Shreve, Anita Das Gewicht des Wassers

PIPER

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Für meine Mutter und meine Tochter

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Mechtild

Sandberg

ISBN 978-3-492-97437-0

Oktober 2016

© Anita Shreve

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Weight of Water«, Little Brown and Company, Boston und New York 1997

Deutschsprachige Ausgabe: 

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 1997

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Ric Frazier/Getty Images

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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VORBEMERKUNG DER AUTORIN

In der Nacht des 5. März 1873 wurden auf den Isles of Shoals, einer Inselgruppe zehn Meilen vor der Küste von New Hampshire, zwei Frauen, norwegische Immigrantinnen, ermordet. Eine dritte Frau, die sich bis zum Morgen in einer Höhle am Meer versteckt hielt, kam mit dem Leben davon.

Die Passagen der Zeugenaussagen vor Gericht wurden wortgetreu aus dem Protokoll des Prozesses Der Staat Maine gegen Louis H. F. Wagner übernommen.

Abgesehen von belegten historischen Fakten sind Namen, Personen, Schauplätze und Ereignisse in diesem Roman entweder Erfindungen der Autorin oder wurden, wenn real, fiktiv verwendet.

Die Frage, wer Anethe und Karen Christensen damals tötete, wurde vor einem ordentlichen Gericht entschieden, ist aber seit mehr als einem Jahrhundert Gegenstand von Diskussionen geblieben.

1

Ich muß diese Geschichte loslassen. Immer trage ich sie jetzt mit mir, eine schreckliche Last.

Ich sitze im Hafen und blicke nach Smuttynose hinüber. Ein rosafarbenes Licht, ein Fleck wandert über die Insel. Ich schalte den Motor des kleinen gemieteten Boots aus und tauche meine Finger ins Wasser, lasse die Kälte, die wie ein Schock wirkt, meine Hand verschlucken. Ich bewege meine Hand durch das Meerwasser und denke darüber nach, daß das Meer, dieser Hafen, ein Hort von Geheimnissen ist, seine eigene Elegie.

Ich war schon einmal hier. Vor einem Jahr. Ich habe die Insel fotografiert, die Vegetation, die sich im Widerstand gegen das Wetter tief in den Boden gegraben hat: schwarzes Riedgras und Wachsmyrte, Sauerampfer und Meersenf. Die Insel ist nicht völlig unfruchtbar, aber sie ist karg und rauh. Sie ist aus Granit, und überall sind zackige, scharfkantige Felsen. Auf Smuttynose zu leben muß einer besonderen Hartnäckigkeit bedurft haben, und ich stelle mir vor, daß die Menschen damals sich ebenso gegen die Elemente gestemmt, ihre Wurzeln so tief in die Felsspalten gesenkt haben wie die Pflanzen, die bis heute überlebt haben.

Das Haus, in dem die beiden Frauen ermordet wurden, ist I885 abgebrannt, aber als ich vor einem Jahr hier war, habe ich den Fußabdruck des Hauses fotografiert, die Markierung seiner äußeren Umgrenzung. Ich setzte mich in ein Boot und machte Aufnahmen von den gebleichten Felssimsen von Smuttynose und den schwarzrückigen Möwen, die auf der Jagd nach Fischen, die nur sie sehen konnten, über der Insel aufstiegen und kreisten. Als ich damals hier war, gab es gelbe Rosen und Brombeeren.

Ich ziehe meine Hand aus dem Wasser und lasse die Tropfen in den Karton mit den Papieren fallen, die an den Rändern schon vom überschwappenden Wasser durchfeuchtet sind. Das rosafarbene Licht wird langsam violett.

Manchmal stelle ich mir vor, daß man eine Geschichte nur oft genug zu erzählen braucht, um zu bewirken, daß der Schmerz nachläßt und die Worte an den Armen herabperlen und vom Körper abtropfen wie Wasser: Dann würde ich diese Geschichte tausendmal erzählen.

2

Es ist meine Aufgabe, zu rufen, wenn ich etwas sehe, ein Felsenriff, eine Insel. Ich stehe am Bugspriet und starre in den Nebel. Angestrengt spähend, beginne ich Dinge zu sehen, die in Wirklichkeit gar nicht da sind. Zuerst winzige, sich bewegende Lichter, dann ungemein feine Schattierungen von Grau. War das ein Schatten? War das eine feste Form? Und dann, so überraschend, daß ich ein paar wichtige Sekunden lang keinen Ton herausbringe, ist alles da: Appledore und Londoner᾿s und Star und Smuttynose – Felsen, die aus dem Nebel auftauchen. Smuttynose in seiner unverwechselbaren Gestalt, flach, mit gebleichten Felssimsen, abschreckend, still.

Ich rufe. Land, sage ich wahrscheinlich.

Manchmal überkommt mich auf dem Boot ein Gefühl von Klaustrophobie, selbst wenn ich allein am Bugspriet stehe. Das habe ich nicht erwartet. Wir sind vier Erwachsene und ein Kind, die freundschaftlich zusammenleben müssen, und das auf einem Raum, der nicht größer ist als ein kleines Zimmer und beinahe immer feucht. Die Leintücher sind feucht, meine Unterwäsche ist feucht. Rich, der das Boot seit Jahren besitzt, sagt, das sei beim Segeln immer so. Er vermittelt mir den Eindruck, daß es ein Zeichen von Charakter ist, die Feuchtigkeit zu akzeptieren, sie sogar in gewisser Weise erheiternd zu finden.

Rich hat eine neue Frau mitgebracht, die Adaline heißt.

Rich gibt Anweisungen. Das Segelboot ist alt, ein Morgan 41, aber gut gepflegt, das Teakholz frisch gefirnißt.

Rich ruft nach den Bootshaken, brüllt Thomas zu, er soll sich die Boje schnappen. Rich drosselt den Motor, schaltet in den Rückwärtsgang, gibt etwas Gas, manövriert das lange, schlanke Boot – diesen Raum, der sich durch Wasser bewegt – an den Liegeplatz. Thomas beugt sich hinaus, wirft das Seil um die Boje. Adaline sieht von ihrem Buch auf. Es ist unser dritter Tag auf dem Boot: Hull, Marblehead, Annisquam und jetzt die Isles of Shoals.

