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Alles wandelt sich

Echos auf Ovid

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Herausgegeben von Gabrielle Alioth und Hans-Christian Oeser

Impressum

Gedruckt mit Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel.

Die Publikation wurde durch die Elisabeth Jenny Stiftung, Basel, gefördert.

Eine Anthologie, herausgegeben im Auftrag und Namen des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Die Rechte aller in diesem Band abgedruckten Texte liegen bei den Autoren. Die Texte wurden von den Autoren zum Abdruck in dieser Anthologie zur Verfügung gestellt.

Copyright © 2016 by P&L Edition, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

Korrektorat: Thilo Fahrtmann

Satz/Layout/Covergestaltung: Martina Stolzmann

E-Book: Mirjam Hecht

Titelmotiv: »Ovid im Exil« von Ion Theodorescu-Sion, 1915, WikiArt.org

ISBN 978-3-95669-084-6

www.bookspot.de

Inhalt

Impressum

Inhalt

Gabrielle Alioth und Hans-Christian Oeser

Nichts vergeht

Jürg Acklin

Tempora mutantur Brief an meinen Sohn

Renate Ahrens

Durst

Peter Arnds

Dr. Lawless und der Werwolf

Burkhard P. Bierschenck

Ovids Tränen

Vera Botterbusch

Ausflüge

Irène Bourquin

Cap de Creus

Rudolf Bussmann

Der Maulbeerbaum

Iso Camartin

Augenlust und Sehverbot

Martin R. Dean

Capriccio für Narziss und Echo

Tanja Dückers

Hämoglobin

Susanne Fritz

Beständig unbeständig

Stefanie Golisch

Als ich mich noch verwandeln konnte Ein Märchen

Sibylle Hoffmann

Im Schnee

Franz Hohler

Dädalus und Ikarus

Gisela Holfter

Exil

Gabriela Jaskulla

Rumänisches Halali

Andreas F. Kelletat

Heil Sotter!

Fred Kurer

Meine zwei Besuche bei Publius Ovidius Naso

Gino Leineweber

Hoch hinauf

Frederick A. Lubich

Vom Traum der Schaumgeborenen oder Ovids Metamorphosen im Wandel der Zeit

Marko Martin

Ein Lachen unter Tränen, den Göttern entwendet Von der Aktualität einer alten Geschichte

Klaus Merz

Terrain vage

Susanna Piontek

Onkel Alexander und Ovid

Utz Rachowski

Das Schweigen – Jesus trifft seine Mutter (Kreuzweg IV. Station)

Lutz Rathenow

Verwandlungsgeschichten

Axel Reitel

Die Bibel

Dorothea Renckhoff

Szenenwechsel Eine Metamorphose

Dominik Riedo

Die Möwe J.

Peter Rosenthal

Intensiv

Teresa Ruiz Rosas

Metamorphose einer Frau

Heinrich G. F. Schneeweiss

Entfremdete Landschaft

Michael Starcke

keinem bleibt seine gestalt, sagt ovid

Verena Stössinger

Einmal ein Gott sein

Claudia Storz

Großmutter, warum hab ich einen so großen Mund?

Leander Sukov

Das Fleisch meines Bruders

Elisabeth Wandeler-Deck

Eine Ovid-Peripetie; X = NAME IO

Rainer Wedler

spare oh Knabe den Stachel

Sebastian Weirauch

Herr Mosins Versprechen

Die Autorinnen und Autoren

Gabrielle Alioth und Hans-Christian Oeser

Nichts vergeht

Omnia mutantur, nihil interit.

Ovid: Metamorphosen. Fünfzehntes Buch

Um das Jahr 17 n. Chr. stirbt Publius Ovidius Naso in der Verbannung in Tomis am Schwarzen Meer. Warum der Dichter, der zusammen mit Horaz und Vergil die römische Klassik verkörpert, seine Heimat verlassen musste, wissen wir nicht. Carmen et error – Dichtung und Irrtum, schreibt er in den Tristia, einer Sammlung von Klageliedern, die er an seinem Verbannungsort, dem heutigen Constanța in Rumänien, verfasste, und der wir fast unser gesamtes Wissen über sein Leben verdanken.

