Jungkater Wolle wird von Frauchen verwöhnt. »Herrlich«, denkt er, »Fressen und Schlafen und sonst gar nichts, es ist eine Lust zu leben.«

Doch in einer Gewitternacht hört er einen dumpfen Schlag im Wohnzimmer, und am nächsten Morgen entführt ein Rettungswagen Frauchen aus Wolles Leben, das von Stund an härter, aber auch spannender wird.

Ob er Frauchen suchen soll, obwohl sie ihn gewarnt hat, sich nicht plattfahren zu lassen? »Doch wer könnte mir dabei helfen?«, überlegt Wolle.

Herr Paul, der scharfzüngige und schlagkräftige Kater, der Jungkater nicht ausstehen kann? Christian, der Hund vom tunesischen Strand, der gerade einen Integrationstest bestanden hat? Martina, das karibische Voodoohuhn, das Wolles Schatten vermisst? Oder eher der freundliche Hofhund und Haiku-Dichter Tassilo?

»Ach«, träumt Wolle, »am liebsten würde ich mit Katharina losziehen, der wunderbaren weißen Katze, die nichts von mir wissen will …«

Volker Reiche, geboren 1944 in Belzig, lebt als freier Comiczeichner und Maler in Königstein /Taunus. Von 1985 bis 2006 zeichnete er die Serie Mecki für die Programmzeitschrift Hörzu, von 2002 bis 2015 den Comic-Strip Strizz für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Er wurde mehrfach ausgezeichnet. Zahlreiche Comicpublikationen, darunter sämtliche Folgen von Strizz in acht Bänden. www.volkerreiche.de

VOLKER REICHE

Meine
Pfote wirft
keinen
Schatten

ROMAN

0802-001.tif

INSEL VERLAG

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage 2016.

© Insel Verlag Berlin 2016

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Der Verlag weist darauf hin, dass dieses Buch farbige Abbildungen enthält, deren Lesbarkeit auf Geräten, die keine Farbwiedergabe erlauben, eingeschränkt ist.

Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

eISBN 978-3-458-75080-2

www.insel-verlag.de

Für Irma

«irn sult niht vil gevrâgen»

(Ihr sollt nicht viel fragen)

«œheim, waz wirret dier?»

(Oheim, was quält dich so?)

Wolfram von Eschenbach

Parzival

0802-002.tif

1

Ganz nah am Gitter

Ruht träumend der Kater und

Zuckt mit der Pfote.

Hofhund Tassilo,
Haiku-Dichter

Der gelb-rot-braune Kater schob vorsichtig die dornige Ranke beiseite. Er kroch aus seinem Versteck und blickte hinüber zum Gebüsch.

»Da hat was geraschelt. Vielleicht ein Vogel. Genau das Richtige zum Frühstück.«

Ja, eine Amsel. Der Kater duckte sich ins Gras und beobachtete sie.

»Bisschen groß. So einen großen Vogel hab ich noch nie erwischt.«

Er schlich Zentimeter für Zentimeter vorwärts.

»Ehrlich gesagt, einen kleinen hab ich auch noch nicht gefangen. Ebenso wenig ’ne Maus. Aber egal. Diesmal muss es klappen. Ich hab Hunger. Ich versuch’s mit ’nem Blitzangriff. Anschleichen klappt sowieso nicht.«

Er rannte los, die Amsel flog weg.

»Mist. Nie krieg ich eine. Nie, nie, nie.«

Er setzte sich aufrecht, legte den Schwanz über die Pfoten und maunzte kläglich.

»Bei anderen Katzen sieht es so einfach aus. Die räumen die Vögel reihenweise ab. Wahrscheinlich hat ihnen jemand gezeigt, wie man jagt.«

Er dachte an das Tierheim, in dem er gewohnt hatte.

»Dort hab ich gesehen, wie eine Katzenmutter ihren Jungen allerlei Tricks beibrachte. Sah lustig aus. Da hätt ich gern mitgemacht. Aber in diese Abteilung durften nur kleine Kätzchen und ihre Mütter rein. War ein Drahtzaun dazwischen.«

Er kratzte sich nachdenklich am Hals.

»Klein war ich auch. Aber ich hatte keine Mutter. Seltsam. Hat nicht jede Katze eine Mutter?«

Er ging langsam zurück zur Rosenhecke.

»Vielleicht hab ich auch eine. Ich kann mich nicht an sie erinnern. Schade.«

Ein unangenehmes Zwicken im Magen erinnerte ihn daran, dass er immer noch nicht gefrühstückt hatte. Ärgerlich schlug er nach einer Fliege, traf aber nicht.

»Ich geh zurück ins Tierheim. Jeden Tag Futter. Pünktlich und ohne Anstrengung. Voll beknackt, da abzuhauen. Klar, da war ein Spalt im Zaun, doch deshalb muss man ja nicht gleich raus auf die Straße rennen. Und dann nicht zurückfinden. Blöder geht’s nicht.«

Er sah sich um. Friedlich lag der Stadtpark in der Morgensonne. Aber er wusste es besser. Hier streunten eine Menge Katzen und Hunde herum, und nicht alle waren freundlich. Und keiner füllte einen Futternapf für ihn.

