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Enrique ist glücklich verheiratet, beruflich erfolgreich und hat ein Riesenproblem: Er wird erpresst. Von dem Besitzer eines Boulevardblatts, der belastende Fotos hat und Enrique zwingen will, in die strauchelnde Zeitschrift zu investieren. Enrique sucht Rat bei Luciano, seinem alten Weggefährten und Anwalt, verliert jedoch im entscheidenden Moment die Nerven und bietet dem Erpresser offen die Stirn. Und während Enrique darauf in undurchsichtige Machenschaften gerät, die aus den allerhöchsten Regierungskreisen gesteuert scheinen, kommen sich seine und Lucianos Frau mehr als nur freundschaftlich nahe.

 Mario Vargas Llosa hat einen wendigen, fintenreichen Roman über das Peru der späten 1990er Jahre geschrieben. Und ein so kunstreiches wie lebensechtes Panorama der menschlichen Verhältnisse geschaffen.

 

Mario Vargas Llosa, geboren 1936 im peruanischen Arequipa, lebt heute in Madrid. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen erhielt er 2010 den Nobelpreis für Literatur. Sein schriftstellerisches Werk erscheint auf Deutsch im Suhrkamp Verlag.

 

Thomas Brovot lebt als Übersetzer (u. ‌a. Reinaldo Arenas, Juan Goytisolo, Federico García Lorca) in Berlin.

 

 

Mario Vargas Llosa

DIE ENTHÜLLUNG

Roman

Aus dem Spanischen von
Thomas Brovot

Suhrkamp

 

 

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Cinco esquinas bei Alfaguara, Madrid.

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Mario Vargas Llosa, 2016

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagabbildung: Jochen van Eden/VISUM; Stephen Shepherd/plainpicture

 

eISBN 978-3-518-74774-2

www.suhrkamp.de

 

 





Für Alonso Cueto





Die Enthüllung ist ein Werk der Fiktion. Für einige Figuren hat sich der Autor von realen Personen inspirieren lassen, deren Namen sie überdies tragen, auch wenn sie im gesamten Roman als fiktive Personen agieren. Der Autor hat sich erlaubt, jederzeit völlig frei zu erzählen, ohne dass die erzählten Ereignisse mit der Wirklichkeit übereinstimmten.

1

Marisas Traum

War sie aufgewacht oder träumte sie noch? Dieser heiße Kitzel am rechten Fußrücken war die ganze Zeit da, ein ungewöhnliches Gefühl, das mit einem Kribbeln ihren ganzen Körper erfasste und ihr sagte, dass sie nicht allein im Bett lag. Ein Wust von Erinnerungen kam herbeigesaust, aber sie sortierten sich, wie ein Kreuzworträtsel, das sich allmählich füllt. Sie waren gut gelaunt gewesen, auch ein wenig angesäuselt von dem Wein nach dem Essen, kamen vom Terrorismus auf die Filme zu sprechen und auf den Gesellschaftsklatsch, als Chabela auf die Uhr sah und hochsprang, ganz blass: »Die Ausgangssperre! Mein Gott, das schaffe ich nicht mehr bis nach La Rinconada. Wie uns die Zeit davongeflogen ist.« Marisa bestand darauf, dass sie über Nacht blieb. Probleme gäbe es nicht, denn Quique war nach Arequipa gefahren, wegen einer Vorstandssitzung morgen früh in der Brauerei, sie waren Herrinnen über die Wohnung am Golfplatz. Chabela rief ihren Mann an, und Luciano, immer verständnisvoll, sagte, es spreche nichts dagegen, er werde sich darum kümmern, dass die beiden Mädchen pünktlich den Schulbus nähmen. Chabelita solle einfach bei Marisa bleiben, das sei besser, als gegen die Ausgangssperre zu verstoßen und von einer Patrouille angehalten zu werden. Verdammte Ausgangssperre. Aber klar, der Terrorismus war schlimmer.

Chabela blieb über Nacht, und Marisa spürte nun die Fußsohle ihrer Freundin auf dem rechten Spann: ein leichter Druck, ein sanftes, warmes, zärtliches Gefühl. Wie kam es, dass sie so nah beieinanderlagen in diesem großen Ehebett, über das Chabela, als sie es sah, gescherzt hatte: »Mensch, Marisita, kannst du mir sagen, wie viele Personen in dem Riesending schlafen?« Sie erinnerte sich noch, wie sie sich auf ihre jeweilige Seite gelegt hatten, mit mindestens einem halben Meter Abstand. Wer von ihnen beiden war im Schlaf so weit gerutscht, dass Chabelas Fuß nun auf dem ihren lag?

Sie traute sich nicht, sich zu rühren. Sie hielt den Atem an, um ihre Freundin nicht zu wecken, nicht dass sie den Fuß zurückzog und dieses angenehme Gefühl verschwand, das vom Fußrücken aus ihren ganzen Körper ergriff und sie in Spannung hielt, konzentriert. Nach und nach erkannte sie im Dunkel des Schlafzimmers ein paar Streifen Licht in den Jalousien, den Schatten der Kommode, die Tür zur Ankleide, die Badezimmertür, die Rechtecke der Gemälde an der Wand, Tilsas Wüste mit Schlangenfrau, Szyszlos Kammer mit dem Totem, die Stehlampe, die Skulptur von Berrocal. Sie schloss die Augen und lauschte: ganz schwach, aber regelmäßig, das war Chabelas Atem. Sie schlief, vielleicht träumte sie auch, bestimmt war sie selber im Schlaf an den Körper ihrer Freundin herangerückt.

