Rosamund Lupton

Lautlose Nacht

Roman

Deutsch von Christine Blum

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Rosamund Lupton

Rosamund Lupton studierte in Cambridge, arbeitete als Literaturkritikerin und schrieb zahlreiche Drehbücher für Film und Fernsehen. Gleich mit ihrem Romadebüt ›Liebste Tess‹ (dtv 21401) wurde sie zur internationalen Bestsellerautorin mit Millionenauflage weltweit. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in London.

Über das Buch

Die zehnjährige Ruby ist gehörlos. Mit ihrer Mutter Yasmin fliegt sie nach Alaska, um über Weihnachten ihren Vater zu besuchen, der dort einen Dokumentarfilm dreht. Doch die Polizei empfängt die beiden mit der Nachricht, dass Matthew Alfredson weit jenseits des Polarkreises umgekommen ist. Mutter und Tochter wollen das nicht glauben. Sie sind überzeugt, dass Matt am Leben ist und ihre Hilfe braucht. Gemeinsam machen sie sich auf eine lebensgefährliche Reise durch ewiges Eis und ewige Nacht, um ihn zu finden. Und irgendwann bemerken sie, dass jemand sie verfolgt. Jemand, der ihnen Böses will …

Impressum

Ungekürzte Ausgabe 2018

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2015 Rosamund Lupton

Titel der englischen Orignalausgabe:

›The Quality of Silence‹ (Little, Brown, London 2015)

© 2016 der deutschsprachigen Ausgabe:

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur GmbH unter Verwendung eines Fotos von Arcangel Images/Ebru Sidar

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkungen nicht erkennbar.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43049-4 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21747-7

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423430494

 

 

Für Tora Orde-Powlett

 

 

Es ist tiefer Januar. Der Himmel hart.

Die Halme fest verwurzelt in Eis.

 

In dieser Ödnis, aus diesem ungelenken

Flirren heraus lässt eine Silbe

 

Ihr einsames Selbst erklingen,

Der Winterklänge grausamste Leere.

Wallace Stevens

Mein Name ist eine Form, kein Laut. Ich bin Daumen und Finger, nicht Zunge und Lippen. Ich bin 10 ausgestreckte Finger alt – ich bin ein Mädchen aus Buchstaben.

 

R – u – b – y

 

Und das ist meine Stimme.

1

@Words_No_Sounds

650 Follower

AUFREGUNG: Schmeckt wie bitzelndes Brausepulver, fühlt sich an wie das Hups-Rumms, wenn ein Flugzeug aufsetzt, und sieht aus wie die große flauschige Kapuze von Dads Iñupiaq-Parka.

Es ist eisig kalt. Als würde die Luft aus Glassplittern bestehen. Unsere englische Kälte, das sind moppelige Schneemänner und: »Juhu, es hat geschneit!«, eine nette Kälte irgendwie. Aber die Kälte hier ist fies.

Dad hat gesagt, man muss zwei Dinge über Alaska wissen:

1. ist es wahnsinnig kalt, und

2. ist es superstill, weil es über Tausende von Kilometern nur Schnee und fast keine Menschen gibt.

Aber damit hat er wahrscheinlich den Norden von Alaska gemeint, nicht den Flughafen von Fairbanks, wo die Straße von Autoreifen vibriert, die Rollkoffer der Leute über den Asphalt rumpeln und wo Flugzeuge in den Himmel schießen. Dad findet Stille ganz toll. Er sagt von mir, dass ich nicht taub bin, sondern dass ich Stille hören kann.

Mum bleibt ganz dicht neben mir, als wollte sie eine weitere wärmende Schicht um mich bilden, und ich schmiege mich an sie. Sie glaubt, Dads Schneemobil ist kaputtgegangen und er hat deshalb seinen Taxiflieger nicht erwischt. Und sie sagt, dass der Akku von seinem Satellitenhandy leer sein muss, sonst hätte er uns auf jeden Fall angerufen.

Eigentlich sollte Dad uns am Flughafen abholen. Stattdessen stand da diese Polizistin und sagte: »Tut mir leid, ich kann Ihnen noch nichts Konkretes sagen.« Jetzt marschiert sie vor uns her, als wären wir auf einem Schulausflug und das Museum macht gleich zu und die coole Mädelsclique schreit: »Bitte nur ganz kurz noch in den Museumsshop, Miss!«, aber wenn eine Frau so losmarschiert, dann weiß man genau, die wartet nicht auf einen.

Ich habe eine Schneebrille und eine Gesichtsmaske auf. Dad hat uns total streng diktiert, was wir alles mitbringen müssen (Echte Polarausrüstung, Puggle!), und jetzt in dieser Glassplitterluft bin ich froh darüber. Weinen tue ich nie, zumindest nicht, wenn mich jemand sieht, denn wenn man damit erst mal anfängt, kann man sich auch gleich ein rosa Ballettröckchen anziehen. Aber mit Schneebrille weinen ist was anderes, weil ich nicht glaube, dass jemand das bemerkt. Dad sagt, oben im Norden von Alaska können Tränen zu Eis gefrieren.

 

Mit ihrer Tochter an der Hand blieb Yasmin stehen. Die junge Polizistin, die vor ihnen zum Gebäude der Flughafenpolizei lief, runzelte die Stirn, aber Yasmin musste das, was hier geschah, für einen Moment anhalten. Der Schnee hatte alles um sie herum in seine monotone Farbe und Konsistenz gehüllt – es war eine Szenerie wie aus Pappmaché. Zu ihren Füßen sah sie die zarten Spuren eines Vogels im Schnee und wurde sich bewusst, dass sie den Kopf gesenkt hatte. Sie zwang sich aufzusehen, Rubys wegen, und staunte, wie klar es plötzlich war. Es hatte aufgehört zu schneien. Die Luft war gleißend hell, kristallin und unfassbar durchsichtig. Noch einen Tick klarer, und man hätte jedes einzelne Luftmolekül sehen können. Als wäre die ganze Szene zu rein und zu scharf, um wahr zu sein.

 

Die Polizistin hat eine Zeitung vom Tisch geräumt, als wäre ich ein kleines Kind, das noch keine Zeitung lesen darf, also halte ich alle meine Finger hoch, um ihr zu zeigen, dass ich zehn bin, aber sie versteht mich nicht.

»Ein Kollege wird Sie gleich ins Bild setzen«, sagt sie zu Mum.

»Hilfe, er will mich in ein Foto einsperren!«, gebärdet Mum mir. Oft merken es die Leute gar nicht, wenn Mum witzig ist, als könnte jemand, der aussieht wie ein Filmstar, nicht auch komisch sein. Das finde ich ganz schön unfair. Eigentlich gebärdet sie mir fast nie, sie will immer, dass ich von ihren Lippen lese, deshalb lächle ich zurück, aber innen drin ist mir gar nicht nach Lächeln zumute. Und ihr auch nicht, das sehe ich.

Mum sagt, sie ist gleich zurück, ich soll zu ihr kommen, wenn ich was brauche. Ich sage »Okay«, indem ich die Daumen hebe. Diese Gebärde benutzen auch die Hörenden, vielleicht ermahnt mich Mum deshalb nicht wie sonst: »Benutz deine Stimme, Ruby.«

Wenn ich sage: »Ich sage«, dann meine ich, dass ich gebärde, das heißt, ich rede mit den Händen, oder ich buchstabiere, das ist eine andere Art, mit den Händen zu reden. Manchmal benutze ich eine amerikanische Gebärde, das ist ungefähr so, als würde jemand, der mit dem Mund redet, ein amerikanisches Wort benutzen.