Die Isles of Shoals, eine Inselkette, liegen im Atlantischen Ozean, zehn Meilen südöstlich von Portsmouth vor der Küste von New Hampshire. Die Inseln messen von Norden nach Süden dreieinhalb Meilen und von Osten nach Westen anderthalb. Bei Flut sind es neun Inseln, bei Ebbe acht; White and Seavey᾿s sind miteinander verbunden. Die größte Insel sah in den Augen ihrer ersten Bewohner aus wie ein dickes Schwein, das sich im Meer suhlt, daher der Name Hog, das englische Wort für Hausschwein. Smuttynose, Schmutznase, unser Ziel, erhielt seinen Namen von einem Büschel Seetang an einer Felsnase, die in den Ozean hinausragte. Es war immer ein abstoßender Name, wenn sich auch die anderen in einem Schiffslogbuch sehr poetisch lasen: »Heute haben wir die Inseln Star, Malaga, Seavey᾿s und Londoner᾿s passiert und mit Erfolg den gefährlichen Felsen Shag sowie Eastern und Babb᾿s und Mingo umschifft.«

Im Jahr I635 wurden die Isles of Shoals amtlich aufgeteilt zwischen der damaligen Massachusetts Bay Colony, zu der Maine gehörte, und jenem Gebiet, das später den Namen New Hampshire erhielt. Duck, Hog, Malaga, Smuttynose und Cedar fielen an Maine; Star, Londoner᾿s, White und Seavey an New Hampshire. Diese Teilung ist bis heute gültig geblieben. I635, als die Verfügung erlassen wurde, flohen fast alle Bewohner von Star nach Smuttynose, weil in Maine der Genuß von Alkohol noch erlaubt war.

Den Reiseführern entnehme ich erstaunliche Dinge: Auf der Insel Star versteckte sich im Jahr I724 eine Frau namens Betty Moody mit ihren drei Kindern vor Indianern in einer Höhle. Sie kauerte tief auf der Erde und hielt eines ihrer Kinder, ein Mädchen im Säuglingsalter, fest an ihre Brust gedrückt. Mrs. Moody wollte ihr Kind stillhalten, damit es ihr Versteck nicht verriet, aber als die Indianer wieder weg waren, entdeckte sie, daß sie das kleine Mädchen erstickt hatte.

Rich sieht aus wie ein Ringer: Er ist muskulös und kompakt. Sein Kopf ist kahlrasiert, und er hat tadellose Zähne. Ich finde, er hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit Thomas – ein seltsamer genetischer Streich; die beiden trennen zehn Jahre. Rich kitzelt Billie gnadenlos, selbst im Zodiac. Sie kreischt, als würde sie gefoltert, und beschwert sich dann, wenn er aufhört. Rich geht mit der Anmut eines Athleten auf dem Morgan umher und macht den Eindruck eines Mannes, für den noch nie irgend etwas kompliziert war.

Wir sind bloß von Annisquam herübergefahren und kommen am frühen Vormittag an. Ich beobachte Thomas, wie er sich über das Heck beugt, um den Anker aufzuholen. Seine Beine sind blaß, mit Wirbeln braunen Haars über den Kniekehlen. Über seiner Badehose trägt er ein blaues Hemd, die Ärmel bis zu den Ellbogen aufgekrempelt. Es ist merkwürdig, Thomas, der seit fünfzehn Jahren mein Mann ist, mit Bootsarbeiten beschäftigt zu sehen, Schiffsjunge seines jüngeren Bruders. Ohne seinen Stift und seine Bücher scheint Thomas entwaffnet, verwirrt durch körperliche Arbeit. Während ich ihn beobachte, denke ich, wie so oft, daß mein Mann zu groß wirkt für seine Umgebung. Es ist, als müsse er ständig den Kopf einziehen, selbst im Sitzen. Sein Haar, das er ziemlich lang trägt und das jetzt beinahe farblos ist, fällt ihm in die Stirn, und er schiebt es mit einer Geste weg, die ich liebe und tausendmal gesehen habe. Mir fällt manchmal auf, daß Thomas trotz seiner altersmäßigen Überlegenheit, oder vielleicht gerade ihretwegen, von der Anwesenheit Richs und Adalines irritiert ist, wie vielleicht ein Vater in Gesellschaft eines erwachsenen Sohns und einer Frau.

Woran denkt Adaline, wenn sie Thomas beobachtet? Mein Mann ist ein Dichter ersten Ranges, schon jetzt so etwas wie ein Emeritus an der Universität, obwohl er erst siebenundvierzig ist. Adaline ist keine Dichterin, scheint aber Thomas᾿ Arbeiten sehr zu bewundern. Es würde mich interessieren, ob sie Thomas᾿ Gedichte schon früher gekannt oder sie eigens für die Fahrt studiert hat.

Wenn Zeit ist, lese ich über die Inseln nach. Ich schleppe pfundweise Papiere in meiner Kameratasche mit – Reiseführer, Artikel über die Morde, ein Prozeßprotokoll –, Materialien von Research, wo man zu glauben scheint, daß ich die Reportage schreiben werde. Als die Morde I873 verübt wurden, berichteten die Zeitungen über das Verbrechen, und später sprachen dieselben Zeitungen vom »Jahrhundertprozeß«. Das ist ein vertrauter Ausdruck in diesem Sommer, in dem wir Zeugen eines Gerichtsspektakels sind, das selbst die begierigsten Beobachter fast sprachlos macht. Mein Verleger meint, daß es zwischen den beiden Ereignissen Parallelen gibt: ein Doppelmord, mit einem scharfen Instrument begangen, ein aufsehenerregender Prozeß, Indizienbeweise, die an winzigsten Tatsachendetails hängen. Ich selbst sehe kaum Ähnlichkeiten, aber eine Zeitschrift macht eben aus jeder Kleinigkeit, was sie kann. Ich werde dafür bezahlt, die Bilder zu schießen.

Mein Spesenkonto ist großzügig bemessen, aber Rich, der technische Fachzeitschriften verlegt, will von Geld nichts hören. Ich bin froh, daß Thomas an seinen jüngeren Bruder und dessen Boot gedacht hat: Ich würde nicht gern mit einem fremden Bootsführer und einer fremden Mannschaft auf so beengtem Raum hausen.

Wie lange, überlege ich, ist Rich schon mit Adaline zusammen?

Ich lese viele Berichte über die Morde. Am meisten frappiert mich die Relativität von Fakten.

Wenn ich über die Morde nachdenke, versuche ich, mir vorzustellen, was in dieser Nacht geschehen ist. Ich denke mir, es war schwerer Sturm, und der Wind vom Meer rüttelte an den Scheiben. Manchmal kann ich diesen Wind hören und das Holzhaus unter den hohen Federwolken einer Vollmondnacht sehen. Maren und Anethe werden auf dem Rücken liegend nebeneinander in dem Doppelbett geschlafen haben – oder könnte es sein, daß sie einander berührt haben? –, und im Nebenzimmer wird Karen plötzlich erschreckt aufgeschrien haben.

