Gaslicht 24 – Wenn die letzte Stunde schlägt

Gaslicht –24–

Wenn die letzte Stunde schlägt

Roman von Pamela Francis

Seufzend öffnete Shelley ihre Puderdose. Ihre Nase glänzte, als hätte sie sie mit einer Speckschwarte eingerieben. Auch die Stirn konnte einen Tupfer mit der Quaste vertragen. Vor allem aber schimmerte schon wieder die Schramme auf ihrer Wange durch, die sie sich bei ihrem Sturz durch die Bühnenversenkung zugezogen hatte. Der Puder wölkte auf, als Shelley die Watte hineintauchte. Er schlug sich als rosa Belag am unteren Teil des Spiegels nieder. Sie führte die Quaste zur Stirn, verharrte aber kurz davor. Ihr Gesicht verzerrte sich. »O Himmel!« japste sie. Sie schleuderte die Quaste weit von sich und sprang auf. Die Fingerkuppen ihrer rechten Hand glühten wie Feuer. Ungläubig beobachtete sie, wie sich die Haut in winzigen Spuren von ihnen löste. Wasser! Sie hatte das Gefühl, bei lebendigem Leib zu verbrennen…

Die mürrische Auskunft am Bahnhof, bis zur Ortschaft sei es höchstens eine Meile und wenn sie den Weg am See benutze, könne sie diese noch erheblich abkürzen, hatte Shelley Stewart bewogen, auf einen Wagen zu verzichten und das kurze Stück zu Fuß zurückzulegen. Es drängte sie, bereits bei ihrer Ankunft Freundschaft mit diesem Landstrich zu schließen, der sich vom Fenster ihres Zugabteils so karg und zurückhaltend präsentiert hatte.

Inzwischen glaubte sie zu wissen, daß die Waliser offensichtlich unter einer Meile etwas völlig anderes verstanden als zum Beispiel die Leute in Bournemouth, wo sie die Schauspielschule besucht hatte.

Der Reisekoffer und die bauchige Tasche drohten, ihre Arme bis auf den mit Bluebells überwucherten Boden zu ziehen. Immer wieder blieb sie stehen, um sich mit einem Tüchlein den Schweiß aus der Stirn zu wischen.

Während sie tapfer am See entlangschritt, dessen Namen sie noch nicht kannte, erinnerte sie sich eines Ausspruches ihres viel zu früh verstorbenen Vaters. ›Wenn du viel

Zeit hast‹, pflegte er zu sagen, ›benutze getrost die Abkürzung.‹ Diese Weisheit bestätigte sich, denn der Weg wollte einfach kein Ende nehmen.

Was lange währt, wird um so besser, dachte sie und atmete so tief durch, daß sich das Oberteil ihres schlichten Reisekostüms straffte. Ab heute beginnt das wirkliche Leben. Dein Traum, den du bereits seit frühester Kindheit geträumt hast, ist endlich Wahrheit geworden.

Anlaß zur Euphorie bot das Engagement an der Bühne von Llanbery wohl kaum. Mit nur ungefähr dreißigtausend Einwohnern zählte das Städtchen zur finstersten Provinz. Allerdings, und an diese Bemerkung ihrer alten Lehrerin klammerte sich Shelley voller Zuversicht, waren die Aufführungen von Llanbery wegen ihrer Eigenwilligkeit bekannt, weshalb sich auch namhafte Stars nicht zu schade waren, hier die eine oder andere Saison zu spielen.

Vorläufig hatte sie noch keine Ahnung, wer ihre Partner sein würden. Sie kannte nur den Namen des Regisseurs. Der allerdings war Garant dafür, daß sie ihr Bestes würde geben müssen, denn Connor war berüchtigt dafür, daß er seinen Akteuren das Letzte abverlangte. Mit Halbheiten gab er sich nicht zufrieden.

Ein tatenhungriger Seufzer entrang sich Shelleys Brust. Sie war bereit, jeden Rat ihrer erfahrenen Kollegen zu akzeptieren. Daß die Zeit des Lernens jetzt erst so richtig begann, hatte sie sich oft genug anhören müssen. Aber schließlich würde ihr niemand den Kopf herunterreißen. Sie hatten ja alle einmal ganz unten begonnen.

So sprach sie sich Mut zu, während sie weiterschritt, an den uralten Bootshäusern vorbei, den beschwerlichen Weg zur Anhöhe hinauf und schließlich den mit grauem Schiefer gedeckten Häusern entgegen.