Mit der Dichtung dürfte die Ars amatoria gemeint sein, ein Lehrgedicht über die Liebeskunst, mit dem Ovid, der als 27-Jähriger mit einer Sammlung von Liebesgedichten berühmt wurde, sich den Unwillen des reaktionären Kaisers Augustus zuzog. Dessen Entscheidung, Ovid an die Grenzen der zivilisierten Welt auszuschaffen, erfolgte allerdings erst acht Jahre später und nachdem das Sequel, die Remedia amoris (Heilmittel gegen die Liebe), erschienen war, und somit dürfte der »Irrtum« das ausschlaggebende Moment für die Verbannung gewesen sein. »Seines Verderbens Grund«, schreibt Ovid, sei jedem bekannt, deshalb müsse er ihn nicht wiederholen, und er beteuert, es habe sich nicht um »ein verbrecherisches Tun« gehandelt, vielmehr sei er lediglich »durch Blicke« schuldig geworden. Welcher Anblick Ovid zum Verhängnis wurde, werden wir wohl nie mit Sicherheit wissen.

Mit seinen Metamorphosen, den »Büchern der Verwandlungen«, die er im Exil zu Ende schrieb und die noch zu seinen Lebzeiten publiziert wurden, schuf Ovid ein epochenüberdauerndes Meisterwerk, die wohl populärste Sammlung mythologischer Geschichten, die Literatur und Kunst der westlichen Welt formten und bis heute prägen. Die in fünfzehn Bücher unterteilte Hexameterdichtung beginnt mit der Entstehung der Welt und enthält so bekannte Geschichten wie die von Pyramus und Thisbe, Philemon und Baucis, Daedalus und Ikarus, Orpheus und Eurydike, Pygmalion und Galatea, Midas, Europa, Leda und Medea – jede eine Allegorie der Verwandlung.

»Was ich zu schreiben begann, wurde mir immer zum Vers«, gesteht Ovid, der – in eine alte Ritterfamilie hineingeboren – Anwalt werden sollte, sich aber der Dichtkunst verschrieb. Eine Vielzahl seiner Wendungen ist in unseren alltäglichen Sprachgebrauch eingeflossen: Aller Anfang ist schwer, Einmal ist keinmal, Von nichts kommt nichts, Steter Tropfen höhlt den Stein, Nachts sind alle Katzen grau, Was lange währt, wird endlich gut usw.

Bis ins 20. Jahrhundert sah man in Ovid in erster Linie den Verfasser der Metamorphosen. Dann gab das Zeitgeschehen den Klageliedern des Exilierten eine neue grausame Brisanz. Gewiss ist es Ovid in vieler Hinsicht besser ergangen als den vielen deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die im letzten Jahrhundert verfolgt und aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Zwar musste er Rom verlassen, durfte sein Vermögen und seine Bürgerrechte aber behalten, und – wesentlich für einen Dichter – seine Werke wurden weiterhin publiziert und gelesen. Dennoch erlitt er Trennung von Familie und Freunden, musste sich unter den »Barbaren«, in einer anderen Kultur, einer anderen Sprache zurechtfinden, und wenngleich seine Bitt- und Sehnsuchtsbriefe nach Hause von damals geläufigen literarischen Gemeinplätzen durchzogen sind, so spürt man aus ihnen doch die Verzweiflung des Entwurzelten. Es verwundert nicht, dass die Tristia im letzten Jahrhundert mit neuen Augen gelesen wurden und Autoren wie Lion Feuchtwanger und Ossip Mandelstam sich auf sie bezogen. Ovid steht mit diesem Werk am Anfang der Exilliteratur, und er hätte – wenn solche Ana-
chronismen erlaubt wären – das erste Mitglied des Exil-PENs sein müssen.

