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Siegfried Kracauer, geboren 1889 in Frankfurt am Main, gestorben 1966 in New York, war in seinem Leben vieles: Architekt und Schriftsteller, Redakteur der Frankfurter Zeitung und gefragte Person des Weimarer Kulturbetriebes, Teil des philosophischen Quartetts mit Adorno, Benjamin und Bloch, Jude und politischer Linker. Von 1933 bis 1941 war er auf der Flucht, zuerst nach Paris, um dann über Marseille und Lissabon nach New York zu gelangen. Dort mischte er in der psychologischen Kriegsführung mit, betätigte sich aber auch als Filmschriftsteller, als Sozialwissenschaftler und zuletzt als das, was er immer war: als philosophischer Autor. Jörg Später hat sich auf die Spuren dieses facettenreichen Lebens begeben und die erste große Biographie über diesen außergewöhnlichen Mann geschrieben. Er beleuchtet die Orte und Milieus, lässt uns an den Freundschaften teilhaben und bringt die Werke zum Sprechen. Nicht im Stile einer der Objektivität verpflichteten Chronik zeichnet er das Leben Siegfried Kracauers nach, sondern als große Erzählung einer Existenzbewältigung, die Licht auf ein Jahrhundert der transzendentalen wie profanen Obdachlosigkeit wirft.

Jörg Später, geboren 1966, ist Historiker und Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Freiburg.

Jörg Später

Siegfried Kracauer

Eine Biographie

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Jörg Später

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Umschlagfoto: Siegfried Kracauer, Frankfurt am Main, 1920er Jahre,

