Der Pakt

Cover

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2013

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Covergestaltung any.way, Hamburg,

nach einem Entwurf von PEPPERZAK BRAND

Coverabbildung Illustration: PEPPERZAK BRAND

Umschlagfoto: Bernd Ebsen

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN 978-3-644-21271-8

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-21271-8

A.H.R. Brodie (1931–2004)

sich von der Erfahrung leiten zu lassen,

nicht von Sophisten, Scharlatanen,

Priestern oder Demagogen.

 

Willard Mayer, Der empirische Mensch

Montag, 1. Oktober 1943

Washington

Mich auf dem barocken Sofa niederzulassen, wagte ich nicht, aus Angst, mich auf Dolly Madisons Geist zu setzen, also wählte ich einen Esszimmerstuhl neben der Tür. Im Weißen Haus zu sein, war ganz und gar nicht das, was ich an diesem Abend vorgehabt hatte. Ich hatte Diana in Loews Kino in der Third Street, Höhe F Street, ausführen wollen, zu Gary Cooper und Ingrid Bergman

Nach einer weiteren Minute öffnete sich eine der schmucken Türen, und herein trat eine große, gepflegte Frau reiferen Alters, die mich ansah, als hätte ich einen der Stühle beschmutzt. Sie forderte mich mit tonloser Stimme auf, ihr zu folgen.

Sie war mehr Schuldirektorin als Frau und trug einen Bleistiftrock, dessen Futter zischelte, als würde er sofort die Hand beißen, die sich seinem Reißverschluss zu nähern wagte.

Vom Red Room gingen wir nach links, über den roten Teppich der Cross Hall, und betraten dann einen Fahrstuhl, wo uns ein schwarzer Diener mit weißen Handschuhen in den ersten Stock hinauffuhr. Dort führte mich die Frau mit dem zischelnden Rock durch die West Sitting Hall und die Center Hall bis zur Tür zum Präsidentenbüro, wo sie anklopfte und dann, ohne auf Antwort zu warten, eintrat.

Wir gelangten in einen ovalen Raum, der auf den Südrasen hinausging. Im Gegensatz zu der Eleganz, aus der ich gerade kam, war das Arbeitszimmer des Präsidenten auffallend informell, und ich fand, dass es mit seinen Türmen von Büchern, den mit Bindfaden verschnürten Stapeln vergilbten Papiers und dem vollen Schreibtisch dem schäbigen, kleinen Dozentenzimmer ähnelte, das ich einst in Princeton gehabt hatte.

«Mr. President, das ist Professor Mayer», sagte sie. Dann ging sie und schloss die Tür hinter sich.

Der Präsident saß, ein Rührglas in der Hand, im Rollstuhl vor einem kleinen Tischchen, auf dem mehrere Spirituosenflaschen standen. Er lauschte der Symphony Hour auf Radio WINX.

«Ich mixe gerade Martinis», sagte er. «Ich hoffe, Sie trinken mit. Die Leute sagen immer, meine Martinis seien zu kalt, aber so mag ich sie nun mal. Ich kann lauwarmen Alkohol nicht ausstehen. Das scheint mir doch dem ganzen Sinn und Zweck des Trinkens zu widersprechen.»

«Ein Martini wäre mir sehr recht, Mr. President.»

«Ja, Sir.» Ich nahm das Rührglas und ging wieder zum Sofa.

Roosevelt schwenkte den Rollstuhl vom Bartisch weg und rollte zu mir herüber. Es war ein improvisierter Rollstuhl, keines der Modelle, wie man sie in einem Krankenhaus oder Altersheim findet, sondern eher wie ein Küchenstuhl mit abgesägten Beinen, so als ob es dem Konstrukteur darum gegangen wäre, den wahren Zweck des Möbels vor dem amerikanischen Wahlvolk zu verbergen, weil dieses sich womöglich gesträubt hätte, einen Krüppel zu wählen.

«Sie wirken, wenn ich das sagen darf, recht jung für einen Professor.»

«Ich bin fünfunddreißig. Außerdem war ich nur außerordentlicher Professor, als ich von Princeton wegging. Das ist etwa so, wie wenn man sagt, man sei Vize-Präsident eines Unternehmens.»

«Fünfunddreißig, ja, das ist wohl nicht mehr so jung. Nicht heutzutage. Bei der Armee würden Sie als alter Mann gelten. Dort sind die meisten noch halbe Kinder. Manchmal bricht es mir schier das Herz, wenn ich sehe, wie jung unsere Soldaten sind.» Er erhob das Glas zu einem stummen Toast.

Ich erwiderte die Geste und kostete dann meinen Martini. Für meinen Geschmack war viel zu viel Gin drin. Das Zeug war nur dann nicht zu kalt, wenn man gern Flüssigwasserstoff trank. Aber schließlich mixte einem ja nicht jeden Tag der Präsident der Vereinigten Staaten einen Cocktail, also trank ich das Zeug mit allen gebührenden Zeichen des Genusses.

Beim Trinken registrierte ich die Details an Roosevelt, die nur aus nächster Nähe erkennbar waren: den Kneifer, den ich immer für eine Brille gehalten hatte, die vergleichsweise kleinen Ohren – aber vielleicht war ja auch einfach sein Kopf zu groß geraten –, den fehlenden Zahn im Unterkiefer, die Tatsache, dass die Metallschienen

«Sie sind also Philosoph», sagte er. «Ich kann nicht behaupten, dass ich viel von Philosophie verstünde.»

«Die traditionellen Dispute der Philosophen sind zum größten Teil ebenso unsinnig wie unfruchtbar.» Es klang hochtrabend, aber das bringt dieses Gebiet nun mal mit sich.