Deshalb hat das PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland – vormals Deutscher PEN-Club im Exil – zweitausend Jahre nach dem Tod von Ovid seine Mitglieder und Mitglieder anderer deutschsprachiger PEN-Zentren dazu eingeladen, sich auf persönliche Weise mit Ovids Metamorphosen auseinanderzusetzen und in eigenen Geschichten und Gedichten den Spuren nachzugehen, die das Werk des großen Dichters in ihrem literarischen Kosmos hinterlassen hat. Eine überraschend große Anzahl von Schreibenden hat diese Einladung angenommen und zeigt uns – den Herausgebern und den Lesern dieses Bandes – mit ihren Beiträgen, wie aktuell Ovids Werk und Leben bis heute sind. Oder in seinen eigenen Worten: Alles wandelt sich, nichts vergeht.

Jürg Acklin

Tempora mutantur
Brief an meinen Sohn

Lieber Sohn:

Tempora mutantur, hat Ovid geschrieben, und im 16. Jahrhundert hat einer hinzugefügt: nos et mutamur in illis, und wir verändern uns mit ihnen.

Allerdings ist mir das in der Lateinstunde jeweils von 11h00-11h50 nicht so vorgekommen. Da war es eher so, als würde die Zeit stehen bleiben: Wort für Wort mussten wir übersetzen, im Schneckentempo, sodass wir am Schluss des Satzes gar nicht mehr genau wussten, was am Anfang stand. Der Text als Ganzes blieb uns fremd. Es war keine hermeneutische Arbeit, sondern eher ein grammatikalisches und syntaktisches Erbsenzählen.

Auf die Uhr schauen nützte nichts. Da kam es uns manchmal vor, als hüpfe der Sekundenzeiger rückwärts, wir bekamen eine quälende Vorstellung von der Ewigkeit. Das Läuten zum Unterrichtsschluss war eine Erlösung wie der letzte Befehl beim Abtreten am Ende der Rekrutenschule.

Und doch: Tempora mutantur nos et mutamur in illis ist mir geblieben. Dieser Vers stimmt und stimmt nicht. Einerseits ist es fast nicht zu glauben, wie wir als Menschen über die Zeiten hin unsere Identität bewahren, wie wir kleinen Bedürfniswesen uns über Jahrtausende in unseren Hoffnungen, Ängsten, Wünschen und Sehnsüchten ähnlich bleiben.

Ja, mein lieber Sohn, auch als Individuen bleiben wir über die Zeit unseres Daseins identisch. Ob wir uns bei einem Fußball-
match über den Schiedsrichter aufregen oder ob wir die Hymnen an die Nacht von Novalis lesen, auf wundersame Art fühlen wir uns immer als wir selbst.

Aber dann ist es schon wieder erstaunlich, wenn nicht sogar stoßend, was auf der Meinungs- und Überzeugungsebene mit uns geschieht: Da streckt einer als letztes Argument mit entschlossener Miene das rote Mao-Büchlein in die Höhe, um nur ein, zwei Jahrzehnte später mit derselben Verbissenheit eine Partei zu unterstützen, die den Fremdenhass schürt. Da ruft einer, die Faust in die Höhe gereckt: Hotschi, Hotschi, Hotschi-Min, um ein paar Jahrzehnte später das Zweiklassensystem der Krankenversicherung zu rechtfertigen. Derselbe Mensch? Aber sicher, mein Sohn, derselbe Mensch mit denselben Ängsten, Wünschen und Sehnsüchten, aber jetzt richtet er seine ideologischen Überzeugungen nach seinen veränderten ökonomischen Verhältnissen aus. Das ist ja alles auch ein bisschen verständlich. Am schlimmsten aber sind die Selbstgerechten, dennoch: Irgendwie, das lass dir von deinem alten Vater gesagt sein, sollte es doch möglich sein, bei allen Verwerfungen, die es im Laufe der Zeit so gibt, durch seine Lebensröhre zurückblicken zu können. Die eigene Geschichte leicht beschönigen, das ist erlaubt, ja notwendig.