anonym, Abzug vom zerbrochenen Glasnegativ,

© Deutsches Literaturarchiv Marbach

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-74804-6

www.suhrkamp.de

Inhalt

1 Siegfried Kracauer – eine Biographie

2 Die frühen Dinge: Vor 1918

3 Die Revolution, die Frankfurter Zeitung und die Kulturkritik um 1920

4 Freundschaft, erster Teil, und die jüdische Renaissance in Frankfurt

5 Freundschaft, zweiter Teil, und der Wartende

6 Die Krise der Wissenschaft, die Soziologie und die Sphärentheorie

7 Freundschaft, dritter Teil, die Leidenschaftund der Weg ins Profane

8 Die Wiedergeburt des Marxismusin der Philosophie

9 Kracauer geht ins Kino: Medium für Massen und Medium der Moderne

10 Das Feuilleton der Frankfurter Zeitung

11 Die Inflation und Reisen in die Porosität

12 Wendejahre: Aufschwung, Aufruhr, Aufklärung

13 Der Primat des Optischen: Architektur, Raumbilder, Filme

14 Ginster, Georg und die Angestellten

15 Die Idee als Gruppenträger:Das philosophische Quartett

16 Berlin um 1930: Im politischen Handgemenge

17 Der Prozess

18 Flucht in Europa, Flüchtlinge in Frankreich

19 Die Liquidation der deutschen Angelegenheiten

20 Offenbachiade und Passagerie

21 Erosion der Gruppe

22 Klagelieder aus Frankfurt

23 La vie parisienne

24 Das »Institut für Sozialfälschung«

25 Fluchtpunkt Amerika

26 Flucht in Frankreich und last exit Lissabon

27 Ankunft in New York

28 Define your enemy: Was ist der Nationalsozialismus?

29 Know your enemy: Psychologische Kriegsführung

30 Fear your enemy: Deportationen und Judenmord

31 Fuck your enemy: Von Hitler zu Caligari

32 Kulturkritiker, Sozialwissenschaftler, Klinkenputzer

33 Filmästhetik als Kulturwissenschaft

34 Eine Kiste aus Paris

35 Consultant der Sozial- und Geisteswissenschaften

36 Post aus Deutschland, Briefe aus der Vergangenheit, Reisen nach Europa

37 Praxis der Filmtheorie, Theorie des Films

38 Talks mit Teddie und den alten Freunden

39 Zeit für die vorletzten Dinge

40 Nach Kracauers Tod

Dank

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Bildnachweise

Namenregister

Für Mischa und Maxim

1

Siegfried Kracauer – eine Biographie

Siegfried Kracauer ist im Bilde. Allerdings sieht sein Gesicht ramponiert aus. Der Blick ist etwas schief, die Nase wirkt eingedrückt, die Lippen scheinen aufgequollen. Sein sagenhafter germanischer Vorname auf dem Cover dieses Buches lastet auf dem Haupt des Ausgestellten, sein Familienname zeigt die jüdische Herkunft an. Die akkurat sitzende Fliege drückt auf die Atmung. Das Jackett beengt den traurig aus der Wäsche und in die Welt schauenden Vierzigjährigen. Er wirkt nicht wie ein führender Kopf der Literaturszene in der Weimarer Republik, sondern fast wie jemand, den man in einen Anzug gesteckt hat. Vielleicht aber hat er gerade »nur« eine schlechte Nachricht erhalten, den Brief auf den Tisch neben sich gelegt und sich erschöpft hingesetzt. Die Nazis stehen vor der Tür. Das zerbrochene Glas scheint an die Brüchigkeit des Daseins zu gemahnen. Vor allem der Gedanke an den »Riß der Welt« (Heinrich Heine) drängt sich auf, den der einzelne Mensch zu beklagen hat – nämlich die moderne Erfahrung des Getrenntseins des menschlichen Geistes von der Welt der Dinge und der Gesellschaft. Einsamkeit, Sinnlosigkeit, Entfremdung sind damit verbunden, in Kracauers Worten: »transzendentale« und »ideologische« Obdachlosigkeit. Dass wir den Helden in trauriger Gestalt mitsamt Scherben betrachten, ist freilich purer Zufall. Der Bilderrahmen ist beim Transport kaputtgegangen, und jemand hat das Foto samt dem zersprungenen Glas fotografiert. Doch ist nicht die Wirklichkeit ohnehin eine Konstruktion, gerade wenn Kontingenz im Spiel ist?

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Abb. 1: Siegfried Kracauer in den 1920er Jahren.
(Abzug vom zerbrochenen Glasnegativ)

Ein weiteres Foto zeigt Kracauer zwanzig Jahre später, dieses Mal in Amerika nach dem Krieg. Er sitzt mit dem Rücken zur Kamera und arbeitet. Er trägt eine Brille, hat Papier vor sich und einen Stift in der Hand. Er scheint konzentriert. Die Stimmung ist entspannt, der Schriftsteller sitzt im Freien auf einer Veranda. Die Bäume davor spenden Schatten. Kracauer wirkt weniger schmächtig, obwohl er in Wirklichkeit weder gewachsen ist noch an Gewicht zugelegt hat. Aber was heißt schon »in Wirklichkeit«? Man darf dem Autor über die Schulter schauen. Es ist kein typisches Porträt, denn der Betrachter sieht das Gesicht des Porträtierten nicht. Und doch ist Kracauer zweifelsfrei zu identifizieren.1 Diese Aufnahme, von seiner Frau Elisabeth gemacht, stammt aus dem Urlaub, den die Kracauers 1950 in Stamford, New York, verbringen. Es ist das Jahr, als zum ersten Mal seit 1933 die ständige materielle Not und die psychische Last aus den Jahren der Verfolgung sich zu verflüchtigen beginnen. Kracauer hat zuvor ein Buch geschrieben, Von Caligari zu Hitler, das ein Klassiker der sozialpsychologischen Filmgeschichte und einer ganzen Generation von Filmkritikern in den 1950er Jahren zum Vorbild werden wird.2 Finanziell saniert hat ihn das nicht, aber er ist seitdem wieder gefragt. Filmzeitschriften bitten ihn darum, die besten Filme zu »ranken«. Oder eine Liste seiner gelungensten Artikel aus der Weimarer Zeit zu erstellen, als er leitender Redakteur der Frankfurter Zeitung war. Auch ein Curriculum Vitae wird in solchen Fällen verlangt, und vielleicht beantwortet Kracauer gerade eine solche Anfrage.3 Ich stelle mir vor, dass er in die Zeile »Geburtsdatum« schreibt: »Das verrate ich nicht, und zwar aus Prinzip!«