Grau schien die vorherrschende Farbe in Llanbery zu sein. Grau und nahezu menschenleer die Straßen, grau die wenigen Gesichter hinter den Vorhängen, grau sogar der Himmel, der sie unten am See noch mit sengenden Sonnenstrahlen gepeinigt hatte.

Shelley stellte ihr Gepäck nieder und streckte sich. In der aufgesetzten Tasche ihrer Kostümjacke trug sie den Brief, in dem die Anschrift vermerkt war.

Da sie jedoch kein einziges Straßenschild entdecken konnte, sprach sie einen Mann an und erkundigte sich nach dem Weg.

Zuerst schien es, als hätte er ihre Frage nicht verstanden. Erst, als sie sie wiederholte, öffnete er seinen Mund und knurrte mürrisch:

»Bin ich ein schwerhöriger Greis? Meine Ohren funktionieren noch ausgezeichnet, und auch sonst bin ich wohl gesünder als manch anderer in dieser Stadt. Ungesundes Klima, Miß. Ausgesprochen ungesund.«

Das war kein begeisternder Empfang. Doch hatte sie erwartet, die Bewohner Llanberys würden ihretwegen Spalier stehen und Blumen streuen? Sie wollte zufrieden sein, wenn es ihr gelang, diese Leute zu einem mäßigen Applaus zu bewegen.

Sie hütete sich, die Frage ein drittes Mal zu stellen, und wartete geduldig, bis sie die gewünschte Auskunft erhielt.

»Was wollen Sie dort?« fragte der Mann beinahe feindselig. »Gehören Sie etwa zu Connors Truppe?« Er musterte sie ungeniert mit seinen fast farblosen Augen, die auf den Grund ihres Innersten zu blicken wünschten.

Shelley nickte. Das Nicken fiel schuldbewußt aus, dabei war sie stolz, unter den zahllosen Bewerbern für diese Rolle ausgewählt worden zu sein. Sie betrachtete es als echten Glücksfall.

Der Mann, er mochte sich bereits den Sechzig nähern, bog seine Mundwinkel nach unten. Sie wurden von schmalen, blutleeren Lippen gebildet. Überhaupt sah er nicht aus, als hätte er Anlaß, mit seiner Gesundheit zu prahlen. Die wächserne Haut zeichnete ihn als Leidenden.

Er stützte sich auf einen Stock mit silbernem Knauf. Jetzt schnellte er ihn nach vorn und wies in eine Seitenstraße. »Da entlang! Bis zur Kirche. Dort zweihundert Schritte nach links.«

Shelley war erschrocken. Fast hätte sie der Stock getroffen. Keine Hand fand zwischen ihm und ihrer linken Hüfte mehr Platz.

Sie murmelte hastig einen Dank, nahm Koffer und Tasche vom Boden auf und eilte in die angegebene Richtung. Ihr war, als hörte sie hinter sich ein spöttisches Lachen.

Das wurde aber wohl von den Krähen über ihr verursacht. Beharrlich umkreisten sie einen der rauchgeschwärzten Kamine. Einige der Totenvögel trennten sich von den übrigen und folgten ihr schimpfend. Shelley begann zu frösteln.

Die Kirche wirkte eher wie ein Kastell. Trutzig reckte sie ihren quaderförmigen Turm dem bleiernen Himmel entgegen. Getragener Gesang sickerte durch die Mauern. Eine Totenmesse. Dort drüben hinter dem Wacholder erkannte Shelley das frische Grab, das auf seinen Gast wartete.

»Ausgesprochen ungesundes Klima«, hörte sie den unfreundlichen Mann sagen. Vielleicht hatte er gar nicht so unrecht.

Shelley wandte sich nach links. Unwillkürlich zählte sie die Schritte. Nach der bezeichneten Strecke stand sie vor einem Gasthof, in dessen Tür ein schmuddeliger Wirt mit fleckiger Schürze und borstigem Rotschopf lehnte.

Der Mann musterte sie verlangend und strich seine Schürze glatt. Sauberer wurde sie dadurch aber nicht.

»Wollen Sie ein Zimmer, Miß?« erkundigte er sich schmierig. »In ganz Llanbery finden Sie kein besseres als bei mir. Zwölf Pfund für die Nacht. Das ist halb geschenkt.«

Shelley erschrak. »Zu teuer«, erklärte sie ohne Bedauern. Diese Pension gefiel ihr nicht, bevor sie noch die Zimmer gesehen hatte. »Ich werde länger bleiben.«

»Wie lange?« kam es bohrend.