Heute wollte er den Trick ausprobieren, den die kleine struppige Katze verraten hatte. Wie man ins Tierheim kommt. Er hatte in den letzten Tagen jede Katze, die ihn nicht sofort anfauchte, gefragt: »Wie kommt man ins Tierheim?« Die meisten hatten gesagt: »Keine Ahnung«, und waren ihrer Wege gegangen. Andere hatten verächtlich gefragt: »Wieso willst du das wissen? Wer will denn ins Tierheim?« Und manche hatten noch hinzugefügt: »Knastbruder! Sklavenseele! Pfui!«

Doch gestern Nachmittag hatte er eine kleine struppige Katze getroffen, die vergnügt geantwortet hatte: »Ganz einfach. Du setzt dich dahin, wo Menschen sind. Dann wartest du. Irgendwann nimmt dich einer mit und bringt dich in ein Tierheim. So läuft die Kiste.«

»Und warum machst du das nicht?«, hatte er neugierig gefragt.

»Freiheit«, sagte sie. »Freiheit ist mein Ding.«

0802-003.tif

Heute wollte er ausprobieren, ob man wirklich so einfach ins Tierheim kommen konnte.

»Mal sehen, wo ich die Sache mit dem Warten, wo Menschen sind durchziehen kann. Das ist mein Ding. Kann die kleine struppige Katze ruhig bei ihrer Freiheit bleiben. Was soll das überhaupt sein – Freiheit? Wahrscheinlich das Leben im Freien. Freiheit – Freien. Genau das, was mir kein bisschen Spaß macht.«

Die Kinder entdeckten den gelb-rot-braunen Kater sofort.

Er saß auf dem Spielplatz des Stadtparks und putzte sich. Der Junge lachte. »Er hat Grund sich zu putzen. Schau dir sein Fell an. Ganz schön schmutzig und verfilzt.«

»Aber er freut sich, uns zu sehen«, sagte das Mädchen. »Hörst du? Er schnurrt.«

Sie ging in die Hocke und begann, den Kater zu streicheln.

»Er ist total lieb. Wollen wir ihn mitnehmen? Bestimmt hat er kein Zuhause.«

»Ja!«, rief der Junge begeistert.

»Hey«, dachte der Kater. »Der Trick klappt tatsächlich.«

Das Mädchen nahm ihn auf den Arm.

»Er ist ganz leicht!«, rief sie überrascht. »Dabei sieht er so dick aus. Ist alles Wolle!«

Sie nahmen ihn mit nach Hause und bettelten ihre Mutter an: »Dürfen wir ihn behalten? Bitte, bitte!«

»Tut mir leid«, sagte sie. »Das geht nicht. Unsere Wohnung ist zu klein. Wir bringen den armen Kerl ins Tierheim.«

»Genau«, dachte der Kater vergnügt, »Tierheim! Ganz wie es die kleine struppige Katze vorausgesagt hat.«

Die Leiterin des Tierheims Zur schönen Aussicht seufzte, als die Kinder mit dem Kater vor ihr standen.

»Wir haben schon genug Katzen, mehr als genug. Und Hunde, Kaninchen, Meerschweinchen und Schildkröten ohne Ende. Eigentlich können wir nicht mal mehr eine weiße Maus aufnehmen.«

Sie seufzte noch einmal.

»Okay. Hier wird keiner weggeschickt. Setzt ihn auf den Tisch.«

Sie klopfte mit einem Kugelschreiber auf den Tisch.

»Wie heißt er?«

»Wolle!«, rief das Mädchen. »Sein Fell ist dick wie Wolle!«

»Wolle ist gut«, sagte die Leiterin und schrieb den Namen in einen Katzenpass. »Wenn der Name wenige Silben hat, lernt ihn die Katze schneller.«

»Wolle hört sich gut an«, dachte der Kater. »Super, jetzt hab ich endlich einen Namen.«

Zum Zeichen seiner Zustimmung begann er zu schnurren.

Die Leiterin musterte Wolle.

»So, jetzt die Altersbestimmung. Ich sag immer: Zähne! Haltung! Fell!«

Sie öffnete geschickt Wolles Maul.

»Da muss ich durch, wenn ich hierbleiben will«, dachte Wolle und rührte sich nicht.

Die Leiterin sah ihn scharf an.

»Frei lebende Katzen lassen sich selten anfassen. Unkastrierte Kater schon gar nicht. Vielleicht ist er eingeschüchtert. Oder dumm. Kommt auch bei Katzen vor.«

Sie lachte leise.

»Also, die Zähne: zweites Gebiss. Sehr spitz und guter Zustand. Die Haltung: Er steht zwar aufrecht, wirkt aber tapsig. Das Fell: schmutzig und verfilzt, aber keine Schrammen und Narben.«

Sie hob ihn kurz hoch und setzte ihn wieder ab.