Ich habe Handyempfang, und natürlich habe ich schon nachgeschaut, aber es ist keine Mail von Dad gekommen. Blöd von mir, überhaupt zu hoffen, dass eine da wäre, denn:

1. ist sein Notebook seit zwei Wochen kaputt, und

2. angenommen, er hat sich eins ausgeborgt, dann nützt ihm das nichts, denn wenn sein Schneemobil kaputtgegangen ist, muss er noch im Norden sein, und da gibt es weder Handynetz noch WLAN, also müsste er mir von seinem Satellitenterminal aus eine Mail schicken, und das ist total schwierig, wenn es so eisig ist.

Ein Puggle ist nicht nur eine Hunderasse, sondern auch ein Baby-Schnabeltier. Dad ist Naturfilmer, und Schnabeltiere liebt er heiß und innig. Aber ein Schnabeltier, vor allem ein Baby, würde in Alaska keine zwei Minuten überleben. Dazu braucht man ein Fell wie der Polarfuchs, das einen warm hält, und Pfoten wie der Schneeschuhhase, die nicht im Schnee einsinken, oder große Hufe wie ein Moschusochse, damit man das Eis aufbrechen und darunter Futter und Wasser finden kann. Und als Mensch braucht man eine Schneebrille und Polarhandschuhe und Spezialkleidung und einen Polarschlafsack. Dad hat das alles. Deshalb geht es ihm sicher gut, selbst wenn er dort oben im Norden, wo die Tränen gefrieren, eine Panne hatte. Er kommt schon klar, genau wie der Polarfuchs und der Moschusochse und der Schneeschuhhase.

Davon bin ich überzeugt.

Und er wird kommen und uns abholen. Das weiß ich.

Auf dem Flug von England hierher, der Ewigkeiten gedauert hat, habe ich mir die ganze Zeit ausgemalt, was Dad gerade macht. Ich habe gedacht: Jetzt verlässt Dad das Dorf. Jetzt sitzt Dad auf dem Schneemobil. Jetzt kommt er an die Landebahn.

Die liegt mitten im Nirgendwo, Puggle, und weißt du was? Mitten im Nirgendwo ist es wunderschön und völlig leer, weil fast niemand je dorthinkommt.

Jetzt wartet Dad auf den Taxiflieger.

Genau wie ein Brief, der auf den Postboten wartet – man muss rechtzeitig da sein, sonst wird man nicht eingesammelt.

Im Flieger habe ich ziemlich lange geschlafen, und als ich aufgewacht bin, habe ich gedacht: Jetzt ist Daddy am Flughafen von Fairbanks und wartet auf uns! Da habe ich diesen Tweet geschrieben, dass Aufregung sich anfühlt wie Daddys Iñupiaq-Parka-Kapuze und das Ruckeln beim Aufsetzen eines Flugzeugs, auch wenn wir noch gar nicht gelandet waren, aber ich dachte mir schon, es wird bestimmt das supercoolste Gefühl überhaupt, mit einem Ruckeln aufzukommen und zu wissen, dass Dad ganz in der Nähe ist.

Dann ist der Flugbegleiter megawichtig auf mich zugekommen, und mir war klar, was er wollte, nämlich dass ich das Notebook ausschalte. Das hätte Mum gefreut, weil sie das »blöde Notebook« überhaupt nicht leiden kann. Ich hab Mum gebeten, ihm zu sagen, dass das Notebook im Flugmodus ist – auch wenn ich mir nicht sicher war, ob sie es tun würde, weil sie eigentlich froh gewesen wäre, wenn ich es hätte ausschalten müssen. Aber der Flugbegleiter hat gesehen, wie ich gebärdet habe, und er hat kapiert, dass ich gehörlos bin, und da ist er ganz rührselig geworden, wie die meisten Leute. Dad glaubt, das liegt an der Kombination wunderschöne Mutter und kleines taubes Mädchen, wie in einem kitschigen Sonntagnachmittagsfilm. Der rührselige Flugbegleiter hat nicht mal überprüft, ob ich auch wirklich den Flugmodus eingeschaltet hatte, sondern hat mir ein Twix gebracht. Ich hoffe bloß, es gibt keine zehnjährigen gehörlosen Terroristinnen.

Ich bin kein bisschen wie die kleinen Mädchen in Sonntagnachmittagsfilmen, und Mum ist auch überhaupt nicht wie ein Filmstar, dazu ist sie zu witzig und klug, aber Dad ist genau wie Harrison Ford. Also wie einer, der, wenn es sein muss, mal schnell einen Terroristen überwältigt, dir aber trotzdem eine Gutenachtgeschichte vorliest. Wenn ich ihm das sage, findet er es jedes Mal total lustig. Er musste zwar noch nie wirklich einen Terroristen überwältigen – haha! –, aber wenn er zu Hause ist, liest er mir immer eine Gutenachtgeschichte vor, auch wenn ich jetzt schon zehneinhalb bin. Es ist superschön, einzuschlafen, während seine Finger Worte vor meinen Augenlidern formen.

Dann sind wir gelandet – dabei habe ich dieses Hups-Rumms der Räder gespürt und war aufgeregt ohne Ende –, und ich habe mich ins kostenlose WLAN eingeloggt und meinen Tweet abgeschickt. Wir haben unsere Koffer vom Gepäckkarussell geholt, und unsere Beine waren noch ein bisschen wacklig von dem langen Flug. In der Ankunftshalle hat statt Dad die Polizistin auf uns gewartet, die »noch nichts Konkretes« sagen konnte und die uns hierhergebracht hat.

 

Der angekündigte Kollege verspätete sich, also schaute Yasmin noch einmal nach Ruby. Sie hatten eigentlich erst in vier Wochen herkommen wollen, um Weihnachten mit Matt zu verbringen, aber nach ihrem Telefonat mit ihm vor einer Woche hatte sie das Gefühl gehabt, ihn sofort sehen zu müssen – oder so schnell, wie es eben ging, wenn man ein Schulkind hatte, einen Hund und eine Katze, die versorgt werden mussten, und außerdem erst noch Polarkleidung kaufen musste. Sie hatte Ruby eigentlich nicht so lange aus der Schule nehmen wollen, aber seit Matts Vater gestorben war, gab es niemanden mehr, bei dem Ruby problemlos geblieben wäre.

Durch das Glas in der Tür betrachtete sie Ruby, die glänzenden, chaotisch geschnittenen Haare, die ihr ins Gesicht fielen, während sie sich über ihr Notebook beugte. Sie hatte sich vergangenen Mittwoch in einem Moment des Aufbegehrens die Haare selbst geschnitten. Zu Hause hätte Yasmin sie jetzt aufgefordert, das Notebook auszuschalten und sich auf die echte Welt einzulassen. Aber für den Moment ließ sie sie gewähren.

