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Occupy Wall Street. Gezi-Park, Tahrir, Majdan. Ferguson und Hongkong. Tea Party. Pegida. Die »Politik der Straße« hat Hochkonjunktur, wirft aber auch Fragen auf. Sind solche Versammlungen als Ausdruck der Souveränität des Volkes aus radikaldemokratischer Perspektive zu begrüßen oder geben sie Anlass zur Sorge vor der Herrschaft des »Mobs«? Und wer ist überhaupt »das Volk«?

Judith Butler geht den Dynamiken und Taktiken öffentlicher Versammlungen unter den derzeit herrschenden ökonomischen und politischen Bedingungen auf den Grund. In Erweiterung der sprechaktzentrierten Theorie der Performativität und gegen Hannah Arendts »körperlose« Konzeption politischen Handelns unterstreicht sie die Bedeutung der physischen Präsenz kollektiver Akteure im öffentlichen Raum und arbeitet an aktuellen Beispielen die Effekte dieser Ausdrucksdimension heraus sowie die Inklusions- und Exklusionsmechanismen, die dabei am Werk sind. Der kollektive Schrei »Wir sind das Volk!« zieht eben auch eine Grenze und lässt die Frage, wer wirklich das Volk ist, umso deutlicher hervortreten.

Fluchtpunkt dieses hochpolitischen Buches ist eine Ethik des gewaltlosen Widerstands in einer gefährdeten Welt, in der die Grundlagen solidarischen Handelns allmählich zerfallen oder zerstört werden.

Judith Butler, geboren 1956, ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley. 2012 erhielt sie den Theodor-W.-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt am Main.

Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt erschienen: Gefährdetes Leben. Politische Essays (es 2393), Haß spricht. Zur Politik des Performativen (es 2414), Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2002 (stw 1792) und Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen (stw 1989).

Judith Butler

Anmerkungen zu einer
performativen Theorie
der Versammlung

Aus dem Amerikanischen von Frank Born

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.

Titel der Originalausgabe:

Notes Toward a Performative Theory of Assembly

Die Originalausgabe in englischer Sprache, die dieser Übersetzung zugrunde liegt, erschien erstmals 2015 bei Harvard University Press

Copyright © 2015 by the President and Fellows of Harvard College

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

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© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© 2015 by the President and Fellows of Harvard College

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Umschlagfoto: picture alliance / AP Photo / Vadim Ghirda

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-74814-5

www.suhrkamp.de

Inhalt

Einleitung

1. Geschlechterpolitik und das Recht zu erscheinen

2. Körperallianzen und die Politik der Straße

3. Gefährdetes Leben und die Ethik der Kohabitation

4. Körperliche Verwundbarkeit, koalitionäre Politik

5. »We the People« – Gedanken zur Versammlungsfreiheit

6. Kann man ein gutes Leben in einem schlechten Leben führen?

Anmerkungen

Danksagungen

Nachweise

Register

Einleitung

Seit dem Auftauchen großer Menschenmengen auf dem Tahrir-Platz in den Wintermonaten des Jahres 2010 ist unter Wissenschaftler/innen und Aktivist/innen das Interesse an der Form und Wirkung öffentlicher Versammlungen wiedererwacht. Das Thema ist alt und zeitgemäß zugleich. Gruppen, die plötzlich in großer Zahl zusammenkommen, können ebenso eine Quelle der Hoffnung wie der Furcht sein, und so begründet es ist, sich vor den Gefahren der Handlungen des Mobs zu fürchten, gibt es auch gute Gründe dafür, in unvorhersehbaren Versammlungen ein politisches Potenzial zu erkennen. Demokratische Theorien haben »den Mob« in gewisser Weise immer gefürchtet, selbst wenn sie die Wichtigkeit der – auch unkontrollierten – Willensäußerung des Volkes betonten. Es gibt enorm viel Literatur zu diesem Thema, und sie neigt dazu, immer wieder auf so unterschiedliche Autoren wie Edmund Burke und Alexis de Tocqueville zurückzugreifen, die sich recht explizit mit der Frage beschäftigten, ob demokratische staatliche Strukturen ungezügelte Äußerungen der Volkssouveränität überstehen oder ob die Herrschaft des Volkes vielmehr sukzessive in die Tyrannei der Mehrheit übergehen würde. Das vorliegende Buch will diese wichtigen Debatten innerhalb der Demokratietheorie weder aufarbeiten noch beurteilen, sondern lediglich darauf hinweisen, dass Diskussionen über Demonstrationen des Volkes häufig von einer Furcht vor dem Chaos oder von einer radikalen Zukunftshoffnung geleitet sind, wobei Furcht und Hoffnung manchmal auf komplexe Weise ineinander verschachtelt sein können.

Ich nenne diese wiederkehrenden Spannungen innerhalb der demokratischen Theorie, um gleich zu Beginn auf ein gewisses Missverhältnis zwischen der politischen Form der Demokratie und dem Prinzip der Volkssouveränität hinzuweisen. Es handelt sich dabei um zwei verschiedene Dinge, und es ist wichtig, sie auseinanderzuhalten, wenn man verstehen will, wie Willensbekundungen des Volkes eine bestimmte politische Form in Frage stellen können, zumal eine, die sich als demokratisch bezeichnet, auch wenn diese Selbstcharakterisierung von ihren Kritiker/innen bezweifelt wird. Das Prinzip ist einfach und wohlbekannt, doch die Annahmen dahinter bleiben irritierend. Wir könnten die Hoffnung aufgeben, zu einer Entscheidung über die richtige Form der Demokratie zu kommen, und einfach deren Polysemie konzedieren. Wenn wir sagen, dass Demokratien aus all jenen Formen bestehen, die sich demokratisch nennen oder regelmäßig so genannt werden, dann nehmen wir eine gewisse nominalistische Haltung gegenüber der Angelegenheit ein. Wenn jedoch als demokratisch geltende politische Ordnungen von einem versammelten oder organisierten Kollektiv in eine Krise gestürzt werden, das von sich behauptet, den Volkswillen zu repräsentieren, für das Volk und gleichzeitig für die Aussicht auf eine echtere und substanziellere Demokratie zu stehen, dann entbrennt ein offener Streit über die Bedeutung der Demokratie, der nicht unbedingt mit Bedacht und Überlegung geführt wird. Ohne darüber zu urteilen, welche Versammlungen des Volkes »wahrhaft« demokratisch sind und welche nicht, lässt sich von vornherein feststellen, dass der Kampf um den Begriff »Demokratie« mehrere politische Situationen entscheidend prägt. Wie wir diesen Kampf bezeichnen, scheint von entscheidender Bedeutung zu sein, wenn man bedenkt, dass ein und dieselbe Bewegung mal als antidemokratisch, ja sogar terroristisch, und bei anderer Gelegenheit oder in einem anderen Zusammenhang als der Versuch des Volkes gesehen werden kann, eine offenere und substanziellere Demokratie zu verwirklichen. Das Blatt kann sich hier sehr schnell wenden, und wenn strategische Bündnisse es erforderlich machen, eine bestimmte Gruppe im einen Fall als »terroristisch« und in einem anderen als »demokratische Verbündete« zu betrachten, erkennen wir, dass »Demokratie« nicht nur als Bezeichnung verstanden werden kann, sondern sich auch mühelos als strategischer Diskursbegriff einsetzen lässt. Neben den Nominalist/innen, für die Demokratien jene Regierungsformen sind, die als solche bezeichnet werden, gibt es also offenbar auch Diskursstrateg/innen, für die es von Formen des öffentlichen Diskurses, der Vermarktung und der Propaganda abhängt, welche Staaten oder Volksbewegungen als demokratisch bezeichnet werden und welche nicht.