»Für seine Größe ist er zu leicht. Zu wenig Futter bekommen. Das bedeutet«, schloss sie, »er ist ein, allerhöchstens zwei Jahre alt.«

Zufrieden trug sie die Zahl in den Tierpass ein.

Wolle hatte interessiert zugehört. Er hatte sich nie Gedanken über sein Alter gemacht. Aber offenbar hatte er ein Alter, das war doch schon mal was.

Die Leiterin öffnete eine Tür und rief: »Janina! Hier ist ein Neuzugang. Er heißt Wolle. Bitte kräftig bürsten. Und Floh-Ex drauf! Wie? Nein, nicht ins Freigehege zu den anderen Katzen. In einen Einzelkäfig. Wer weiß, was er für Krankheiten hat. Und füttern. Alles klar?«

Sie wandte sich an die Frau mit den beiden Kindern.

»Bei Fundkatzen nehmen wir keine Einlieferungsgebühr. Eine Spende wäre allerdings hochwillkommen. Wir haben immense Ausgaben für Futter und Tierärzte. Wolle wird jetzt erst mal rausgefüttert, und morgen kommt die Tierärztin. Jeder noch so kleine Betrag hilft uns. Selbstverständlich können Sie eine Spendenquittung bekommen.«

Inzwischen war Tierpflegerin Janina hereingekommen, packte Wolle und verschwand wieder.

»Tschüss, Wolle!«, riefen die Kinder und winkten hinterher.

Wolle sah sich in seinem neuen Käfig um.

»Fast zu groß. Und jeder kann mich sehen. Nicht so toll.«

Er rüttelte an der Käfigtür.

»Gut, stabile Sache. Hier kann wenigstens keiner so einfach reinspazieren.«

Das Futter war herrlich. Tierpflegerin Janina hatte einen Napf in den Käfig gestellt: Fleischstückchen in Soße – keine Chance, so was im Stadtpark zu finden. Dort hatte er einmal eine schon angeknabberte tote Ratte gefunden und versucht, davon zu fressen. Schwierig. Richtige Arbeit, das zähe Fleisch vom Knochen zu lösen. Dagegen hier, die Stückchen, die er aus der Soße herausfischte, zergingen auf der Zunge.

»Schnell und leicht zu fressen. So muss es sein«, dachte er zufrieden. »Die nächsten Tage gibt es nur drei Dinge: Fressen, Schlafen, Katzenklo. Und dann wieder: Fressen, Schlafen, Katzenklo. Hihihi!«

Janina dachte ähnlich.

»Der Neue ist zu dünn. Jede Menge Fell, aber leerer Bauch. Jungkater brauchen Futter ohne Ende, das steht fest. Zeit für eine Extraration.«

0802-004.tif

Sie öffnete die Käfigtür und füllte Wolles Napf erneut. Als sie sah, wie er sich sofort darüber hermachte, bekam auch sie Hunger. Sie blickte auf die Uhr.

»Hm … Noch eine Viertelstunde bis zum Frühstück.«

Sie besah prüfend den Boden. »Sauber, würd ich sagen. Muss nicht gewischt werden. Egal, was im Plan steht.«

Sie sah hinüber zum Büro und lauschte.

»Die Chefin telefoniert. Das dauert meistens lang. Kann ich genauso gut schon Frühstück machen.«

Sie nahm aus ihrem Spind zwei Schokoriegel, eine Büchse Cola und ihr Handy. Dann rückte sie eine Transportkiste neben Wolles Käfig und lehnte sich an die Wand. Während sie aß und trank, betrachtete sie Wolle.

»Hab ’ne Menge Dornen aus seinem Fell gebürstet. Er hat wahrscheinlich bei den Rosenhecken im Stadtpark gelebt. Irgendwie gefällt es den Biestern da. Aber bei mir haben sie es besser.«

Sie wischte über ihr Handy und tippte eine SMS.

»Liebe Mama, viel Arbeit, aber alles im Griff. Deine Nina.«

Zufrieden las sie den Text noch einmal durch. Dann schickte sie die SMS ab. Ihre Mutter würde sie nicht lesen, klar. Um diese Zeit zog sich Mama TV-Gerichtsdokus rein. Aber das machte nichts. Abends konnte sie ihr die SMS zeigen. Damit Mama mal wieder daran erinnert wurde, wer das Geld nach Hause brachte.

Janina lehnte sich zurück, schloss die Augen und döste ein bisschen. Dann richtete sie sich auf, sah auf die Uhr und klatschte in die Hände.

»Dann wollen wir mal! Ich wette, Wolle hat schon wieder Hunger. Kein Problem, Nina kommt.«

Spätabends kauerte Wolle in seinem Käfig und fühlte sich nicht mehr so gut. Sein Magen zwickte und drückte. Janina hatte seinen Napf noch ein paarmal gefüllt, und er hatte alles verputzt. Auch als er längst satt war.