Manchmal, wenn Yasmin ihre Tochter ansah, hatte sie den Eindruck, als würde ihre persönliche Zeit auf ein Hindernis prallen und stillstehen, während die der anderen Leute ohne sie weiterlief. Sie hatte schon ganze Unterhaltungen verpasst. Es kam ihr so vor, als dauerten die Wehen von Rubys Geburt noch immer an – in verwandelter Form, aber nicht weniger heftig. Sie fragte sich, ob dieses Gefühl jemals aufhören würde. Würde sie immer noch so empfinden, wenn Ruby zwanzig war? Vierzig? Hätte ihre eigene Mutter jetzt auch noch so für sie empfunden? Und Yasmin fragte sich, ob jemals der Tag kommen würde, an dem sie die bedingungslose Liebe ihrer eigenen Mutter nicht mehr vermisste.

Die junge Polizistin kam im Sturmschritt auf sie zu – sie schien sich nie langsam fortzubewegen – und teilte ihr mit, Lieutenant Reeve erwarte sie und ihr Gepäck stehe sicher verwahrt in einem Büro. Als wäre die Gepäckfrage nicht völlig belanglos im Vergleich zu dem, was Lieutenant Reeve ihr zu sagen hatte.

Sie folgte der Polizistin zum Büro des Kollegen.

Lieutenant Reeve stand zur Begrüßung auf und streckte ihr die Hand hin. Sie nahm sie nicht.

»Was ist passiert? Wo ist Matt?«

Ihre Stimme klang wütend, als mache sie Matt Vorwürfe, weil er nicht aufgetaucht war. In der Tat war sie so heillos wütend auf ihn gewesen, dass ihre Stimme sich noch nicht der neuen Situation angepasst hatte – worin die auch immer bestehen mochte.

»Dürfte ich Sie bitten, mir ein paar Dinge zu bestätigen?«, erwiderte Lieutenant Reeve. »Wir haben hier Akten über alle ausländischen Staatsangehörigen, die in Alaska arbeiten.«

Seit Ruby als vollständig gehörlos diagnostiziert worden war (das sei sehr selten, hatte man ihr gesagt, als wäre die Taubheit ihres Babys eine exotische Orchideenart), stellte sich Yasmin Geräusche als Wellen vor. Als Physikerin hätte sie das eigentlich schon früher tun sollen, aber erst durch Ruby war ihr bewusst geworden, dass Schall tatsächlich etwas Physisches war. Manchmal, wenn jemand etwas zu ihr sagte, was sie nicht hören wollte – Fachärzte für Pädaudiologie etwa oder gedankenlose Freunde –, stellte sie sich vor, über die Oberfläche der Wörter hinwegzusurfen oder durch sie hindurchzutauchen, statt sie an ihre Trommelfelle branden und zu entzifferbaren Worten werden zu lassen. Aber jetzt musste sie zuhören. Das spürte sie. Sie musste.

»Diesen Akten zufolge«, fuhr Lieutenant Reeve fort, »hat sich Ihr Mann zuletzt in Anaktue aufgehalten. Aber zunächst hat er doch in Kanati gewohnt, oder?«

»Ja, er war im Sommer acht Wochen dort auf einer Forschungsstation, um einen Tierfilm zu drehen. Dabei hat er zwei Leute aus Anaktue kennengelernt, und die haben ihn in ihr Dorf eingeladen. Im Oktober ist er dann wieder nach Alaska gereist und wohnt jetzt bei ihnen.«

Eine unnötig detaillierte Antwort, als wollte sie irgendetwas hinauszögern, aber auch Lieutenant Reeve schien mit seiner Antwort keine Eile zu haben. Sie hatte fast den Eindruck, er wolle das Gespräch nur ungern weiterführen.

»Leider hat es in Anaktue eine verheerende Brandkatastrophe gegeben«, sagte er schließlich.

Katastrophe. Ein Wort für immense Zerstörung, für Vulkanausbrüche und Erdbeben und Meteoriteneinschläge, aber doch nicht für das winzige Anaktue, das man kaum als Dorf bezeichnen konnte.

Das Idiotische daran war, dass sie hergekommen war, um Matt die Hölle heißzumachen, um ihm ein Ultimatum zu stellen, von dem sie nicht abzuweichen gedachte. Sie war um die halbe Erde gereist, um ihm zu sagen, dass er gefälligst heimzukommen hatte, und zwar sofort. Sie wollte ihm erklären, dass sie ihm nicht glaubte, dass mit dieser Iñupiaq-Frau nichts mehr lief, und dass sie nicht untätig auf der anderen Seite der Welt herumsitzen würde, während diese Person ihre Familie zerstörte. Nur hatte all das – wie die andere Frau und sie über seine Loyalität und seine Zukunft bestimmten – ihn so weich, so schwach erscheinen lassen, dass sie noch wütender geworden war und kein einziges Kleidungsstück ordentlich gefaltet, sondern alles wild durcheinander in ihren und Rubys Koffer gestopft hatte. Nun wartete der Inhalt nur darauf, beim Öffnen des Gepäcks als Flut von Daunen und Gore-Tex herauszuquellen.

»Allem Anschein nach sind in einem der Häuser die Gasflaschen für einen Herd oder Kocher explodiert«, fuhr Lieutenant Reeve fort. »Das Feuer hat dann die Tanks für Schneemobiltreibstoff und Generatordiesel erfasst, was zu einer zweiten, weitaus größeren Explosion und einem Brand von katastrophalen Ausmaßen geführt hat. Niemand in Anaktue hat überlebt. Es tut mir leid.«

Liebe durchbohrte sie – so schneidend, dass es ihr den Atem verschlug. Ein seltsam vertrautes Gefühl, eine heftigere Version dessen, was sie in der Anfangszeit empfunden hatte, lange vor ihrer Heirat und dem Kind, vor jeder greifbaren Sicherheit, dass er am nächsten Tag noch bei ihr sein würde. Und plötzlich war die Zeit keine gerade Linie mehr, sondern faltete sich rückwärts und zersplitterte, bis der junge Mann, den sie so leidenschaftlich geliebt hatte, ihr ebenso lebendig und gegenwärtig erschien wie der Ehemann, mit dem sie sich vor acht Tagen so heftig gestritten hatte.

Sie erinnerte sich an die tief stehende Wintersonne, die in schmalen Streifen durch die Fenster fiel, an die leise, gemessene Stimme des Philosophieprofessors, an die dicken Wände des Hörsaals, die sie vom Gezwitscher der Vögel draußen abschirmten. Später hatte er sie darüber aufgeklärt, dass es Stare und Heckenbraunellen gewesen waren. Er saß ein paar leere Plätze weiter. Sie hatte ihn schon ein paarmal an der Uni bemerkt. Ihr gefielen seine kantige Gestalt, seine scharf gezeichneten Gesichtszüge und seine rasche Gangart, wobei er immer ein wenig abwesend wirkte, als gäbe ihm sein Gehirn das Tempo vor. Als ihre Stricknadeln zu klappern begannen, sah er zu ihr herüber, und als sich ihre Blicke begegneten, spürten sie es beide: ein irrationales Wiedererkennen. Dann hatte er sich rasch abgewandt, als hätte ein längerer Blick wie ein Vorwurf wegen des Geklappers gewirkt. Als die Vorlesung zu Ende war und sie ihr Strickzeug wegpackte, kam er mit fragender Miene zu ihr herüber. »Soll das eine Hülle für eine Schlange werden?«

»Nein, für eine Leitplanke.«

Später gestand er ihr, dass er sie für etwas bekloppt gehalten hatte, ihr aber noch eine Chance geben wollte.

»Du bist ein bisschen gaga, was?«, hatte er gesagt.