Man muss sie sich so erzählen können, dass sie erträglich ist. Die eigene Geschichte völlig umschreiben, das macht sie nicht erträglicher, sondern gefährlich. Also, mein Sohn: Tempora mutantur nos et mutamur in illis.

Renate Ahrens

Durst

Es ist dunkel, wir sitzen dicht gedrängt, seit Stunden fahren wir schon so. Mir ist warm, ich habe Durst, in meinem Kopf dröhnt es. Die Flasche ist leer. Wie kann das sein? Habe ich so viel getrunken? Teil dir dein Wasser gut ein, hat Vater beim Abschied gesagt. Wenn er wüsste, wie heiß es hier ist. Und dazu der Gestank. Der Typ hinter mir hat sich nicht mal die Mühe gemacht, den Eimer zu benutzen, der in der Ecke steht. Irgendwo blitzt ein Handy auf, ein Mann japst nach Luft, ein anderer schimpft vor sich hin, dass sie uns wie Vieh in diesen Lkw-Container verladen hätten und sich das auch noch teuer bezahlen ließen. Halt den Mund!, faucht ihn jemand an. Sei froh, dass sie uns über die Grenze bringen; zu Hause wartet doch nur der Tod. Die junge Frau neben mir singt leise ihr Kind in den Schlaf.

Wie es Mutter wohl geht? Sie war mutig, hat sich vom Regime nie einschüchtern lassen. Eine Bahá’í gibt nicht auf, sagte sie immer und kümmerte sich weiter um die Jugendlichen in unserer Gemeinde. Als Lehrerin darf sie schon lange nicht mehr arbeiten. Seit sechs Monaten halten sie sie im Evin-Gefängnis fest. Spionage für Israel wirft man ihr vor. So was Absurdes. Nur weil sie eine Bahá’í ist, die für Gleichberechtigung von Mann und Frau kämpft und allen Menschen Zugang zu Bildung verschaffen will. Vater durfte sie ein einziges Mal besuchen; danach war er bleich und still.

Ich muss hier raus!, schreit plötzlich ein Mann. Er springt auf und trommelt mit den Fäusten gegen die Wand. Raus! Raus! Raus! Beruhige dich, sagt eine Frau, es dauert nicht mehr lange. Woher weiß sie das? Oder sagt sie das nur, damit der Mann aufhört? Aber er hört nicht auf. Er schreit weiter, bis er in sich zusammenfällt und das Schreien in Husten übergeht.

Das Kind ist eingeschlafen. Seine Mutter streicht ihm über den Kopf und seufzt. Ich glaube, mein Sohn hat Fieber. Wie alt ist er? Zweieinhalb. Haben Sie noch Wasser?, frage ich. Nein. Ich habe leider auch nichts mehr. Wie heißt du?, fragt sie. Vahid, antworte ich. Und wie alt bist du? Siebzehn. Kommst du aus Teheran? Ja. Wir auch. Bist du ganz allein unterwegs? Hm.

Ich denke an unsere Wohnung, die vor drei Wochen durch Brandstiftung zerstört wurde. Mona kam dabei ums Leben. Ich vermisse sie so. Sie war fünfzehn. Seitdem hat Vater in seiner Praxis weitere Drohungen bekommen. Ich lasse mich nicht einschüchtern, sagt er. Ich werde hier bleiben und für Mutters Freilassung kämpfen. Aber du musst fliehen und dich in Sicherheit bringen. Er hat all sein Erspartes dafür aufgebraucht. Sobald die Mittelsmänner des Schleppers mich in diesem Lkw in die Türkei geschleust haben, soll ich Vater anrufen, und er wird den Schlepper bezahlen. Erst danach werden die Männer mich freilassen. Wie es dann weitergeht, weiß ich nicht.