Oder hat zuerst der Hund gebellt?

Manchmal stelle ich mir vor, die Morde wären ein Geschehen subtiler Anmut und Schönheit gewesen, schlanke Arme in weißen Nachtgewändern, gegen den Schrecken erhoben, weiße Nachtgewänder im Kontrast zu Schnee, scharfkantige Felsen und Sturm, der das dünne Leinen bauscht wie Laken auf einer Wäscheleine. Ich sehe einen Arm, emporgereckt an einem Fenster, auf dessen Scheiben der Mond dunkle Flecken wirft, und höre eine Frau, die einer anderen und noch einer anderen etwas zuruft, während unter ihnen, am Ufer, die Wellen schnell und hart gegen das kleine Boot klatschen.

Ich liebe es, meine Tochter zu beobachten, wenn sie in ihrem Badeanzug, der ihr, ausgeleiert und lappig, weit über den Po hochrutscht, auf dem Boot umherläuft. Ihr kleiner Körper ist rund und schön, oft salzig, wenn ich ihren Arm ablecke. Billie mit ihren fünf Jahren ist hingerissen von dem Boot, auf dem es massenhaft kleine Fächer und raffinierte Plätze gibt, wo sie die wenigen Spielsachen, die sie mitnehmen durfte, unterbringen kann. Sie schläft in der hinteren Koje neben der Kajütentreppe. Adaline und Rich sind in der vorderen Kabine, Privileg des Eigentümers. Thomas und ich sind mittschiffs untergebracht, nicht so ungestört in einem offenen Raum mit einem Bett, das jeden Morgen zum Frühstückstisch zusammengeklappt wird.

Ab und zu entdecke ich unten Billies sandige Fußabdrücke. Sand im Kühlschrank. Stört es Rich? Ich glaube nicht. Billies Haar ist in der Sonne heller geworden und ringelt sich durch die Feuchtigkeit. Immer häufiger fällt mir auf, daß ihre Pupillen erweitert sind und ihre Augen dadurch beinahe schwarz erscheinen. Sie hat ungewöhnlich lange Wimpern, die jedem Zwinkern übermäßige Betonung geben. Der Verlust der beiden oberen Schneidezähne hat ihr Lächeln breiter gemacht und ein leichtes Lispeln hervorgerufen.

Morgens höre ich Adaline und Rich in der vorderen Kabine: ein Rascheln von Stoff, ein Murmeln, rhythmische Bewegungen. Die Laute, die Adaline ausstößt, sind erstaunlich – guttural und manchmal wild. Allmählich ahne ich, wann die Geräusche einsetzen, und gehe rechtzeitig fort. Ich steige im Bademantel zum Cockpit hinauf. Ich überlege, ob Billie Angst bekommen würde, wenn sie erwachte – Angst, daß Adaline etwas angetan wird.

Ich denke mir, daß Evan, er war Anethes Mann, am Morgen nach den Morden zum Haus gestürzt ist, wie rasend nach den Berichten über das Unvorstellbare. Die hohen Federwolken haben sich um diese Zeit wohl gelichtet, die Sonne hat schon die Felsen erreicht, und der Schnee beginnt zu schmelzen. Evan wird der erste im Haus gewesen sein. Er hätte sich das nicht nehmen lassen.

Im Jahr I852 saß Nancy Underhill, eine Lehrerin, auf der Insel Star auf einem Felsvorsprung, als eine Welle sie ins Meer riß. Ihre Leiche wurde eine Woche später in Cape Neddick, Maine, gefunden.

Nachdem wir an diesem Morgen den Anker gelichtet haben, steht Adaline im Cockpit, die Hände in die Hüften gestemmt, mit ihren Blicken die Küste von Smuttynose absuchend, als könnte sich ihr dort etwas von tiefer Bedeutsamkeit offenbaren. Ihre Aussprache hat noch den Anklang eines irischen Akzents, und ihre Stimme verleiht ihr eine Ausstrahlung von Autorität, die bei mir nicht unbedingt vorhanden ist. Ihre Rede hebt und senkt sich und sinkt noch ein wenig tiefer und kehrt dann in einen Bereich zurück, in dem sie wieder hörbar ist – wie leise Kirchenmusik, denke ich oft, oder das melodische Plätschern des Wassers am Bootsrumpf.

Adaline bewegt sich wie eine Tänzerin, wiegend ihre Balance suchend. Wenn sie morgens die Leiter heraufkommt und aus der Kajütsluke auftaucht, scheint sie ins Cockpit zu schweben. Sie trägt lange Röcke aus dünner Baumwolle, dazu Blusen, die ihr lose um die Hüften fallen. Am Hals trägt sie ein goldenes Kreuz, ein Schmuckstück, das bei einer Frau ihres Alters und Formats irgendwie überrascht. Das Kreuz lenkt den Blick auf die kleine Mulde zwischen ihren Schlüsselbeinen, die glatt ist und sonnengebräunt. Es ist, als hätte sie als junges Mädchen eine Halskette mit einem Kreuz getragen und einfach vergessen, sie abzulegen.

Adaline, hat Rich mir erzählt, arbeitet bei der Bank of Boston in der internationalen Abteilung. Sie spricht nie über ihre Arbeit. Ich stelle sie mir in Kostümen vor, an Flugsteigen auf Flughäfen. Sie hat Narben an den Handgelenken, etwas schiefe vertikale Striche in glattem Fleisch, als hätte sie einmal versucht, ihre Adern mit einer Rasierklinge oder einem Messer zu finden. Sie hat einen auffallenden Mund mit vollen geschwungenen Lippen gleicher Ausformung, fast ohne einen Amorbogen.

Manchmal stelle ich mir vor, daß ich Maren Hontvedt am Ende ihres Lebens sehen kann. Die Tapete im Zimmer, in dem sie sitzt, ist vergilbt, aber unversehrt. Eine Haube mit Lochstickerei bedeckt ihr Haar. Ich bemerke den schlaffen Fall des Umschlagtuchs, das sich in ihren Schoß schmiegt, die ruhige Haltung ihres Körpers. Der Fußboden ist nackt, aus Holz, und auf dem Toilettentisch steht eine Schüssel mit Wasser. Das Licht vom Fenster her fällt auf ihr Gesicht und ihre Augen. Es sind graue Augen, noch nicht verblaßt, und in ihnen hat sich ein Ausdruck bewahrt, den andere, die sie kannten, vielleicht erkennen würden.