Er stand auf und trank einen Schluck Wasser.

»Ein paar Grashalme wären nicht schlecht. Gut für die Verdauung. Die hab ich oft draußen gefressen. Konnten wenigstens nicht weglaufen.«

Hinter der Wand schrie plötzlich eine Katze auf, eine andere fauchte. Erschrocken starrte er in den von einem Notlicht spärlich erhellten Gang und lauschte beklommen.

»Da hinten ist sicher das Freigehege für Katzen. Nichts für mich. Ich bleib lieber in meinem Einzelkäfig. Genau, ich krall mich hier fest.«

Er dehnte und streckte sich und merkte, dass der Schreck seine Verkrampfung gelöst hatte. Die Schmerzen im Magen waren weg.

»Super«, murmelte er, rollte sich zusammen und legte den Kopf auf die Pfoten.

»Endlich wieder im Tierheim«, dachte er, bevor er einschlief. »Sicher und versorgt. Genau mein Ding. Niemand kriegt mich hier wieder weg.«

Doch da irrte sich Wolle gewaltig. Bereits am nächsten Tag war sein Gastspiel im Tierheim Zur schönen Aussicht beendet, und ein neuer Abschnitt in seinem Leben begann.

0802-005.tif

2

Blauer Schein von vorn

Und laut. Doch Sicherheit gibt

Das alte Sofa.

Tassilo

»Das wird dir gefallen«, sagte Frauchen. Sie ging zur Schrankwand, bückte sich ächzend und legte eine DVD in den Player ein. Dann kam sie zum Sofa zurück und setzte sich auf ihre Seite. Ihre Seite, seine Seite – das gefiel Wolle. Wenn Frauchen sich vor den Bildschirm setzte, sprang er auf das Sofa und ließ sich auf seiner Seite nieder. Auf seiner Decke. Wunderbar weich und dennoch griffig. Wenn er die Krallen in den Stoff senkte und sie mit einem kleinen Reißgeräusch wieder herauszog, schimpfte Frauchen nicht, sondern lächelte und sagte: »Alle Katzen ratzen, alle Katzen kratzen.«

»Stimmt«, dachte er. Seit Frauchen ihn nach nur einer Nacht aus dem Tierheim geholt hatte, ratzte er viele Stunden am Tag. In der Nacht sowieso.

Wunderbare Schlafplätze gab es reichlich. Einen Korb im Schlafzimmer, eine Plattform ganz oben auf dem Kratzbaum, einen Stapel Zeitungen unten in der Schrankwand und besonders herrlich, weil verboten, einen kuscheligen Platz auf Pullovern im Kleiderschrank. Großartig auch der Platz auf der Marmorplatte am Wohnzimmerfenster. Hier konnte Wolle nicht nur schlafen, sondern auch das Geschehen unten auf der Straße beobachten. Viel zu sehen gab es allerdings nicht, es schien ein ruhiges Wohnviertel zu sein. Ab und zu kam ein Auto vorbei oder ein Fußgänger mit Hund, das war nicht besonders spannend.

Aufregend wurde es, wenn Wolle unten die Katze entdeckte. Eine weiße Katze. Ein Ruck ging durch ihn, er maunzte und verfolgte mit Spannung jeden ihrer Schritte. Der Ablauf war immer der gleiche. Sie trat überraschend aus dem Gebüsch oberhalb der Straße, sah sich aufmerksam um, lief hinunter zum Gehweg und prüfte, was dort und im Rinnstein lag. Dann lief sie ein Stück weiter, blickte sich erneut um, kletterte den Abhang wieder hinauf und verschwand. Nie sah sie hoch zu seinem Fenster im dritten Stock. Wolle wusste nicht recht, ob er das bedauern sollte. »Vielleicht sind die Katzen hier in der Gegend genauso beknackt wie die im Stadtpark. Kratzen und fauchen, das können sie. Mehr nicht. Nein, danke, kein Interesse.«

Frauchen schaltete den Fernseher ein. »Kennst du Lassie kehrt zurück? Ha! Natürlich nicht. Im Tierheim gibt’s keinen Filmabend. Ist ein hübscher Tierfilm. Alt, aber gut. Genau das Richtige für dich. Lassie ist eine Hündin, klug und treu. Sie wird verkauft, reißt aber aus und läuft zurück nach Hause. Los, dreh dich um und schau zu! Das ist kein Hörspiel.«

Die ersten Tage in der neuen Wohnung hatten Wolle die lauten Geräusche, Stimmen und die Musik aus dem Fernseher erschreckt. Wenn Frauchen voll aufdrehte, floh er ins Schlafzimmer unters Bett.

Doch bald merkte er, dass dieser Lärm keine Gefahr bedeutete. Selbst wenn der Fernseher laut bellte und bösartig knurrte, stürzte sich kein Hund auf ihn.