Mir klebt die Zunge am Gaumen, ich kann kaum noch schlucken. Wasser, höre ich jemanden flüstern. Oder war ich das selbst? Die Menschen um mich herum stöhnen, röcheln, keuchen. Der Gestank wird immer schlimmer. Mein Mann ist ohnmächtig geworden!, schreit eine Frau. Wir müssen den Fahrer zum Anhalten zwingen. Kommt nicht in Frage, keift der Typ hinter mir. Wollen Sie uns alle in Gefahr bringen?

Der kleine Junge fängt an zu wimmern. Seine Mutter drückt ihn an sich, sie weint.

Vater hat beim Abschied gesagt, dass ich gut auf mich aufpassen und in schwierigen Situationen immer an etwas Schönes denken solle. Aber das ist nicht so einfach. Wenn ich an unser Zuhause denke, sehe ich die ausgebrannte Wohnung vor mir und Vater, wie er verzweifelt im Dunkeln auf der Straße steht, mit der toten Mona auf den Armen. Wir wollten gemeinsam aus der brennenden Wohnung rennen, aber Mona rührte sich schon nicht mehr. Denke ich ans Fußballspielen mit meinen Freunden, fällt mir sofort Hadi ein, der vor einem Jahr mit seiner Familie geflohen ist; ich weiß nicht, wohin. Denke ich an Mutters leckeres Essen, habe ich ihr erschrockenes Gesicht vor Augen, als die Männer in unsere Wohnung drangen, um sie festzunehmen.

Früher hat Mutter Mona und mir immer Geschichten erzählt. Ich mache die Augen zu und versuche, mich zu erinnern, was für Geschichten das waren. Wenn ich nur nicht solchen Durst hätte, unerträglichen Durst. Mir ist schwindelig. Werde ich auch gleich ohnmächtig? Was ist das für eine Stimme? Klingt wie Mutter. Ja, jetzt höre ich sie ganz deutlich. Die Göttin Latona flüchtete mit ihren neugeborenen Zwillingen nach Lykien. An einem Teich traf sie auf einige Bauern, die dort Binsen und Schilf sammelten. Erschöpft und wegen der Sommerhitze dem Verdursten nahe, bat Latona die Bauern, aus ihrem Teich trinken zu dürfen. Dies wurde ihr verwehrt. Ich will mich nicht waschen, ich will nur etwas trinken, um meine Kinder wieder stillen zu können. Die Bauern zeigten auch kein Mitleid mit Latonas Säuglingen. Nicht nur wurde ihre flehentliche Bitte nicht erhört, die Bauern verhöhnten sie auch noch, indem sie den Schlamm vom Grunde des Teichs aufwirbelten, um das Wasser untrinkbar zu machen. Zur Strafe verwandelte Latona sie in Frösche, und so waren sie dazu verdammt, auf ewig in diesem Teich weiterzuleben.

Ein Schrei. Ich zucke zusammen. Mein Kind ist bewusstlos. Wer schreit da? Es braucht Wasser, nur einen Schluck Wasser. Ich taste nach meiner Flasche. Sie ist leer, schon lange leer. So haben Sie doch Erbarmen. Langsam richte ich mich auf, blicke in die Augen der jungen Frau. Ihr Mund ist aufgerissen zum nächsten Schrei. Ich will etwas sagen, aber ich bekomme kein Wort heraus. Wir haben längst alles ausgetrunken, murmelt jemand und fängt an zu husten.

Was ist das für ein Rauschen in meinen Ohren? Ich falle zurück auf den Boden. Alles dreht sich. Ich mache die Augen wieder zu. Sehe die Lkw-Fahrer vor mir. Ihre Stimmen werden heiser, ihre aufgeblähten Hälse schwellen an, und die Schimpfworte lassen ihre offen stehenden Münder noch breiter werden. Ihre Schultern berühren die Köpfe, verdrängen die Hälse. Ihre Rücken sind grün und ihre vorgestreckten, übergroßen Bäuche weiß. Und da hüpfen sie im morastigen Sumpf. Wir sind sie los!, ruft jemand. Ich habe ihren Wasservorrat gefunden!, ruft ein anderer und beginnt, die Flaschen an alle zu verteilen. Endlich gibt es wieder etwas zu trinken.