Zu sagen, eine demokratische Bewegung sei eine, die als solche bezeichnet wird oder sich selbst so nennt, ist natürlich verlockend, doch es bedeutet, die Demokratie aufzugeben. Zwar gehört Selbstbestimmung zur Demokratie dazu, daraus folgt jedoch nicht automatisch, dass jede Gruppe, die sich selbst als repräsentativ definiert, rechtmäßig von sich behaupten kann, »das Volk« zu sein. Im Januar 2015 behaupteten die offen einwanderungsfeindlichen »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (Pegida) »Wir sind das Volk« – eine Selbstbenennungspraxis, die genau darauf zielte, muslimische Einwanderer von der gültigen Vorstellung der Nation auszuschließen (und zwar indem sie sich des 1989 berühmt gewordenen Ausspruchs bedienten und damit ein dunkleres Licht auf die deutsche »Vereinigung« warfen). Angela Merkels Antwort »Der Islam gehört zu Deutschland« erfolgte ungefähr zur gleichen Zeit, als der Pegida-Vorsitzende zurücktreten musste, nachdem Fotos aufgetaucht waren, auf denen er als Hitler posierte. Eine Auseinandersetzung wie diese wirft auf drastische Weise die Frage auf: Wer ist »das Volk« denn nun wirklich? Und welche Operation der diskursiven Macht definiert »das Volk« zu einem bestimmten Zeitpunkt und zu welchem Zweck?

»Das Volk« ist keine festgelegte Bevölkerung; es wird vielmehr durch die von uns implizit oder explizit gezogenen Grenzlinien konstituiert. Wir können daher – so nötig es auch ist, zu überprüfen, ob eine bestimmte Setzung des »Volkes« inklusiv ist – ausgeschlossene Bevölkerungsteile nur durch eine weitere Grenzziehung kenntlich machen. Besonders problematisch wirkt unter diesen Bedingungen die Selbstkonstitution. Nicht jeder diskursive Versuch einer Festlegung, wer »das Volk« ist, gelingt. Die Behauptung ist oft eine Wette, ein Griff nach der Hegemonie. Wenn sich also eine Gruppe, eine Versammlung oder eine organisierte Kollektivität »das Volk« nennt, dann lenkt sie den Diskurs in eine bestimmte Richtung, macht Annahmen darüber, wer dazugehört und wer nicht, und bezieht sich damit nolens volens auf eine Bevölkerungsgruppe, die nicht »das Volk« ist. Der Kampf um die Entscheidung darüber, wer zum »Volk« dazugehört, kann so heftig werden, dass eine Gruppe ihre Version von »das Volk« in Opposition zu denen bringt, die außerhalb stehen und als bedrohlich für »das Volk« oder als dieser Version des »Volkes« entgegengesetzt erachtet werden. Wir haben also (a) diejenigen, die versuchen, das Volk zu definieren (eine Gruppe, die viel kleiner ist als das Volk, das sie zu definieren versucht), (b) das im Verlauf dieser diskursiven Wette definierte (und abgegrenzte) Volk, (c) die Menschen, die nicht »das Volk« sind, und (d) diejenigen, die jene letzte Gruppe als Teil des Volkes etablieren wollen. Selbst wenn man sagt, dass »alle« dazugehören und so versucht, eine allumfassende Gruppe zu postulieren, macht man noch implizite Annahmen darüber, wer einbezogen wird; es ist folglich fast unmöglich, dem zu entgehen, was Chantal Mouffe und Ernesto Laclau so treffend als »die konstitutive Exklusion« beschrieben haben, die den einzelnen Vorstellungen von Inklusion jeweils zugrunde liegt.1

Der Staatskörper wird als eine Einheit hingestellt, die er niemals sein kann. Dies muss allerdings nicht notwendigerweise ein zynischer Schluss sein. Denjenigen, die im Geiste der Realpolitik der Meinung sind, »das Volk« könne, egal in welcher Zusammensetzung, immer nur partiell sein und man solle diese Partialität daher einfach als eine politische Tatsache hinnehmen, stehen eindeutig diejenigen gegenüber, die versuchen, jene Formen der Exklusion aufzudecken und ihnen entgegenzutreten, und die, obwohl sie wissen, dass es eine vollständige Inklusivität nicht geben kann, den Kampf noch nicht aufgegeben haben. Dafür gibt es mindestens zwei Gründe: Zum einen werden Exklusionen häufig unwissentlich vorgenommen, das heißt, die Exklusion wird gar nicht als explizites Problem, sondern als der natürliche »Stand der Dinge« angesehen; und zweitens ist Inklusivität nicht das einzige Ziel der demokratischen und insbesondere der radikaldemokratischen Politik. Natürlich sind Versionen des »Volkes«, die einen Teil der Menschen ausschließen, nicht inklusiv und daher nicht repräsentativ; wahr ist aber auch, dass jede Festlegung von »das Volk« einen Akt der Abgrenzung beinhaltet, mit dem, meist auf Basis der Nationalität oder vor dem Hintergrund des Nationalstaats, eine Linie gezogen wird und diese Linie wird unvermittelt zu einer umstrittenen Grenze. »Das Volk« kann es, mit anderen Worten, nicht geben, ohne dass irgendwo eine diskursive Grenze gezogen wird, die entweder entlang der bestehenden Nationalstaaten, ethnischen oder sprachlichen Gemeinschaften oder politischen Zugehörigkeiten verläuft. Die diskursive Bewegung, mit der »das Volk« in irgendeiner Weise etabliert werden soll, ist eine Bemühung um die Anerkennung einer bestimmten Grenze, ob man darunter nun eine Landesgrenze versteht oder die Grenze jener Klasse von Menschen, die als ein Volk »anerkennbar« sein sollen.