«Das klingt, als hätten Philosophen eine Menge mit Politikern gemein.»

«Nur dass Philosophen niemandem verantwortlich sind. Außer der Logik. Wenn Philosophen Wähler für sich gewinnen müssten, wären wir bald alle arbeitslos, Sir. Wir sind vor allem für uns selbst interessant, viel mehr als für andere Menschen.»

«Aber nicht in diesem konkreten Fall», bemerkte der Präsident. «Sonst wären Sie jetzt nicht hier.»

«Es gibt da nicht viel zu erzählen, Sir.»

«Aber Sie sind doch ein berühmter amerikanischer Philosoph?»

«Ein amerikanischer Philosoph, das ist etwa so, als ob man sagt, man spiele für Kanada Baseball.»

«Und Ihre Familie? Ist Ihre Mutter nicht eine geborene von Dorff? Von den Cleveland-von Dorffs?»

«Doch, Sir. Mein Vater, Hans Mayer, ist ein deutscher Jude, der in den Vereinigten Staaten aufwuchs und zur Schule ging und nach dem College dann in den diplomatischen Dienst trat. Er lernte meine Mutter 1905 kennen und heiratete sie im selben Jahr. Ein, zwei Jahre später erbte sie dann ein auf Gummireifen gegründetes Familienvermögen, was erklärt, warum ich so weich durchs Leben geglitten bin. Ich war in Groton. Dann in Harvard, wo ich Philosophie

Nach dem College blieb ich noch eine Zeit lang in Harvard. Machte meinen Doktor und bekam das Sheldon-Reisestipendium. Also ging ich über Cambridge nach Wien und veröffentlichte ein ziemlich langweiliges Buch. Ich blieb noch eine Weile in Wien und nahm dann eine Dozentenstelle in Berlin an. Über München kehrte ich schließlich nach Harvard zurück und veröffentlichte ein weiteres ziemlich langweiliges Buch.»

«Ich habe Ihr Werk gelesen, Professor. Eines Ihrer Werke jedenfalls. Der empirische Mensch. Ich will nicht so tun, als hätte ich alles verstanden, aber mir scheint doch, Sie haben sehr großes Vertrauen in die Wissenschaft.»

«Ich weiß nicht, ob ich es Vertrauen nennen würde, aber ich bin der Überzeugung, wenn ein Philosoph etwas zur menschlichen Erkenntnis beitragen will, muss er auf wissenschaftlichem Weg zu dieser Erkenntnis gelangen. Mein Buch vertritt den Standpunkt, dass wir nicht so vieles als gegeben annehmen sollten, was lediglich auf Spekulation beruht.»

Roosevelt schwenkte zum Schreibtisch und ergriff ein Buch, das neben einem bronzenen Schiffssteuerrad lag. Es war eines meiner Bücher. «Wenn Sie mittels dieser Methode zu der Behauptung gelangen, Moral sei letztlich nur eine überkommene Idee, habe ich Schwierigkeiten damit.» Er schlug das Buch auf, fand die Sätze, die er unterstrichen hatte, und las vor:

«Ästhetik und Moral sind insofern deckungsgleich, als keinem von beidem eine objektive Gültigkeit zugesprochen werden kann, und die Behauptung, die Wahrheit zu sagen sei nachweislich gut, ist nicht sinnvoller als die Behauptung, ein Gemälde von Rembrandt sei nachweislich ein gutes Gemälde. Keine der beiden Aussagen ist in irgendeiner Weise sachhaltig.»

Roosevelt schüttelte den Kopf. «Ganz abgesehen von den Gefahren, die eine solche Position gerade in einer Zeit birgt, da die

Ich lächelte den Präsidenten an, weil ich es sympathisch fand, dass er sich die Mühe gemacht hatte, Teile meines Buchs zu lesen und sich mit mir auseinander zu setzen. Ich wollte ihm gerade antworten, als er das Buch hinwarf und sagte:

«Aber ich habe Sie nicht hergebeten, um über Philosophie zu diskutieren.»

«Nein, Sir.»

«Sagen Sie, wie sind Sie zu Donovans Truppe gekommen?»

«Schon bald nach meiner Rückkehr aus Europa bot man mir eine Stelle in Princeton an, wo ich dann Extraordinarius wurde. Nach Pearl Harbor bewarb ich mich für den Dienst bei der Marine-Reserve, aber noch ehe meine Bewerbung bearbeitet werden konnte, traf ich mich mit einem Freund meines Vaters, einem Juristen namens Allan Dulles, zum Mittagessen. Er überredete mich, dem Central Office of Information beizutreten. Als unser Teil des COI zum Office of Strategic Service wurde, kam ich nach Washington. Jetzt bin ich Analyst für deutsche Nachrichtendiensttätigkeit.»

Roosevelt drehte sich im Rollstuhl um, als plötzlich Regen gegen das Fenster prasselte. Das Hemd spannte um die kräftigen Schultern und den breiten Nacken, aber seine Beine waren im Gegensatz dazu so schwach und mager, als hätte sein Schöpfer sie versehentlich an den falschen Körper gesetzt. Die Kombination von Rollstuhl, Kneifer und der fast zwanzig Zentimeter langen Zigarettenspitze, die zwischen seinen Zähnen klemmte, gab ihm etwas von einem Hollywood-Regisseur.