0802-006.tif

Frauchen hatte keine Angst, das war klar. Jeden Abend setzte sie sich furchtlos vor den Bildschirm und trank ihr Bier. Ab und zu klopfte sie leicht auf die Decke neben sich und rief: »Komm, Wolle, hier ist dein Platz!« Als er nach einigen Wochen sich zum ersten Mal neben sie legte, belohnte sie ihn durch langes Streicheln. Schnell wurde der gemeinsame Fernseh- und Streichelabend zum festen Bestandteil des Tages.

Frauchen blickte zu Wolle hinüber. Er lag zusammengerollt auf seiner Fernsehdecke, abgewandt vom Bildschirm.

»Du wirst schon noch auf den Trichter kommen. Ich hatte mal einen Kater, der hat sofort kapiert, wie Fernsehen geht. Attila. Kluges Tier. Ist eines Tages verschwunden. Hab alles versucht, ihn zu finden. Keine Chance. Vielleicht lebt er noch, wer weiß.«

Sie zeigte zum Fernseher.

»Wenn ein Vogel auf der Mattscheibe erschien, hat Attila das Jagdfieber gepackt. Er ist auf den Fernseher gesprungen und hat versucht, den Piepmatz von oben mit der Kralle zu erwischen.«

Sie kratzte sich am Arm und lachte.

»Mattscheibe! Wer kennt das denn heute noch? Bis letztes Jahr hatte ich tatsächlich noch so einen alten dicken Röhrenfernseher. Attila hat sich draufgelegt. Mit den LED-Deckeln heute geht das nicht mehr.«

Wolle überlegte. War es klug, Jagd auf Vögel zu machen, die nicht richtig da waren, sondern nur irgendwie im Fernseher?

»Keine Ahnung«, dachte er. »Vielleicht ist Attila klug. Vielleicht nicht. Woher soll ich das wissen?«

Er schloss die Augen. »Ich muss nichts wissen. Ich bin ein Jungkater und brauch Futter ohne Ende. Sagt Janina, meine Tierpflegerin. Von klug war nicht die Rede.«

Er räkelte sich zufrieden auf seiner Decke und dachte an seinen letzten Vormittag im Tierheim.

Zum Frühstück hatte Janina wieder Fleischbröckchen in Soße gebracht. Es schmeckte genau wie am Tag zuvor. Kein Grund zur Klage, aber Wolle hatte auf Abwechslung gehofft. Janina war in Eile. Sie klatschte das Futter in den Napf und rief im Weggehen: »Teil es dir ein! Nachmittags kommt die Tierärztin, bis dahin gibt’s nichts mehr.«

Wolle spähte unruhig in den Gang vor seinem Käfig. Was war von einer Tierärztin zu erwarten? Musste er sich fürchten? Er konnte sich nicht erinnern, jemals mit einer Tierärztin zu tun gehabt zu haben. Sinnlos, sich verrückt zu machen. Er fraß seinen Napf leer, rollte sich in einer Ecke zusammen und schlief ein.

Das Geräusch einer Tür, die energisch geöffnet wurde, und die laute Stimme der Tierheimleiterin weckten ihn.

»Eine junge Katze suchen Sie? Kann es auch eine ältere sein? Wir haben viele Katzen, die schon lange auf ein neues Zuhause warten. Alle lieb, alle ruhig. Die wollen wir zuerst vermitteln. Jede verdient einen schönen Lebensabend. Kommen Sie, ich zeige Ihnen ein paar sehr nette ältere Katzen.«

Eine andere Frauenstimme antwortete ruhig: »Ich habe nichts gegen ältere Katzen. Bin ja selbst nicht mehr die Jüngste. Wenn der da oben es will, dann habe ich noch zehn oder fünfzehn Jahre, vielleicht auch ein paar mehr. Und die will ich gern mit einer Katze verbringen. Deshalb suche ich eine junge Katze.«

Die Leiterin antwortete: »Verstehe. Aber leider haben wir im Augenblick keine da.«

Wolle hatte sich aufgesetzt und sah, dass die Leiterin und die andere Frau sich seinem Käfig näherten. Schnell duckte er sich in die hinterste Ecke.

»Eine junge Katze?«, dachte er. »Kein Interesse. Mein Zuhause ist hier.«

Die beiden Frauen gingen an seinem Käfig vorbei. Wolle atmete auf. »Uff, das war knapp.«

Plötzlich blieb die andere Frau stehen und drehte sich um. Sie kam zurück.

»Und die da? Ist das nicht eine junge Katze? Oder ein Katerchen?«

Die Leiterin kehrte ebenfalls um und betrachtete Wolle.