Ein Grund, warum Inklusivität nicht das einzige Ziel demokratischer und insbesondere radikaldemokratischer Politik ist, liegt demnach darin, dass diese sich damit auseinandersetzen muss, wer als »das Volk« gilt und wie jene Grenzziehung vorgenommen wird, die in den Vordergrund rückt, wer »das Volk« ist, und die jene Menschen, die nicht dazu zählen, in den Hintergrund drängt, an den Rand schiebt oder dem Vergessen ausliefert. Eine demokratische Politik kann sich nicht damit begnügen, die Anerkennung einfach auf alle Menschen gleichermaßen auszuweiten; es geht vielmehr darum zu begreifen, dass es nur durch eine Veränderung des Verhältnisses zwischen den Anerkennbaren und den Nichtanerkennbaren überhaupt möglich ist, (a) Gleichheit zu verstehen und anzustreben und (b) »das Volk« einer weitergehenden Ausarbeitung zugänglich zu machen. Selbst wenn man eine Form der Anerkennung auf alle Menschen ausdehnt, bleibt die Prämisse bestehen, dass weite Teile dennoch nichtanerkennbar bleiben, und dieses Machtgefälle wird mit jeder Erweiterung jener Form von Anerkennung reproduziert. Obwohl die Anerkennung also in gewisser Weise ausgeweitet wird, bleibt das Feld der Nichtanerkennbaren paradoxerweise erhalten und weitet sich entsprechend ebenfalls aus. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass solche expliziten und impliziten Formen der Ungleichheit, die manchmal durch fundamentale Kategorien wie Inklusion und Anerkennung reproduziert werden, als Teil eines zeitlich offenen demokratischen Kampfes behandelt werden müssen. Gleiches lässt sich über jene impliziten und expliziten Formen der kontroversen Grenzpolitik sagen, die aus ganz grundlegenden und als selbstverständlich erachteten Formen der Bezugnahme auf das Volk, die Bevölkerung und den Volkswillen erwachsen. Das Wissen um die anhaltende Exklusion zwingt uns praktisch dazu, zum Prozess des Benennens und Umbenennens zurückzukehren und zu rekapitulieren, was wir eigentlich mit »das Volk« meinen und was andere meinen, wenn sie den Begriff ins Feld führen.

Das Problem der Grenzziehung schafft eine neue Dimension, denn nicht alle Diskurshandlungen im Zusammenhang mit dem Anerkennen beziehungsweise Verkennen des Volkes sind explizit. Die Funktionsweise ihrer Macht ist in gewissem Maße performativ. Das bedeutet, sie inszenieren bestimmte politische Unterscheidungen – einschließlich Ungleichheit und Exklusion –, ohne sie immer zu benennen. Wenn wir sagen, dass Ungleichheit »effektiv« wiederholt wird, wenn »das Volk« nur teilweise anerkennbar ist, ja sogar, wenn es in einem restriktiv nationalen Sinne »vollständig« anerkennbar ist, dann behaupten wir damit, dass das Postulieren des »Volkes« mehr umfasst als seine bloße Benennung. Der Akt der Abgrenzung geht mit einer performativen Form der Macht einher, die ein fundamentales Problem der Demokratie darstellt, auch – oder gerade – wenn sie deren Schlüsselbegriff (»das Volk«) hervorbringt. Wir könnten durchaus noch länger bei diesem diskursiven Problem verweilen, denn es ist eine stets offene Frage, ob »das Volk« dieselben Menschen sind wie die, die den »Volkswillen« ausdrücken, und ob jene Akte der Selbstbenennung als Selbstbestimmung oder sogar als gültige Willensäußerungen des Volkes gelten können. Mit dem Begriff der Selbstbestimmung ist dann implizit auch die Idee der Volkssouveränität selbst mit im Spiel. So wichtig es auch ist, diese Begrifflichkeiten der Demokratietheorie zu klären – besonders vor dem Hintergrund der jüngsten Debatten um die öffentlichen Versammlungen und Demonstrationen, die wir im Arabischen Frühling, bei der Occupy-Bewegung oder von Gegnern der Prekarisierung gesehen haben – und zu fragen, ob solche Bewegungen als echte oder vielversprechende Beispiele für den Willen des Volkes interpretiert werden können, macht der vorliegende Text den Vorschlag, diese Szenen nicht nur im Hinblick auf die Version des Volkes zu deuten, die sie explizit vertreten, sondern auch in Bezug auf die Machtbeziehungen, durch die sie inszeniert werden.2 Solche Inszenierungen sind unweigerlich kurzlebig, solange sie außerparlamentarisch bleiben; und wenn sie neue parlamentarische Formen zu Wege bringen, laufen sie Gefahr, ihren Charakter als Wille des Volkes zu verlieren. Versammlungen des Volkes bilden sich plötzlich und unerwartet, sie lösen sich unter freiwilligen oder unfreiwilligen Bedingungen wieder auf und diese Flüchtigkeit ist meiner Ansicht nach eng mit ihrer »kritischen« Funktion verknüpft. Sosehr gemeinsame Äußerungen des Volkswillens die Rechtmäßigkeit einer Regierung in Frage stellen können, die behauptet, das Volk zu vertreten, so sehr können sie sich auch in den Regierungsformen verlieren, die sie befürworten und neu einrichten. Regierungen wiederum kommen und gehen, und sie tun dies manchmal aufgrund von Handlungen seitens des Volkes, so dass diese konzertierten Aktionen also nicht nur gleichermaßen flüchtig sind, im Entzug der Unterstützung bestehen und den Legitimitätsanspruch der Regierung dekonstituieren, sondern auch neue Formen konstituieren. Da der Volkswille in den Formen fortbesteht, die er initiiert, kann er sich in diesen Formen auch nicht verlieren, wenn er das Recht behalten soll, all jenen politischen Formen seine Unterstützung zu entziehen, die ihre Legitimität nicht aufrechterhalten können.