»Ich weiß es noch nicht genau. Ein paar Monate sicher.«

»Dann mache ich Ihnen einen Sonderpreis. Sie werden zufrieden sein.«

Er stieß sich von der Tür ab und griff nach ihrem Koffer.

Shelley hielt den Griff so fest, als hätte sie nicht Wäsche und ein paar Kleider, sondern die Kronjuwelen zu verteidigen.

»Ich bin mir noch nicht sicher«, gestand sie. »Ich möchte in der Nähe des Theaters wohnen. Ich glaubte, es hier zu finden.«

»Das Theater?« Der Wirt betrachtete sie nun noch interessierter, als hätte er in seinem ganzen Leben noch keine Schauspielerin gesehen. »Das ist nicht weit entfernt. Keine zehn Minuten.«

Shelley wunderte sich. Warum hatte der Mann am Stadtrand sie hierhergeschickt, obwohl sie doch ganz klar nach dem Theater gefragt hatte? Es schien ihr aus purer Bosheit geschehen zu sein. Oder arbeitete er gar mit dem fragwürdigen Wirt zusammen und versuchte, ihm Gäste zuzuführen?

Sie ließ sich den Weg genau erklären.

»Ihr Gepäck können Sie hierlassen«, schlug der Wirt vor. »Bei mir wird nichts gestohlen.«

Da war Shelley nicht so sicher. Das war aber nicht der eigentliche Grund, warum sie sich nicht von ihrem Koffer und der Reisetasche trennte. Sie hoffte, eine ansprechendere Unterkunft zu finden.

Diesmal erwies sich die Wegbeschreibung als korrekt. Erschöpft verharrte Shelley vor dem Theatergebäude, das sich von seinen Nachbarn lediglich durch eine entsprechende Reklametafel und eine breite Doppeltür unterschied.

Ein letztes Mal atmete sie tief durch, bevor sie die Hand auf die Klinke legte.

Da wurde die Tür von innen aufgerissen. Sie prallte mit einem Mann zusammen, der herausgestürzt kam.

Er stutzte und lächelte dann sogar. Nicht boshaft, sondern heiter. Es schien, als käme die Wolke endlich wieder aus ihrem Versteck hervor. Das erste Lachen in Llanbery. Das gab es also doch noch.

»Entschuldigen Sie bitte mein Ungestüm«, bat der ungefähr dreißigjährige Mann mit einem Blick, der Shelleys Knie weich werden ließ. Das lag aber sicherlich nur an dem kräftezehrenden Marsch. Woran sonst?

»Es ist nichts passiert«, entgegnete Shelley aufatmend und hegte den geheimen Wunsch, daß dieser sympathische Mensch ebenfalls hier beschäftigt war. Vielleicht handelte es sich sogar um Connor. Aber nein, der mußte erheblich älter sein.

»Sie sind Shelley Stewart«, fuhr der dunkelhaarige Mann fort. Seine Stimme klang weich, aber keineswegs aufdringlich. Daß er ihren Namen kannte, bewies, daß er zum Theater gehörte. Ihr fiel ein Stein vom Herzen.

»Sieht man mir das an?« fragte sie fröhlich.

Der Mann nickte ernsthaft. Er faßte sie energisch bei den Schultern und hielt sie auf Armlänge von sich weg.

»Sie wirken so lebendig. Das bedeutet, daß Sie nicht aus Llanbery stammen können. Hier warten die Menschen nur darauf, daß jemand erscheint, um spatenweise Erde auf sie zu werfen. Im übrigen haben wir Sie schon sehnlichst erwartet. Bis zur Uraufführung ist nicht mehr viel Zeit. Ich hoffe, Sie fanden schon Gelegenheit, Ihre Rolle zu studieren. Connor kann ekelhaft werden, wenn der Text nicht sitzt.«

»Sie sind es also nicht selbst?« fragte Shelley bedauernd.

»Was denn? Sie haben mich allen Ernstes für Connor gehalten? Da müßte ich eigentlich gekränkt sein.«

»Ist er so schlimm?« Das alte beklemmende Gefühl beschlich sie erneut.