Ich denke mir, daß sie dem Tod nahe ist und bald sterben wird. Es gibt Gedanken und Erinnerungen, an denen sie festhält und die sie auskostet, indem sie sie sich vor Augen hält, wie man das vielleicht mit der vergilbten Fotografie eines Kindes tut. Ihr Gesicht hängt in Falten, die Haut ist wie zerdrückter Samt, von der Farbe getrockneter Hortensien. Sie war nicht schön als junge Frau, aber ihr Gesicht war gut geschnitten, und sie war stark. Der Bau ihres Gesichts ist noch so, wie er war, und man kann die Knochen erkennen, etwa so wie die Konturen eines Stuhls, der von losem Stoff bedeckt ist.

Ich frage mich: Wenn man eine Frau bis zum äußersten treibt, wie wird sie sich verhalten?

Nachdem wir geankert haben, bietet Rich mir an, mich im Zodiac nach Smuttynose hinüberzubringen. Billie bettelt, mitkommen zu dürfen. Ich knipse in der Hocke aus dem Beiboot und lehne mich dabei an die Bootswand, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ich arbeite mit der Hasselblad und einem Teleobjektiv mit Polarisationsfilter. Von Zeit zu Zeit rufe ich Rich zu, er solle den Motor drosseln, damit die Vibrationen nicht so stark sind, oder ich bedeute ihm mit einer Geste meiner Hand, daß er wieder aufdrehen kann.

Es gibt zwei Häuser auf der Insel. Das eine ist ein kleines Holzschindelhaus und trägt den Namen Haley-House. Es ist nicht bewohnbar, aber es ist von historischer Bedeutung und besitzt eine große ästhetische Reinheit. Das andere ist ein Schuppen mit den nötigsten Vorräten für Schiffbrüchige. Maren Hontvedts Haus wurde zwölf Jahre nach den Morden durch einen Brand zerstört.

Rich bringt den Zodiac gekonnt hinter der verfallenen Mole von Smuttynose an Land. Der Strand ist klein, schmal, geschwärzt von dunklen Steinen und verkohlten Holzstücken. Die Luft ist herb, und ich verstehe, warum man vor Jahren Seeluft als Tonikum für den Körper verschrieben hat. Billie zieht ihre Schwimmweste aus und setzt sich mit übereinandergeschlagenen Beinen in den Sand; das lavendelblaue T-Shirt bedeckt ihren Bauch nicht ganz. Rich ist schon gebräunt, ein gleichmäßiges Rotgold auf Beinen, Armen und im Gesicht. An seinem Hals ist eine Linie. Wir haben Thomas und Adaline auf dem Morgan zurückgelassen.

In den Wintermonaten wurden auf den Isles of Shoals die Fenster niemals geöffnet, und die Kinder durften nicht hinaus, so daß bis zum März die Luft in den Häusern schal und faulig und verraucht war und die Kinder kaum atmen konnten.

Rich nimmt Billie bei der Hand und führt sie über die Molde hinaus, um mit ihr zwischen den Felsen nach Muscheln zu suchen, die sie in ihren Eimer wirft. Ich hänge mir meine Kameratasche über die Schulter und mache mich auf den Weg zum Ende der Insel. Dort will ich umdrehen, um die Insel in ihrer ganzen Länge aufzunehmen. An meinem Ziel, der nördlichsten Spitze der Insel, gibt es einen Fels, der wie das Fesselgelenk eines Pferdes geformt ist. Im Innern der kantig geschnittenen Felsen befindet sich ein geschützter Raum, eine Höhle direkt am Meer, in die bei Flut das Wasser schwappt. Es ist glitschig auf den Steinen, aber nachdem ich meine Kameratasche auf einem trockenen Vorsprung deponiert und in einer Spalte verankert habe, damit der Wind sie nicht wegblasen kann, krieche ich wie ein Krebs in die Höhle und hocke mich dort nieder. Auf drei Seiten sind die Untiefen und brodelndes Wasser, und Richtung Osten ist nichts als der Atlantische Ozean. Anders als der Hafen und die Stelle, wo wir angelegt haben, ist diese Seite der Insel ungeschützt. Flechten kriechen über die Felsen, und kleine Fliegen stieben in heller Aufregung in die Höhe, wenn eine Welle anbrandet und zerbirst.

Auf dem Felsen, der Maren᾿s Rock genannt wird, schließe ich die Augen und versuche, mir vorzustellen, wie es wäre, eine ganze Winternacht in dieser Höhle zu kauern, in der Finsternis, bei Schnee und eisigen Temperaturen, gewärmt von nichts als einem Nachthemd und einem kleinen schwarzen Hund.

Ich krieche vom Felsen hinunter und schramme mir dabei das Schienbein auf. Ich hole meine Kameratasche, die unverrückt in der Spalte liegt. Ich verschieße einen ganzen Farbdiafilm, sechsunddreißig Aufnahmen von Maren᾿s Rock. Ich gehe die Insel in ihrer ganzen Länge ab, mühe mich durch dichtes, dorniges Gestrüpp.

Am I4. Januar I8I3 versuchten vierzehn schiffbrüchige spanische Seeleute, die ein Orkan nach Smuttynose verschlagen hatte, den Kerzenschimmer in einem oberen Fenster von Kapitän Haleys Haus zu erreichen. Sie kamen in einem Schneesturm keine fünfzehn Meter von ihrem Ziel entfernt um und wurden unter Steinen auf der Insel begraben. Ein Mann schaffte es bis zu der Steinmauer, dann konnte er nicht mehr weiter. Kapitän Haley entdeckte ihn am folgenden Morgen. Weitere sechs Leichen wurden am 17. Januar gefunden, nochmals fünf am 2I., und der letzte Tote wurde, »in den Felsen vor der Insel Hog eingeklemmt«, am 27. gefunden. Laut Bericht der Boston Gazette vom I8. Januar hatte das Schiff namens Conception ein Gewicht zwischen drei- und vierhundert Tonnen und hatte Salz geladen. Niemand in Amerika hat je die Namen der toten Seeleute erfahren.

Als ich wieder zu Rich und Billie komme, hocken sie am Strand, die Zehen in den Sand gegraben. Ich setze mich zu ihnen, die Knie hochgezogen, die Arme um meine Beine geschlungen. Billie steht auf, wirft einen Blick in ihren Eimer und beginnt in steifbeinigen Sprüngen um uns herumzuhüpfen.

»Meine Finger sind ganz blutig«, verkündete sie stolz.