Das war deine Vorstellung davon, mir noch eine Chance zu geben?

»Nein, Astrophysikerin.«

Er hatte gedacht, sie habe einen Witz gemacht – bis er ihr Gesicht sah.

»Eine strickende Astrophysikerin, die in Philosophievorlesungen geht?«

»Ein bisschen Metaphysik gehört auch zur Physik. In Oxford kann man das zusammen studieren. Und du?«

»Zoologie.«

»Und was machst du dann in Philosophie? Außer mir blöde Fragen zu stellen?«

»Philosophie ist wichtig.«

»Für Tiere?«

»Für die Frage, was wir über Tiere denken. Und über uns. Über unsere Umwelt und unseren Platz darin.« Er unterbrach sich und wirkte verlegen. »Normalerweise komme ich nicht gleich zu so schwierigen Fragen.«

»Ich hab noch nie ein Problem mit schwierigen Fragen gehabt.«

Das Niveau ihrer Schule war erbärmlich gewesen. Sie hatte überlebt, indem sie sich klein und unauffällig gemacht hatte. Zum Glück standen pubertierende Jungs nicht auf Mädchen mit hohen Wangenknochen und kleinen Brüsten. Ihre Intelligenz hatte sie als sorgsam gehütetes Geheimnis mit sich herumgetragen und sich absichtlich nicht weiter hervorgetan, bis sie im Abitur vier spektakuläre Bestnoten aus dem Ärmel geschüttelt hatte, der nach allgemeiner Ansicht höchstens eine Auswahl mittelmäßiger Zensuren enthielt. Jahrelang hatte sie ihr Strebertum verstecken müssen, jetzt zelebrierte sie es.

Sie steckte das lange dünne Etwas weg, an dem sie strickte. »Heute Abend um acht draußen vor der UB. Dann zeig ich’s dir.«

 

Lieutenant Reeve lehnte sich vor. Ihr wurde bewusst, dass sie beide an einem Tisch saßen, einander gegenüber. Sie erinnerte sich nicht, sich hingesetzt zu haben. Er reichte ihr etwas.

»Ein Kollege von den State Troopers aus Prudhoe hat das hier vor Ort gefunden und uns gebracht, damit wir es Ihnen zeigen. Von den Initialen her könnte er Matthew gehören.«

Sie strich über das glatte, handwarme Metall seines Eherings. Innen waren ihre und Matts Initialen eingraviert und die erste Hälfte eines Versprechens. Die zweite Hälfte spürte sie auf ihrem Ringfinger, als hätte ihr eigener Ring sie ihr in die Haut eingeprägt.

»Ja, es ist seiner«, sagte sie.

Sie streifte ihren Ehering ab und ersetzte ihn durch Matts, der viel zu groß für ihren Finger war. Dann steckte sie den eigenen darüber, der den von Matt sicher an ihrem Finger halten würde. Vielleicht würde er ihn ja eines Tages wieder tragen wollen. Er konnte unmöglich tot sein, nicht mit dieser messerscharfen Liebe in ihr, nicht, während Ruby nebenan wartete. Das konnte, das würde sie nicht glauben.

Sie bemerkte, wie Lieutenant Reeve ihre Hände betrachtete.

»Wenn er arbeitet, nimmt er seinen Ehering ab und legt ihn an einen sicheren Ort.« Die Erklärung, die Matt ihr vor Wochen gegeben hatte, als sie auf einem Foto, das für Ruby bestimmt war, seinen nackten Finger bemerkt hatte. Zum Glück war es Ruby gar nicht aufgefallen.

Sie sagte Lieutenant Reeve nicht, dass sie Matt nicht geglaubt hatte.

 

Ein paar Stunden nach der Philosophievorlesung, es war schon dunkel, waren sie von der historischen, mit Studenten und Touristen bevölkerten Altstadt zu einem Einkaufszentrum am Rand einer Sozialsiedlung gelaufen. Unpersönlicher Asphalt und Beton, abweisende Schatten. Dann bemerkte er gestrickte schlauchartige Gebilde um Straßenschilder, Geländer und einen Fahrradständer. Er verfiel nicht nur leuchtenden Augen, langen Gliedern und diesem verschwenderischen Lächeln, sondern auch der weichen Wolle um hartes Metall, dem bunten Garn, das Aluminium und Stahl mit Streifen und Mustern verzierte.

Sie erzählte ihm, dass sie mit ein paar Freunden Guerilla-Gardening betrieb, heimlich mitten in der Nacht kahle Kreisverkehre in kleine Blumenwiesen verwandelte, es aber schon eine Weile nicht mehr gemacht hatte.

»Keine Kreisverkehre mehr übrig?«, fragte er.

»Falsche Jahreszeit zum Pflanzen. Und während der Vorlesung kann man auch nicht gärtnern.«

»Und das hier ist deine wahre geheime Leidenschaft?«

»Schals für Leitplanken stricken? Zum Glück nicht.«

»Was dann?«

Aber um ihm das zu zeigen, vertraute sie ihm noch nicht genug.

 

Lieutenant Reeve wusste nicht recht, ob er tröstend eine Hand auf ihre legen sollte, aber schon der Anfang der Bewegung war ihm peinlich. Die Frau wirkte so würdevoll, nichts von der Hysterie, die er erwartet hatte. Nein, Hysterie, das war unfair. Emotionalität, mit der er nicht umgehen könnte. Trauer.

»Gestern Nachmittag hat ein Flugzeug den Brand bemerkt«, erzählte er, weil sie sicher Einzelheiten wissen wollte. Er an ihrer Stelle hätte es jedenfalls gewollt. »Kurz nachdem der Pilot die Meldung gemacht hatte, kam ein Sturm auf. Trotz der extrem schlechten Flugbedingungen haben die Kollegen vom North Slope Borough eine Such- und Rettungsaktion gestartet. Sie haben bis heute in den frühen Morgenstunden gesucht, aber tragischerweise gab es keine Überlebenden.«

»Gestern Nachmittag?«, fragte sie.

»Ja. Tut mir leid, mehr weiß ich nicht. Vor Ort waren nur die Staatspolizei aus Prudhoe und die Hilfspolizisten.«

»Er hat mich gestern noch angerufen. Gestern, um fünf Uhr nachmittags Ortszeit. Da hat Matt mich noch angerufen.«

 

Sie hatte es ja gleich gewusst, aber jetzt hatte sie die Bestätigung. Während der Polizist einen Anruf tätigte, dachte sie daran zurück, wie sie und Matt sich unterhalten hatten, als sie zusammen zu ihren Colleges zurückgegangen waren, und wie die ganze Zeit noch eine andere Art Kommunikation stattgefunden hatte – wie er immer dichter neben ihr hergegangen war, wie sie unbewusst ihren Schritt dem seinen angepasst hatte und wie sie seinen ausgeblichenen karierten Kragen bemerkt hatte und den hervorstehenden Adamsapfel, als wäre er noch dabei, geformt zu werden, dieser Noch-nicht-ganz-Mann.

Er sah ihre Stirn, ihre Wangen, ihren Mund im grellen Licht der Straßenlampen, sah die Frau, die sie in zehn Jahren sein würde, und das war der entscheidende Moment, hatte er ihr später erzählt. Peng! Wie Hexerei. Wie ein Wunder. Die Frau, mit der ich zusammen sein will.