»Schlimm sind wir alle«, behauptete der Mann mit leichtem Spott. »Wir machen den Leuten etwas vor. Wir erwecken den Anschein, jemand zu sein, dessen Maske wir in Wahrheit nur tragen. Es gibt Menschen, die uns aus diesem Grund für verlogen halten. Connor ist anders. Sie werden ihn früh genug kennenlernen. Ich gebe Ihnen den guten Rat, lassen Sie sich von ihm nicht ins Bockshorn jagen. Er gehört leider zu den bellenden Hunden, die auch hin und wieder zubeißen. Verspeist hat er meines Wissens aber noch keinen.«

»Jeder macht einmal einen Anfang«, antwortete Shelley matt. Das konnte ja heiter werden.

*

Den Direktor des Theaters lernte Shelley vorläufig nicht kennen. Connor, der überraschenderweise einen viel menschenfreundlicheren Eindruck auf sie machte, als sie befürchtet hatte, erklärte ihr, daß sich Mister Downing nur ganz selten blicken ließ.

»Er hat im Grunde mit der Kunst nichts im Sinn, müssen Sie wissen.«

»Und dann unterhält er ausgerechnet ein Theater?« wollte Shelley verwundert wissen.

»Warum nicht? Es soll Leute geben, die tun beharrlich genau das, was sie besser lassen sollten. Sie glauben gar nicht, was für erbärmliche Schauspieler ich schon ertragen mußte. In solchen Augenblicken frage ich mich dann auch, warum ich ausgerechnet Regisseur werden mußte. Bei Downing ist es aber so, daß er den Profit sieht. Es hört sich vielleicht unwahrscheinlich an, aber unsere kleine Bühne spielt mehr als nur die Unkosten herein.«

Kein Wunder! dachte Shelley schmerzlich. Die Gagen, die gezahlt werden, spotten ja auch jeder Beschreibung. Laut sagte sie es allerdings nicht. Sie war froh, dieses Engagement überhaupt erhalten zu haben. Am Beginn ihrer Karriere durfte sie noch keine Reichtümer erwarten.

Sie schätzte Geoffrey Connor auf fünfzig. Er betrachtete Shelley in einer Weise, als wollte er ihre Tauglichkeit für das Ballett prüfen. Das Ergebnis befriedigte ihn offenbar, denn sein Ton wurde wieder versöhnlicher.

»Sie sind eine junge, hübsche Frau«, stellte er fest. »Wenn Sie auch noch Intelligenz beweisen wollen, richten Sie sich genau nach meinen Anweisungen. Dann werden wir uns gut vertragen, und Sie können es weit bringen.« Er zwinkerte ihr vertraulich zu, und sie ahnte, was ihm vorschwebte.

Aus diesem Grund fragte sie Connor auch nicht um Rat wegen einer Unterkunft. Sie hielt es für klüger, ihn in diesem Punkt nicht in Anspruch zu nehmen. Sie wollte sich lieber bei einer ihrer künftigen Kolleginnen erkundigen.

Dazu erhielt sie schon bald Gelegenheit. Eine rothaarige Schöne rauschte an ihr vorbei, ohne sie zur Kenntnis zu nehmen. Hinter Shelley lachte jemand verhalten.

Shelley wandte sich um und hatte Mühe, ihr Erschrecken zu verbergen. Hinter einer düsteren Vitrine, die jemand auf den Gang geschoben hatte, richtete sich eine Frau auf, deren Alter sich nur schwer schätzen ließ, weil ihr Gesicht durch Narben entstellt war. Wahrscheinlich handelte es sich um die Folgen eines Unfalls. Shelley hielt aber auch eine tückische Krankheit nicht für ausgeschlossen.

»Tun Sie sich keinen Zwang an, Miß Stewart«, forderte die Fremde sie bitter auf. »Es ist nur natürlich, wenn Sie sich am liebsten wieder abwenden wollen. Ich biete nun einmal keinen erfreulichen Anblick. Ich bin daran gewöhnt, das Entsetzen in den Augen meiner Gesprächspartner zu übersehen.«

»Es ist nur, weil ich Sie gar nicht gehört hatte«, versuchte Shelley, die Situation zu retten. »Sie kennen meinen Namen?«

»Natürlich.« Die Narbige nickte eifrig. »Jeder im Ensemble war schon gespannt auf Sie. Ich heiße übrigens Miriam Askew und arbeite hier als Souffleuse. Sie wollen sicher wissen, worüber ich gelacht habe.«

»Es wird einen Grund gegeben haben.« Shelley wollte nicht neugierig erscheinen.