Was ist nun von diesen kurzlebigen und kritischen Versammlungen zu halten? Eine wichtige Folgerung lautet: Es ist von Belang, dass die durch Demonstrationen inszenierten politischen Bedeutungen nicht nur durch den – geschriebenen oder gesprochenen – Diskurs aufgeführt werden, sondern dass sich dort Körper versammeln. Verkörperte Handlungen unterschiedlicher Art tun etwas auf eine Weise kund, die genau genommen weder diskursiv noch vordiskursiv ist. Mit anderen Worten, Versammlungen haben schon vor und unabhängig von den spezifischen Forderungen, die sie stellen, eine Bedeutung. Stille Zusammenkünfte, zu denen auch Mahnwachen und Beerdigungen gehören, haben häufig eine Bedeutung, die jeden schriftlichen oder mündlichen Bericht darüber, worum es bei ihnen geht, übersteigt. Diese Formen verkörperter und pluraler Performativität sind wichtige Bestandteile für jedes Verständnis des »Volkes«, auch wenn sie notwendigerweise partiell sind. Nicht jeder Mensch kann in leiblicher Form erscheinen, und viele von denen, die nicht erscheinen können, die am Erscheinen gehindert werden oder die mittels virtueller oder digitaler Netzwerke operieren, sind ebenfalls Teil des »Volkes« und gerade dadurch definiert, dass sie daran gehindert werden, im öffentlichen Raum selbst körperlich in Erscheinung zu treten. Wir sind somit gezwungen, die restriktive Art und Weise zu überdenken, in der »die Öffentlichkeit« von denjenigen unkritisch postuliert wird, die von einem ungehinderten Zugang zu einer bestimmten Plattform und einem uneingeschränkten Anwesenheitsrecht ausgehen. Im Lichte jener verkörperten Handlungs- und Mobilitätsformen, deren Bedeutung über das Gesagte hinausgeht, ergibt sich somit ein zweiter Sinn der Inszenierung. Wenn wir uns überlegen, warum Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit getrennt zu betrachten sind, finden wir den Grund exakt darin, dass die Fähigkeit der Menschen, sich zu versammeln, schon an sich ein wichtiges politisches Vorrecht darstellt, das von dem Recht, zu sagen, was immer man zu sagen hat, sobald man sich versammelt hat, ganz verschieden ist. Die Versammlung bedeutet etwas, das über das Gesagte hinausgeht, und dieser Bedeutungsmodus ist eine gemeinsame körperliche Inszenierung, eine plurale Form der Performativität.

Wir könnten aus alter Gewohnheit versucht sein zu denken: »Wenn es etwas bedeutet, dann muss es wohl auch diskursiv sein«, und vielleicht stimmt das ja auch. Doch selbst wenn diese Erwiderung zutrifft, lässt sie uns nicht jene wichtige chiasmische Beziehung zwischen Formen sprachlicher und Formen leiblicher Performativität untersuchen. Sie überschneiden sich; sie sind nicht völlig verschieden; sie sind freilich auch nicht identisch. Wie Shoshana Felman gezeigt hat, hängt sogar der Sprechakt von den verkörperten Bedingungen des Lebens ab.3 Zur Stimmgebung braucht man einen Kehlkopf oder eine technische Prothese. Und manchmal ist das, was man mit seinen Ausdrucksmitteln zu erkennen gibt, etwas ganz anderes als das, was als eigentliches Ziel des Sprechakts explizit zugegeben wird. Die Performativität ist häufig mit der individuellen Performanz assoziiert worden, doch eine Neubetrachtung derjenigen Formen der Performativität, die nur durch Formen koordinierten Handelns wirken, deren Bedingung und Ziel die Wiederherstellung pluraler Formen des Handelns und sozialer Widerstandspraktiken ist, könnte sich als wichtig erweisen. Diese Bewegung oder Ruhe, dieses Parken meines Körpers inmitten der Handlung eines anderen, ist weder meine noch deine Handlung, sondern etwas, das aufgrund der Beziehung zwischen uns geschieht, das aus ebendieser Beziehung hervorgeht, zwischen dem Ich und dem Wir laviert und den generativen Wert seiner Doppeldeutigkeit zugleich zu bewahren und zu verbreiten versucht, einer aktiven und willentlich aufrechterhaltenen Beziehung, einer Zusammenarbeit, die weder eine halluzinatorische Verschmelzung noch Verwirrung ist.

Die spezifische These dieses Buches lautet, dass gemeinsames Handeln eine verkörperte Form des Infragestellens der inchoativen und mächtigen Dimensionen herrschender Vorstellungen des Politischen sein kann. Die Verkörpertheit dieser Infragestellung wirkt in mindestens zwei Richtungen: Zum einen werden Kontroversen durch Versammlungen, Streiks, Mahnwachen und die Besetzung öffentlicher Räume inszeniert; und zum anderen sind diese Körper der Gegenstand vieler Demonstrationen, die den Zustand der Prekarität zum Ausgangspunkt nehmen. Der Körper, der mit anderen Körpern in einer der medialen Berichterstattung zugänglichen Zone eintrifft, verfügt schließlich über eine indexikalische Kraft: Es ist dieser beziehungsweise es sind diese Körper, die nach einer Beschäftigung, einer Unterkunft, medizinischer Versorgung, etwas zu essen und einer Zukunft verlangen, die nicht nur aus unbezahlbaren Schulden besteht; es ist dieser beziehungsweise es sind diese Körper oder Körper wie dieser oder diese, die unter den Bedingungen einer zunehmenden Prekarisierung und immer schwächer werdenden Infrastruktur leben und deren Existenzgrundlage gefährdet ist.