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Abb. 2: Siegfried Kracauer in Stamford,
New York, 1950.

Denn Siegfried Kracauer war ein wenig sonderbar und leistete sich den einen oder anderen Spleen – zum Beispiel, dass niemand wissen sollte, wie alt er ist. Seinem Freund Theodor W. Adorno erklärte er anlässlich seines 75. Geburtstags diese Rumpelstilzchen-Attitüde so: »Hier handelt es sich bei mir um eine tief eingewurzelte, ganz persönliche Sache. Nenne es eine Idiosynkrasie – aber je älter ich werde, um so mehr sträubt sich alles in mir gegen die Exhibition meines chronologischen Alters. Natürlich weiß ich um die Daten, die immer ominöser werden; doch so lange sie mir nicht öffentlich entgegentreten, nehmen sie wenigstens nicht den Charakter einer unauslöschlichen Inschrift an, die jeder, mich eingeschlossen, immerfort sehen muß. Zum Glück kann ich die chronologische Fatalität noch ignorieren, und das ist unendlich wichtig für den Fortgang meiner Arbeit, meine ganze innere Ökonomie. Meine Art der Existenz würde buchstäblich aufs Spiel gesetzt, wenn die Daten aufgeschreckt würden und mich von außen her überfielen.«4 Kracauer befand sich in einem Wettlauf mit der Zeit. Er wollte ein Buch über die Historiographie fertigstellen, bevor seine eigene Zeit abgelaufen war. Doch es steckte noch mehr hinter der Idiosynkrasie, nämlich der Wunsch, exterritorial zu leben, also außerhalb von der Gesellschaft und der historischen Zeit. Das war eine Haltung der Nichtzugehörigkeit, des Fremdelns, der »nicht-identische[n] Existenz, die durch kein Allgemeines vermittelbar ist« (Inka Mülder-Bach).5 In diesem Bedürfnis, außerhalb von Raum und Zeit zu stehen, drückte sich Kracauers Erfahrung als Flüchtling aus. Er war gerade so mit dem Leben davongekommen. Der Überlebende adelte die Exterritorialität sogar als einen Idealzustand des Historikers, der sein eigenes Ich zeitweise ausschaltet, um eine Reise in die Vergangenheit anzutreten. Heimatlosigkeit und Fremdsein schienen für Kracauer eine Existenzweise zu charakterisieren, die zwar dem Zwang und der Not entsprungen war, aber neue Möglichkeiten des Weltzugangs eröffnete.6