«Ich wusste gar nicht, dass es so heftig regnet», sagte er, nahm die Zigarette aus der Spitze und ersetzte sie durch eine neue aus

Der Präsident bedankte sich auf Deutsch und setzte dann das Gespräch in dieser Sprache fort. Er sprach von der jüngsten amerikanischen Gefallenenzahl – 115000 Mann – und von den erbitterten Kämpfen, die sich gerade im süditalienischen Salerno abspielten. Sein Deutsch war gar nicht so schlecht. Dann wechselte er abrupt das Thema und schaltete wieder auf Englisch um.

«Ich habe einen Job für Sie, Professor Mayer. Einen heiklen Job. Zu heikel, um ihn dem Außenministerium anzuvertrauen. Das hier muss unter uns bleiben, strikt unter uns. Das Problem mit diesen Kerlen im Außenministerium ist, dass sie ihren verflixten Mund nicht halten können. Ja, schlimmer noch, dass das ganze Ministerium von Rivalitäten zerfressen ist. Ich nehme an, Sie wissen, was ich meine.»

Es war in Washington wohl bekannt, dass Roosevelt seinen Außenminister nie wirklich respektiert hatte. Cordell Hull galt allgemein nicht gerade als begnadeter Außenpolitiker, und mit seinen zweiundsiebzig Jahren ermüdete er leicht. Nach Pearl Harbor hatte sich FDR, was die eigentliche außenpolitische Arbeit anging, lange auf Vize-Außenminister Sumner Welles verlassen. Doch dann, vor einer Woche erst, hatte Welles plötzlich sein Rücktrittsgesuch eingereicht. In besser informierten Regierungs- und Geheimdienstkreisen wurde gemunkelt, Welles sei dazu gezwungen gewesen, nachdem er sich im Präsidentenzug auf der Fahrt nach Virginia eines «Aktes schwerwiegender moralischer Verderbtheit mit einem Negerschaffner» schuldig gemacht habe.

«Ich sage Ihnen ganz offen, dass sich diese verdammten Snobs im Außenministerium auf einiges gefasst machen können. Die eine Hälfte ist pro-britisch und die andere antisemitisch. Wenn man sie alle durch den Wolf drehen würde, käme immer noch nicht genug für einen anständigen Amerikaner heraus.» Roosevelt trank von seinem Martini und seufzte. «Was wissen Sie über einen Ort namens Katyn?»

«Schon aus diesem Grund habe ich anfangs dazu tendiert, das Ganze für reine Nazi-Propaganda zu halten», sagte Roosevelt. «Aber es gibt polnisch-amerikanische Radiosender in Detroit und Buffalo, die eisern daran festhalten, dass sich diese Gräueltaten tatsächlich ereignet haben. Es wurde sogar behauptet, meine Administration habe die Tatsachen vertuscht, um unser Bündnis mit den Russen nicht zu gefährden. Seit die Geschichte im Umlauf ist, habe ich bereits einen Bericht unseres Verbindungsoffiziers bei der polnischen Exilarmee, einen von unserem Marineattaché in Istanbul und einen von Premierminister Churchill persönlich erhalten. Ja, ich habe sogar ein Dossier der deutschen Wehrmacht-Untersuchungsstelle für Kriegsverbrechen bekommen. Im August schrieb mir Churchill und fragte mich, wie ich darüber dächte, und daraufhin habe ich alle einschlägigen Unterlagen dem Außenministerium übergeben, mit der Anweisung, sie sich anzusehen.»

Roosevelt schüttelte müde den Kopf.

«Sie können sich denken, was passiert ist. Gar nichts! Hull schiebt natürlich alles auf Welles und behauptet, der habe wochenlang auf diesen Akten gesessen.

Tatsache ist, dass ich Welles die Akten gegeben und ihn gebeten habe, jemanden aus der Deutschlandabteilung des Ministeriums einen Bericht verfassen zu lassen. Dann hat Welles seinen Herzinfarkt bekommen, seinen Schreibtisch aufgeräumt und mir seinen Rücktritt angeboten. Was ich abgelehnt habe.

Unterdessen hat Hull dem Mann aus der Deutschland-Abteilung, Thornton Cole, Anweisung gegeben, die Akten Bill Bullitt

Ob Bullitt je einen Blick in die Akten geworfen hat, weiß ich nicht. Er hat es schon eine ganze Weile auf Welles’ Stuhl abgesehen, und ich vermute, er war ganz damit ausgelastet, seine Karriere voranzutreiben. Als ich bei Hull wegen der Katyn-Akten nachgefragt habe, haben er und Mr. Bullshit gemerkt, dass sie die Sache versiebt haben, und offenbar beschlossen, die Akten still und heimlich in Welles’ Büro zurückzubringen und alles auf ihn zu schieben. Natürlich hat Hull dafür gesorgt, dass Cole seine Geschichte stützte.» Roosevelt zuckte die Achseln. «Das ist Welles’ Theorie, wie es abgelaufen sein muss, und ich glaube, er hat Recht.»

Genau da fiel mir wieder ein, dass ich Welles einst im Washingtoner Metropolitan Club mit Cole bekannt gemacht hatte.

«Als Hull die Akten zurückbrachte und mir mitteilte, wir seien leider nicht in der Lage, irgendeine Meinung zu der Katyn-Sache zu haben», fuhr Roosevelt fort, «habe ich geflucht wie ein Seemann. Und das Ende der Geschichte ist: Es ist nichts passiert.» Der Präsident zeigte auf einen Stapel verstaubter Akten auf einem Bücherbord. «Wären Sie so nett, sie mir herunterzuholen? Dort oben.»

Ich nahm die Akten herunter, deponierte sie auf dem Sofa neben dem Präsidenten und inspizierte dann meine Hände. Vom Dreck an meinen Fingern her zu schließen, ließ sich der Job nicht besonders gut an.