Sie hatte weniger Vertrauen in seine Zukunftsvision gehabt. Aber während dieses gemeinsamen Spaziergangs hatte sie gespürt, wie die Einsamkeit ihres bisherigen Lebens, in dem sie die Normabweichung gewesen war, die Einzige aus ihrer Familie, ihrer Schule und ihrem Wohnblock, die zur Universität ging, wie diese Einsamkeit ein wenig von ihr wich.

2

In der entlegenen Gemeinde Prudhoe Bay weit im Norden saß Captain David Grayling hundemüde vor seinem Schreibtisch. Das elektrische Licht strahlte unerbittlich grell, und er sehnte sich nach der Sanftheit des Tageslichts. Erst in zwei Monaten würde es hier wieder einen Morgen geben. Er dachte an Timothy. Lag es an Timothy, dass er seine jungen Untergebenen plötzlich väterlich behandelte, wie alle fanden? Er hatte sich immer eher als Hundeschlittenführer gesehen, der ein Team junger, enthusiastischer Huskys mit den Zügeln in die richtige Richtung lenkte. Auf dem Schlitten hatte er eine Hundetransportbox aus Segeltuch dabei, falls einer sich mal verletzte und an einen Ort gebracht werden musste, wo man sich um ihn kümmern konnte.

Aber in Anaktue war er weder Schlittenführer noch Vaterfigur gewesen. Seine Leute hatten mit ansehen müssen, wie er sich erbrach, wieder und wieder, bei jeder Leiche war ihm der Ekel aufs Neue hochgestiegen. Über dem rußgeschwärzten Dorf hatte der Sturm getobt, ihr kleiner Hubschrauber hatte kaum landen können, die Kälte des Winds verbiss sich in ihre Gesichter wie ein halb verhungertes Tier. Blast, Winde, sprengt die Backen! Sie hatten ihre gleißenden Flutlichtscheinwerfer herausgeholt und damit in die geschwärzten Ruinen geleuchtet. Die verkohlten Überreste der Männer, Frauen und Kinder waren kaum noch als solche zu erkennen gewesen. Die Finsternis jenseits der Lichtkegel war ihm unermesslich erschienen.

Schweigend hatten sie gearbeitet, das ganze Team, die meisten fast noch Jungen, wortlos und ohne sich mit Flapsigkeit zu wappnen, während sie fotografierten, dokumentierten, in Säcke packten. Ihr schweflichten, gedankenschnellen Blitze – König Lears Worte kamen ihm in den Sinn, aber ein Blitzschlag war harmlos gegen das, was hier geschehen war, und gedankenschnell war das Feuer nur über die gekommen, die gestorben waren. Diejenigen hingegen, die damit betraut waren, die Überreste zu sortieren, würden nur allzu viel Zeit zum Nachdenken haben.

Vor vielen Jahren – einem ganzen Arbeitsleben – hätte Grayling gern Literatur studiert. Aber sein Vater hatte verlangt, er solle etwas tun, statt »in lyrischem Geschwurbel zu versumpfen«. Die Kritik hatte gefruchtet, und so hatte er beschlossen, wenn er schon etwas tun werde, dann etwas, was seinem geliebten Alaska nützte. Kurze Zeit hatte er auf Medizin gesetzt, war dann aber am Chemiekurs gescheitert, und so wurde er State Trooper. In seinem Jahrgang war er der Einzige, für den das nur zweite Wahl war. Nach drei Wochen erkannte er, dass sein Gehirn nicht zum Polizistenhirn taugte, so voll unnützer Informationen und Ideen, wie es war. Also räumte er darin auf, warf alles hinaus, was er nicht mehr brauchte (die Frage war, ob er es überhaupt je gebraucht hatte). Daher hatte er seit vielen Jahren nicht mehr an König Lears sturmumtoste Heide gedacht. Aber Anaktue war anders. Anaktue drang in die tiefen Bereiche seiner Seele, die nicht einfach ausgeräumt werden konnten.

Nachdem sie die Ausmaße der Katastrophe erkannt hatten und der Sturm nachgelassen hatte, waren weitere State Troopers und Hilfskräfte angerückt. Grayling selbst hatte die Suche nach Überlebenden geleitet. Mit eingeschaltetem Suchscheinwerfer waren sie in immer größeren Kreisen um das Dorf herumgeflogen, aber sie hatten niemanden gefunden. Nach Graylings Informationen hatten sich dreiundzwanzig Menschen im Dorf aufgehalten. Er hatte die Suche erst beendet, als die Kollegen im Dorf vierundzwanzig Leichen gezählt hatten. Die Identität des vierundzwanzigsten Opfers würde Grayling herausfinden müssen.

Endlich war die zermürbende Arbeit getan. Er ging als Letzter, trug das Flutlicht eigenhändig zurück in den Hubschrauber. Hinter ihm versank Anaktue in Finsternis.

Später am Nachmittag waren einige Interviewtermine mit Journalisten in gut beheizten, angenehm beleuchteten Fernseh- und Radiostudios angesetzt. Die Journalisten würden heute Nacht keine Albträume haben.

Sein Telefon klingelte. Es war Lieutenant Reeve aus Fairbanks. Es ging um Matthew Alfredson, das vierundzwanzigste Opfer, den sie anhand von computerisierten Visaeinträgen identifiziert hatten, den Tierfilmer, dessen Ehering Grayling mitten im Ruß hatte glitzern sehen. Alles andere war unkenntlich gewesen, das übrige Metall zu hässlichen Gebilden zerschmolzen, nur dieser eine Ring ein perfekter, unantastbarer Kreis. Aus seinem kurzen Ausflug in die Chemie wusste Grayling, dass Platin selbst größter Hitze widerstand, trotzdem hatte der unversehrte Ring etwas von einem Wunder. Er war nicht in der Nähe einer der Leichen gefunden worden, und Grayling fragte sich, ob die Ehe, die er symbolisierte, vielleicht weniger unverwüstlich gewesen war als er selbst. Hoffentlich war es so – das mochte die Trauer etwas mindern.

Aber um fünf Uhr am gestrigen Nachmittag, als sie dabei gewesen waren, die verkohlten Überreste von Anaktue zu sichten, hatte dieser Mann seine Frau angerufen. Wie war das möglich? Mein Gott, war der Kerl etwa immer noch irgendwo da draußen, lebendig? Grayling musste mit der Ehefrau reden.

 

Yasmin fand, Captain Grayling klang wie der Archetyp eines State Troopers. Seine Stimme war tief und selbstsicher, sie stellte ihn sich breitschultrig und wettergegerbt vor.

»Hat Ihr Mann Ihnen gesagt, wo er sich gerade aufhielt?«, wollte Grayling wissen.

»Nein. Aber wahrscheinlich war er an der Landebahn und wartete auf einen Taxiflieger. Lieutenant Reeve meinte, gestern Nachmittag habe es gestürmt, und die Flugbedingungen seien schlecht gewesen, vielleicht ist das Flugzeug deshalb nicht gekommen. Vielleicht ist er immer noch dort.«

»Wir haben in sehr weitem Umkreis gesucht, auch an der Landebahn.«

»Aber es war doch dunkel und stürmisch, oder? Da haben Sie ihn vielleicht übersehen?«

 

Er hörte ihrer Stimme die Hoffnung an, dieses Klammern an eine andere Lösung. Ein Stich des Mitgefühls durchbohrte ihn. »Die Landebahn ist flach und gut einsehbar«, sagte er. »Wir hatten starke Scheinwerfer und sind sie sehr gründlich abgeflogen.« Er verschwieg, dass er selbst darüber gekreist war, immer und immer wieder. »Hatte er ein Schneemobil?« Anaktue lag meilenweit im Nirgendwo, mitten in eigentlich unpassierbarem Terrain, also wäre das die einzige Option, aber er musste ganz sichergehen.

