau suchte sofort die Telefonnummer heraus. Wenig später rief ich vom Büro aus an. Wir telefonierten lange und der Nachbarssohn wiederholte immer wieder, dass auch er das Ganze nicht verstehen könne, er habe keine Erklärung. Schon zu Beginn der Krankheit hatte er die Tochter informiert, ihr jede Verschlechterung des Zustands ihres Vaters erzählt und sie immer eindringlicher gebeten zu kommen. „Beim letzten Telefonat habe ich sie richtig angeschrien“, erzählte er. Aber sie wollte nicht.

Hans Ludwig ist einige Wochen später auf der Palliativstation gestorben, er wurde tatsächlich noch im Hospiz angemeldet, leider gab es dort aber keinen freien Platz. Im Palliativteam wurde noch mehrmals verwundert darüber gesprochen, wie lange er mit seiner schweren Krankheit noch lebte.

3.
Ich trau mich nicht zu springen

„Gehen Sie mal zu Frau Mühlbauer, ich glaube, sie braucht ganz dringend jemanden zum Reden“, begrüßte mich ein Pfleger auf der Palliativstation.