«Es ist kein großes Geheimnis, dass ich mich noch vor Weihnachten mit Churchill und Stalin treffen werde. Ich habe allerdings keine Ahnung, wo. Stalin weigert sich, nach London zu kommen, also können wir so gut wie überall anders landen. Doch wo immer dieses Treffen stattfinden wird, ich möchte eine klare Vorstellung von dieser Katyn-Sache haben, weil sie sich mit Sicherheit auf die Zukunft Polens auswirken wird. Die Russen haben bereits die diplomatischen Beziehungen zur polnischen Exilregierung in London abgebrochen. Die Briten fühlen sich den Polen natürlich besonders verbunden. Schließlich sind sie für Polen in den Krieg gezogen. Sie sehen also, es ist eine delikate Situation.»

«Und das bringt mich zu Ihnen, Professor Mayer. Ich möchte, dass Sie eine eigene Untersuchung in dieser Katyn-Angelegenheit durchführen. Fangen Sie mit einer objektiven Evaluierung des Inhalts dieser Akten an, aber fühlen Sie sich nicht allein an die Akten gebunden. Reden Sie mit jedem, von dem Sie glauben, dass er Ihnen von Nutzen sein könnte. Bilden Sie sich eine eigene Meinung und schreiben Sie dann einen Bericht ausschließlich für mich. Nicht zu lang. Nur ein Resümee ihrer Ergebnisse und ein paar Strategievorschläge. Mit Donovan habe ich das bereits geregelt, diese Sache hat also Vorrang vor all Ihren sonstigen Aufgaben.»

Er zog sein Taschentuch heraus und wischte sich den Staub von der Hand.

«Wie lange habe ich Zeit, Mr. President?»

«Zwei, drei Wochen. Ich weiß, das ist nicht viel für eine so schwerwiegende Angelegenheit, aber daran lässt sich, wie Sie sicher verstehen werden, nichts ändern. Nicht jetzt.»

«Wenn Sie sagen, ich soll mit jedem reden, der mir von Nutzen sein könnte, schließt das auch Leute in London ein? Mitglieder der polnischen Exilregierung? Leute im auswärtigen Amt? Und wie lästig darf ich werden?»

«Reden Sie, mit wem Sie möchten», sagte Roosevelt. «Falls Sie nach London zu reisen beschließen, wird es hilfreich sein, wenn Sie sich als mein Sonderbeauftragter vorstellen. Das wird Ihnen jede Tür öffnen. Meine Sekretärin, Grace Tully, wird den nötigen Papierkram für Sie erledigen. Aber bemühen Sie sich, keinerlei Meinung zu äußern. Und vermeiden Sie es, irgendetwas zu sagen, was die Leute auf die Idee bringen könnte, Sie sprächen in meinem Namen. Dies ist wie gesagt eine äußerst heikle Angelegenheit, aber was auch passieren mag, ich möchte vermeiden, dass aus dieser Sache irgendwelche Unstimmigkeiten zwischen mir und Stalin erwachsen. Habe ich mich klar ausgedrückt?»

Klar genug. Ich würde ein kastrierter Köter sein, mit nichts als dem Namen meines Herrchens auf dem Halsband, um den Leuten

 

Als ich nach Hause kam, erwartete mich Diana mit einem Sack voller aufgeregter Fragen.

«Und?», sagte sie. «Was war?»

«Er macht grässliche Martinis», sagte ich. «Das war.»

«Du hast Martinis mit ihm getrunken?»

«Wir beide ganz allein. Als ob er Nick wäre und ich Nora Charles. Aus Dashiell Hammetts Dünnem Mann

«Und? Erzähl doch.»

«Zu viel Gin drin. Und viel zu kalt. Wie eine Landhausparty in England.»

«Ich meine, worüber habt ihr geredet?»

«Unter anderem über Philosophie.»

«Philosophie?» Diana verzog das Gesicht und setzte sich hin. Jetzt schien sie schon nicht mehr ganz so aufgeregt. «Ist magenverträglicher als Schlaftabletten, nehme ich an.»

Diana Vandervelden war reich, extrovertiert, glamourös und von einem derart trockenen Humor, dass sie mich immer an eine der herberen Hollywood-Diven wie Bette Davis oder Katherine Hepburn erinnerte. Von einer geradezu unheimlichen Intelligenz, langweilte sie sich leicht und hatte deshalb einen Studienplatz am Bryn Mawr aufgegeben, um Damengolf zu spielen und 1936 beinahe die amerikanischen Damen-Amateurmeisterschaften zu gewinnen. Im Jahr darauf hatte sie das Turnier-Golfen aufgegeben, um einen Senator zu heiraten. «Mit meinem Mann, das war Liebe auf den ersten Blick», sagte sie gern. «Aber nur, weil ich zu geizig war, mir eine Brille zu kaufen.» Diana war selbst kein sonderlich politischer Mensch. Sie verkehrte lieber mit Schriftstellern und Malern als mit Senatoren, und trotz ihrer unbestreitbaren gesellschaftlichen Talente – sie war eine hervorragende Köchin, und um eine Einladung zu ihren Dinnerpartys riss sich ganz Washington –, war sie die Ehe mit ihrem Juristengatten bald leid. «Ich musste dauernd nur für seine Republikaner-Freunde

Unsere Beziehung war von Anfang an hochgradig sexuell, was uns beiden sehr recht war. Wir mochten uns sehr, sprachen aber beide nie groß von Liebe. «Wir lieben uns», hatte ich Diana letzte Weihnachten erklärt, «so wie sich Leute lieben, die sich selbst noch ein ganz kleines bisschen mehr lieben.»