Überrascht, beschämt fragte sie sich erneut, ob sie wach war oder träumte, und schließlich wurde Marisa klar, was ihr Körper längst wusste – sie war erregt. Die zarte Fußsohle, die ihr da den Fußrücken wärmte, hatte ihre Haut und ihre Sinne entflammt, und sie war sich sicher, wenn sie mit der Hand zwischen ihre Beine führe, wäre es dort ganz feucht. Bist du verrückt geworden?, sagte sie sich. Dich erregen zu lassen von einer Frau? Seit wann das, Marisita? Alleine hatte sie sich schon oft erregt, klar, hatte auch schon mal mit dem Kopfkissen zwischen den Beinen masturbiert, aber immer hatte sie dabei an Männer gedacht. An eine Frau? Soweit sie sich erinnern konnte, niemals! Doch jetzt war sie erregt, bebte von Kopf bis Fuß und verging vor Lust, wünschte sich, dass sich nicht nur ihre Füße berührten, sondern ihre Körper, dass sie wie an ihrem Fußrücken überall die Nähe und die Wärme ihrer Freundin spürte.

Mit klopfendem Herzen und einer Atmung, als würde sie schlafen, drehte sie sich ein Stück zu ihr hin und merkte, auch ohne sie zu berühren, dass sie jetzt nur noch ein paar Millimeter von Chabelas Rücken, ihrem Po, ihren Beinen entfernt lag. Sie hörte deutlich ihren Atem und glaubte, einen verborgenen Dunst zu spüren, der diesem nahen Körper entströmte, der zu ihr drang und sie umhüllte. Wie von selbst, so als wäre es ihr nicht bewusst, streckte sie ganz langsam die rechte Hand aus und legte sie ihrer Freundin auf den Oberschenkel. Verflixte Ausgangssperre, dachte sie. Ihr Herz schlug schneller, bestimmt würde Chabela gleich aufwachen, würde ihre Hand fortschieben: »Weg da, fass mich nicht an, bist du verrückt geworden? Was fällt dir ein.« Aber Chabela rührte sich nicht, schien immer noch versunken in einem tiefen Schlaf. Sie hörte, wie ihre Freundin einatmete, ausatmete, und ihr war, als wehte diese Luft zu ihr, dränge ihr durch die Nase und den Mund und wärmte ihr Inneres. Und bei aller Erregung dachte sie, wirklich absurd, immer wieder an die Ausgangssperre, die Stromausfälle, die Entführungen – vor allem den entführten Cachito – und die Bomben der Terroristen. Was für ein Land, was für ein Land!

Unter ihrer Hand war der Schenkel ganz fest und glatt, leicht feucht, vielleicht vom Schwitzen oder von irgendeiner Creme. Hatte Chabela sich vor dem Schlafengehen im Bad eine von ihren Cremes genommen? Sie hatte nicht gesehen, wie sie sich auszog, hatte ihr nur eins ihrer Nachthemden gegeben, ein sehr kurzes, und umgezogen hatte sie sich im Ankleidezimmer. Als Chabela wieder hereinkam, hatte sie es bereits übergezogen, es war fast durchsichtig und ließ die Arme und die Beine und ein Stückchen ihres Pos unbedeckt, und Marisa erinnerte sich, wie sie gedacht hatte, was für ein schöner Körper, wie gut sie sich gehalten hat, und das bei zwei Töchtern, aber sie geht ja auch dreimal in der Woche ins Fitnessstudio. Sie war immer weiter gerückt, Millimeter für Millimeter, in der ständig wachsenden Angst, ihre Freundin zu wecken, und jetzt spürte sie, entsetzt, aber glücklich, wie sich hier und da, im Rhythmus ihrer beider Atmung, ihre Beine, ihre Hintern kurz berührten und sofort wieder trennten. Gleich wird sie wach, dachte sie, das ist doch Wahnsinn, was du da machst, Marisa. Aber sie wich nicht zurück und wartete – worauf? – wie in Trance auf die nächste flüchtige Berührung. Ihre rechte Hand ruhte weiter auf Chabelas Oberschenkel, und Marisa merkte, wie sie nun selber schwitzte.

In dem Moment bewegte sich ihre Freundin. Sie glaubte, ihr Herz bliebe stehen. Für ein paar Sekunden hielt sie den Atem an, schloss die Augen ganz fest und tat, als würde sie schlafen. Chabela hatte, ohne sich umzudrehen, den Arm gehoben, und jetzt spürte Marisa, wie sich Chabelas Hand auf die ihre legte. Würde sie sie fortstoßen? Nein, im Gegenteil, ganz sanft, liebevoll schlang sie die Finger darum und zog die Hand mit leichtem Druck über ihre Haut bis zwischen die Beine. Marisa konnte nicht glauben, was da geschah. An den Fingern spürte sie nun die Haare eines leicht erhöhten Schamhügels und die pitschnasse, pulsierende Öffnung, auf die Chabela ihre Hand presste. Am ganzen Körper zitternd, drückte sich Marisa jetzt mit ihren Brüsten, dem Bauch, den Beinen an den Rücken, den Po und die Beine ihrer Freundin, rieb zugleich mit allen fünf Fingern ihr Geschlecht, versuchte die kleine Klitoris zu finden, trennte die feuchten Lippen dieser Vagina, die sich vor Sehnsucht wölbte, geführt immer von Chabelas Hand, und sie spürte, wie ihre Freundin ebenfalls bebte und sich an ihren Körper schmiegte, ihr half, sich mit ihr zu verflechten und zu verschmelzen.