Mein Ziel ist es in gewisser Weise, das Offensichtliche in einer Situation zu betonen, in der das Offensichtliche im Begriff ist zu verschwinden: Es gibt Arten, die Prekarität auszudrücken und zu demonstrieren, für die verkörpertes Handeln äußerst wichtig ist, und Formen der Ausdrucksfreiheit, die eigentlich zur öffentlichen Versammlung gehören. Manche Kritiker/innen sehen den Erfolg der Occupy-Bewegungen einzig darin, dass sie die Menschen auf die Straße gebracht und die Besetzung von Räumen erleichtert haben, deren öffentlicher Status durch zunehmende Privatisierung gefährdet ist. Manchmal sind diese Räume deshalb umstritten, weil sie im wahrsten Sinne als Besitz an private Investoren verkauft werden (wie der Gezi-Park in Istanbul). In anderen Fällen werden sie jedoch im Namen der »Sicherheit« oder sogar der »öffentlichen Gesundheit« für öffentliche Versammlungen gesperrt. Die erklärten Ziele jener Versammlungen variieren; sie richten sich gegen despotische Herrscher, sekuristische Regime, Nationalismus, Militarismus, wirtschaftliche Ungerechtigkeit, ungleiche Bürgerrechte, Staatenlosigkeit, Umweltschäden, die Verschärfung der wirtschaftlichen Ungleichheit oder die rasante Prekarisierung. Manchen Versammlungen geht es ausdrücklich darum, den Kapitalismus selbst oder den Neoliberalismus, der als eine neue Entwicklung oder Variante betrachtet wird, herauszufordern; in Europa werden Sparmaßnahmen kritisiert, in Chile und anderswo die potenzielle Zerstörung des öffentlichen Hochschulwesens.4

Natürlich handelt es sich hier um unterschiedliche Versammlungen und unterschiedliche Bündnisse, und ich glaube nicht, dass eine einzelne Erklärung ausreicht, um diese jüngsten Formen öffentlicher Demonstrationen und Okkupationen in einen breiteren Zusammenhang mit der Geschichte und dem Prinzip der öffentlichen Versammlung zu stellen. Sie sind nicht alle Permutationen der Multitude, aber sie sind auch nicht so unzusammenhängend, dass man keine Verbindungen zwischen ihnen herstellen könnte. Sozial- und Rechtshistoriker/innen hätten einen Teil dieser vergleichenden Arbeit zu leisten – und ich hoffe, dass sie dies im Lichte der jüngsten Formen der Versammlung bald tun werden. Von meinem eingeschränkten Standpunkt aus möchte ich lediglich darauf hinweisen, dass Körper, wenn sie sich auf Straßen, Plätzen oder in anderen öffentlichen Räumen (einschließlich virtuellen) versammeln, ein plurales und performatives Recht zu erscheinen geltend machen, eines, das den Körper in die Mitte des politischen Feldes rückt und das in seiner expressiven und bezeichnenden Funktion eine leibliche Forderung nach lebenswerteren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen darstellt, die nicht mehr durch von außen auferlegte Formen der Prekarität erschwert werden.

In einer Zeit, in der die neoliberale Ökonomie immer größere Bereiche und Institutionen des öffentlichen Dienstes strukturiert, einschließlich Schulen und Universitäten, einer Zeit, in der immer mehr Menschen ihr Zuhause, ihre Rente und ihre Aussicht auf Arbeit verlieren, werden wir auf eine neue Weise mit der Idee konfrontiert, dass Teile der Bevölkerung als frei verfügbar erachtet werden.5 Es gibt Kurzarbeit, gar keine Arbeit oder postfordistische Formen flexibler Arbeit, die auf der Austauschbarkeit und Entbehrlichkeit der arbeitenden Bevölkerung basieren. Diese Entwicklungen, die durch die aktuell vorherrschende Haltung zur Kranken- und Sozialversicherung noch verstärkt werden, deuten darauf hin, dass die Marktrationalität darüber entscheidet, ob die Gesundheit und das Leben eines Menschen geschützt werden sollen oder nicht. Es ist natürlich ein Unterschied, ob eine Politik den Tod bestimmter Teile der Bevölkerung ausdrücklich zum Ziel erklärt oder ob sie Bedingungen der systematischen Vernachlässigung schafft, die effektiv den Tod von Menschen zur Folge haben. Um diesen Unterschied zu artikulieren, können wir uns auf Foucault stützen, der die spezifischen Strategien der Biomacht aufgezeigt hat, das heißt der Regulierung des Lebens und des Todes auf eine Weise, die nicht mehr von einem Souverän abhängt, der die Macht hat zu entscheiden, wer leben darf und wer sterben soll.6 Achille Mbembe hat diese Unterscheidung weiter ausgearbeitet und dazu den Begriff der »Nekropolitik« eingeführt.

Ein krasses Beispiel dafür konnte man auf einem Treffen der Tea-Party-Bewegung beobachten, bei dem der US-Kongressabgeordnete Ron Paul andeutete, dass, wer ernsthaft krank sei und keine Krankenversicherung bezahlen könne – oder, wie er sich ausdrückte: wer es »vorziehe«, nicht zu bezahlen –, eben sterben müsse. Das anwesende Publikum reagierte veröffentlichten Berichten zufolge mit Jubelrufen. Es handelte sich dabei, so vermute ich, um die Art von Jubel, die üblicherweise dann zu hören ist, wenn in den Krieg gezogen oder nationalistischer Eifer zu Schau gestellt wird. Aber wenn es hier für einige Grund zum Jubel gab, so muss dahinter die Überzeugung stecken, dass jemand, dessen Gehalt nicht reicht oder dessen Arbeitsverhältnis nicht sicher genug ist, es nicht verdient, von der Gesundheitsfürsorge abgesichert zu werden, und dass niemand von uns anderen für diese Menschen verantwortlich ist. Die Implikation war eindeutig, dass jemand, der es nicht schafft, einen Job mit Krankenversicherung zu bekommen, zu einer Bevölkerungsgruppe gehört, die den Tod verdient hat und letztlich selbst daran schuld ist.