»Richtig, das ist ein Jungkater. Der einzige, den wir im Moment haben. Aber ich rate ab. Er wurde im Freien aufgegriffen und ist erst seit gestern hier. Noch nicht auf Krankheiten untersucht und unkastriert. Außerdem wissen wir gern über die Tiere Bescheid, die wir vermitteln. Wir schätzen es nicht, wenn Tiere zurückgebracht werden, weil sie nicht den Vorstellungen des neuen Besitzers entsprechen. Über seinen Charakter kann ich noch nichts sagen. Wenn Sie Pech haben, zerreißt er in null Komma nichts Ihre Polstermöbel.«

»Ach«, sagte die andere Frau, »besonders wild sieht er nicht aus. Scheint mir eher ein ruhiger Typ zu sein. Vielleicht sogar ein bisschen ängstlich.«

Sie betrachtete Wolle genauer. »Im Freien gelebt? Ja, sieht ziemlich zerrupft aus. Aber lieb. Hat er einen Namen?«

»Wolle«, brummte die Leiterin.

»Wolle? Das passt. Ich würde ihn sehr gern mitnehmen. Hab mich schon in ihn verliebt.«

Die Leiterin hob abwehrend die Hände. »Langsam, langsam. Erst muss er untersucht werden. Die Tierärztin kommt heute Nachmittag. Sie können ja später noch einmal –«

»Nein, nein«, sagte die Frau schnell, »kein Problem. Dafür sorge ich schon. Und auf Ihre Vermittlungsgebühr lege ich noch eine Spende drauf. Werden wir uns so einig?«

Die Leiterin rückte unwillig ihre Brille zurecht, dann hob sie resignierend die Hände. »Na gut. Auf Ihr Risiko. Aber nicht in ein paar Tagen zurückbringen. Kommen Sie bitte mit in mein Büro. Einen Transportkorb haben Sie ja schon dabei. Die Pflegerin setzt ihn rein.«

Sie wandte sich um und rief in den Gang hinein: »Janina! Wo steckst du? Pack Wolle in den Korb!«

Im Büro ergriff sie Wolles Tierpass, der noch auf dem Schreibtisch lag, wedelte sich damit Luft zu und sagte:

»Der Betrieb eines Tierheims ist sehr kostspielig. Unsere Ausgaben sind immens. Sie machen sich keine Vorstellung, wie viel Futter wir unentwegt kaufen müssen. Und, wie gesagt, heute kommt die Tierärztin, das geht extrem ins Geld. Okay, okay, ich will nicht jammern, aber –«

Sie hielt inne, weil die Frau, den Transportkorb mit Wolle bereits zu ihren Füßen, ihr entschlossen einen Hundert-Euro- und einen Fünfzig-Euro-Schein entgegenstreckte und sagte: »Bitte nehmen Sie. Reicht das?«

Die Leiterin schwieg, nahm das Geld, öffnete eine Schublade und legte es hinein. Dann reichte sie Wolles neuem Frauchen den Tierpass.

»Danke. Brauchen Sie eine Quittung?«

»Nein, danke. Damit kann ich nichts anfangen.«

Wolles Frauchen bückte sich und hob den Korb hoch.

»Oh! Ich hätte gedacht, er ist schwerer. So kann man sich täuschen. Na, dagegen kann man ja was tun.«

Sie grüßte freundlich und ging mit dem Korb zum Ausgang. Die Leiterin rief ihr nach: »Ach ja, noch eins. Ihr Kater ist vielleicht nicht der hellste. Überfordern Sie ihn nicht!«

»Alles klar«, sagte Wolles Frauchen, öffnete die Tür und ging hinaus auf die Straße.

Wolle saß im schaukelnden Transportkorb und dachte: »Mist. Ich wollte mich doch im Käfig festkrallen. Hab ich ganz vergessen.«

Durch die kleine Gittertür des Korbes blickte er nach draußen. »Vielleicht hab ich Glück, und sie wohnt in einem Tierheim. Eine Art Tierheim. Nur für mich.«

»Vorsicht, der Lastwagen!«, rief Frauchen. »Jesses, das war knapp. Haben die Leute keine Augen im Kopf?! Man sieht doch, wenn ein Hund über die Straße läuft.«

Sie blickte zu Wolle. »Hast du das mitgekriegt? Beinahe wäre Lassie überfahren worden.«

Sie trank einen Schluck Bier. »Na ja, Kino. Der Hauptperson kann nicht wirklich was Schlimmes passieren. Sonst wär der Film ja zu Ende.«

Sie langte hinüber zu Wolle und zog ihn am Ohr.

»Ich sag dir was. Renn nicht auf der Straße rum. Lassie kriegt das auf die Reihe, klar. Sie kennt sich aus, und im Drehbuch steht, dass ihr nichts passieren darf. Bei dir sieht das anders aus. Also, bleib bei Mami und lass es dir gutgehen. Ich hab dich schließlich nicht hochgepäppelt, damit du dich plattfahren lässt.«

Gutgehen lassen – das vor allem leuchtete Wolle ein.

»Das Wichtigste fürs Gutgehen ist tolles Futter. Und was Frauchen mir hinstellt, ist super. Schmeckt noch besser als im Tierheim!«

Das kleingeschnittene Rindfleisch am Morgen war ein guter Start in den Tag. Zum zweiten Frühstück ein kleiner Teller Crème fraîche. Noch besser. Mittags zeigte Frauchen ihm Dosen und fragte, welche Sorte er gern hätte.