»Ja.«

Er hatte seinen Leuten befohlen, die geschmolzenen Fragmente der Schneemobile wie Puzzlestücke zusammenzufügen. Inzwischen waren sie vermutlich aneinandergefroren.

 

Matt hatte Yasmin und Ruby erzählt, dass er das Schneemobil einem Dorfbewohner abgekauft hatte, der sich ein besseres leisten wollte. Yasmin war es seltsam vorgekommen, dass die Iñupiat mit Schneemobilen auf Karibujagd gingen, aber Matt fand daran nichts Besonderes.

»Wissen Sie, wie viele Schneemobile es im Dorf gab?«, fragte Captain Grayling.

»Drei.« Das von Matt, das neue des Vorbesitzers und eines, das einem Mann gehörte, der an den Ölquellen in Prudhoe Bay arbeitete. Sie und Matt hatten sich darüber unterhalten – ein gutes, neutrales Gesprächsthema, solange Ruby dabei war.

In der Stille, die auch Captain Grayling nicht unterbrach, begriff sie, dass man drei gefunden hatte – oder ihre Überreste. Also saß er nicht auf dem Schneemobil, gesund und munter und schon fast in Fairbanks. Er würde nicht gleich hereinplatzen, Ruby umarmen und Yasmin die Möglichkeit geben, ihm zu sagen, dass sie ihn liebte. Es war ohnehin absurd zu glauben, dass er per Schneemobil den ganzen Weg nach Fairbanks schaffen würde. Sie wünschte sich nur so sehr, ihn zu sehen.

»Vielleicht war er mit dem Hundeschlitten unterwegs«, schlug sie vor.

Vor ein paar Wochen hatte er Ruby in einer Mail beschrieben, wie er mit einem Iñupiat einen Ausflug auf dessen Schlitten gemacht hatte. Yasmin hatte ihm den enthusiastischen Ton nicht ganz abgenommen, es war ihr unbegreiflich, warum jemand in arktischer Kälte auf einem Schlitten unterwegs sein wollte. Aber vielleicht war seine Begeisterung echt gewesen.

»Die Zwinger sind auch niedergebrannt.«

»Waren die Hunde denn darin? Vielleicht war er mit ihnen unterwegs, um zu filmen.«

»Filmen? Mitten im Winter? Im Dunkeln?«

»Er macht gerade einen Film über die Tierwelt Alaskas im Winter. Anaktue war nur seine Ausgangsbasis.« Sie verschwieg ihm, wie fadenscheinig ihr diese Begründung dafür, dass Matt nach Anaktue wollte, vorgekommen war und dass sie versäumt hatte, ihn zur Rede zu stellen. Aber vielleicht hatte er ja die Wahrheit gesagt.

»Selbst wenn er zum Filmen draußen gewesen wäre«, erwiderte Captain Grayling, »wäre er doch gestern nach Anaktue oder zur Landebahn zurückgekommen, um nach Fairbanks zu fliegen und Sie abzuholen, oder?«

»Vielleicht gab es ein Problem mit dem Schlitten oder mit einem der Hunde.«

»Sie sagten vorhin, Ihr Mann habe Ihnen nicht erzählt, wo er sich befand?«

»Genau.«

»Haben Sie irgendeine Idee, wo er gewesen sein könnte?«

»Nein.«

»Darf ich fragen, was er zu Ihnen gesagt hat?«

»Gar nichts.«

»Wie bitte?«

»Er konnte nichts sagen, weil die Verbindung gleich wieder weg war.«

»Also haben Sie ihn gar nicht sprechen hören?«

»Nein. Wie gesagt …«

»Woher wissen Sie dann, dass er es war?«

»Bei uns in England war es zwei Uhr morgens. Er ist der Einzige, der um diese Zeit anruft. Und die Verbindung bricht öfter mal ab. Er hat ein Satellitentelefon und braucht klare Sicht zum Himmel. Oder sein Akku war einfach leer. Das ist am wahrscheinlichsten, weil er es danach nicht noch mal probiert hat.«

»Könnte es nicht jemand anders gewesen sein? Jemand, der sich verwählt hat?«

»Nein. Das war Matt.« Sie verschwieg ihm, wie überrascht sie gewesen war, als er anrief. Abgesehen von jenem desaströsen Anruf acht Tage zuvor hatte er sie so gut wie gar nicht mehr angerufen – nur Ruby schickte er regelmäßig Mails. In einem ihrer seltenen Telefonate, vor etwa einem Monat, hatte sie ihm vorgeworfen, sie sei ihm egal. Er hatte erklärt, er könne von Anaktue aus überhaupt keine Satellitenverbindung herstellen, sondern nur von einem drei Kilometer entfernten vereisten Hügel aus. Und außerdem sei es Winter und stockfinster, und momentan herrschten bei ihm dreißig Grad minus. Sie hatte ihn nicht darauf hingewiesen, dass er die Wanderung doch ohnehin jedes Mal machen musste, wenn er Ruby eine Mail schrieb – denn sie war froh, dass er wenigstens das tat. Gestern hatte ein Sturm getobt. Da wäre die Wanderung noch mühsamer gewesen.

Sie wünschte, sie könnte glauben, es hätte sich, von ihr unbemerkt, etwas in ihrer Beziehung verändert, was ihn dazu gebracht hätte, drei Kilometer in arktischer Kälte und Sturm zurückzulegen, um mit ihr zu reden, aber sie wusste, dass dies eine Illusion war. Sie hatte keine Ahnung, warum er sie angerufen hatte, vor allem, da sie ja wenige Stunden später mit Ruby ins Flugzeug steigen wollte und sie sich bald von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hätten.

»Bei welchem Satellitentelefonanbieter ist Ihr Mann denn?«, fragte Captain Grayling.

Offenbar wollte er bei der Telefongesellschaft nachfragen. Sie nannte ihm den Namen und hoffte, dass sich die Suche dadurch nicht verzögern würde.

Sie wartete auf so etwas wie Erleichterung, aber es kam nichts. Möglich, dass sie nach all der Angst erst in dem Moment Erleichterung verspüren würde, wenn Matt leibhaftig vor ihr stand.

Sie hatte weder Lieutenant Reeve noch Captain Grayling gefragt, ob Corazon auch dem Feuer zum Opfer gefallen war. Sie hatte den Namen nicht aussprechen wollen.

@Words_No_Sounds

650 Follower

ANGST: Sieht aus wie ein Schachbrett mit hin und her springenden Feldern, fühlt sich zitternd und schweißig an, schmeckt wie Prickel-Eis.