Über einen Exterritorialen, der unabhängig von seinen Kontexten lebte, kann man freilich keine Biographie schreiben. Tatsächlich jedoch hatte Kracauer durchaus ein komplexeres Verhältnis zur Biographie, als die Haltung der Exterritorialität es ausdrückt. In einem Artikel aus dem Jahre 1930, seiner ideologiekritischen Phase, verurteilte Kracauer die Biographie »als neubürgerliche Kunstform«, die er »als Zeichen der Flucht« deutete: Umso nichtiger das Individuum in der Wirklichkeit sei, so sein Argument, desto wichtiger werde der Individualismus in der Literatur.7 Gut fünf Jahre später schrieb er selbst eine Biographie, nämlich eine über Jacques Offenbach. Dabei versicherte Kracauer allerdings, dass es sich nicht um eine Privatbiographie handele, sondern um eine »Gesellschaftsbiographie«: »Eine Gesellschaftsbiographie in dem Sinne, daß [sie] mit der Figur Offenbachs die der Gesellschaft entstehen läßt, die er bewegte und von der er bewegt wurde, und dabei einen besonderen Nachdruck auf die Beziehungen zwischen der Gesellschaft und Offenbach legt.«8 Das Konzept der »Gesellschaftsbiographie« war von der Hoffnung beseelt, das besondere Leben eines Einzelnen mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Ganzen vermitteln zu können. Das eine sollte das andere erklären und umgekehrt. Offenbachs Vita geriet somit zum genauen Gegenteil von Exterritorialität (obwohl auch der Musiker ein Emigrant war). Eine solch abgedichtete und in sich geschlossene Biographie, wie eine »Gesellschaftsbiographie« es sein muss, hätte allerdings der späte Kracauer wohl nicht mehr geschrieben. Denn dieser hielt eine synthetische Vermittlung von Mikro- und Makrogeschichte, von Allgemeinem und Besonderem für unmöglich. Mit Blick auf seinen eigenen Lebenslauf jedoch – das ist eine weitere Volte im Verhältnis Kracauers zum Biographischen – stellte er gegen Ende seines Lebens durchaus eine synthetisierende Kontinuität fest, die alle seine intellektuellen Bemühungen zusammenhalte. Er skizzierte eine »Philosophie des Vorraums«, von der er meinte, dass sie alle seine Schriften über die Jahre hinweg unbewusst angetrieben habe.9 Das Ich drängte sich also im Rückblick in den Vordergrund. Dazu passt natürlich, dass Kracauer mit seinen Romanen Ginster und Georg zwei autobiographisch unterlegte Erzählungen geschrieben hatte (und gerne eine Fortsetzung verfasst hätte). Wenn auch eine Biographie (nicht weniger die Gesellschaftsbiographie) eine Illusion sein mag, so ist sie doch nicht illegitim. Im Gegenteil.

Kracauers Lebensgeschichte ist so faszinierend und eindrücklich, dass es ein Rätsel ist, warum bislang keine geschrieben wurde (es gibt lediglich einen kleinen Rowohlt-Band von Momme Brodersen und die so unverzichtbare wie wertvolle Chronik des Marbacher Magazins von 1988, bearbeitet von Ingrid Belke und Irina Renz). Umso mehr, als dass mittlerweile zwei Werkausgaben mit sorgfältigen editorischen Apparaten zu bewundern sind, zudem unzählige interpretative Texte aus der Germanistik und den Kulturwissenschaften vorliegen. Wahrscheinlich erklärt sich das Fehlen einer Biographie so, dass Biographien über Schriftsteller von Literaturwissenschaftlern geschrieben werden, Biographien über Sozialphilosophen von Soziologen oder Philosophen und Biographien über Filmschaffende von Filmwissenschaftlern. Kracauer gehörte aber keiner wissenschaftlichen Disziplin an und fällt damit sozusagen durch das Zuständigkeitsraster. Nun sind Historiker, wenn sie Biographien schreiben (meist über Politiker), schnell dabei zu behaupten, in ihrem Protagonisten ließe sich ein ganzes Zeitalter besichtigen oder in seinem Werk spiegele sich die Krise der Moderne oder etwas anderes ähnlichen Kalibers. Ich möchte vorsichtiger sein. Kracauer hat nicht gelebt, um eine Sonde für irgendetwas zu sein. Und doch: Schon ein rascher biographischer Durchgang durch Kracauers Vita zeigt, dass wir es hier mit einem besonderen Zeitgenossen zu tun haben, über den mehr zu berichten ist als sein privater Lebenslauf.