Ich wache auf, es ist hell, meine Kehle brennt. Ein Mann in Uniform zieht mich aus dem Container. Das grelle Licht der Sonne blendet mich. Jemand reicht mir eine Flasche mit Wasser. Ich trinke. Das Schlucken tut weh.

Wie durch einen Schleier sehe ich die anderen an mir vorbeitaumeln. Die junge Frau trägt ihren toten Sohn im Arm.

Peter Arnds

Dr. Lawless und der Werwolf

Für wie lange fahren Sie nach Indien?

Drei Monate.

Dann ist es eine gute Idee mit den Spritzen. Sie brauchen insgesamt drei, und die über vier Wochen verteilt. Haben Sie vor, aufs Land zu reisen?

Nein, ich bleibe in Delhi.

Affen gibt es da auch.

Richtig, vor allem in Old Delhi. Doch am meisten muss man sich vor den Hunden in Acht nehmen. Die liegen dort überall herum. Tritt man nachts auf einen, dann kann es bereits passiert sein. Manchmal ist es so, dass ein Blinder über einen Hund stolpert, gebissen wird, und dann ist es um ihn geschehen.

Na ja, malen wir mal den Teufel nicht gleich an die Wand. Die Spritzen sind jedenfalls keine schlechte Idee.

Auch um den Wolf in Schach zu halten.

Wie bitte?

Na ja, wegen der Vollmondnächte zur Zeit.

Leiden Sie denn unter Schlafstörungen?

Das kann man wohl sagen.

Da sind Sie nicht der Einzige. Um Weihnachten herum.

Ja, vor der Sonnenwende und den zwölf Nächten.

Den zwölf Nächten?

Vom 24. Dezember bis zum 6. Januar. Die Zeit der Werwölfe.

Was haben Sie nur mit den Hunden und den Wölfen?

Ist mein Thema. Wölfe und Menschen, die sich in solche verwandeln. Wussten Sie eigentlich, dass Ihr Name auch mit den Wölfen zu tun hat?

Nein. Das ist mir nicht bekannt. Machen Sie mal bitte den Oberarm frei.

Lawless. Der Wolf als Gesetzloser. Das germanische Mittelalter hatte ein Wort für Verbrecher, die aus der Gemeinschaft verstoßen wurden: wargus, das bedeutete sowohl Wolf als auch Verbannter. Sie standen fortan außerhalb des Gesetzes und dessen Schutz, sodass jeder sie töten konnte, ohne dafür rechtlich verfolgt zu werden.

Was Sie nicht sagen! Ihr Blutdruck ist übrigens wieder mal leicht erhöht.

Ist ja nichts Neues. Ist er doch immer beim Arzt. Mein alter Freund, das Weißkittel-Syndrom.

Oder liegt’s an den Wölfen?

Mag sein. Wölfe, vor allem die menschlichen, neigen vielleicht zu Bluthochdruck. Konzeptionell wurden die Verbannten im Mittelalter als Wölfe gesehen, da steckt natürlich auch ein ganzes Stück christliche Dämonisierung drin. Wargus, das waren die, die aufgrund eines Verbrechens ihre Menschlichkeit verloren und dann verbannt, exiliert, also außerhalb der Bannmeile, im Naturzustand verkamen. Sie wurden auch als friedlos bezeichnet, denn da jeder sie jagen und töten konnte, fanden sie niemals ihren Frieden.

Sie sagen also, dass der Werwolf nicht nur ein mythisches Biest ist? Nehmen Sie auch wirklich regelmäßig Ihre Tabletten?

Natürlich. Jeden Morgen. Der Werwolf ist sowohl mythischer als auch politischer Natur, mythisch etwa als Lykaon, der Tyrann Arkadiens, der Jupiter ein Mahl bestehend aus Menschenteilen auftischt und dafür von dem erzürnten Gott in einen Wolf verwandelt wird. Doch ist er als metaphorischer Wolf eben auch ein politisches Phänomen. Er war entweder Opfer der Verbannung oder der Tyrann selbst, beide stehen außerhalb des Gesetzes. Adolf Hitler sah sich zum Beispiel als Wolf.