Und ich schätzte an Diana, dass sie Philosophie hasste. Das Letzte, was ich brauchte, war jemand, der die ganze Zeit über mein Fachgebiet reden wollte. Ich mochte Frauen. Vor allem, wenn sie so intelligent und geistreich waren wie Diana. Ich mochte es nur nicht, wenn sie über Logik reden wollten. Philosophie kann im Salon eine höchst anregende Gefährtin sein, aber im Schlafzimmer ist sie schrecklich öde.

«Worüber hat Roosevelt noch geredet?»

«Kriegsangelegenheiten. Ich soll ihm einen Bericht über etwas schreiben.»

«Wie überaus heroisch», sagte sie und zündete sich eine Zigarette an. «Was kriegst du dafür? Einen Orden am Schreibmaschinenband?»

Ich musste grinsen, weil mich ihre demonstrative Verachtung amüsierte. Ihre Brüder waren 1939 freiwillig zur kanadischen Luftwaffe gegangen und, wie sie mir immer wieder erzählte, beide ausgezeichnet worden.

«Man könnte meinen, du hältst Geheimdienstarbeit nicht für wichtig, Liebling.» Ich ging zum Schnapstablett hinüber und goss mir einen Scotch ein. «Auch einen?»

«Jemand muss doch ein Auge darauf haben, was die Deutschen im Schilde führen.» Ich nahm einen Schluck von dem Scotch, der nach dem Genuss von Roosevelts Einbalsamierungsflüssigkeit ungemein gut schmeckte und mein Inneres angenehm wärmte. «Aber wenn es dir Lust bereitet, mich als Feigling hinzustellen, dann bitte, nur zu. Ich kann es verkraften.»

«Vielleicht ist es das, was mich am meisten stört.»

«Mich stört es nicht, dass es dich stört.»

«So also funktioniert das. Mit der Philosophie.» Diana beugte sich in ihrem Sessel vor und drückte ihre Zigarette aus. «Worum geht es überhaupt in diesem Bericht? In dem, den du für den Präsidenten der Vereinigten Staaten schreiben sollst?»

«Das kann ich dir nicht sagen.»

«Sei doch nicht gleich so kratzbürstig.»

«Ich bin nicht kratzbürstig. Ich bin diskret. Das ist ein großer Unterschied. Wenn ich kratzbürstig wäre, könntest du mir wahrscheinlich das Fell streicheln, mit meinen Ohren spielen und die Sache aus mir herauskraulen. Diskretion bedeutet, dass ich eher meine Giftkapsel nehmen würde, als das zuzulassen.»

Jetzt bekam ihr Gesicht etwas Verkniffenes. «Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen», sagte sie.

«Danke, meine Liebe. Aber eins kann ich dir jetzt schon sagen. Ich werde für ein, zwei Wochen nach London gehen müssen.»

Ihr Gesicht entspannte sich ein wenig, sie lächelte.

«London? Hast du’s noch nicht gehört, Willy-Schatz? Die Deutschen bombardieren diese Stadt. Das könnte gefährlich sein.» Ihr Ton war leicht spöttisch.

«Doch, ich habe schon davon gehört», sagte ich. «Deshalb will ich ja hin. Damit ich mir morgens beim Rasieren ins Gesicht sehen kann. Nach fünfzehn Monaten an einem Schreibtisch in der Dreiundzwanzigsten Straße wird mir allmählich klar, dass ich vielleicht doch zur Marine hätte gehen sollen.»

Ich goss ihr einen Scotch ein, pur, wie sie ihn am liebsten mochte. So jungfräulich wie ihre Art, auf einem Stuhl zu sitzen, mit keusch zusammengepressten Knien. Als ich ihr den Whisky reichte, nahm sie ihn mir aus den Fingern, fasste dann meine Hand und drückte sie an ihre marmorkühle Wange. «Du weißt doch, dass ich immer Sachen sage, die ich nicht so meine, oder?»

«Natürlich. Das ist doch einer der Gründe, warum ich dich so mag.»

«Manche Leute kämpfen mit Stieren, reiten auf die Jagd oder schießen Vögel. Ich rede nun mal gern. Das ist eines der beiden Dinge, die ich wirklich gut kann.»

«Liebling, du bist Weltmeisterin im Reden.»

Sie kippte ihren Scotch und knabberte an ihrem Daumennagel, als wollte sie mir signalisieren, dass es Teile von mir gab, an denen sie ihre Zähne viel lieber ausprobieren würde. Dann stand sie auf und küsste mich. Ihre Lider flackerten dabei, weil sie immer wieder darunter hervorlinste, ob ich schon bereit war für die Lustpartie, die sie für uns plante.

«Was hältst du davon, dass wir nach oben gehen und ich dir zeige, worin ich noch Weltmeisterin bin?»

Ich küsste sie wieder und legte meine ganze Person in den Kuss, wie ein Schmierenschauspieler, der das Lichtdouble für John Barrymore macht.

«Geh schon mal vor», sagte ich, als wir nach einer Weile auftauchten, um Luft zu holen. «Ich komme gleich. Muss nur erst noch was lesen. Ein paar Papiere, die mir der Präsident gegeben hat.»

Ihr Körper versteifte sich in meinen Armen. Sie schien eine sarkastische Bemerkung machen zu wollen, sich dann aber zu bremsen.

«Bilde dir bloß nicht ein, dass du diese Ausrede mehr als einmal benutzen kannst», sagte sie. «Ich bin durchaus Patriotin. Aber ich bin auch eine Frau.»

Diana schob mich sanft von sich und grinste. «Gut. Aber mach nicht zu lange. Und wenn ich schon schlafe, versuch mal dein Superhirn dafür zu benutzen, eine Methode zu finden, wie du mich wieder wach kriegst.»