Kracauer war Jahrgang 1889 und wuchs in Frankfurt am Main in einem assimilierten jüdischen Elternhaus auf, das er als kleinbürgerlich und freudlos empfand. Als Adoleszent fühlte er sich einsam und hässlich. Er stotterte. Eine akademische Karriere war schon deshalb wenig aussichtsreich. Nach seinem Studium der Architektur (nebenher ein wenig Soziologie und Philosophie, unter anderem bei Georg Simmel) drängte ihn seine Familie, den Brotberuf des Architekten auszuüben, was er kurzzeitig befolgte. Er selbst sah sich allerdings als kulturphilosophischen Schriftsteller und schwebte in der unmittelbaren Nachkriegszeit zwischen verschiedenen Tätigkeiten. Schließlich wurde er Feuilletonredakteur der Frankfurter Zeitung und avancierte zu einer gefragten und geachteten Figur im Weimarer Kulturbetrieb. Vor allem war es sein Verdienst, die Filmkritik intellektuell hoffähig zu machen. Sein Œuvre in dieser Zeit war gewaltig – Essays, Rezensionen, Artikel zu Fragen der Philosophie und Religion, der Soziologie und Literatur, zur neu entstandenen Sowjetunion, zum Bauhaus, zur jüdischen Renaissance, Texte über Reiseerfahrungen, über Straßen in Berlin, Frankfurt und Paris, über Detektivromane, Hotelfoyers und Vergnügungskasernen. Mittels unbeachteter Dinge las er im Buch der Zeit. Daneben schrieb er zwei Romane und ein originelles »ethnologisches« Buch über das Berliner Angestelltenmilieu. Besonders fruchtbar und denkstilbildend waren in dieser Zeit Diskussionen innerhalb der Peergroup mit Theodor Wiesengrund-Adorno, Walter Benjamin und Ernst Bloch, gleichfalls allesamt Söhne aus Familien mit jüdischen Wurzeln. (Ein Wort zum Namensgebrauch Adornos: Er hieß bis 1942 Theodor Ludwig Wiesengrund [nach dem Familiennamen seines Vaters], nannte sich in offiziellen akademischen Dingen schon vor 1933 Wiesengrund-Adorno [also mit dem Familiennamen der Mutter Adorno-Calvelli] und in Publikationen ab 1938 T.W. Adorno. So habe auch ich es gehalten.)

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten musste Kracauer Deutschland verlassen. Er floh über Nacht nach Paris und war dort zunächst Korrespondent seiner Zeitung, die ihn aber fallenließ. Nun begann eine schlimme Zeit. Obwohl Kracauer französisch sprach und relativ gut vernetzt war, blieb die finanzielle Situation ständig prekär. Er isolierte sich von Freunden und anderen Emigranten, beteiligte sich nicht an antifaschistischen Aktivitäten, ja, er tauschte sich noch nicht einmal mit Benjamin über seine Arbeit aus, obwohl die Wahlverwandten aus Weimarer Zeiten am selben Ort und an ähnlichen Projekten saßen: Sie studierten beide die einbrechende Moderne in der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, um die gegenwärtige Katastrophe zu verstehen – der eine an Jacques Offenbach und der Operette, der andere an Charles Baudelaire und den Pariser Passagen. Mit den Frankfurter Freunden Adorno-Wiesengrund und Leo Löwenthal kam es überdies nach einer gescheiterten Kooperation mit dem Institut für Sozialforschung (IfS) über eine Studie zur NS-Massenpropaganda fast zum Zerwürfnis. Nach der französischen Kapitulation 1940 halfen ihm aber diese beiden, in die Vereinigten Staaten emigrieren zu können.