Mit Sprachtherapeuten komme ich normalerweise nicht so gut klar, aber einen gab es, ich glaube, er war noch in der Ausbildung, der hat mich gefragt, ob ich Wörter sehen könne – denn hören kann ich sie ja nicht. Wenn ich sage: »Kein Scheiß, Sherlock?«, findet Dad das lustig. Mum nicht. Aber der junge Doktor-oder-so fand es auch lustig. Deshalb erzählte ich ihm, was ich bisher niemandem gesagt hatte: »Ja, ich kann Wörter sehen und sie berühren und sogar schmecken.« Ich weiß, das ist komisch, aber der junge Doktor-oder-so fand das gar nicht. Er meinte, ich könnte darüber doch twittern, und ich sagte: »Cooler Plan, Batman« (weil er es mochte, wenn ich Figuren aus Büchern erwähnte). Er war mein erster Follower, aber inzwischen hab ich schon Hunderte, was total verrückt ist. (VERRÜCKT: Sieht psychedelisch aus und schmeckt wie ein Lolli mit Brause drin.)

Der Tweet, den ich zum Thema Aufregung geschrieben hatte, als ich noch dachte, Dad würde am Flughafen auf uns warten, ist ein bisschen komisch geworden, weil ich darin behauptet habe, das Wort Aufregung sieht aus wie die flauschige Pelzkapuze von Dads Iñupiaq-Parka, aber im Oktober, als er nach Alaska abgereist ist, hab ich über Traurigkeit getwittert, und Traurigkeit sah auch aus wie seine Parka-Kapuze. Also glaube ich, wie man ein Wort sieht, hängt genau wie seine Bedeutung im Satz vom Kontext und vom Zeitpunkt ab. In der Schule würde ich ein Wort wie »Kontext« nicht benutzen, weil die Leute es schon verrückt genug finden, dass ich erstens in der Gehörlosenförderung und zweitens in der Begabtenförderung bin – total verrückt, und zwar nicht so wie ein Lolli mit Brause.

Meistens hilft es, ein Gefühlswort zu twittern.

Diesmal nicht.

 

Während die Polizistin Yasmins Kontaktdaten aufnahm, kam Lieutenant Reeve wieder herein und erklärte, Captain Grayling wolle sie noch einmal sprechen. Sie ging mit ihm in sein Büro und nahm den Hörer.

»Es tut mir leid«, sagte Captain Grayling. »Wir haben einen schlimmen Fehler gemacht.«

Er klang einfühlsam. Sie korrigierte sein Gesicht in Richtung weich und seine Figur in nicht ganz so imposant.

»Ein unerfahrener Kollege hat neben einem der niedergebrannten Häuser ein Handy gefunden. Er hat einfach die letzte Nummer aus der Liste der ausgehenden Anrufe gewählt, in der Hoffnung, die würde ihn zu jemandem führen, der noch lebt, vielleicht einem Verletzten.«

»Ich verstehe nicht.«

»Wer Sie angerufen hat, war nicht Ihr Mann, sondern ein Sicherheitsbeamter. Er hatte ein paar Sekunden lang eine Verbindung. Es tut mir leid. Die Situation war chaotisch, und er ist jung und unerfahren. Er hätte mir das sofort melden müssen. Natürlich werde ich ein ernstes Wort mit ihm reden.«

»Matt ist am Leben«, sagte sie. »Egal ob er selber angerufen hat oder nicht.«

»Mrs. Alfredson …«

»Er muss sich vor dem Feuer gerettet und dabei das Handy verloren haben.«

»Aber er war nicht da. Wir haben alles abgesucht.«

»Er ist bestimmt losgegangen, um Hilfe zu holen. Das würde zu ihm passen. Er hätte versucht, selbst etwas zu unternehmen, und wenn das aussichtslos gewesen wäre, hätte er alles getan, um Hilfe zu organisieren. Er hat sicher nicht gemerkt, dass er das Handy verloren hat. Die nächste Stelle, wo man eine vernünftige Verbindung hat, ist meilenweit entfernt, und …«

»Es tut mir leid, Mrs. Alfredson, aber …«

»Oder er war doch filmen, wie ich schon sagte. Er hat das Handy beim Aufbruch fallen lassen, und …«

Captain Grayling unterbrach sie. Gott, wie er das hasste. »Vor Ort waren vierundzwanzig Tote. Das Dorf hatte zur Zeit des Brands dreiundzwanzig Einwohner. So wurde mir das gestern gesagt, und ich habe mich heute noch einmal vergewissert.«

»Aber Sie können doch nicht hundertprozentig davon ausgehen, dass genau diese Leute da waren und niemand sonst!« Sie hörte das Gehetzte, Verzweifelte in ihrer eigenen Stimme und die ruhige Sicherheit in seiner.

»In Anaktue sollten neue Generatoren installiert werden, deshalb hatte man erst kürzlich genaue Daten für jeden Haushalt erhoben. Außerdem gab es eine Befragung wegen einer möglichen neuen Iñupiaq-Schule. Dabei wurde detailliert darauf eingegangen, wie viele Dorfbewohner sich zu welcher Zeit im Jahr vor Ort aufhalten.«

Captain Grayling klang so vernünftig, so freundlich. Sie sah, wie Lieutenant Reeve sie beobachtete. Grayling musste ihn schon vorgewarnt haben. In der Hand hielt er ein Glas Wasser, das er für sie geholt hatte. Captain Grayling fuhr fort, unerbittlich schlugen die Schallwellen an ihre Trommelfelle und verwandelten sich in Worte.

»Von den siebenundzwanzig Dorfbewohnern arbeiteten vier junge Männer wie jeden Winter bei den Ölquellen in Prudhoe Bay, das heißt, es bleiben dreiundzwanzig. Und wie gesagt, wir haben vierundzwanzig Leichen gefunden.«

»Aber identifiziert haben Sie sie noch nicht, oder?«

»Sie haben Lieutenant Reeve gegenüber bestätigt, dass der Ehering Ihrem Mann gehört.«

»Er hat ihn doch nicht getragen. Und eine richtige forensische Identifizierung haben Sie noch nicht vorgenommen, das hätten Sie mir doch gesagt.«

Das Mitgefühl, das Grayling für diese Frau empfand, drohte den dumpfen Trauerklumpen tief in ihm zu lockern, der ihn ständig begleitete und sich in einem gefährlich labilen Gleichgewicht befand. Er wünschte, es gäbe eine Art, es ihr zu sagen, die nicht brutal klang.

»Das Feuer war sehr heiß«, sagte er. Manche Leichen waren kaum noch als Menschen zu erkennen gewesen, geschweige denn als Personen mit einem Namen und Angehörigen. Bei manchen war es sogar fraglich, ob man sie anhand des Gebisses würde identifizieren können. »Ich wünschte, ich müsste Ihnen das nicht sagen, aber Ihr Mann ist tot. Es tut mir sehr, sehr leid. Lieutenant Reeve wird sich um Sie kümmern.«

Er legte auf.

 

Matts Anruf war nur ein zusätzlicher Beweis für das gewesen, was Yasmin schon gewusst hatte – zuerst nur ganz vage und nicht greifbar, aber jetzt tief in ihrem Herzen: dass er am Leben war.

Tatsächlich war sie nicht überrascht, dass nicht er sie angerufen hatte – ganz im Gegenteil, sie war überrascht gewesen, als sie noch davon ausging, dass er es gewesen war. Aber sie wünschte sich, er hätte es getan, weniger als Zeichen, dass er sie doch liebte, sondern weil die Polizei ihr dann glauben müsste. Dann säße sie jetzt nicht ohne eine Ahnung, was sie tun sollte, auf der Polizeistation eines Flughafens in Alaska.

