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»Beim Bordeaux bedenkt, beim Burgunder bespricht,

beim Champagner begeht man Torheiten!«

Jean Anthelme Brillat-Savarin

PROLOG

Schmucklinie

 

Die sanft geschwungenen Hügel der Champagne, der mineralische Duft des Windes, die Rebstöcke, wie sie bedächtig wachsen, all das fehlt hier. Zu all dem will ich. Doch nun muss ich die benötigten Utensilien penibel bereitlegen. Damit keiner sie findet. Bis ich sie brauche.

Heute ist der Abend, auf den ich so lange gewartet habe.

Vorfreude erfüllt mich, doch auch ein wenig Angst vor dem, was passieren wird. Ich habe geübt, doch lässt sich so etwas wirklich üben? Und durchplanen? All das, was man denken und fühlen wird?

Es ist kühl hier und modrig. Und still. Das beruhigt. Ja, die Dunkelheit beruhigt, die nur vom Strahl meiner Taschenlampe erhellt wird, durch den der Staub wie Schnee fällt.

Sanft lege ich den schweren Gegenstand ab, der in wenigen Stunden ein Leben beenden wird. Er wird den Endpunkt meines Plans bilden.

Dieser hat die letzten Monate bestimmt. Hat mein Leben bestimmt. Den Gegenstand zu sehen, in all seiner Schönheit, seiner Stringenz, seiner Endgültigkeit, hat oft zu einem Lächeln auf meinem Gesicht geführt. Weil nur ich wusste, dass die Zeit eines ganz bestimmten anderen Menschen abläuft. Jedes selbstverliebte Lächeln von ihm sein letztes sein könnte. Und seine Sicherheit nichts als eine Illusion war. Das Leben ist mir wie ein Pokerspiel vorgekommen, bei dem ich wusste, dass mein Blatt unschlagbar ist. Und mein Gegenspieler denkt, er hätte alles unter Kontrolle. Alles sei in Ordnung.

Dabei war nichts in Ordnung.

Für ihn.

Alles andere würde es bald wieder sein.

Endlich diese Last los sein.

Ich habe keine Angst vor Schuldgefühlen. Denn was passieren wird, ist richtig. Ist gerecht.

Was wird er wohl zum Schluss, im Angesicht des Todes sagen? Wird er Reue zeigen? Bitten, flehen, wimmern? Wird er weinen und heulen?

Das wäre eine Erlösung.

Obwohl ich nicht an Gott glaube, bekreuzige ich mich. Denn wenn es doch einen Gott gibt, dann vollbringe ich nun dessen Werk, dann wird er Verständnis dafür haben, dass hier in wenigen Stunden ein Menschenleben genommen wird. Nein, das ist falsch. Es wird nicht genommen. Denn wer etwas nimmt, der hat später ja etwas. Doch das Leben wäre einfach fort. Ausgelöscht. Beendet. Wie ein Fernsehprogramm, und danach gab es nur noch unförmiges Rauschen.

Wo wird mein Hass hingehen? Wird er ausgelöscht mit dem letzten Atemzug meines Opfers?

Oder mit jedem blutigen Hieb etwas mehr schwinden?

Ich sauge die kühle Luft ein.

Es fällt mir schwer, zu warten.

Dabei ist es nun nicht mehr lang.

Doch diese letzten Stunden fühlen sich unerträglich an. Ich will nicht mehr warten. Ich will die Zeit zusammendrücken wie ein Akkordeon. Und ihn hier vor mir haben. Ausgeliefert.

Aber zuerst stehen noch die Henkersmahlzeit an und der Henkerstrunk. Ein viel zu guter.

Und doch ein ausgesprochen passender.

Das Schicksal kennt keine Ironie, sagt man. Es ist gleichgültig.

Trotzdem muss ich lachen. Niemand hört es, doch es bricht und spiegelt sich an den Wänden, es klingt, als würde die ganze Welt mit mir lachen. Als lachten die Toten mit den Lebenden.