Dort erlebte er einen dritten Frühling. Von Beginn an schrieb er konsequent auf Englisch. Mit der Unterstützung diverser Stipendien verfasste er sein Caligari-Buch, eine deutsche Filmgeschichte, die im Grunde eine Mentalitätsgeschichte der Weimarer Republik war. Nach einer wenig erfolgreichen Episode als »free-lancer« wurde er Forschungsberater am Bureau of Applied Social Research an der Columbia University und gefragter Gutachter für amerikanische Stiftungen. Neue intellektuelle und soziale Netzwerke ergaben sich, vor allem um Koryphäen der Bildwissenschaften wie Rudolf Arnheim, Erwin Panofsky oder Meyer Schapiro (erneut allesamt Intellektuelle jüdischer Herkunft). Kracauer schrieb zuletzt mithilfe von Stipendien zwei weitere bedeutende Bücher, eine Filmtheorie und eine Geschichtstheorie. Obwohl er nicht nach Deutschland zurückkehren wollte, zog es ihn gegen Ende seines Lebens immer wieder in die alte – verlorene oder nie besessene – Heimat. In den 1960er Jahren erschienen in diversen Verlagen, vor allem bei Suhrkamp, Neuauflagen alter Texte und seine amerikanischen Bücher. Er pflegte seine prekären Freundschaften zu Adorno und Bloch und war ein hofierter Gast an zwei Kolloquien des legendären Forschungskreises »Poetik und Hermeneutik« um Hans Robert Jauß und Hans Blumenberg. Kracauer starb plötzlich und unerwartet im November 1966.

Mit diesem feinen Beobachter reist man durch signifikante Milieus der Geistesgeschichte: Man beobachtet die jüdische Renaissance in Frankfurt und besichtigt den Redaktionsbetrieb der Frankfurter Zeitung; man steht an der Wiege des westlichen Marxismus und auf dem Pausenhof der Frankfurter Schule; man begleitet Aufstieg und Fall des Films in Berlin, der europäischen Hauptstadt der 1920er Jahre; man begibt sich in die politischen Kämpfe zu Ende der Weimarer Republik und erfährt die zerstörerische Kraft von antisemitischer Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung durch den Nationalsozialismus und die Existenznot im Pariser Exil, mitsamt den Versuchen, den Nationalsozialismus zu erklären; man erhält Einblick in die sozialpsychologische Kriegsführung während des Zweiten Weltkriegs und in die Sozialwissenschaften in den Vereinigten Staaten während des Kalten Krieges; und man bestaunt die gelungene Akkulturation des über Fünfzigjährigen in Amerika sowie dessen Heimweh nach Europa und die stetig ambivalenten Gefühle gegenüber Deutschland.

Mein Kracauer-Buch ist eine Biographie, in der es konventionell um »Leben und Werk« geht – das Werk, da es sich um einen philosophischen Schriftsteller handelte und sein Leben ohne das Werk weitaus weniger bedeutend wäre; das Leben, weil ohne es das Werk nicht zu verstehen und weitaus weniger aussagekräftig wäre. »Leben und Werk« finden in der Hypothese zusammen, dass das Leben und das Werk Kracauers im Zeichen der Existenzbewältigung stehen, und zwar im umfassenden Sinn: in der philosophischen Suche nach Sinn, im Willen, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu ermitteln, im nackten materiellen wie physischen Kampf ums Überleben, schließlich in der Freude an der ästhetischen Arbeit.

Sollte ich der Biographie ein Adjektiv zuordnen, so wäre »sozial« am angemessensten. Zum einen wird versucht, die historisch-sozialen Kontexte zu beleuchten, innerhalb deren Kracauer handelte. So entsteht eine Art Parallelaktion zwischen diesen Kontexten und dem Leben, hier vor allem dem intellektuellen Leben des Protagonisten. Es sollen dabei Zusammenhänge zwischen disparaten Feldern angedeutet werden, die über die Person Kracauers miteinander verbunden sind – nicht Kausalitäten, aber Korrespondenzen. Harte, manchmal poröse Objektivitäten und das subjektive Ringen mit diesen Realitäten, reflektiert als »Erfahrungen«, sind aufeinander bezogen. Das Buch folgt im Grunde Kracauers filmischer Empfehlung an die Historik: Dominant sind die Bodenaufnahmen, die close-ups, mit gelegentlichen Luftaufnahmen oder Schwenks auf die Totale, den long-shots.