»Wir haben mindestens eine Million runtergezogen. Mindestens! Stimmt᾿s, Onkel Rich?«

»Absolut. Mindestens eine Million.«

»Wenn wir wieder auf dem Boot sind, kochen wir sie zum Essen.« Sie beugt sich wieder über ihren Eimer und mustert die Muscheln mit feierlichem Ernst. Dann schickt sie sich an, den Eimer zum Wasser hinunterzuschleppen.

»Was tut sie jetzt?« fragt Rich.

»Ich glaube, sie will den Muscheln was zu trinken geben.«

Er lächelt. »Ich habe mal einen Bericht von einem Piloten gelesen, der sagte, das Schönste, was er je aus der Luft gesehen habe, seien die Isles of Shoals.« Er streicht sich mit der Hand über den kahlrasierten Kopf. Sein Schädel ist vollendet geformt, ohne Buckel und Rinnen. Ich frage mich, ob er vor Sonnenbrand Angst hat.

»Adaline scheint sehr nett zu sein«, bemerke ich.

»Ja, das ist sie.«

»Sie bewundert Thomas᾿s Arbeit.«

Rich sieht weg und wirft Steinchen. Sein Gesicht ist nicht zart wie Thomas᾿. Rich hat dunkle buschige Augenbrauen, die über der Nase fast zusammentreffen. Manchmal denke ich, daß er Thomas᾿ Mund hat, aber das stimmt nicht. Der Mund von Rich ist härter, stärker ausgeprägt im Profil. »Childe Hassam hat hier gemalt«, sagt er.

»Wußtest du das?«

»Ich hätte nicht gedacht, daß jemand, der bei der Citibank arbeitet, sich so gut in der Lyrik auskennt«, sage ich.

»Sie arbeitet bei der Bank of Boston.« Er dreht den Kopf und sieht mich an. »Gedichte sind doch etwas Universelles, findest du nicht? Ich meine, die Freude daran.«

»Ja, wahrscheinlich.«

»Wie geht es Thomas?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, er hat sich mit Erfolg eingeredet, daß jedem Dichter nur eine begrenzte Anzahl von Wörtern zur Verfügung steht und daß er sein Kontingent verbraucht hat.«

»Mir ist aufgefallen, daß er mehr trinkt«, sagt Rich. Richs Beine sind braun und dunkel behaart. Während ich seine Beine betrachte, denke ich über diesen Streich der Natur nach, dem es zu verdanken ist, daß Thomas und Rich anscheinend völlig unterschiedliche Gene mitgegeben wurden. Ich schaue zum Boot hinaus, das hundertdreißig Meter von uns entfernt im Hafen schaukelt. Der Mast schwankt im unregelmäßigen Schlag der Wellen.

»Adaline war mal verheiratet«, sagt Rich. »Mit einem Arzt. Sie haben ein Kind.«

Ich wende mich ihm zu. Er sieht wohl Überraschung in meinem Gesicht.

»Ich glaube, das Mädchen muß jetzt drei oder vier sein. Sie lebt bei ihrem Vater. In Kalifornien.«

»Das wußte ich nicht.«

»Adaline sieht das Kind nie. Sie will es nicht.«

Ich schweige. Ich versuche, diese Neuigkeit aufzunehmen und mit dem goldenen Kreuz und der melodischen Stimme zu vereinbaren.

»Adaline ist aus Irland hier rübergekommen«, sagt er. »Wegen dieses Arztes.«

Er beugt sich zu mir und wischt etwas getrockneten Schmutz von meiner Wade. Er streicht mit den Fingerspitzen über mein Bein. Ich denke bei mir, daß die Wade eine Körperstelle ist, die man selten berührt. Es würde mich interessieren, ob er seinen Kopf jeden Tag nachrasiert. Wie die obere Rundung seines Kopfs sich anfühlt.

»Sie ist irgendwie distanziert«, sagt er, seine Finger zurückziehend. »Sie hält es mit niemandem lange aus.«

»Wie lange seid ihr schon zusammen?«

»Ungefähr fünf Monate. Ich glaube, meine Zeit ist fast abgelaufen.«

Ich bin versucht zu entgegnen, daß ich dem in Anbetracht der Geräusche, die aus der vorderen Kabine zu hören sind, nicht zustimmen kann.

Vor uns legt sich Billie am Wasser nieder, hauptsächlich, denke ich, um Sand in ihre Haare zu bringen. Ich werde nervös und will aufstehen. Rich legt beschwichtigend seine Hand auf meinen Arm.

»Alles in Ordnung. Ich habe sie im Auge.«

Ich entspanne mich ein wenig und setze mich wieder.

»Wolltest du mehr?« frage ich. »Von Adaline, meine ich.«

Er zuckt die Achseln.

»Sie ist sehr schön«, sage ich.

Rich nickt. »Ich habe euch immer beneidet«, sagt er. »Dich und Thomas.«

Er hebt die Hand zum Gesicht, um seine Augen zu beschatten, und blickt blinzelnd zum Boot hinüber.

»Ich sehe niemanden im Cockpit«, sage ich.

Einige Minuten später mache ich ein Bild von Rich und Billie mit ihrem Eimer voll Muscheln. Rich liegt auf dem kleinen Stück unwirtlichen Strands, die Knie hochgezogen, dunkle Ringe in den weiten Öffnungen seiner Khakishorts. Der Blick wird zu diesen dunklen Ringen hingezogen. Seine Arme sind in einer Geste der Unterwerfung zu beiden Seiten ausgebreitet. Sein Kopf ist in eine Mulde im Sand gesunken, so daß sein Körper bei seinem Hals zu enden scheint. Billie steht über ihm, den Oberkörper an der Taille abgebogen, die Arme hinter sich ausgestreckt wie zwei kleine Flügel, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie spricht mit Rich oder stellt ihm eine Frage. Rich wirkt verletzlich unter ihrem forschenden Blick. Neben Billie steht ihr grüner Plastikeimer mit den Muscheln, die vielleicht gerade mal als Vorspeise für zwei reichen. Hinter den beiden sieht man das Haley-Haus, klein und alt, die Holzteile adrett in einem stumpfen Ziegelrot gestrichen.

Wenn ich mir die Fotografien ansehe, fällt es mir schwer, nicht zu denken: Da hatten wir noch siebzehn Stunden oder zwölf oder drei.