Meine Hand greift zu einer Flasche Champagner. Kein guter, doch kühl ist er und erzählt von der Heimat. Den sanft geschwungenen Hügeln der Champagne, dem mineralischen Duft des Windes, den Rebstöcken, wie sie wachsen.

Meine Fingerspitzen gleiten über das Etikett.

Tränen rinnen mir die Wangen hinab. Sie sind warm. Und voller Glück.

KAPITEL 1

Schmucklinie

Der Professor schießt in die Luft

An diesem wunderbaren Samstagabend im September wusste Professor Dr. Dr. Dr. h.c. Adalbert Bietigheim zwar, dass er bald einige der legendärsten Champagner aller Zeiten genießen würde, nicht jedoch, dass ein Mord passieren würde. Ein, um es kulinarisch auszudrücken, äußerst unappetitlicher noch dazu. Dabei gab es kaum etwas, das der Professor weniger mochte als Unappetitliches.

Noch jedoch war er fabelhafter Laune und richtete in der Sakristei der schmucken Kapelle am Schafsberg die ohnehin perfekt sitzende weiße Seidenfliege. Sein treuer Foxterrier Benno von Saber beobachtete ihn dabei interessiert – was an der knochenähnlichen Form des Kleidungsstückes liegen mochte.

»Es freut mich, dass du in ebenso gespannter Vorfreude bist wie ich«, sagte der Professor und tätschelte ihm den Kopf. Wofür er sich leicht hinunterbeugen musste. Benno ergriff die Chance und sprang mit geöffnetem Maul empor.

Er verfehlte die Fliege knapp.

»Ja, du Guter! Aber fürs Schmusen ist jetzt leider keine Zeit.«

Benno stieß ein hungriges Brummen aus, erntete dafür aber nur ein: »Du kleine Schmusebacke!«

Der Professor nahm die Liste der zu verkostenden Champagner zur Hand. Von einem Who-is-Who der Champagnerwelt zu sprechen, war eine Untertreibung, ja eine Beleidigung für die Tropfen. Ohne Frage würde hier im beschaulichen Limburg an der Lahn in wenigen Augenblicken die bemerkenswerteste Champagnerprobe des noch jungen Jahrtausends stattfinden. Unter anderem mit dem als besten Champagner aller Zeiten geltenden 1928er Krug. Adalbert durchfuhr ein Kribbeln, als er daran dachte, diesen endlich verkosten zu dürfen. Er hatte schon so viel über ihn gelesen, sogar selbst publiziert, und ihn doch nie probieren können. Doch es gab einen Champagner, der ihn sogar noch mehr erregte – was er sich aufgrund der ihm so wichtigen Contenance selbstverständlich nicht anmerken ließ. Es war der Heilige Gral der Champagner. Eine Flasche 1907er Piper-Heidsieck, die Ende des 20. Jahrhunderts aus einem Schiffswrack vor der finnischen Küste geborgen werden konnte. Genauer aus dem Schoner »Jönköping«, der von einem U-Boot der Deutschen Marine versenkt worden war. Die Flaschen an Bord waren für die russische Zarenfamilie bestimmt gewesen. Unter Wasser waren sie perfekt gelagert worden. Eine Viertelmillion US-Dollar war jede einzelne davon wert, welche die Spuren ihrer Zeit unter Wasser nur noch begehrenswerter erschienen ließen. Wegen dieser Flasche, die sich nun sicher im Keller der Kapelle befand, waren die Eintrittskarten zu dieser Probe so gesucht und so unfassbar teuer gewesen.

Champagner dagegen, die vor allem aufgrund ihrer luxuriösen Flaschen so wertvoll waren, wie die mit Weißgold ummantelte »White Gold Jeroboam« von Dom Pérignon oder die »Diamond Edition« von De Watère, hatten hier heute Abend nichts zu suchen. Es ging einzig und allein um exquisiten Geschmack.