Marisa tauchte mit dem Gesicht in Chabelas dichtes Haar und schwenkte den Kopf hin und her, bis sie ihren Hals und ihre Ohren fand, und jetzt küsste sie sie, leckte daran und knabberte genüsslich, ohne an irgendwas zu denken, blind vor Glück und vor Lust. Ein paar Sekunden oder Minuten später hatte sich Chabela umgedreht und suchte nun ihrerseits nach Marisas Mund. Sie küssten sich gierig, verzweifelt, erst auf die Lippen, und dann öffneten sie sie, ihre Zungen umschlangen sich, ihr Speichel vermischte sich, während ihre Hände eine der anderen das Nachthemd auszogen – vom Leib rissen –, bis sie nackt waren und ein einziges Knäuel. Sie wälzten sich hin und her, streichelten einander die Brüste, küssten sie, dann die Achseln, den Bauch, fingerten an der Scheide der anderen, und sie spürten es dort unten pochen in einer Zeit ohne Zeit, die so intensiv war wie unendlich.

Als Marisa schließlich, befriedigt und benommen, in einen Schlaf sank, gegen den sie nicht mehr ankam, konnte sie sich nur noch sagen, dass weder sie selber noch Chabela – die jetzt offenbar auch in den Schlaf entschwand – bei alldem ein einziges Wort gewechselt hatten. Sie tauchte hinab in eine bodenlose Tiefe, und noch einmal musste sie an die Ausgangssperre denken und glaubte in der Ferne eine Explosion zu hören.

Stunden später, als Marisa aufwachte, fiel das graue Licht des Tages ins Schlafzimmer, kaum gefiltert von den Jalousien. Sie war allein im Bett, und ein Gefühl von Peinlichkeit überkam sie, sie zitterte am ganzen Körper. War das alles wirklich passiert? Das war nicht möglich, nein, nein. Aber doch, klar war es passiert. Da hörte sie etwas im Badezimmer, und erschrocken schloss sie die Augen und tat, als würde sie schlafen. Sie öffnete sie wieder einen Spalt, und durch die Wimpern sah sie Chabela, angezogen und zurechtgemacht, schon auf dem Sprung.

»Marisita, bitte vielmals um Entschuldigung, ich habe dich geweckt«, hörte sie Chabela sagen, im natürlichsten Ton der Welt.

»Ist das dein Ernst?«, stammelte sie, ihre Stimme war, dachte sie, wahrscheinlich kaum zu hören. »Du willst schon gehen? Willst du nicht erst frühstücken?«

»Nein, Schätzchen«, antwortete ihre Freundin, sie allerdings mit fester Stimme, und sie schien sich auch nicht unwohl zu fühlen. Sie war genauso wie immer, ohne eine Spur von Schamröte auf den Wangen, ihr Blick völlig normal, kein bisschen Skepsis in ihren großen dunklen Augen und auch kein schelmisches Leuchten, das schwarze Haar nur ein wenig verwuschelt. »Ich flitzte los, dann erwische ich die Mädchen noch, bevor sie zur Schule gehen. Tausend Dank für die Gastfreundschaft. Wir telefonieren, Küsschen.«

Von der Schlafzimmertür aus warf sie ihr einen Kuss zu und ging. Marisa zog die Beine an, streckte sich, wollte schon aufstehen, doch dann kuschelte sie sich wieder ein und deckte sich zu. Klar, das war tatsächlich geschehen, und der beste Beweis dafür war, dass sie nackt war und ihr zerknülltes Nachthemd halb aus dem Bett hing. Sie hob die Decken an und musste lachen, als sie sah, dass das Nachthemd, das sie Chabela geliehen hatte, auch dort lag, ein Häuflein zu ihren Füßen. Doch das Lachen stockte gleich. Himmel, ob sie es vielleicht bereute? Absolut nicht. Diese Chabela, was für eine Geistesgegenwart. Oder hatte sie so etwas vorher schon mal gemacht? Unmöglich. Sie kannten sich seit einer Ewigkeit, und immer hatten sie einander alles erzählt. Hätte Chabela schon mal ein solches Abenteuer erlebt, hätte sie es ihr verraten. Oder doch nicht? Würde es an ihrer Freundschaft etwas ändern? Natürlich nicht. Chabelita war ihre beste Freundin, mehr als eine Schwester. Wie sähe ihre Beziehung in Zukunft wohl aus? So wie bisher? Sie hatten nun ein unglaubliches Geheimnis. Mein Gott, sie konnte es nicht fassen, dass das geschehen war. Und den ganzen Morgen, während sie duschte, sich anzog, frühstückte oder der Köchin, dem Butler und dem Hausmädchen Anweisungen gab, flatterten ihr immer dieselben Fragen durch den Kopf: Hast du es wirklich getan, Marisita? Und wenn Quique davon erfährt? Würde er sauer reagieren? Ihr eine Eifersuchtsszene machen, als hätte sie ihn mit einem Mann betrogen? Würde sie es ihm erzählen? Nein, nie im Leben, davon durfte keiner etwas wissen, Gott, wie peinlich. Und noch gegen Mittag, als Quique aus Arequipa kam, mit dem klassischen Konfekt von La Ibérica und einer Tüte Baumchili für sie, als sie ihn küsste und fragte, wie es ihm bei der Vorstandssitzung ergangen sei – »Gut, gut, meine kleine Gringa, wir haben beschlossen, kein Bier mehr nach Ayacucho zu liefern, es rechnet sich nicht, das Schutzgeld, das die Terroristen und Pseudoterroristen von uns verlangen, ruiniert uns« –, die ganze Zeit fragte sie sich: Und warum hat Chabela heute Morgen nicht die geringste Andeutung gemacht und ist gegangen, als wenn nichts wäre? Warum wohl, du Dussel. Weil es ihr auch todpeinlich war, sie wollte sich dumm stellen und lieber so tun, als wäre nichts gewesen. Dabei ist es doch passiert, Marisita. Würde es wohl noch mal passieren? Nie wieder?