Gleich nachdem das Foto gemacht ist, setzt Rich sich auf. Er erinnere sich, erzählt er Billie, daß ein Pirat namens Blackbeard einst seinen Schatz auf dieser Insel vergraben habe. Er steht auf und sucht im Gestrüpp, prüft diesen Ast und jenen, bis er zwei gegabelte Stöckchen gefunden hat. Dann macht er sich mit Billie auf den Weg, während ich am Strand warte. Nach einer Weile – fünfzehn Minuten oder zwanzig? – höre ich einen Schrei von Billie. Sie ruft mich. Ich springe auf, um nach ihr Ausschau zu halten, und gehe dann zu der Stelle, wo sie und Rich stehen, ungefähr sechzig, siebzig Meter vom Strand entfernt. Billie und Rich beugen sich über ein Loch, das sie in den Sand gegraben haben. In dem Loch liegt ein Schatz: fünf Vierteldollarmünzen, zwei Dollarscheine, ein goldfarbener Zahnstocher, ein Armband aus Kupferdraht und ein silberfarbener Ring. Rich gibt vor, die Inschrift in der Innenseite des Rings zu lesen. »›Für E von E in ewiger Liebe‹«.

»Was heißt ›von E für E‹?« fragt Billie.

»Blackbeards richtiger Name war Edward, und der fängt mit einem ›E‹ an. Und seine Frau hieß Esmeralda, das fängt auch mit einem ›E‹ an.«

Billie läßt sich das durch den Kopf gehen. Rich erzählt ihr, der silberne Ring habe Blackbeards fünfzehnter Frau gehört, die von Blackbeard selbst getötet wurde. Billie hebt fast ab vor Aufregung und Grusel.

Die Grenzlinien des Hontvedt-Hauses – vor den Morden auch schlicht als »das rote Haus« bekannt – sind mit Pfählen abgesteckt. Diese Grenzlinien messen ungefähr sechseinhalb mal zehn Meter. Auf diesem kleinen Raum waren zwei Wohnungen untergebracht, durch eine türlose Wand voneinander getrennt. Auf der Nordwestseite des Hauses waren zwei Haustüren.

Nach der kurzen Fahrt zurück klettere ich, von Richs helfender Hand gezogen, aus dem Zodiac auf das Segelboot. Thomas und Adaline sitzen einander auf Leinenpolstern gegenüber im Cockpit. Meerwasser tropft von ihren Körpern und sammelt sich zu Pfützen auf dem Boden. Sie seien schwimmen gewesen, sagt Adaline, und Thomas scheint leicht außer Atem.

Adaline hat die Arme hinter dem Kopf erhoben und wringt ihr Haar aus. Ihr Bikini ist rot, zwei knallrote Fetzchen Stoff auf feucht glänzender Haut. Ihr Bauch, eine gefällige flache Fläche von einer Farbe wie Toast, sieht aus wie der eines jungen Mädchens. Ihre Oberschenkel sind lang und naß, und in den hellbraunen Härchen hängen Tröpfchen von Meerwasser.

Sie dreht ihr Haar zusammen und lächelt mich an. Ihr Gesicht ist die reine Unschuld, wenn sie lächelt. Ich versuche, dieses Lächeln mit den wilden, gutturalen Lauten in Einklang zu bringen, die morgens aus der vorderen Kabine dringen.

Ich rufe mir diese Momente nicht allein um ihrer selbst willen ins Gedächtnis, sondern weil in ihnen das Wissen steckt, daß es jenseits dieser Erinnerungen einen Zeitpunkt gibt, der nicht gelöscht werden kann. Jedes Bild ein Trittstein, der in Unschuld oder, wenn nicht in Unschuld, dann in einer Art gedankenloser Blindheit genommen wurde.

Rich geht sofort zu Adaline und legt besitzergreifend seine Hand auf ihren flachen Bauch. Er küßt sie auf die Wange. Auch Billie macht einen Schritt vorwärts, zu Schönheit hingezogen wie jeder von uns. Ich erkenne, daß Billie einen Grund finden wird, um sich an diese langen Beine zu schmiegen. Mit Anstrengung hält Thomas seinen Blick auf mich gerichtet und erkundigt sich nach unserem kleinen Ausflug. Ich geniere mich für Thomas, wegen der ungewöhnlichen Blässe seiner Haut, wegen seiner Brust, die schlaff wirkt. Ich möchte ihn mit seinem blauen Hemd bedecken, das in einer Pfütze liegt.

Am 5. März I873 lebten etwa sechzig Menschen auf den Inseln, die zu den Shoals gehören: die Familie des Leuchtturmwärters auf White; Arbeiter, die auf Star ein Hotel bauten; zwei Familien – die Laightons und die Ingerbretsons – auf Appledore, früher Hog genannt; und eine Familie, die Hontvedts, auf Smuttynose.

Wir fahren mit dem Zodiac nach Portsmouth. Wir sind hungrig und möchten zu Mittag essen, denn wir haben nicht viel an Vorräten auf dem Boot. Wir setzen uns in ein Restaurant, das eine Veranda und eine Markise hat. Es ist dem Wasser so nahe, wie man ihm in Portsmouth nur kommen kann, wenn ich auch finde, daß es da außer den Schleppern und Fischkuttern nicht viel zu sehen gibt. Ein scharfer Windstoß packt die Markise und zerrt sie in die Höhe, so daß die Stangen, die sie tragen, sich vom Boden heben. Die Markise reißt an einer Ecke los und gießt den Wind aus, der sie füllt. Die Leinwand flattert im Luftzug.

»›Die Himmel reißen‹«, sagt Thomas.

Adaline sieht ihn an und lächelt. »›Welten und Seelen entblößt. ‹«

Thomas scheint überrascht. »›Geteilte Wasser‹«, sagt er.

»› Gebrochenes Flüstern.‹«

»›Eingesperrte Anmut.‹«

»›Gefesseltes Sonnenlicht.‹«

Ich denke an Pingpongbälle, die hart über eine Platte geschlagen werden.

Adaline macht eine Pause. »›Aufgestürmte See‹«, sagt sie.

»Ja«, antwortet Thomas leise.

Im Restaurant ißt Billie einen Käsetoast wie immer. Es ist schwierig, sie in einem Restaurant im Zaum zu halten, ein Sprudeln, das überschäumen und aus der Flasche heraus will. Ich trinke ein Bier namens Smuttynose; mit dem Namen will man wohl aus den Morden Kapital schlagen. Warum nennen sie ein Bier nicht Appledore oder Londoner᾿s? Das Getränk ist dunkelbraun und schwerer, als ich es gewohnt bin, und ich glaube, ich bekomme einen kleinen Schwips. Ich bin nicht sicher. Das Boot selbst ruft eine Art Trunkenheit hervor, die einem Stunden nachhängt. Selbst wenn man den Fuß auf festes Land setzt, schwankt man noch, fühlt immer noch den dumpfen Schlag des Wassers gegen den Bootsrumpf.