Zum anderen meint »sozial« die »Lebenswelt« Kracauers. Der von Husserl stammende Begriff steht übrigens im Zentrum Kracauers eigener sozialphilosophischer und ästhetischer Arbeit, denn »Lebenswelt« reicht bis in den Kernbereich der Philosophie hinein – als der Bereich, der dem eigentlichen Denken vorgelagert ist. Zur profanen Lebenswelt, die ich ausleuchten möchte, gehört die materielle Existenzsicherung, die Kracauer zeit seines Lebens intensiv beschäftigte, weil sie über weite Strecken prekär war. Daneben stehen die Sozialkontakte im Fokus. Die Herkunft, die Familie, Lehrer und Schüler, Freund- und Feindschaften, die symbiotische Partnerschaft mit seiner Lebensgefährtin »Lili«, die beruflichen Beziehungen, die Schicksalsgenossen der Flucht- und Exiljahre, die neue akademische Welt in Amerika – immer wird versucht, Kracauer in diesen Zusammenhängen zu sehen und den Blick der anderen auf ihn zu rekonstruieren. Insbesondere die Freundschaftsbeziehungen zu Adorno, Benjamin und Bloch interessieren mich: In meinem Buch wird das Porträt einer Gruppe gezeichnet, die um 1930 eine eigene avantgardistische Form des Philosophierens suchte und gemeinsam fand – einer, wie Bloch es nannte, »Philosophie in Revueform«, getragen von Denk- und Raumbildern, mit dem öffnenden Blick auf die Dialektik aufgeklärten Denkens und die Gleichzeitigkeit von Kultur und Barbarei, ebenso ästhetisch wie gesellschaftskritisch motiviert. Selbst nach der Erosion und Diffusion der Gruppe blieben ihre ehemaligen Glieder füreinander als Bezugs- oder Reibungspunkte relevant.

Letztendlich geht es in Kracauers Biographie um den Zugang zur Welt, einerseits um die Wirklichkeitserfassung, die ein fundamentales Bedürfnis des Protagonisten war – sein »anschmiegsames Denken« und seine Sehnsucht nach der konkreten, lebendigen Wirklichkeit dieser »Erde, die unsere Wohnstätte ist«, zeugen davon.10 Andererseits bedeutet Zugang zur Welt die Suche nach einem Platz in derselben, die sich doch als äußerst ungastlich, ja als dämonisch und lebensbedrohlich erweist. Kracauers Leben spiegelt in diesem Sinn durchaus die wirklichen Verhältnisse. Neben die Existenzbewältigung dieses Überlebenskünstlers tritt daher die Zeitdiagnose als zweiter Leitbegriff dieser sozialen Biographie.

Das Buch steht extraterritorial zur Forschung, die sich in den Fächern Germanistik, Literaturwissenschaft, Soziologie und Filmwissenschaft konzentriert hat. Es fragt nicht danach, welche Lücken zu schließen sind, welches Bild es zu korrigieren oder zu vervollständigen gilt. Gleichzeitig steht es auf den Schultern dieser Forschung, insbesondere der literaturwissenschaftlichen, ohne deren philologische Erschließung und Präsentation des Nachlasses von Kracauer kein Land zu gewinnen gewesen wäre und die in ihren Inhaltsanalysen wenig Raum für neue Erkenntnisse übrig gelassen hat. Das Buch ist keinem Ansatz verpflichtet (aber vielen Ideen), sondern folgt einfach dem Protagonisten auf seinen vielfältigen Wegen. Es betont jene biographischen Elemente, Episoden und Ereignisse, die nach meinem Empfinden Kracauers Leben am angemessensten beschreiben und erklären. Die Biographie ist diachron angelegt, aber episodisch strukturiert und damit voller Lücken, in die die Lebenswelt und die soziale Umwelt einströmen können. Die Episode ist per se fragmentarisch: Kein kohärentes (gelungenes oder misslungenes) Leben soll ausgewiesen, keine These angegriffen oder verteidigt, kein Rebus entschlüsselt werden.11 Analytische Konzentrate und narrative Passagen, Makro- und Mikroperspektiven, Nah- und Großaufnahmen stehen nebeneinander. Wie bei einem Zopf werden verschiedene Erzählstränge miteinander verknüpft. Der Zopf wird zusammengehalten durch den Lebensläufer und Zeitdiagnostiker Kracauer und seine Arten der Existenzbewältigung.