Das Schockierende für viele Menschen, die nominell noch immer in einer Sozialdemokratie leben, ist die zugrunde liegende Annahme, dass die oder der Einzelne sich ausschließlich um sich selbst und nicht um andere kümmern solle und dass die Gesundheitsfürsorge kein öffentliches Gut, sondern eine Ware sei. In derselben Rede pries Paul auch die traditionelle Funktion von Kirche und Wohlfahrt, sich um die Bedürftigen zu kümmern. Zwar haben sich in Europa und anderswo christlich-linke Alternativen zu dieser Situation entwickelt, um Menschen, die aus der Sozialfürsorge herausfallen, durch philanthropische und kommunitäre Praktiken der »Sorge« aufzufangen, doch diese Alternativen ergänzen und verfestigen oft nur den Abbau öffentlicher Leistungen wie der Gesundheitsfürsorge. Sie akzeptieren, mit anderen Worten, die neue Rolle für die christliche Ethik und Praxis (und die christliche Hegemonie), welche sich aus der Schwächung der sozialen Grundversorgung ergibt. Etwas Ähnliches geschieht in Palästina, wo die infrastrukturellen Lebensbedingungen immer mehr durch Bombardierungen, Wasserrationierungen, die Rodung von Olivenhainen und die Demontage bestehender Bewässerungssysteme zerstört werden. Die Zerstörung wird durch Nichtregierungsorganisationen gemindert, die Straßen und Schutzräume wiederaufbauen, aber sie hört nicht auf; die NGOs gehen bei ihren Interventionen davon aus, dass die Zerstörung weitergeht, und sehen ihre Aufgabe darin, in den Pausen zwischen den Zerstörungswellen Reparaturen durchzuführen und die Bedingungen zu verbessern. So entwickelt sich zwischen den Werken der Zerstörung und den Werken der Wiederherstellung oder des Wiederaufbaus (die häufig auch ein vorübergehendes Marktpotenzial freisetzen) ein makaberer Rhythmus, der insgesamt der Normalisierung der Besetzung Vorschub leistet. Das bedeutet natürlich nicht, dass keine Anstrengungen unternommen werden sollten, Häuser und Straßen zu reparieren, für eine bessere Bewässerung und damit für mehr Wasser zu sorgen und zerstörte Olivenhaine wieder aufzuforsten oder dass die NGOs keine Rolle spielten. Ihre Rolle ist ganz entscheidend. Wenn ihre Arbeit jedoch an die Stelle eines grundsätzlicheren Widerstands gegen die Besetzung tritt, der diese beenden würde, dann droht sie zu einer Praxis zu werden, die die Besetzung funktionsfähig macht.

Worum handelt es sich bei jenen sadistischen Jubelrufen auf dem Tea-Party-Treffen, hinter denen die Vorstellung steckt, wer keinen Zugang zum Gesundheitssystem habe, werde sich völlig zu Recht Krankheiten zuziehen, Unfälle erleiden und an deren Folgen sterben? Unter welchen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen können solche grausamen Freudenausbrüche entstehen und sich Gehör verschaffen? Wollen wir das als Todeswunsch bezeichnen? Klar ist aus meiner Sicht jedenfalls, dass etwas gründlich falsch gelaufen ist beziehungsweise schon seit langem falsch läuft, wenn der Gedanke an den Tod eines verarmten oder unversicherten Menschen einem Vertreter der Tea Party Jubelrufe entlockt; der Republikanismus dieser Bewegung ist eine nationalistische Variante des Wirtschaftsliberalismus, der jedes Gefühl einer gemeinsamen sozialen Verantwortung mit einer kühleren und berechnenderen Metrik überdeckt hat, die von einem recht freudvollen Verhältnis zur Grausamkeit flankiert und begünstigt zu werden scheint.

Wenngleich »Verantwortung« ein Wort ist, das von Vertretern des Neoliberalismus und neuerer Formen des politischen und ökonomischen Individualismus gern in den Mund genommen wird, will ich versuchen, seine Bedeutung im Kontext der Betrachtung kollektiver Versammlungsformen umzukehren und zu erneuern. Es ist nicht leicht, die Idee der Ethik und mit ihr Schlüsselbegriffe wie Freiheit und Verantwortung gegen deren diskursive Aneignung zu verteidigen. Denn wenn wir, wie die Befürworter der Kürzung von Sozialleistungen behaupten, nur für uns selbst und keinesfalls für andere verantwortlich sind, und wenn Verantwortung in erster Linie heißt, wirtschaftlich eigenständig zu werden unter Bedingungen, die jede Aussicht auf Eigenständigkeit unterminieren, dann stehen wir vor einem Widerspruch, der einen leicht in den Wahnsinn treiben kann: Wir werden moralisch dazu gedrängt, genau die Art von Subjekt zu werden, die von der Verwirklichung dieser Norm strukturell ausgeschlossen ist. Die neoliberale Vernunft fordert Autarkie als moralisches Ideal, während gleichzeitig neoliberale Machtformen genau diese Möglichkeit auf der ökonomischen Ebene zunichtemachen, indem sie jedes Mitglied der Bevölkerung zum potenziell oder tatsächlich Gefährdeten machen und die allgegenwärtige Bedrohung der Prekarität sogar zur Rechtfertigung der verstärkten Regulierung des öffentlichen Raumes und der Deregulierung der Marktexpansion benutzen. In dem Moment, in dem man sich als unfähig erweist, der Norm der Selbstgenügsamkeit zu entsprechen (wenn man sich zum Beispiel keine medizinische Versorgung leisten oder die Vorzüge der privatisierten Fürsorge nicht nutzen kann), wird man potenziell entbehrlich. Und diese entbehrliche Kreatur wird dann mit einer politischen Moral konfrontiert, die individualistische Verantwortlichkeit fordert oder dem Muster der Privatisierung der »Fürsorge« folgt.