So, es wird jetzt gleich etwas pieksen. Aber so ein Wolf kennt ja keinen Schmerz. Hitler, sagen Sie?

Ja, Hitler.

Was hat Hitler mit dem Wolf zu tun?

Das liegt an seinem Vornamen: Adolf.

Versteh ich nicht. Mir wollten Sie gerade auch noch einen Wolf aufbinden mit meinem Namen.

Adolf ist ein altgermanischer Name und kommt von Adulfr, edler Wolf.

Weiß nicht, ob Hitler so ein edler Wolf war. Schon eher ein dämonischer. Leiden Sie eigentlich an Schwermut?

An der melancholia canina, meinen Sie?

Was?

Melancholia canina. Das ist die Hundsmelancholie im 17. Jahrhundert, heute allgemein auch als Depression bekannt. Denn damals glaubte man, dass Hunde Melancholiker seien, Wölfe hingegen wahnsinnig, da gab es auch den Ausdruck insania lupina.

Neigen Sie jetzt eher zu den Hunden oder zu den Wölfen? Die Spritze ist doch vor allem gegen die indischen Hunde gedacht, oder verstehe ich Sie da falsch?

Ja natürlich, vor allem, wenn der Biss der indischen Hunde meine eigene Hundsmelancholie in wölfischen Wahnsinn verwandeln sollte. Die Metamorphose wäre mir sehr unangenehm.

Gegen Depression haben wir leider keine Impfung. Haben Sie sich mal überlegt, woher das kommen könnte? Ihr Hang zur Melancholie, wie Sie behaupten.

Wahrscheinlich von der Nostalgie.

Nostalgie nach was?

Nach der verlorenen Heimat. Wie der Name schon sagt: Nostos, Heimat; algos, Schmerz.

Tut mir leid, gegen Heimweh kann ich Sie leider auch nicht impfen.

Nein, bitte nur gegen den wölfischen Wahnsinn. Meistens dösen die indischen Hunde in der Sonne und lassen sich dabei nicht stören, doch in Varanasi hat mich das letzte Mal einer ins Bein gezwickt. Der hatte ganz blutunterlaufene Augen und sah insgesamt nicht so recht gesund aus. Zum Glück ging der Biss nicht durch die Hose. Also nur her mit den Spritzen.

Nun, dann kommen Sie in einer Woche wieder vorbei. Für die zweite Spritze. Und bitte: vergessen Sie nicht, Ihr Blutdruckmedikament einzunehmen. Ein Wolf mit Schlaganfall ist keine so nette Angelegenheit.

Burkhard P. Bierschenck

Ovids Tränen

Am Meer wartet der Dichter,

Den Papyrus in der Hand,

Stumm deklamiert er die Verse

Seiner liebenden Helden.

Sie wechseln die Namen

Und träumen die Schicksale,

Leben ihre Metamorphosen.

Der Dichter rollt den letzten

Papyrus zusammen und bindet

Den geheimen Schlussknoten.

Unter Tränen zitternd formen

Die Lippen ein leises Rom.

Vera Botterbusch

Ausflüge

La Nature est un temple où de vivants piliers.

Laissent parfois sortir de confuses paroles

Charles Baudelaire

Die Felsen glotzen mich sprachlos an,

wenn ich am Ufer entlanggleite und

auf die alten Geschichten horche, die

in den versunkenen Höhlen wohnen.

Neptun selbst trägt mich auf seinen

Händen über die gefiederten

Wellen. Mittagsglut steht in der

Luft. Ein Reiher hält am Ufer Wacht.

***

Flirren und Zirpen,

Zedernholz,

Felsengold

und

schwarze Schatten.

Zweitausendjährige Geschichte

jeden Tag neu erzählt.

Aphrodite

lockt

im duftigen Morgenschaum.

Süße dringt ins Herz.