Für dieses Buch wurde die gesamte Korrespondenz Kracauers aus seinem Nachlass durchgesehen, der im Deutschen Literaturarchiv Marbach liegt. Diese Korrespondenz beginnt mit wenigen Ausnahmen erst im Jahr 1930, als die Kracauers nach Berlin zogen, da Kracauer seine in Frankfurt verbliebenen Briefe 1939 von seiner Mutter vernichten ließ.12 Wo eine veröffentlichte Korrespondenz vorliegt (Adorno, Benjamin, Bloch, Löwenthal, Panofsky etc.), bin ich diesen Ausgaben gefolgt. Kracauers Briefe aus Paris und New York – geschrieben auf Schreibmaschinen zum Teil ohne Umlaute und »ß« – wurden der damaligen deutschen Rechtschreibung angepasst. Augenscheinliche Tippfehler wurden stillschweigend korrigiert. Briefe in englischer Sprache habe ich in der Regel übersetzt und in der Fußnote darauf hingewiesen. Der Briefwechsel mit Margarete Susman stammt aus Susmans Nachlass, der ebenfalls in Marbach liegt. Zusätzlich zu den Korrespondenzen habe ich die thematischen Konvolute und die Materialsammlungen im Kracauer-Nachlass eingesehen. Viel Zeit habe ich in der Kracauer-Bibliothek in den Marbacher Katakomben verbracht. Da die biographische Quellenlage für die Jahre vor 1930 nicht so üppig ist wie für die Jahre danach, habe ich für die Kapitel über diese Zeit unter anderem mit den autobiographischen Romanen Ginster und Georg gearbeitet, natürlich im Bewusstsein, dass es sich um eine literarisch geformte Quelle handelt.

Der Bezug auf diese fiktionalen Ich-Dokumente bot sich an: Denn unter den Menschen lebte einer, der sie unterirdisch erforschte: Ginster. Wann immer ein solcher kursiver Satz oder Halbsatz auftaucht, sind es Ginsters oder Georgs Erfahrungen, die übermittelt werden. Das Bewußtsein, wie ein Fremder angestarrt zu werden, erschreckte Georg tief […].13 Ginster und Georg waren bereits in Frankfurt und Berlin Fremde, ehe Kracauer aus seiner Heimat vertrieben wurde. Das Fremdsein war eine Hypothek für den Privatmenschen, gleichzeitig aber auch eine Chance für den Beobachter der Umwelt. Denn der Fremde und Exilierte, so Kracauer rückblickend und sich auf Alfred Schütz beziehend, sei objektiver als seine heimischen Zeitgenossen, weil er nicht in die kulturellen Muster und Selbstverständlichkeiten seiner Mitmenschen eingesperrt ist. Mehr noch, er habe die bittere Erfahrung gemacht, aus den gewohnten Bahnen hinauskatapultiert worden zu sein. Als Fremder in einer Welt, die ihn außerhalb von Gemeinschaft gestellt hat, sah Kracauer für sich die Möglichkeit, »deren Oberflächenerscheinungen zu durchdringen, um jene Welt von innen verstehen zu lernen«.14 Nicht zuletzt die Erfüllung dieser Aufgabe diente Kracauer seiner eigenen Existenzbewältigung.