Wir stecken mitten in einer biopolitischen Situation, in der weite Teile der Bevölkerung zunehmend der sogenannten Prekarisierung unterworfen sind.7 Dieser in der Regel von Regierungs- und Wirtschaftseinrichtungen angestoßene und in Gang gehaltene Prozess gewöhnt die Bevölkerung allmählich an Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit; er gliedert sich in die Institutionen der Leiharbeit, der gestrichenen Sozialleistungen und des allgemeinen Abbaus der letzten noch wirksamen Reste der Sozialdemokratie zugunsten unternehmerischer Modalitäten, für die, gestützt auf wilde Ideologien individueller Verantwortlichkeit, das höchste Lebensziel in der Verpflichtung liegt, den eigenen Marktwert zu maximieren.8 Meiner Ansicht nach muss dieser wichtige Prozess der Prekarisierung um die Einsicht ergänzt werden, dass die Prekarität eine Veränderung der psychischen Realität bewirkt, wie Lauren Berlant in ihrer Affekttheorie nahelegt;9 dazu gehört ein gesteigertes Gefühl der Entbehrlichkeit oder Verfügbarkeit, das in der Gesellschaft unterschiedlich verteilt ist. Je mehr man der Forderung nach Eigenverantwortlichkeit nachkommt, desto stärker wächst die gesellschaftliche Isolierung und das Gefühl der Prekarität; und je mehr unterstützende soziale Strukturen aus »wirtschaftlichen« Gründen wegfallen, desto stärker isoliert kommt man sich in seinem Gefühl der wachsenden Angst und des »moralischen Scheiterns« vor. Prekarität bedeutet auch eine Eskalation der Angst um die eigene Zukunft und um diejenigen, die möglicherweise von einem abhängig sind; sie zwingt die Person, die diese Ängste hat, in einen Rahmen der Eigenverantwortlichkeit; und sie definiert Verantwortung neu als die Forderung, zum Unternehmer seiner selbst zu werden – unter Bedingungen, die diese dubiose Berufung unmöglich machen.

Für uns stellt sich daher folgende Frage: Welche Funktion hat die öffentliche Versammlung im Kontext dieser Form der »Responsibilisierung« und welche gegensätzliche Ethik wird von ihr verkörpert und ausgedrückt? Gegenüber einem zunehmend individualisierten Gefühl der Angst und des Scheiterns steht die öffentliche Versammlung für die Einsicht, dass es sich dabei um eine gemeinsame und ungerechte soziale Bedingung handelt und dass die Versammlung eine provisorische und plurale Form der Koexistenz darstellt, die eine klare ethische und soziale Alternative zur »Responsibilisierung« bietet. Ich möchte zeigen, dass diese Arten der Versammlung als aufkeimende und vorläufige Formen der Volkssouveränität verstanden werden können. Sie lassen sich auch als unverzichtbare Erinnerungen an die Funktionsweise der Legitimation in der demokratischen Theorie und Praxis betrachten. Die Geltendmachung der pluralen Existenz bedeutet keineswegs den Sieg über jede Form von Prekarität, sie bringt jedoch durch ihren Vollzug eine Opposition gegen die von außen auferlegte Prekarität und ihre Beschleunigung zum Ausdruck.

Die Fantasievorstellung eines Selfmade-Individuums, das sich angesichts der grassierenden Prekarität, wenn nicht sogar Armut, in unternehmerischer Eigenverantwortlichkeit selbst versorgt, geht von der verblüffenden Annahme aus, Menschen könnten und müssten unter unerträglichen Lebensbedingungen autonom handeln. Die These dieses Buches lautet dagegen, dass niemand von uns handelt, ohne dass die Bedingungen dazu gegeben sind, auch wenn wir manchmal handeln müssen, um genau diese Bedingungen zu schaffen oder zu erhalten. Die Paradoxie liegt auf der Hand, und doch ist das, was wir bei den Versammlungen der Gefährdeten beobachten können, eine Form des Handelns, welche die Bedingungen zum Handeln und zum Leben einfordert. Was bedingt solche Handlungen? Und inwiefern muss plurales und verkörpertes Handeln in einer solchen historischen Situation neu betrachtet werden?

Bevor wir uns diesen zentralen Fragen zuwenden, wollen wir uns zunächst ansehen, wie jener widersprüchliche Imperativ in anderen Bereichen wirkt. Wenn wir die Begründung für die Militarisierung betrachten, die auf der Behauptung basiert, »das Volk« eines bestimmten Staates müsse verteidigt werden, stellen wir fest, dass dies nur auf einen Teil des Volkes zutrifft und dass zwischen dem zu verteidigenden und dem nicht zu verteidigenden Teil eine Unterscheidung am Werk ist, die zwischen Volk und Bevölkerung differenziert. Die Prekarität zeigt sich im Kern dieses Imperativs, »das Volk zu verteidigen«. Die militärische Verteidigung verlangt und schafft Prekarität nicht nur unter denjenigen, auf die sie zielt, sondern auch unter denen, die sie rekrutiert. Wer in die US-Armee einberufen wird, dem werden immerhin Schulung, Ausbildung und Arbeit versprochen, doch häufig werden diese Soldat/innen in Konfliktgebiete geschickt, für die es kein eindeutiges Mandat gibt, wo ihre Körper verstümmelt, ihre Psyche traumatisiert und ihr Leben zerstört werden können. Auf der einen Seite werden sie als »unentbehrlich« für die Verteidigung der Nation betrachtet. Auf der anderen Seite werden sie zum entbehrlichen Teil der Bevölkerung erklärt. Ihr Tod wird zwar manchmal glorifiziert, entbehrlich sind sie aber dennoch: Sie sind Angehörige des Volkes, die im Namen des Volkes geopfert werden.10 Hier liegt eindeutig ein operativer Widerspruch vor: Der Körper, der das Land verteidigen soll, wird in und mit der Erfüllung seiner Aufgabe physisch und psychisch vernichtet. Auf diese Weise schickt die Nation im Namen der Verteidigung des Volkes Teile dieses Volkes in die Wüste. Der zum Zwecke der »Verteidigung« instrumentalisierte Körper ist während er ebendiese Verteidigung leistet dennoch entbehrlich. Ein solcher in Erfüllung seiner Aufgabe, die Nation zu schützen, schutzlos zurückgelassener Körper ist zugleich unentbehrlich und entbehrlich. Der Imperativ, für die »Verteidigung des Volkes« zu sorgen, setzt also die Entbehrlichkeit und Schutzlosigkeit derer voraus, die mit der Verteidigung betraut sind.

Die Demonstrationen gegen Prekarität könnten sich hier als ein einschlägiges Beispiel erweisen.