«Ich werde mir was einfallen lassen, Prinzessin Aurora.»

Ich beobachtete, wie sie die Treppe hinaufging. Es lohnte sich. Ihre Beine waren ein Kunstwerk. Ich folgte ihnen bis zum Rand der Strümpfe und noch ein ganzes Stück darüber hinaus. Aus rein philosophischen Gründen natürlich. Alle Philosophen, sagte Nietzsche, verstünden sich schlecht auf Weiber. Aber er hatte ja auch nie Diana eine Treppe hochgehen sehen. Ich kannte keinen Weg zur Erkenntnis der letzten Wirklichkeit, der es auch nur annähernd mit dem Studium jenes hauchzarten Phänomens aufnehmen konnte, das Dianas Unterwäsche war.

Um dieses spezielle Wissen möglichst schnell aus meinem Kopf zu verbannen, machte ich mir eine Kanne Kaffee, fand ein unangebrochenes Päckchen Zigaretten auf dem Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer und ließ mich nieder, um die Akten, die mir Roosevelt gegeben hatte, durchzusehen.

Der Bericht der deutschen Wehrmacht-Untersuchungsstelle war der detaillierteste. Doch der britische Bericht, verfasst von Sir Owen O’Malley, Botschafter bei der polnischen Exilregierung, und erstellt mit Hilfe der polnischen Exilarmee, war der, der mich am längsten aufhielt. Er war lebendig geschrieben und schilderte anschaulich, wie Offiziere und Leute vom sowjetischen NKWD viereinhalbtausend Männer ermordeten – per Genickschuss, nachdem sie ihnen zum Teil die Hände gefesselt oder statt eines Knebels Sägemehl in den Mund gestopft hatten –, ehe sie sie in einem Massengrab verscharrten.

Als ich kurz nach Mitternacht mit der Lektüre des Berichts fertig war, musste ich mich O’Malleys Behauptung anschließen, dass ohne den leisesten Zweifel die Sowjets die Schuldigen waren. O’Malleys Warnung an Winston Churchill, dass der Massenmord

Jeder Bericht, den ich über das Massaker erstellen würde, konnte nicht mehr sein als ein Mittel für Roosevelt, sich abzusichern. Ich hätte den Auftrag vielleicht sogar als langweilige Bürde betrachtet, wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass ich es geschafft hatte, mir in seinem Rahmen eine kleine London-Reise zu organisieren. London war eine tolle Stadt, und nach monatelanger Untätigkeit in einem der vier Backsteingebäude des «Campus» – wie der lokale Spitzname des OSS und seines vorwiegend akademischen Personals lautete – gierte ich nach etwas Aufregenderem. Eine Woche London war wohl genau das, was mit der Arzt verschrieben hätte, zumal jetzt auch noch Diana darauf herumzuhacken begann, dass ich mich immer aus der Schusslinie hielt.

Ich stand auf und ging ans Fenster. Während ich auf die Straße hinaussah, versuchte ich mir all die ermordeten polnischen Offiziere in einem Massengrab bei Smolensk vorzustellen. Ich trank meinen Whisky aus. Im Mondschein hatte der Rasen vor meinem Haus die Farbe von Blut und der unruhige, silberne Himmel etwas Gespenstisches, ganz so als ob der Tod selbst sein riesiges Auge auf mich geworfen hätte. Nicht dass es eine große Rolle spielte, wer einen tötete. Die Deutschen oder die Russen, die Briten oder die Amerikaner, die eigenen Leute oder der Feind. Wenn man tot war, war man tot, und nichts, auch kein Präsidentenauftrag, konnte daran etwas ändern. Aber ich gehörte zu den Glückspilzen, und oben rief mich der Akt des Lebens schlechthin.

Ich knipste das Licht aus und ging zu Diana.

Mittwoch, 3. Oktober 1943

Berlin

«Klingt alles zu schön, um wahr zu sein», sagte er.

«Das wäre natürlich möglich, Herr Reichsminister.»

«Leute werden nicht plötzlich ohne triftigen Grund zu Spionen, Herr Moyzisch», sagte Ribbentrop. «Und schon gar nicht die Kammerdiener englischer Gentlemen.»

«Bazna wollte Geld.»

«Und das hat er ja offenbar auch bekommen. Wie viel, sagten Sie, hat ihm Schellenberg gegeben?»

«Zwanzigtausend Pfund bis jetzt.»

Ribbentrop warf die Fotos wieder auf den Tisch, wobei eines

«Und wer hat ihm beigebracht, so meisterhaft mit der Kamera umzugehen?», fragte Ribbentrop. «Die Briten? Sind Sie schon mal auf die Idee gekommen, dass es sich hierbei um gezielte Falschinformation handeln könnte?»

Ludwig Moyzisch hielt dem kalten Blick des Außenministers stand. Er wünschte sich nach Ankara zurück und fragte sich, warum nach all den Leuten, die diese von seinem Agenten Bazna (Deckname Cicero) beschafften Dokumente geprüft hatten, Ribbentrop als Einziger deren Echtheit bezweifelte. Selbst Kaltenbrunner, Chef des Sicherheitsdiensts und Schellenbergs Vorgesetzter, war von der Authentizität dieser Informationen überzeugt gewesen. Um eine Lanze für Ciceros Material zu brechen, sagte Moyzisch, Kaltenbrunner persönlich halte die Dokumente inzwischen für höchstwahrscheinlich echt.