Die ganze Woche traute sie sich nicht, Chabela anzurufen, und hoffte sehnsüchtig, ihre Freundin würde sich melden. Wirklich seltsam. Nie hatten sie sich so viele Tage weder gesehen noch gesprochen. Aber wenn sie es recht bedachte, war es gar nicht so seltsam, denn sicher war es ihr genauso unangenehm, bestimmt wartete sie darauf, dass Marisa die Initiative ergriff. Ob sie böse war? Aber warum? Hatte nicht Chabela den ersten Schritt getan? Sie selber hatte ihr nur die Hand aufs Bein gelegt, das hätte Zufall sein können, eine unbewusste Bewegung, ohne irgendeine Absicht. Chabela aber hatte ihre Hand genommen und dafür gesorgt, dass sie sie unten berührte und rubbelte. Ganz schön dreist! Und bei diesem Gedanken bekam sie eine unglaubliche Lust zu lachen, ihre Wangen glühten, wahrscheinlich war sie hochrot geworden.

So ging es die ganze Woche weiter, sie war halb weggetreten, konzentriert allein auf diese Erinnerung, und sie merkte kaum, wie sie den von ihrem Terminkalender diktierten Tagesablauf bewältigte, den Italienischunterricht bei Diana, das Teekränzchen für Margots Nichte, die endlich heiratete, zwei Essen mit Geschäftspartnern von Quique, beide Male Einladungen mit Ehefrau, der obligate Besuch bei ihren Eltern zum Tee, dann mit ihrer Cousine Matilde ins Kino, ein Film, dem sie nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte, weil ihr dieses Eine nicht für eine Sekunde aus dem Kopf ging, und immer fragte sie sich, ob es nicht doch ein Traum gewesen war. Dann noch das Mittagessen mit den ehemaligen Schulkameradinnen und das unvermeidliche Gespräch über den armen Cachito, entführt vor bald zwei Monaten, sie konnte dem Gespräch kaum folgen. Es hieß, ein Experte der Versicherungsgesellschaft sei aus New York gekommen, um mit den Terroristen über das Lösegeld zu verhandeln, und die arme Nina, seine Frau, drehe schon durch und sei in psychologischer Behandlung. Als Enrique an einem dieser Abende mit ihr schlief, musste sie wirklich wie abwesend gewesen sein, denn auf einmal merkte sie, wie ihr Mann die Lust verlor und sagte: »Ich weiß nicht, was mit dir los ist, Gringachen, ich glaube, in zehn Jahren Ehe habe ich dich nie so leidenschaftslos erlebt. Ist es wegen des Terrorismus? Schlafen wir lieber.«

Am Donnerstag, genau eine Woche nach dem, was passiert oder auch nicht passiert war, kam Enrique früher als sonst aus dem Büro. Sie setzten sich auf die Terrasse und tranken einen Whisky, sahen das Lichtermeer von Lima zu ihren Füßen und sprachen, wie auch anders, über das Thema, das alle Einwohner in diesen Tagen im Griff hatte, die Attentate und Entführungen durch den Leuchtenden Pfad und die Revolutionäre Bewegung Túpac Amaru, die nächtlichen Sprengungen von Strommasten, worauf ganze Stadtviertel im Dunkeln lagen, und die Explosionen, mit denen die Terroristen um Mitternacht und in der Frühe die Menschen weckten; sprachen davon, wie sie ein paar Monate zuvor von ebendieser Terrasse aus gesehen hatten, wie mitten in der Nacht auf einem der Hügel der Umgebung Fackeln aufgeleuchtet waren und einen Hammer und eine Sichel zeichneten, gleichsam eine Prophezeiung dessen, was passieren würde, sollten die Anhänger des Leuchtenden Pfads diesen Krieg gewinnen. Enrique sagte, die Situation sei untragbar für die Unternehmen, die Sicherheitsmaßnahmen trieben die Kosten in irre Höhen, die Versicherungsgesellschaften wollten die Prämien weiter anheben, und wenn diese Banditen durchkämen, sei es in Peru bald so weit wie in Kolumbien, wo die Geschäftsleute offenbar, vertrieben von den Terroristen, massenweise nach Panama und Miami zögen, um ihre Geschäfte von dort aus zu führen, mit allem, was das an Komplikationen, Zusatzkosten und Verlusten mit sich bringe. Und als er gerade sagte, »vielleicht müssen auch wir nach Panama oder Miami gehen, meine kleine Gringa«, erschien Quintanilla, der Butler, auf der Terrasse: »Die Señora Chabela, Señora.« »Stell sie mir ins Schlafzimmer durch«, sagte sie, und als sie aufstand, hörte sie noch, wie Quique zu ihr sagte: »Sag Chabela, dass ich Luciano dieser Tage anrufe, damit wir uns mal zu viert treffen, Schatz.«