Wie ich in meinem Buch Raster des Krieges angefangen habe darzulegen, ist die Prekarität nicht nur einfach eine existenzielle Wahrheit – jeder von uns kann durch Ereignisse oder Prozesse, die wir nicht kontrollieren können, Entbehrungen, Verletzungen, Krankheiten, Schwächungen oder den Tod erleiden.12 Niemand weiß, was uns möglicherweise erwartet, und diese Unwissenheit ist ein Zeichen dafür, dass wir nicht alle Bedingungen, die unser Leben ausmachen, kontrollieren können. Doch wie unumstößlich diese allgemeine Wahrheit auch sein mag, sie wird auf unterschiedliche Weise gelebt, denn gesundheitsgefährdende Arbeitsplätze oder der zunehmende Sozialabbau betreffen Arbeiter/innen und Arbeitslose natürlich stärker als andere.

Auf der einen Seite ist jeder Mensch von Sozialbeziehungen und einer stabilen Infrastruktur abhängig, um ein lebbares Leben führen zu können, an dieser Abhängigkeit führt also kein Weg vorbei. Auf der anderen Seite kann aus dieser Abhängigkeit sehr leicht Unterwerfung werden, auch wenn man beides nicht gleichsetzen darf. Die Abhängigkeit menschlicher Wesen vom Bestand und Erhalt des infrastrukturellen Lebens zeigt, dass die Organisation der Infrastruktur aufs Engste mit dem individuellen Lebensgefühl – damit, wie und mit welchem Maß an Leiden, Lebbarkeit oder Hoffnung das Leben ertragen wird – verknüpft ist.

Anders ausgedrückt: Niemand leidet unter Obdachlosigkeit, wenn es kein gesellschaftliches Versagen gibt, ein Scheitern an der Aufgabe, Wohnungen und Unterkünfte so zu organisieren, dass sie jedem Menschen zugänglich sind. Und niemand leidet unter Arbeitslosigkeit ohne ein politisches oder ökonomisches System, das die Menschen nicht vor dieser Möglichkeit schützt. Das bedeutet, dass in einigen der schmerzhaftesten Erfahrungen sozialer und wirtschaftlicher Not nicht nur unser Gefährdetsein als Einzelpersonen offenbar wird – wenngleich dies durchaus auch der Fall sein kann –, sondern auch die Versäumnisse und Ungleichheiten sozioökonomischer und politischer Institutionen. In der individuellen Vulnerabilität gegenüber einer sozial erzeugten Prekarität kann jedes »Ich« potenziell erkennen, dass sein ganz eigenes Gefühl der Angst und des Scheiterns immer schon in eine größere soziale Welt eingebunden ist. Das schafft die Möglichkeit, jene individualisierende und unerträgliche Form der Verantwortung zu demontieren und an ihre Stelle ein Ethos der Solidarität zu setzen, das die wechselseitige Abhängigkeit und das Angewiesensein auf funktionierende Infrastrukturen und soziale Netzwerke bejaht und den Weg für eine Form der Improvisation öffnet, während es kollektive und institutionelle Möglichkeiten ersinnt, um das Problem der forcierten Prekarität anzugehen.

In den einzelnen Kapiteln dieses Buches versuche ich in erster Linie, die expressive oder signifizierende Funktion improvisatorischer öffentlicher Versammlungsformen zu verstehen, aber auch zu ergründen, was als »öffentlich« gilt und wer eigentlich »das Volk« ist. »Expressivität« ist hier nicht so zu verstehen, dass durch öffentliche Versammlungen ein bereits bestehendes Gefühl des Volkes ausgedrückt wird; ich will damit nur sagen, dass die Versammlungsfreiheit genauso zur »Ausdrucksfreiheit« gehört wie die Redefreiheit, insofern eine Angelegenheit von politischer Bedeutung inszeniert und vermittelt wird. Die Untersuchung findet zu einem historischen Zeitpunkt statt, an dem die Frage aufkommt: Wie wird Prekarität in plötzlichen Versammlungen inszeniert und bekämpft? In dem Maße, in dem Formen der wechselseitigen Abhängigkeit bei solchen Versammlungen in den Vordergrund gerückt werden, bieten sie die Chance, über die Verkörpertheit sozialer Handlungs- und Ausdrucksformen nachzudenken, also über das, was wir mit verkörperter und pluraler Performativität meinen. Durch die politische Analyse zieht sich auf allen Seiten ein ethisches Verständnis menschlicher Relationalität, das am deutlichsten in dem Kapitel zum Tragen kommt, in dem ich mich mit Hannah Arendts Begriff der Kohabitation auseinandersetze sowie mit Emmanuel Lévinas’ These, dass eine ethische Forderung in gewissem Sinne der Formierung des wählenden Subjekts vorausgeht und damit auch klassisch liberalen Vertragsideen.

Die ersten Kapitel stellen Formen der Versammlung in den Mittelpunkt, die Weisen der Zugehörigkeit und ortsspezifische Anlässe für politische Demonstrationen voraussetzen, während die letzten nach Formen der ethischen Verpflichtung von Menschen fragen, die kein geografisches oder sprachliches Zugehörigkeitsgefühl teilen. Am Schluss greife ich Adornos Formulierung auf, dass man kein richtiges Leben im falschen führen kann, und argumentiere, dass das »Leben«, das man führen muss, immer ein gesellschaftliches ist, wir also stets in eine umfassendere soziale, ökonomische und infrastrukturelle Welt verwickelt sind, die unsere Perspektive und die ortsgebundene Ich-Modalität ethischer Fragestellungen übersteigt. Aus diesem Grund gehe ich davon aus, dass ethische Fragen unweigerlich mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Belangen verknüpft sind, von diesen aber nicht erstickt werden. Tatsächlich impliziert schon die Annahme der durchgängigen Bedingtheit des menschlichen Handelns, dass wir, wenn wir die grundlegende ethische und politische Frage stellen – Wie soll ich handeln? –, stillschweigend auf die Bedingungen der Welt Bezug nehmen, die dieses Handeln ermöglichen oder, wie es unter den Bedingungen der Prekarität zunehmend der Fall ist, die Handlungsmöglichkeiten untergraben. Was bedeutet es, gemeinsam zu handeln, wenn die Bedingungen des gemeinsamen Handelns zerstört werden oder schwinden? Eine derart ausweglose Situation kann zur paradoxen Bedingung einer gleichermaßen traurigen wie freudvollen Form der gesellschaftlichen Solidarität werden, einer von Körpern unter Zwang oder im Namen des Zwangs inszenierten Versammlung, bei der das Sich-Versammeln selbst für Beharrlichkeit und Widerstand steht.