»Wildpastete mit Aspik? Geflügelcocktail mit Ente? Oder feines Ragout mit Pute?«

»Mau!«, sagte Wolle und überließ Frauchen die Auswahl. Er konnte die Sorten nicht unterscheiden. Würzig und nach mehr schmeckten sie alle.

0802-007.tif

Nachmittags gab’s Vitaminpaste aus der Tube, am Abend noch mal Fleisch oder Fisch aus der Dose. Zum Nachtisch Käsestückchen, deren kräftigen Geschmack Wolle sehr schätzte.

Nur das Katzengras im Blumentopf war nicht so toll. Die Halme waren zu weich und schmeckten langweilig. Kein Vergleich zu den Gräsern im Freien.

»Wär echt ein Grund, vielleicht doch mal rauszugehen. Und wenn ich blitzschnell über die Straße flitze, werd ich bestimmt nicht plattgefahren.«

Frauchen trank ihr Bier zur Hälfte leer und wischte sich den Mund.

»Glaub bloß nicht, dass ich früher immer zu Hause gehockt hab. Vor vierzig, fünfzig Jahren waren wir viel auf Achse. Mein Mann Robbe und ich. Mit dem Motorrad. Ich hatte ’ne Honda 350, er ’ne BMW 500. Tolle Bikes.«

Sie drehte sich zu Wolle und zeigte mit dem Finger auf ihn.

»Ja, lach nur. Du meinst, die Dinger hatten ’nen schlappen Motor? Okay, die Bikes von heute haben viel mehr PS. Aber langsam waren wir auch nicht. Wenn wir voll aufdrehten, waren wir in sieben Sekunden auf hundert. Wie ein Porsche! Reicht doch, oder?«

Sie sah zum Fernseher und rief: »Ach! Jetzt haben wir die beste Stelle verpasst. Lassie schlägt die Räuber in die Flucht. Tja, entweder reden oder gucken.«

Sie griff zur Fernbedienung. »Wir können ja zurückspulen. Die Szene mit den Räubern musst du sehen.«

Dann schlug sie sich an den Kopf und lachte.

»Mann, heute bin ich echt auf ’nem Nostalgie-Trip. Zurückspulen! Gibt’s nicht mehr. Ist schließlich keine VHS-Kassette. Na ja, immerhin dreht sich die DVD. Aber DVDs sind auch out. Heute macht man Streaming

Sie klopfte Wolle mit dem Finger auf die Nase. »Wollen wir Streaming machen? Wir können Tag und Nacht Filme gucken. Vielleicht gibt’s da sogar Easy Rider. Genialer Film.«

Sie lehnte sich zurück, rief: »Steppenwolf!« und begann laut zu singen:

»Get your motor runnin’

Head out on the highway

Lookin’ for adventure

And whatever comes our way«

Wolle erschrak. Er hatte Frauchen nie singen hören. Ihre Stimme hörte sich plötzlich sehr fremdartig an. Und es kam noch schlimmer. Sie rief: »Jetzt kommt der Refrain!«, stieß beide Fäuste geballt nach oben und schaukelte mit dem Oberkörper. Ihr Gesang wurde noch lauter, und sie zog das »wild« schrecklich in die Länge:

»Born to be wild

Born to be wild

We can climb so high

I never wanna die«

0802-008.tif

Wolle sträubten sich die Haare. Er machte einen Buckel und fauchte. Dann sprang er vom Sofa und rannte in die Küche, verfolgt von Frauchens Rufen.

»Bleib hier, Dummkopf! Das ist ein Lied aus Easy Rider! Ein super Song von Steppenwolf! Darf ich nicht mal singen? Freiheit, du Opa!«

Sie erhob sich hustend und folgte ihm in die Küche.

»Auf den Schreck ’nen Snack. Ein Leckerli. Miniherzen! Probier mal.«

Sie legte eine Handvoll Miniherzen in Wolles Napf. Er roch daran und kostete. Frauchen beobachtete zufrieden, wie er den Teller leerte. »Nicht übel, was? Sind gut für die Nerven.« Sie hob ihn auf und trug ihn zurück zum Sofa.

Sie ließ sich auf ihrer Seite nieder und sah Wolle an. »Allmählich solltest du mich kennen. Ich tu dir nichts, das weißt du doch.«

Sie streckte zufrieden ihre Beine.

»Ich fand meinen Gesang nicht schlecht. Textsicher, und die Töne hab ich auch einigermaßen getroffen, obwohl ich den Song ewig nicht gesungen hab.«

Sie sah zur Schrankwand hinüber. Dort stand ein gerahmtes Foto eines ernst blickenden Mannes mit kurzen grauen Haaren in Anzugsjacke mit Krawatte.