Die Fischer

werfen ihre Netze aus

vor der Bucht, wo

die Zyklopen liegen,

versteinert

für die Ewigkeit,

und

unter den Liebkosungen

der Wellen

seufzen.

***

Im gleißenden Licht verliere

ich mich. Das Meer nimmt

mich auf. Ich treibe.

Die Augen der Zeit schauen

mich an. Eine Sphinx. Tief

verborgen in den Felsenhöhlen.

Die Wellen schlagen ans Ufer. Die Zeit

zeigt sich nicht. Sie ist da. Sie schaut

und verrinnt. Bis in alle Ewigkeit.

***

Liebreizende Chimären besuchen

mich im Abendlicht auf der Terrasse.

Pan schlägt Purzelbäume in den

höchsten Flötentönen. Ein Faun

tanzt rote Arabesken in den Himmel.

Der lacht azurblau und kokettiert

mit den Wolken. Die dösen blöde

vor sich hin. Da reißt ein Krokodil

das Maul auf und gähnt herzhaft.

Meine Gäste nippen an Nektar

und Ambrosia im Schatten des

Olivenbaums. Dann packt Pan

seine Flöte ein. Der Faun macht

einen Kratzfuß. Schon steigen sie

in einen Wolkenwagen, vor den

das rote Krokodil gespannt ist.

Ab geht die Post. Ich räume den

Tisch ab und spüle die Gläser.

***

Mein Herz klingt

silbern wie der Klang

der Wellen unter

der sinkenden Sonne.

Ein Hauch von Rot

überzieht den schrillen

Ton der Zikaden.

Sehnsucht steigt auf.

War es gestern am Strand,

wo mich Palmwedel

entführten und goldene

Trauben lockten?

Wir tranken Martini Dry

und suchten das Firmament.

Verheißungsvoll

sprachen die Sterne.

Der Große Wagen nahm uns auf.

Wir glitten durch die Zeit und

schnitten ein nachtblaues Band

in den Himmel auf Erden.

***

Schließe ich die Augen,

sehe ich das wogende Meer,

höre ich das Rauschen

am sandigen Ufer.

Öffne ich die Augen,

sehe ich meine Teetasse,

höre ich das Kratzen der

Schreibfeder auf dem Papier.

Ich mache einen Schluck und

lasse die Grillen Sirtaki tanzen,

wenn Helios den Oleander küsst.

Da schiebt sich eine Wolke vor

den Sonnenball. Der Wind dreht

Pirouetten und holt sich mein Papier.

Die Wörter bleiben in der Luft stehen

und winken. Es regnet Zauberworte.

***

Silberzungen küssen mich.

Wollüstig ziehen sie mich in die Höhle

des Meeres, wo die Seejungfrauen wohnen.

Die nähen mir mit rostiger Nadel einen

bunten Fischschwanz an. Mir wachsen

Kiemen und ein schuppiges Kleid.

Weiche Silberzungen betten mich.

***

Wie der Lidschlag

der Zeit

versteckt unter

Steinen

mit Armen,

die ins Unendliche

greifen.

***

Willst du

meinen Kahn

durch das Tosen

steuern?

Kein Adagio

in der Meerenge.

Nur ein piano

mit einem hohen C.

Darin zerspringe ich.

Unter dem Vergrößerungsglas

tummeln sich

meine Begierden.

Die Angst mäandert

ungeniert,

bis mein Kopf platzt

und die Ausgeburten

der Höhlenträume

im Tageslicht

vertrocknen.

***

Gerufen

komm ich

aus weiter Ferne.

Das Käuzchen

ist mein Begleiter.

Wo der Stern fehlt,

führt sein spitzer

Schrei durch die Nacht.

Still ist der Morgen.

Kein Vogel

kann mir

den Traum

ersingen.

***

Mit Tigeraugen lauert das Land,

auf dem Sprung, mich zu verbrennen.

Agaven strecken Dolchspitzen ins Blau

des Blau. Zikaden schreien. Wolken