«Kaltenbrunner ist doch krank, oder?» Wie wenig Ribbentrop vom Chef des SD hielt, war im Außenministerium wohl bekannt. «Phlebitis, wie ich hörte. Zweifellos ist sein Verstand, soweit er einen solchen besitzt, durch seine Krankheit erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Außerdem kennt niemand – und schon gar nicht so ein versoffener, sadistischer Trottel – die Briten besser als ich. In meiner Zeit als deutscher Botschafter am Hof von St. James habe ich etliche recht gut kennen gelernt, und ich sage Ihnen, das ist ein Trick, den sich die englischen Spymasters ausgedacht haben. Gezielte Falschinformation, um unsere Nachrichtendienste von ihrer eigentlichen Arbeit abzuhalten.» Er kniff eines seiner wässrig blauen Augen halb zu, fixierte seinen Untergebenen.

Ludwig Moyzisch nickte – wie er hoffte, gebührend unterwürfig. Als Mann des SD in Ankara war er Brigadeführer Schellenberg unterstellt, aber seine Situation wurde dadurch kompliziert, dass er als deutscher Handelsattaché in der Türkei gleichzeitig Ribbentrop unterstand. Deshalb musste er jetzt Ciceros Arbeit gegenüber dem SD und dem Reichsaußenminister verteidigen. Das hätte jeden nervös gemacht, da Ribbentrop nicht minder rachsüchtig war

«Jawohl, Herr Minister», sagte Moyzisch. «Ihre Zweifel sind sicher begründet, Herr Minister.»

«Dann sind wir ja jetzt wohl fertig.» Ribbentrop erhob sich abrupt.

Moyzisch sprang ebenfalls auf, stieß aber in seiner Hast, der Gegenwart des Reichsministers zu entkommen, den Stuhl um. «Entschuldigen Sie, Herr Reichsminister», sagte er und hob ihn wieder auf.

«Bemühen Sie sich nicht.» Ribbentrop wies mit einer Handbewegung auf die tropfende Zimmerdecke. «Wie Sie sehen, haben wir den letzten Besuch der britischen Luftwaffe noch nicht verwunden. Das oberste Stockwerk des Ministeriums fehlt, wie auch etliche Fensterscheiben auf dieser Etage. Und natürlich gibt es auch keine Heizung, aber wir bleiben dennoch lieber in Berlin, als uns in Rastenburg oder Berchtesgaden zu verkriechen.»

Ribbentrop begleitete Linkus und Moyzisch zur Tür seines Büros. Zu Moyzischs Erstaunen wirkte der Reichminister jetzt ganz höflich, fast als wollte er etwas von ihm. Ja, er hatte jetzt sogar ein leises Lächeln aufgesetzt.

«Darf ich fragen, was Sie Brigadeführer Schellenberg über diese Unterredung berichten werden?» Eine Hand in der Tasche seines Savile-Row-Anzugs, klimperte er nervös mit einem Schlüsselbund.

«Ich werde ihm berichten, was der Herr Reichsminister mir selbst erklärt haben», sagte Moyzisch. «Dass es sich um gezielte Falschinformation handelt. Um einen primitiven Trick des britischen Geheimdienstes.»

«Sehr richtig», sagte Ribbentrop, als stimmte er einer Meinung zu, die Moyzisch von sich aus geäußert hatte. «Sagen Sie Schellenberg, er verschwendet sein Geld. Auf diese Information hin zu handeln, wäre reine Idiotie. Meinen Sie nicht?»

«Kommen Sie gut in die Türkei zurück, Herr Moyzisch.» Und zu Linkus sagte er: «Bringen Sie Herrn Moyzisch hinaus, und lassen Sie dann Fritz am Haupteingang vorfahren. Wir müssen in fünf Minuten zum Bahnhof.»

Ribbentrop schloss die Tür und ging wieder zu dem Biedermeiertisch, wo er die Cicero-Fotos an sich nahm und sorgsam in seiner Sattelledermappe verstaute. Er war überzeugt, dass Moyzisch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Recht hatte, was die Echtheit der Dokumente anbelangte. Aber er hatte nicht die Absicht, das Schellenberg gegenüber in irgendeiner Form zu äußern, nur damit der SS-Brigadeführer diese wichtige, neue Information zum Anlass für irgendein idiotisches Husarenstück nahm. Das Letzte, was er wollte, war eine neue «Sondermission» des SD, so wie letzten Monat, als Otto Skorzeny und ein Trupp von 108 SS-Leuten mit dem Fallschirm auf einem Abruzzengipfel gelandet waren und Mussolini aus den Fängen der verräterischen Badoglio-Fraktion befreit hatten, die Italien den Alliierten übergeben wollte. Mussolini zu befreien, war eine Sache, hinterher zu entscheiden, was mit ihm passieren sollte, eine ganz andere. Dieses Problem zu lösen, war ihm zugefallen. Den Duce in der Republik von Salò am Gardasee unterzubringen, war eines der sinnloseren diplomatischen Unterfangen seiner Karriere gewesen. Wenn man ihn gefragt hätte, hätte er Mussolini dem alliierten Kriegsgericht überlassen.

Diese Cicero-Unterlagen aber waren etwas völlig anderes. Sie waren für ihn die Chance, seine Karriere wieder voranzubringen, zu beweisen, dass er tatsächlich «ein zweiter Bismarck» war, wie Hitler einst nach den erfolgreichen Verhandlungen über den Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion gesagt hatte. Der Krieg war der Feind der Diplomatie, aber jetzt, da klar war, dass Deutschland den Krieg nicht mehr gewinnen konnte, war die Zeit der Diplomatie – seiner Diplomatie – wieder angebrochen, und Ribbentrop hatte nicht vor, den SD mit seinen idiotischen Heldenstückchen Deutschlands Chancen auf einen Verhandlungsfrieden zunichte machen zu lassen.