»Da war Robbe schon älter. Sehr viel älter. Früher, als er noch lange Haare hatte, sind wir mit unseren Bikes durch die Gegend gedüst und haben Born to be wild gesungen. Beim Fahren so laut wie möglich, um uns wenigstens selbst zu hören. Es war unser Lied. Abends im Zelt hat Robbe für mich gesungen. Sehr zart und leise. Alle Strophen, er konnte sich diesen Kram ganz leicht merken. Was wir danach gemacht haben, geht dich nichts an. War aber auch ziemlich wild, kannst du glauben.«

Sie wischte mit dem Zeigefinger eine Träne aus dem Augenwinkel. Dann zog sie aus dem Ärmel ihres Kleides ein zerknülltes Taschentuch und putzte sich die Nase.

»Alte Heulsuse, das ist lange her.«

Energisch schob sie das Taschentuch in den Ärmel zurück.

»Nimm das nicht ernst, Wolle. Hat nichts zu sagen.«

Sie setzte sich aufrecht und klatschte in die Hände.

»Wir waren gut im Singen und hatten ’ne Menge Lieder drauf. Going up the country und On the road again. Und den Stones-Song I can’t get no Satisfaction. Den haben wir auf Deutsch gesungen. In der Version der Frankfurter Spontis. Robbe hat sich zu diesen Typen irgendwie dazugezählt.«

Sie legte sacht eine Hand auf Wolles Nacken.

»Nicht erschrecken, mein Katerchen. Hör zu!«

Sie wiegte sich wieder ein bisschen hin und her, ließ aber eine Hand auf Wolle liegen. Dann sang sie: »Ich bin noch immer unbefriedigt –«

Sie unterbrach sich, weil sie lachen musste.

»Das haben die Kerle auf den Partys nach Mitternacht gesungen. Besser gesagt: gegrölt.«

Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

»War schon lustig. Aber Motorrad war besser als Party. Bis ans Ende der Welt sind wir gefahren, nach Finisterre in Spanien. Da gab’s nichts zu sehen, aber super Fisch. Und Hummer. Total billig.«

Sie stand mühsam auf, schwankte ein bisschen, holte noch eine Flasche Bier aus der Küche und trank einen Schluck direkt aus der Flasche.

»Ob du die Mad-Max-Filme kennst, frag ich dich lieber nicht. Kann mir die Antwort schon denken. Da hinten an der Wand, das ist das Plakat vom letzten Mad-Max-Film. Den hab ich noch nicht gesehen. Die DVD kaufe ich mir erst, wenn sie im Ramsch ist. Ist aber auch egal, der erste ist sowieso der beste Film. Robbe hat ihn geliebt. Wir haben ihn bestimmt zehnmal gesehen. Robbe hatte einen genialen Stunt aus dem Film drauf. Wenn Mad Max blitzschnell ans Steuer seines Autos will, er aber auf der falschen Seite steht, dann geht er nicht pomadig ums Auto herum und steigt gemütlich ein. Nein, er springt in die Luft, dreht sich und knallt mit dem Rücken auf die Motorhaube. Wird hochgeschleudert, landet sicher und steigt ein. Robbe konnte das auch. Hat’s bei seinem alten Opel gemacht, einwandfrei.«

Sie goss ihr Glas voll. Auf dem Beistelltisch bildete sich unbemerkt eine Bierlache.

»Robbe hat nie trainiert. So was konnte er, einfach so. Bis dieser Mist passierte. Mit dem Rücken. Dieser elende Mist. Armer Robbe. Mutiger Robbe. Blöder Robbe.«

Sie wandte sich an Wolle und sagte streng: »Früher war nicht alles lustig. Oder schön. Weiß Gott nicht.«

Sie seufzte, hustete und putzte sich die Nase.

»Draußen war’s eigentlich immer gut. Wenn wir auf Achse waren. Was wir alles erlebt haben. On the road.«

Sie drückte ihre Fingerspitzen an die Schläfen und sah zu Boden. Dann blickte sie hinüber zu Wolle.

»So geht’s nicht weiter, Wolle. Ich darf nicht so egoistisch sein. Du sollst auch was erleben. Draußen. Ab morgen kannst du raus. Wir trainieren das. Ganz langsam. Treppenhaus. Katzenklappe. Straße. Sicherheitstraining. Das ganze Paket.«

Sie lachte krächzend.

»Aber glaub bloß nicht, dass ich dir ein Motorrad schenke. Das kannst du dir abschminken.«

Sie lehnte sich zurück, sah zum Fernseher und griff nach der Fernbedienung.

»Schluss mit dem Gequake. Jetzt wird Lassie geguckt.«

Sie drückte auf die Play-Taste, Lassie begann heftig zu bellen. Wolle blinzelte kurz zum Bildschirm hinüber, dann schlief er ein. Er hatte einen spannenden Traum. Von Wolle, dem furchtlosen Kater, genannt Mad Max Wolle. Und von seinem kühnen Kumpel auf der Straße, genannt – ja, wie? Robbe? Oder Attila?

0802-009.tif

3

Im wilden Laub, sieh,

Und auf steinigen Pfaden:

Die weiße Katze.

Tassilo

0802-010.tif