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SEBASTIAN CHRIST
MEIN BRIEF AN DIE NSA

Auf der Suche nach meinen Daten
ein mikrotext

Lektorat: Nikola Richter

ePub-Erstellung/Cover: Andrea Nienhaus

Coverfoto: manwalk / pixelio.de

Covertypo: PLT Attention, Viktor Nübel

www.mikrotext.deinfo@mikrotext.de

ISBN 978-3-944543-12-3

Alle Rechte vorbehalten.

© mikrotext 2013, Berlin

Sebastian Christ

Mein Brief an die NSA
Auf der Suche nach meinen Daten

Mein Brief an die NSA

1

Ich wurde geboren in einer Stadt voller Laub und Ruhe. Mein erstes geschriebenes Wort war „Otto“, wie die Fernsehrobbe des Hessischen Rundfunks. Getippt habe ich es auf der mechanischen Schreibmaschine meiner Eltern. Ich erinnere mich noch an das Gefühl dabei: Wie ich meinen Zeigefinger fest anspannen musste und die Typenhebel mit einem hellen Klacken aufs Papier schlugen. o-t-t-o. Mein zweites Wort war „ja“, das dritte Wort war „nein“. Großbuchstaben lernte ich erst später. Nullen und Einsen malte ich damals auf Papier, nur mit der Vier hatte ich Probleme, sie sah aus wie eine Mistgabel. Das erste Mal online war ich mit sechs Jahren, auf dem Hauptpostamt von Frankenberg/Eder. Direkt neben dem Aushang mit den gesammelten Telefonbüchern der Bundesrepublik Deutschland stand ein BTX-Terminal, auf dem Besucher die neue Datentechnik ausprobieren konnten. Ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, um die Tastatur zu erreichen. Die erste Seite, die ich ansteuerte, war die des ADAC. Ich mochte die Buchstabenkombination.

Unser Nachbar war Inhaber einer Fabrik für industrielle Waffelmaschinen. Was auch immer in den folgenden Jahren an neuer Kommunikationstechnik nach Frankenberg kam, er verfügte als einer der ersten darüber. Mein erstes Mobilfunktelefonat führte ich mit sieben Jahren von der Rückbank seines Mercedes aus. Das erste Fax meines Lebens sah ich bei ihm, und mit 15 Jahren durfte ich den Computer im Büro der Familie nutzen, um zum ersten Mal ins Internet zu gehen.

2

Frankenberg war damals noch wie eine Insel. Wenn ich etwas brauchte, musste ich stets einen Weg zurücklegen. Ich liebte die Gespräche mit den demonstrierenden Studenten in Marburg. Vierzig Kilometer. Museumsbesuche. Fünfundsiebzig Kilometer. Oder die Kinobesuche im nächsten Cineplex, wo die neuesten Filme liefen. Einhundertfünfzig Kilometer. Zwischen meiner Konfirmation und dem achtzehnten Geburtstag sparte ich auf einen Führerschein.

Es gab nur eine Bibliothek, am alten Marktplatz. Ich war zwei- oder dreimal in meinem Leben dort, und noch bei meinem letzten Besuch wurden mir Kinderbücher zum Lesen empfohlen. Ich erinnere mich an das leise Schlurfen meiner Schritte auf dem Kopfsteinpflaster, wenn ich die anderthalb Kilometer zum einzigen gut sortierten Kiosk der Stadt ging, um die Süddeutsche Zeitung zu kaufen. Ich ahnte damals schon, dass ich nicht den Kopf in eine Zeitungsseite stecken musste, um in die Welt hinaus blicken zu können. Es gab damals übrigens wirklich noch Menschen, die Artikelausschnitte sammelten.

3

Verrückt, ich erinnere mich nicht mehr an die erste Website, die ich in meinem Leben besucht habe. Eine Sache ist mir jedoch noch sehr gut im Gedächtnis: Als ich von jenem Drehstuhl im Büro unserer Nachbarn wieder aufstand, war ich merkwürdig erschöpft. Nicht in einem körperlichen Sinn. Ich war voll von Gedanken, so wie nach einer großen Reise.

4