Kaum hatte sie sich aufs Bett gesetzt und den Hörer abgenommen, zitterten ihr die Beine. »Hallo? Marisita?«, drang Chabelas Stimme an ihr Ohr, und sie sagte: »Schön, dass du anrufst, ich hatte irre viel zu tun, ich wollte dich morgen früh gleich anrufen.«

»Ich habe mit einer fürchterlichen Grippe im Bett gelegen«, sagte Chabela, »aber so langsam geht's wieder. Und ich vermisse dich wahnsinnig, Marisa.«

»Ich dich auch«, antwortete sie. »Ich glaube, wir haben uns noch nie eine ganze Woche lang nicht gesehen, oder?«

»Ich rufe an, weil ich dich einladen möchte«, sagte Chabela. »Und ich sage dir gleich, ein Nein akzeptiere ich nicht. Ich muss für ein paar Tage nach Miami, wir haben Ärger mit dem Apartment an der Brickell Avenue, und das bekommen wir nur geregelt, wenn ich persönlich hinfliege. Begleite mich, ich lade dich ein. Ich habe schon für uns beide die Tickets, bei meinem Meilenstand bekomme ich die gratis. Wir fliegen am Donnerstag um Mitternacht, Freitag und Samstag sind wir dort, und zurück geht's am Sonntag. Sag jetzt nicht Nein, sonst bin ich stinksauer auf dich, Schätzchen.«

»Klar komme ich mit, es ist mir ein Vergnügen«, sagte Marisa, und ihr war, als schlüge ihr das Herz bis zum Hals. »Ich sage es gleich Quique, und wenn er mit irgendeinem Aber kommt, lasse ich mich scheiden. Vielen Dank, meine Liebe. Super, großartig, tolle Idee.«

Sie legte auf und blieb noch einen Moment auf dem Bett sitzen, bis sie sich beruhigt hatte. Ein Wohlgefühl überkam sie, ein glückliches Flirren. Die Sache war passiert, und jetzt würden sie und Chabela nächsten Donnerstag nach Miami fliegen und für drei Tage die Entführungen vergessen, die Ausgangssperre, die Stromausfälle, den ganzen Albtraum. Als sie wieder auf die Terrasse trat, empfing Enrique sie mit einem Scherz: »Wer alleine lacht, hat etwas zu verbergen. Darf man wissen, warum deine Augen so glänzen?« »Das sage ich dir nicht, Quique«, kokettierte sie und warf sich ihrem Mann um den Hals. »Du kannst mich umbringen, ich sage es dir nicht. Chabela hat mich für drei Tage nach Miami eingeladen, und ich habe ihr gesagt, wenn du es mir nicht erlaubst, lasse ich mich scheiden.«

2

Ein unerwarteter Besuch

Kaum sah er ihn durch die Bürotür treten, spürte der Ingenieur Enrique Cárdenas – Quique für seine Frau und seine Freunde – ein seltsames Unbehagen. Was störte ihn an diesem Journalisten, der da mit ausgestreckter Hand auf ihn zukam? Sein tarzanartiger Gang, wie er sich in den Hüften wiegte und mit den Armen fuchtelte, als wäre er der König des Dschungels? Das Mausegrinsen, das seine Stirn zusammenzog unter einem Haar, das pomadeglatt auf dem Schädel klebte wie ein Stahlhelm? Die enge lila Cordhose, die ihm trotz seines schmächtigen kleinen Körpers wie angegossen saß? Oder diese gelben Schuhe mit dicken Plateausohlen, um seiner Statur aufzuhelfen? Alles an ihm kam ihm hässlich und affig vor.

»Freut mich sehr, Herr Cárdenas.« Er reichte ihm sein Händchen, ganz schlaff und feucht vom Schweiß. »Endlich erlauben Sie mir, Ihnen die Hand zu schütteln, nachdem ich so lange darauf gedrungen habe.«

Mit seinem schrillen Stimmchen und seinen hektischen Äugelchen schien er sich lustig zu machen, und Enrique blieb nicht verborgen, dass er auch nach Achselschweiß oder Fußschweiß roch. War es dieser Geruch, weshalb ihm der Kerl gleich so unsympathisch war?