In den Reiseführern lese ich, daß Amerika von Wikingern bei den Isles of Shoals entdeckt wurde. Bei Smuttynose.

Auf der Insel Star gibt es einen Friedhof, der Beebe heißt. Auf ihm sind die drei kleinen Töchter von George Beebe begraben, die 1863 innerhalb weniger Tage nacheinander an Diphtherie gestorben sind.

Im Restaurant esse ich ein Hummerbrötchen. Thomas nimmt gebratene Muscheln. Das Gespräch schläft ein, als hätte die Anstrengung der Fahrt mit dem Zodiac in den Hafen allen die Worte geraubt. Adaline ißt einen Salat und trinkt ein Glas Wasser. Ich bemerke, daß sie ihren Rücken gerade hält beim Essen. Rich hingegen sitzt leicht gekrümmt, die Beine vor sich ausgestreckt. Er schiebt seinen Stuhl ein wenig näher an Adalines heran und beginnt beiläufig, ihren Arm zu streicheln.

Kapitän Samuel Haley traf kurz vor dem amerikanischen Freiheitskrieg auf Smuttynose ein. Beim Steinesammeln für einen Deich, der die Lücke zwischen Malaga und Smuttynose überbrücken sollte, drehte er einen Felsbrocken um und entdeckte vier Silberbarren. Mit diesem Geld stellte er die Mole fertig und baute den Pier. Die Mole wurde im Februar 1978 zerstört.

Edward Teach, auch bekannt als Blackbeard, der Pirat, verbrachte I720 seine Flitterwochen mit seiner fünfzehnten und letzten Ehefrau auf den Isles of Shoals. Es heißt, er habe seine Schätze auf Smuttynose vergraben.

»Hör auf, deine Serviette zu zerreißen.«

Thomas᾿ Stimme ist rissig wie die Papierfetzen auf dem Tisch.

Adaline löst behutsam das Papierknäuel aus Billies Faust und sammelt die Schnipsel rund um ihren Teller ein.

»Wie bist du eigentlich zu einem Namen wie Billie gekommen?« fragt sie.

»Eigentlich heißt᾿s Willemina«, antwortet Billie. Der Name rollt ihr genußvoll und geübt von der Zunge.

»Ich habe sie nach meiner Mutter genannt«, bemerke ich mit einem Blick zu Thomas. Er leert sein Weinglas und stellt es auf den Tisch.

»Meine Mama sagt Billie zu mir, weil Willemina zu alt ist«, fügt Billie hinzu.

»Altmodisch«, verbessere ich.

»Ich finde, Willemina ist ein schöner Name«, sagt Adaline. Ihr Haar ist an den Seiten eingerollt und hinten mit einer Spange zusammengefaßt. Billie stellt sich auf ihren Stuhl und neigt den Kopf, um die Rollen zu inspizieren, und sie will sehen, wie sie sich nahtlos in Adalines Nacken schmiegen.

Smuttynose mißt von Osten nach Westen 840 Meter und von Norden nach Süden 300 Meter. Es hat eine Fläche von 25, 5 Hektar, fast alles Fels. Es liegt knapp zehn Meter über dem Meeresspiegel.

Thomas ist dünn und langgezogen und wirkt körperlich so, als fehlte es ihm an Durchsetzungskraft im Leben. Ich vermute, Thomas wird bis zu seinem Tod dünn bleiben, leicht gebeugt vielleicht, wie das bei manchen hochgewachsenen Männern mit dem Alter kommt. Ich weiß, bei ihm wird es elegant aussehen. Da bin ich sicher.

Ich frage mich, ob Thomas so traurig ist wie ich, wenn er morgens erwacht und in der vorderen Kabine Adaline und Rich hört.

Wir warten auf die Rechnung. Billie steht neben mir und bemalt ein Tischset. »Wo in Irland sind Sie geboren?« frage ich Adaline.

»Im Süden.«

Die Rechnung kommt. Thomas und Rich greifen danach, aber Thomas überläßt sie geistesabwesend Rich.

»Dieser Auftrag, an dem Sie arbeiten, muß für Sie doch gruselig sein«, sagt Adaline. Sie beginnt, Billies Nacken zu massieren.

»Ach, ich weiß nicht«, antworte ich. »Es ist so lange her. Wissen Sie, ich wünschte, ich könnte irgendwo ein paar alte Fotos auftreiben.«

»Du hast doch offenbar schon eine ganze Menge Material«, sagt Thomas.

»Das haben sie mir angedreht«, antworte ich und frage mich, warum meine Stimme einen abwehrenden Unterton hat. »Ich muß allerdings zugeben, daß ich die Berichte über die Morde faszinierend finde.«

Adaline hebt einen Arm und entfernt eine goldene Haarspange von ihrem Hinterkopf. Ihr Haar ist reich an Nuancen, wie eine Holzmaserung, und es lockt sich leicht in der Feuchtigkeit, genau wie Billies. Auf dem Boot trägt Adaline ihr Haar meist am Hinterkopf oder im Nacken zu raffiniert geschlungenen Rollen oder Knoten gedreht, die durch das Herausziehen einer einzigen Nadel gelöst werden können. Als sie jetzt die Spange entfernt, fällt ihr Haar, im Fall schwingend, ihren Rücken hinunter. Der Fluß von so viel Haar, die überraschende Fülle, die einem Knoten entspringt, der nicht größer ist als ein Pfirsich, wirkt im Moment wie ein kleines Kunststück, ein Taschenspielertrick, eigens für uns vorgeführt.

Ich sehe zu Thomas hinüber. Er atmet langsam. Sein Gesicht, normalerweise gut durchblutet, ist blaß geworden. Er scheint überwältigt von dem einfachen Fall des Haars aus einem Knoten – als wäre das Bild selbst oder die Erinnerung, die es hervorruft, unerwünschte Nachricht.