Ribbentrop schloss seine Aktenmappe und eilte nach draußen.

Unter der hohen Laterne neben dem Hauptportal fand Ribbentrop die beiden Referenten, die ihn auf der Zugfahrt begleiten sollten: Rudolf Linkus und Paul Schmidt. Linkus nahm ihm die Aktenmappe ab und legte sie in den Kofferraum des riesigen, schwarzen Mercedes, der darauf wartete, sie alle drei zum Anhalter Bahnhof zu bringen. Ribbentrop schnupperte in die feuchtkalte Nachtluft, die vom Korditgeruch der Flak-Batterien am Pariser und am Leipziger Platz erfüllt war, und stieg dann in den Fond des Wagens.

Sie fuhren die Wilhelmstraße hinunter, vorbei am Gestapo-Hauptquartier, dann auf die Königgrätzer Straße und schließlich rechter Hand in den Bahnhof, wo es von Rentnern, Frauen und Kindern wimmelte, die, wie es ihnen der Goebbels-Erlass erlaubte, den Bombenangriffen der Alliierten zu entfliehen suchten.

Der Mercedes hielt an einem Bahnsteig, ein ganzes Stück abseits dieser weniger distinguierten Reisenden, neben einem windschnittig geformten, dunkelgrünen Zug, der bereits unter Dampf stand. Auf dem Bahnsteig waren in Fünf-Meter-Abständen SS-Leute postiert, um die zwölf Waggons und die beiden mit 200-Millimeter-Vierfachflak bestückten Geschützwagen zu bewachen. Dies war der Sonderzug Heinrich des Reichsführers-SS Heinrich Himmler und nach dem Führerzug der wichtigste Zug Deutschlands.

Ribbentrop stieg in einen der beiden Waggons, die für den Reichsaußenminister und dessen Stab reserviert waren. Schon jetzt ergaben das Schreibmaschinengeklapper und das Klirren des Geschirrs aus dem Speisewagen zwischen Ribbentrops Salonwagen und dem des Reichsführers-SS eine Geräuschkulisse, die es mit der eines jeden Ministeriumsbüros aufnehmen konnte. Um Punkt zwanzig Uhr fuhr der Heinrich ab, nach Osten, dorthin, wo einst Polen gewesen war.

«Fräulein Mundt», sagte Schmidt. «Stimmt etwas nicht, Herr Reichsminister?»

Ribbentrop machte auf dem Absatz kehrt und marschierte in den nächsten Wagen, wo mehrere Stenotypistinnen beim Anblick des Ministers unverzüglich zu tippen aufhörten und respektvoll aufstanden. Er ging zu Fräulein Mundt, durchsuchte ihren Ausgangskorb, entnahm ihm wortlos den Durchschlag von Schmidts Liste und ging dann wieder in seinen Salonwagen zurück. Dort

«Nur weil Sie verdammt noch mal zu faul sind, sich an das zu halten, was ich sage, gefährden Sie unser aller Leben», schnauzte er. «Indem Sie konkrete Einzelheiten dieser Moellhausen-Sache zu Papier bringen – noch dazu in einem offiziellen Dokument –, wiederholen Sie ebenjenen Weisungsverstoß, für den er aufs Strengste zu tadeln ist.»

Eitel von Moellhausen war Konsul in Rom und hatte in der Vorwoche ein Kabel nach Berlin geschickt, in dem er das Außenministerium darauf hinwies, dass der SD beabsichtige, 8800 italienische Juden «zur Liquidierung» in das österreichische Konzentrationslager Mauthausen zu deportieren. Das hatte einige Irritation hervorgerufen, denn Ribbentrop hatte strikte Weisung erteilt, dass Wörter wie «Liquidierung» nie und nimmer in schriftlichen Unterlagen des Außenministeriums auftauchen durften, für den Fall, dass diese Dokumente den Alliierten in die Hände fielen.

«Angenommen, dieser Zug würde von britischen Kommandotrupps gekapert», brüllte er. «Dann würde uns Ihre idiotische Liste ebenso sicher ans Messer liefern wie Moellhausens Kabel. Ich sagte es bereits, aber offenbar muss ich es noch einmal sagen. ‹Evakuierung›, ‹Umsiedlung›, ‹Wohnsitzverlegung›, das sind die Wörter, die in allen Dokumenten des Außenministeriums bezüglich der Lösung der europäischen Judenfrage zu benutzen sind. Dem Nächsten, der das vergisst, wird es ergehen wie Luther.» Ribbentrop ergriff das inkriminierende Schreiben samt Durchschlag und warf es Schmidt hin. «Vernichten Sie das. Und lassen Sie Fräulein Mundt diese Liste unverzüglich noch einmal tippen.»

«Wird sofort erledigt, Herr Reichsminister.»

Ribbentrop goss sich ein Glas Fachinger ein und wartete ungeduldig, dass Schmidt mit dem neu getippten Papier zurückkam. Da klopfte es an der anderen Tür des Waggons. Ein Ministeriumsbeamter öffnete sie und ließ einen kleinen, unscheinbaren SS-Obersturmbannführer herein, der seinem obersten Vorgesetzten

«Schönen Gruß vom Reichsführer, Herr Standartenführer», sagte Brandt. «Er lässt fragen, ob Sie Zeit haben, in seinen Wagen zu kommen.»

Schmidt kam mit der neuen Aufstellung zurück. Ribbentrop nahm sie wortlos entgegen und folgte dann Brandt durch die Ziehharmonika zwischen den beiden Wagen.

SS