»Tut mir leid, ich weiß, Sie haben mehrmals angerufen«, entschuldigte er sich halbherzig. »Ich kann nicht alle Leute empfangen, die mich sprechen möchten, Sie können sich nicht vorstellen, wie voll mein Terminkalender ist. Setzen Sie sich doch bitte.«

»Ich kann es mir sehr gut vorstellen, Herr Ingenieur«, sagte das Männlein. Seine Absatzschuhe quietschten, und die changierende Krawatte, die er zu seinem taillierten blauen Minisakko trug, schien ihn zu erwürgen. Alles an ihm war irgendwie mickrig, selbst die Stimme. Wie alt er wohl war? Vierzig, fünfundvierzig?

»Einen fantastischen Blick haben Sie von hier oben, Herr Ingenieur! Das da hinten ist der Cerro San Cristóbal, nicht wahr? Sind wir im zwanzigsten Stock oder im einundzwanzigsten?«

»Im einundzwanzigsten«, sagte er. »Sie haben Glück, heute scheint die Sonne und man kann den Blick genießen. Normalerweise verschwindet um diese Jahreszeit die ganze Stadt unter dem Dunst.«

»Das muss ein Gefühl von unglaublicher Macht sein, wenn einem Lima zu Füßen liegt«, scherzte der Besucher, seine stumpfbraunen Äugelchen flogen hin und her, und für Quique sprach aus allem, was er sagte, eine tiefe Unaufrichtigkeit. »Und was für ein elegantes Büro, Herr Ingenieur. Erlauben Sie mir, einen Blick auf die Bilder zu werfen.«

Worauf der Besucher durch den Raum spazierte und in aller Ruhe die technischen Zeichnungen von Rohrleitungen, Riemenscheiben, Pumpen und Kolben inspizierte, mit denen die Innenarchitektin Leonorcita Artigas die Wände des Büros versehen hatte, ihr Argument: »Sehen sie nicht aus wie abstrakte Grafiken, Quique?« Leonorcitas Laune, und zum Glück wechselten sich diese unpersönlichen hieroglyphischen Zeichnungen mit prächtigen Fotos peruanischer Landschaften ab, hatte ihn ein Vermögen gekostet.

»Wenn ich mich vorstellen darf«, sagte das Männlein schließlich. »Rolando Garro, Journalist, seit ich denken kann. Ich leite die Wochenzeitschrift Enthüllt

Er reichte ihm eine Visitenkarte, immer noch mit diesem gequetschten Lächeln und diesem schrill flötenden Stimmchen, als hätte es Stacheln. Das störte ihn am meisten an dem Besucher, sagte sich Enrique: nicht der unangenehme Geruch, sondern die Stimme.

»Ich kenne Sie, Herr Garro«, sagte er, weiterhin um Freundlichkeit bemüht. »Ich habe mal Ihre Fernsehsendung gesehen. Sie wurde aus politischen Gründen abgesetzt, nicht wahr?«

»Sie wurde abgesetzt, weil ich die Wahrheit gesagt habe, und damit hat man sich in Peru noch nie anfreunden können«, erklärte der Journalist ein wenig bitter, wenngleich immer noch lächelnd. »Man hat mir schon mehrere Radio- und Fernsehsendungen dichtgemacht. Über kurz oder lang wird das aus demselben Grund auch Enthüllt passieren. Aber das ist mir egal. Das sind die Begleiterscheinungen meines Berufs in diesem Land.«

Seine Schrumpfäugelchen sahen ihn an, als wollten sie ihn herausfordern, und Enrique bedauerte, diesen Menschen empfangen zu haben. Warum hatte er es getan? Bloß weil seine Sekretärin, die die Anrufe leid war, ihn gefragt hatte: »Soll ich ihm dann sagen, dass Sie ihn auf keinen Fall empfangen, Herr Ingenieur? Entschuldigen Sie, aber ich ertrage ihn nicht mehr. Er macht uns alle verrückt hier im Büro. Fünf oder sechs Mal am Tag ruft er an, und das seit Wochen.« Er hatte gedacht, dass ein Journalist zuweilen nützlich sein konnte. Und auch gefährlich, schloss er. Er ahnte, dass dieser Besuch nichts Gutes verhieß.

»Bitte sagen Sie mir, womit ich Ihnen dienen kann, Herr Garro.« Er bemerkte, dass der Journalist nicht länger lächelte und ihn mit einem so unterwürfigen wie sarkastischen Blick anstarrte. »Wenn es um Anzeigen geht, sage ich Ihnen gleich, dass wir uns darum nicht selber kümmern. Wir sind an eine Agentur gebunden, sie betreut den Werbeetat für die ganze Gruppe.«

Doch offensichtlich wollte der Besucher keine Anzeigen für sein Wochenblatt. Er war nun sehr ernst, sagte nichts; betrachtete ihn nur stumm, als suchte er nach den Worten, die er gleich sprechen würde, oder als wollte er die Spannung aufrechterhalten, um ihn nervös zu machen. Und tatsächlich war Enrique, während er darauf wartete, dass Rolando Garro den Mund auftat, jetzt nicht nur irritiert, sondern beunruhigt. Was führte dieser Schmalzdackel im Schilde?

»Warum haben Sie keine Leibwächter, Herr Ingenieur?«, fragte Garro ihn unvermittelt. »Zumindest sind keine zu sehen.«

Enrique zog die Schultern hoch, überrascht.