Ich habe nicht viele private Fotografien von Thomas. Es gibt Dutzende anderer Aufnahmen von ihm, Fotos öffentlicher Art: Buchumschlagporträts zum Beispiel und gestellte Fotos in Zeitschriften und Zeitungen. Aber auf den Fotos meiner eigenen Sammlung hat Thomas es stets geschafft, seinen Blick abzuwenden oder seinen Kopf ganz wegzudrehen, als wollte er nie und nirgends im Bild festgehalten werden. Ich besitze beispielsweise ein Foto von Thomas auf einer Party in unserer Wohnung nach Billies Geburt: Er steht leicht gebeugt im Gespräch mit einer Frau, ebenfalls einer Dichterin, die zugleich eine Freundin ist. Er hat mich mit dem Apparat kommen sehen, hat den Kopf gesenkt und ein Glas zu seiner Wange hinaufgehoben, das sein Profil fast ganz verdeckt. Ein anderes Foto zeigt Thomas mit Billie auf einer Parkbank. Billie, die auf Thomas᾿ Knie sitzt, scheint sich der Kamera schon bewußt zu sein und lächelt strahlend, ballt ihre kleinen Fäuste vor Vergnügen an dieser neuen Unternehmung, an diesem fremden Gesicht, das ihre Mutter aufgesetzt hat – ein Gesicht mit einem suchenden und flüchtig aufblitzenden Auge. Thomas jedoch beugt seinen Kopf über Billies Nacken. Nur seine Haltung verrät dem Betrachter, daß er der Vater des Kindes ist.

Jahrelang glaubte ich, Thomas miede die Kamera, weil er eine Narbe hat, die sich vom Winkel seines linken Auges zu seinem Kinn hinunterzieht – die Folge eines Autounfalls, den er mit siebzehn hatte. Sie ist nicht entstellend, wie es manche Narben sind, die ein Gesicht so zerstören, daß man es nicht mehr ansehen möchte; Thomas᾿ Narbe scheint vielmehr den glatten Flächen seines Gesichts zu folgen – als wäre mit einem Pinsel ein schneller Strich, eine vollendete Kurve hingeworfen worden. Es ist fast nicht möglich, diese Narbe nicht berühren zu wollen, mit der Fingerspitze über die unebene Erhebung streichen zu wollen. Aber die Narbe ist es nicht, die Thomas veranlaßt, sein Gesicht von der Kamera abzuwenden; es ist vielmehr so, denke ich, daß er es nicht ertragen kann, allzu genau von einer Linse erforscht zu werden. Geradeso wie er nicht imstande ist, sich selbst vor einem Spiegel länger in die Augen zu sehen.

Ich habe eine Fotografie von Thomas, auf der er sich nicht abwendet. Ich habe sie am Morgen nach unserer ersten Begegnung aufgenommen. Er steht vor seinem Haus in Cambridge, die Hände in den Hosentaschen. Er trägt ein zerknittertes weißes Hemd mit angeknöpften Kragenecken. Selbst bei diesem Bild hat der Betrachter das Gefühl, daß Thomas sich am liebsten entziehen würde und nur mit größter Anstrengung seine Augen auf die Kamera gerichtet hält. Er sieht alterslos aus auf diesem Foto, und nur weil ich weiß, daß er damals zweiunddreißig war, würde ich ihn nicht für siebenundvierzig oder fünfundzwanzig halten. Auf dem Bild erkennt man, daß Thomas᾿ Haar, das von Natur aus dünn ist und keine besondere Farbe hat, vor kurzem erst geschnitten wurde. Ich habe die Aufnahme früh um neun gemacht. Er sieht an diesem Morgen aus wie jemand, den ich seit langem kenne – möglicherweise seit meiner Kindheit.

Wir sind uns zum erstenmal passenderweise in einer Bar in Cambridge begegnet. Ich war vierundzwanzig und arbeitete bei einer Bostoner Zeitung, wo man mich kürzlich zum Lokalsport versetzt hatte. Ich war auf der Heimfahrt von einem Fototermin in Somerville, wo ich Aufnahmen eines Mädchenbasketballteams der High-School gemacht hatte, und suchte dringend eine Toilette und ein Telefon.

Ich hörte seine Stimme, noch bevor ich sein Gesicht sah. Sie war tief und gemessen, besaß Autorität und keinen erkennbaren Akzent.

Als er die Lesung beendet hatte, drehte er leicht den Kopf, um ein Nicken zu erwidern, und ich konnte sein Gesicht im Licht sehen. Mir fiel sein Mund auf – er hatte einen weichen, vollen Mund, das einzig Exzentrische in einem kargen Gesicht. Später, als wir zusammensaßen, sah ich, daß er engstehende Augen hatte, und ich fand ihn deshalb nicht gutaussehend im klassischen Sinn, aber die Iris dieser Augen war tiefblau mit goldenen Sprengeln. Er hatte große Pupillen, dunkle Kreise, die schutzlos zu sein schienen.

Ich ging zur Bar und bestellte ein Rolling Rock. Mir war flau im Kopf und im Magen, weil ich den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Jedesmal, so schien mir, wenn ich an diesem Tag an Essen gedacht hatte, war ich schon zur nächsten Aufnahme gerufen worden. Ich lehnte mich an den Tresen und sah die Speisekarte durch. Ich bemerkte, daß Thomas neben mir stand.

»Ihre Lesung hat mir gefallen«, sagte ich.

Er warf mir einen kurzen Blick zu. »Danke«, antwortete er schnell, wie jemand, der mit Komplimenten nicht umgehen kann.

»Das Gedicht, das Sie vorgelesen haben. Das war sehr gut.«

Sein Blick glitt über mein Gesicht. »Eine alte Arbeit«, sagte er.

Der Barkeeper brachte mein Rolling Rock, und ich bezahlte für das Bier. Thomas ergriff sein Glas. Es hinterließ einen nassen runden Abdruck auf der glänzend polierten Platte des Tresens. Er nahm einen tiefen Zug und stellte das Glas wieder nieder.

»Ist das hier eine Lesung?« fragte ich.

»Dienstagabend. Lyrikabend.«

»Das wußte ich nicht.«

»Da sind Sie nicht die einzige.«

Ich versuchte, den Barkeeper auf mich aufmerksam zu machen, um eine Kleinigkeit zu essen zu bestellen.

»Thomas Janes«, sagte Thomas und bot mir die Hand. Mir fielen seine Finger auf, lang, kräftig, bleich.

Er sah wohl die Verwirrung in meinem Gesicht.

Er lächelte. »Sie haben nie von mir gehört«, sagte er.

»Ich kenne mich mit Lyrik nicht besonders aus«, erklärte ich lahm.

»Keine Entschuldigungen.«

Er hatte ein weißes Hemd an und einen Pullover mit einem komplizierten Zopfmuster. Eine graue Hose. Stiefel. Ich sagte ihm meinen Namen und daß ich Fotografin beim Globe sei.

»Wie sind Sie zur Fotografie gekommen?«