 

Jetzt ist Mum reingekommen. Sie hockt sich so vor mich hin, dass ihr Gesicht dicht vor meinem ist und ich ihre Lippen gut lesen kann. Sie sagt, Dad geht es gut. Es wäre ein Irrtum passiert, aber sie würde das klären. Sie sieht total angespannt aus.

Ich tue so, als würde ich es nicht bemerken, und lächle sie an.

Sie sagt, Dad hat sein Handy verloren, deshalb konnte er uns nicht anrufen oder simsen. Ein älterer Polizist kommt herein und bittet Mum, mit ihm zu kommen. Sie sagt, sie ist bald zurück. Im Gehen hebt der Polizist den Arm, als wollte er ihn um ihre Schulter legen, aber dann lässt er ihn wieder fallen. Viele Leute wissen nicht, wie sie sich Mum gegenüber verhalten sollen. Es schreckt sie ab, dass sie so toll aussieht, aber im Moment bräuchte sie einen Arm, den jemand um sie legt, das spüre ich.

 

In seinem Büro versuchte Lieutenant Reeve, Yasmin Alfredson dazu zu bringen, sich zu setzen, aber sie weigerte sich.

»Matt ist nicht tot«, sagte sie. »Dieser Captain Grayling muss vor Ort nach ihm suchen.«

Lieutenant Reeve hatte einmal gelernt, dass es vier Stadien der Trauer gab. Die erste davon war das Leugnen. »Es tut mir leid, aber er glaubt nicht, dass das irgendeinen Sinn hat.«

»Also gibt er einfach auf? Wie schwer kann das denn sein, da hinzufahren und noch mal zu suchen?«

Ihre Stimme hörte sich an, als könnte sie jederzeit in Schreien oder Schluchzen übergehen, daher achtete er sehr darauf, ruhig zu bleiben. »Wenn Captain Grayling auch nur die leiseste Chance sähe, würde er noch mal hinfahren. Er hat trotz des Sturms eigenhändig den Hubschrauber nach Anaktue geflogen. Und das, obwohl er zu der Zeit nicht einmal Dienst hatte. Und er ist als Letzter gegangen. Er hat fast zwölf Stunden lang bei minus dreißig Grad nach Überlebenden gesucht.«

In Fairbanks galt Grayling als Querkopf, der da oben im Norden sein Ding machte, oft ohne sonderlich auf die Regeln zu achten – ganz so, als gehörte ihm die Gegend. Aber er scheute keine Mühe, warf bei einer Suchaktion nie das Handtuch, solange noch irgendeine Hoffnung bestand. So sei er, hieß es, seit sein Sohn im Irak gefallen war.

Yasmin war verstummt. Ohne noch etwas zu sagen, drehte sie sich um und verließ das Zimmer.

 

Mein Armband vibriert, was bedeutet, dass in der Nähe ein lautes Geräusch ist. Das ist so eine Art James-Bond-Spielerei für Gehörlose, damit ich weiß, wenn jemand auf mich schießt (das hatte der Mann in dem Spezialgeschäft gesagt, ich fand’s ziemlich witzig). Na ja, eigentlich ist es dazu da, um einen zu warnen, wenn ein Auto kommt, falls man mal vergisst, nach beiden Seiten zu schauen.

Mum kommt mit unseren Koffern herein. Das laute Geräusch muss die Tür sein, die hinter ihr zugeschlagen ist. Sie lächelt nicht. Sonst lächelt sie immer, wenn sie mich sieht, selbst wenn wir uns fünf Minuten vorher zuletzt gesehen haben – als wäre sie jedes Mal total glücklich darüber, mich schon wieder zu sehen. Manche Leute halten sie für abweisend. Ich hab schon lippengelesen, dass sie das gesagt haben – gemeine Sachen sind leichter zu lesen, als wenn Leute was Nettes sagen. Ich glaube, sie würden eher merken, wie sie wirklich ist, wenn sie nicht so gut aussehen würde.

Sie sagt mir, dass es Dad gut geht, dass in Anaktue aber ein schlimmes Feuer gewütet hat. Sie sagt, die Polizisten sind Idioten und Schlafmützen, und deshalb müssen wir selber hinfahren und ihn finden.

 

Sie verließen die Polizeistation und zerrten ihre Koffer über den festgetretenen Schnee. Die Kälte kam Yasmin jetzt beißender vor. Sie trugen Innenhandschuhe aus Vlies in ihren Polarhandschuhen und hatten die Gesichtsmasken hochgezogen.

Wo war er?

Sie musste es nüchtern und in Ruhe durchdenken, so wie sie es einst als Naturwissenschaftlerin gelernt hatte.

Captain Grayling hatte die Landebahn gründlich abgesucht. Vermutlich lag sie in ebenem, übersichtlichem Gelände. Es wäre ein Leichtes gewesen, da einen Menschen zu bemerken, also hatte er wohl recht, Matt war nicht dort gewesen.

Aber wo dann? Logisch denken. Nicht von der Kälte und von Ruby ablenken lassen, die zu ihr hochblickte. Konzentration.

Wenn Matt bei Ausbruch des Brandes in Anaktue gewesen war, was hätte er getan? Er hätte versucht zu helfen und, als er das nicht konnte, per Funk Hilfe zu holen. Sie stellte sich vor, wie ihm in der Eile das Handy aus der Tasche fiel und geräuschlos im Schnee landete. Ohne den Verlust zu bemerken, war er drei Kilometer durch den Sturm gewandert und auf den vereisten Hügelkamm gestiegen, um eine Verbindung zu bekommen. Und dann? Hatte er in der Tasche nach dem Handy getastet und es nicht gefunden. Vielleicht war er ganz langsam zurückgegangen, hatte seine Spur abgesucht, weil er nicht wusste, wo er es verloren hatte. Wie lange mochte das gedauert haben? Vielleicht hatte er dann beschlossen, sich zu Fuß auf den Weg zu machen, um Hilfe zu holen. Verzweifelt genug war er sicher gewesen. Im Dorf gab es Kinder. Und Corazon. Wenn er zu schnell ging, würde er anfangen zu schwitzen, und der Schweiß würde auf der Haut verdunsten und zu Unterkühlung führen. Aber diese Gefahr kannte er. Es würde ihm nicht helfen, wenn sie sich deswegen Sorgen machte. Konzentration. Sie sah sein Gesicht vor sich, als er sich bewusst machte, dass es in erreichbarer Nähe kein anderes Dorf, keine Stadt, nicht eine einzige menschliche Behausung gab, nicht in hundertfünfzig Kilometern Umkreis. Trotzdem war er weitergegangen, bis ihm schließlich die Sinnlosigkeit seines Unternehmens klar geworden war. Sie hätte gern ihre warme Hand an seine Wange gelegt. Konzentration. Und währenddessen hatte die Polizei Anaktue und die Landebahn abgesucht, es war dunkel und stürmisch gewesen, ihre Scheinwerfer hatten ihn nicht gefunden, weil er nicht da war. Wie lange war er gegangen, bis er nach Anaktue zurückgekehrt war und es tot und verlassen vorgefunden hatte, von der Polizei bereits aufgegeben?

Ruby berührte ihren Arm. Ihr Koffer war im gefrorenen Schneematsch an der Bordsteinkante stecken geblieben. Yasmin half ihr, ihn wieder aufzurichten.