»Ich bin Fatalist und schätze meine Freiheit«, antwortete er. »Es kommt, wie es kommt. So könnte ich nicht leben, umgeben von Bodyguards, ich würde mich fühlen wie ein Gefangener.«

Ob der Typ gekommen war, um ein Interview mit ihm zu machen? Das würde er ihm nicht geben, er würde ihn stante pede rausschmeißen.

»Es geht um eine sehr delikate Angelegenheit, Herr Cárdenas.« Der Journalist hatte die Stimme gesenkt, als hätten die Wände Ohren, und sprach mit einstudierter Langsamkeit, während er ein wenig theatralisch eine verblichene lederne Aktentasche öffnete und eine Mappe herausholte, zusammengehalten von zwei dicken gelben Gummibändern. Er gab sie ihm nicht sofort, sondern legte sie sich auf die Knie und heftete wieder seine Augen eines Mausetiers auf ihn, Augen, in denen Enrique jetzt etwas Diffuses, vielleicht Bedrohliches wahrnahm. Wie hatte er nur auf die Idee kommen können, ihm den Termin einzuräumen? Logisch wäre gewesen, wenn einer seiner Assistenten ihn empfangen, angehört und dann abgewimmelt hätte. Jetzt war es zu spät, und womöglich würde er es bedauern.

»Ich lasse Ihnen das Dossier hier, damit Sie es sich in Ruhe ansehen können, Herr Ingenieur«, sagte Garro und reichte ihm feierlich die Mappe. »Wenn Sie einen Blick hineingeworfen haben, werden Sie verstehen, warum ich es Ihnen persönlich bringen und nicht bei Ihrer Sekretärin abgeben wollte. Seien Sie versichert, Enthüllt wäre niemals so schäbig, dergleichen zu veröffentlichen.«

Er machte eine lange Pause, ohne ihn aus dem Blick zu nehmen, und fuhr fort mit seiner Fistelstimme, die immer leiser wurde:

»Fragen Sie mich nicht, wie es in meine Hände gekommen ist, denn ich werde es Ihnen nicht sagen. Für mich gelten die publizistischen Grundsätze, und ich nehme an, Sie wissen, was ich damit meine. Berufsethos. Ich respektiere meine Quellen, auch wenn es Journalisten gibt, die sie an den Meistbietenden verkaufen. Allerdings erlaube ich mir, noch einmal zu betonen, dass mein Beharren darauf, Sie persönlich zu treffen, nichts anderem als diesem Umstand geschuldet war. In Lima gibt es Leute, und Sie werden es zur Genüge wissen, die Ihnen schaden wollen. Weil Sie angesehen sind, mächtig, vermögend. So etwas verzeiht man in Peru nicht. Neid und Ressentiment gedeihen hier üppiger als in jedem anderen Land. Ich möchte Ihnen nur versichern, dass diejenigen, die Ihren Namen beschmutzen und Sie beschädigen wollen, weder auf mich noch auf Enthüllt zählen können. Da machen Sie sich keine Sorgen. Für die Gemeinheit und die Niedertracht gebe ich mich nicht her. Sie sollen lediglich wissen, woran Sie sind. Ihre Feinde werden diesen Dreck und Schlimmeres mit Freuden aufgreifen, um Sie einzuschüchtern und weiß der Himmel was von Ihnen zu verlangen.«

Er machte eine Pause, holte Luft, und nach ein paar Sekunden fuhr er fort, mit steifer Miene und einem Achselzucken:

»Hätte ich mich für ein solch schmutziges Spiel hergegeben und das Material benutzt, hätten wir unsere Auflage locker verdreifacht oder vervierfacht. Aber noch gibt es ein paar Journalisten mit Prinzipien in Peru, Herr Ingenieur, zum Glück für Sie. Wissen Sie, warum ich das tue? Weil ich Sie für einen Patrioten halte, Herr Cárdenas. Einen Mann, der mit seinen Unternehmen unserem Vaterland dient. Der hierbleibt, während viele aus Angst vor dem Terrorismus fliehen und ihr Geld ins Ausland schaffen, der arbeitet und Arbeitsplätze schafft, der dem Terror widersteht und das Land aufrichtet. Und ich sage Ihnen noch etwas. Ich will dafür keine Belohnung. Würden Sie mir eine anbieten, ich nähme sie nicht an. Ich bin gekommen, um Ihnen das hier zu übergeben, damit Sie diesen Dreck eigenhändig auf den Müll werfen und ruhig schlafen können. Keine Belohnung, Herr Ingenieur, ein reines Gewissen ist mir Lohn genug. Und jetzt lasse ich Sie allein. Ich weiß, Sie sind ein vielbeschäftigter Mann, ich möchte Ihnen nicht Ihre kostbare Zeit stehlen.«

Der Kerl stand auf, streckte die Hand aus, und Enrique, völlig aus der Fassung, spürte wieder die Feuchtigkeit beim Kontakt mit dieser Handfläche und diesen Fingern, alles butterweich, schweißnass. Dann sah er, wie das Männlein so gestelzten wie selbstsicheren Schrittes auf die Tür zuging, sie öffnete und, ohne einen Blick zurück, hinter sich schloss.

Er war derart verwirrt und verstimmt, dass er sich ein Glas Wasser einschenkte und es in einem Zug leerte, erst danach wandte er sich der Mappe zu. Sie lag auf seinem Schreibtisch, direkt vor ihm, und als er die Gummis löste, war ihm, als zitterte seine Hand. Er schlug die Mappe auf. Was mochte das sein? Nichts Gutes, nach dem zu urteilen, was dieser Mensch eben vorgetragen hatte. Er stellte fest, dass es Fotos waren, eingeschlagen in transparentes Seidenpapier. Fotos? Was für Fotos konnten das sein? Er zog das Seidenpapier vorsichtig ab, doch nach wenigen Sekunden verließ ihn die Geduld, und er riss es auf und warf es in den Papierkorb. Die Überraschung beim Anblick des ersten Abzugs war so groß, dass er den Stapel fallen ließ, die Fotos glitten über die Schreibtischkante und verstreuten sich auf dem Boden. Er rutschte gleich von seinem Stuhl, und auf allen vieren kratzte er sie wieder zusammen. Dabei warf er einen Blick auf die Fotos, verbarg jedes einzelne rasch mit dem nächsten, ganz benommen, entsetzt, kehrte zum vorherigen zurück, sprang zum untersten, das Herz schlug ihm in der Brust, er spürte, wie ihm die Luft wegblieb. Er hockte weiter auf dem Boden, mit den zwei Dutzend Fotos in Händen, ging sie immer wieder durch und konnte nicht glauben, was er da sah. Das war nicht möglich, konnte nicht sein. Nein, nie und nimmer. Und trotzdem schauten diese Fotos ihn an, sagten alles, schienen gar mehr zu sagen als das, was geschehen war in jener Nacht in Chosica, und dabei hatte er geglaubt, er hätte den Jugoslawen und das Ganze längst vergessen.

Er war so konsterniert, so verstört, dass er den Stapel Fotos, kaum war er wieder aufgestanden, auf den Schreibtisch legte, sich das Jackett auszog und die Krawatte lockerte. Mit geschlossenen Augen sank er auf den Stuhl. Er schwitzte heftig, versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, die Sachlage nüchtern zu beurteilen. Er konnte es nicht. Er dachte, er bekäme einen Herzinfarkt, wenn er sich nicht sofort beruhigte. Eine ganze Weile saß er so da, mit geschlossenen Augen, dachte an seine arme Mutter, an Marisa, seine Verwandten, seine Partner, seine Freunde und Bekannten, die öffentliche Meinung. Himmel, dachte er, wer kennt mich nicht in diesem Land. Er versuchte normal zu atmen, die Luft durch die Nase einzuziehen und sie durch den Mund auszustoßen.

Eine Erpressung, was sonst. Er war auf die dümmste Weise Opfer eines Hinterhalts geworden. Aber das war vor zwei Jahren passiert, vielleicht war es auch schon etwas länger her, drüben in Chosica, so etwas vergaß man nicht. Kossut hieß er, dieser Jugoslawe, oder? Aber warum kamen die Fotos dann erst jetzt ans Licht? Warum durch diesen widerwärtigen Wicht? Er hatte gesagt, er würde sie niemals veröffentlichen und wollte auch keine Belohnung, aber klar, das war eine Art, ihm mitzuteilen, dass er genau das Gegenteil im Sinn hatte. Und sein Beharren darauf, dass er ein Mann mit Prinzipien sei, sollte ihm bedeuten, dass er ein skrupelloser Verbrecher war, fest entschlossen, ihn auszunehmen, zu schröpfen, ihm Angst einzujagen mit dem Schreckgespenst des Skandals. Er dachte an seine Mutter, ihr würdevolles, vornehmes Gesicht, wie es vor Überraschung und Entsetzen aus den Fugen geriet. Dachte an die Reaktion seiner Geschwister beim Anblick der Fotos. Und das Herz zog sich ihm zusammen, als er Marisa vor sich sah, ihr Gesicht noch weißer als sonst, leichenblass, mit offenem Mund, die himmelblauen Augen verquollen vom vielen Weinen. Am liebsten wäre er im Erdboden versunken. Er musste sofort mit Luciano sprechen. Gott, war das peinlich. Oder sollte er lieber einen anderen Anwalt konsultierte? Nein, Unsinn, nie würde er solche Fotos jemand anderem zeigen, nur Luciano, seinem alten Schulkameraden, seinem besten Freund.

Die Sprechanlage summte, und er fuhr auf seinem Stuhl hoch. Die Sekretärin erinnerte ihn daran, dass es bald elf Uhr sei und er eine Vorstandssitzung beim Bergbauverband habe. »Ja, danke, der Fahrer soll vor der Tür warten, bin gleich unten.«

Er ging auf die Toilette, um sich das Gesicht zu waschen, im Kopf die quälende Frage, was wohl geschähe, wenn diese Fotos in ganz Lima kursierten, veröffentlicht von einer dieser Zeitungen oder Illustrierten, die vom Sensationsjournalismus lebten, davon, den Schmutz aus dem Privatleben der Leute ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren. Mein Gott, er musste sich so bald wie möglich mit Luciano treffen, schließlich war der nicht nur sein bester Freund, seine Kanzlei war in Lima auch eine der renommiertesten. Wie enttäuscht er von ihm wäre, wo er immer geglaubt hatte, Quique Cárdenas sei die Vollkommenheit in Person.