Bietigheim räusperte sich und trat aus der Sakristei in das allein von gewaltigen Lüstern mit flackerndem Kerzenlicht erleuchtete gotische Kirchenschiff und ging schweigend und gemessenen Schrittes, wie ein Priester bei der Messe, Richtung Altarraum, wo mehrere schwarze Klimaschränke mit den exklusiven und perfekt temperierten Bouteillen standen. Ein Raunen ging bei seinem Eintreten durch die Reihen und erstarb hin zu gespannter Stille. Kurz nickte der Professor in Richtung des Tisches mit den Weinjournalisten. Ob Wine Advocate, Decanter, Wine Spectator, La Revue du vin de France oder Vinum – alles, was Rang und Namen hatte, war anwesend. Deren Karten hatte eine Heilwasserquelle aus dem benachbarten Fachingen finanziert, die an diesem Abend unter Beweis stellen wollte, wie gut ihr Produkt zur edelsten Brause der Welt passte. Am Tisch daneben saß die Winzerelite der Champagne. Taittinger, Bollinger, Roederer, Ruinart, Mumm, Veuve Clicquot – alle hatten ihre Besitzer oder Geschäftsführer entsandt. Niemand fehlte. Der Professor begrüßte jeden davon per Handschlag und einen Mann ganz besonders herzlich, denn es war ein alter Freund. Der Professor reichte ihm beide Hände, Ghislain nahm sie und schloss ihn dann in die Arme. Als Bietigheim noch Student an der Sorbonne gewesen war, hatte Ghislain de Montgolfier ihn in den Champagnerkosmos mit seinen ganz eigenen Regeln eingeführt. Ein Ehrenmann der alten Schule in einer Welt des luxuriösen Scheins. Der hochgewachsene, elegante Mann mit den leicht gewellten weißen Haaren wünschte ihm kein Glück, denn er wusste wohl, dass Bietigheim dieses nicht brauchte.

»Gut, dass du hier bist. Ich wüsste sonst niemanden, der diesen Champagnern gerecht werden könnte.« Er beugte sich hinunter zu Benno. »Das gilt auch für dich, mein kleiner Freund. Die anderen haben sich gewundert, dass ein Hund dabei ist. Doch ich sagte ihnen, du seist nicht einfach irgendein Hund, du seist schließlich Benno von Saber, der kulinarisch geschulteste Foxterrier der Welt.«

Der Professor schritt, gefolgt von Benno, der seinen Kopf nun etwas höher zu tragen schien, zum Rednerpult, wo bereits ein Säbel für ihn bereitlag. Die erste Flasche des Abends würde er wie ein napoleonischer Kavallerieoffizier öffnen – mittels Sabrieren. Ein Champagner des Hauses Salon stand dafür bereit. Bietigheim umfuhr mit den Fingerspitzen die Flasche, um die Längsnaht zu finden, an der in der Glashütte zwei gläserne Flaschenhälften zueinandergefunden hatten. Denn dort, wo diese in den Wulst des Halses überging, musste der Hieb des Säbels enden. Adalbert stellte sich vor dem Pult in Positur, setzte den Säbel ohne Umschweife oberhalb des Etiketts an und ließ die Klinge in einer fließenden Bewegung am Glas entlang auf den Wulst zugleiten.

Er hatte dies schon etliche Male getan.

Er wusste, wie viel Druck nötig war, um möglichst wenig des kostbaren Schaumweins zu vergießen.

Doch jetzt war es plötzlich anders.

Wenn dieser Schlag misslang, würde er vor der versammelten Winzerelite der Champagne zum Gespött. Das wäre ein Fleck auf seinem Ansehen, den er nie wieder loswürde und der ihm weitere Besuche in diesem gesegneten Landstrich unmöglich machen würde. Nur ein perfekter Schlag brächte ihm Applaus ein.

Der Wulst erschien ihm auf einmal unzerstörbar breit und sein Säbel lächerlich leicht. Er sah die Bewegung des Säbels wie in Zeitlupe.

Adalbert erhöhte die Kraft. Setzte viel mehr ein als sonst.

Der Flaschenhals war auf den Gang gerichtet, der zwischen den langen Tischreihen mit den gestärkten weißen Decken verlief. Am Ende saß, oder besser thronte, der Gastgeber des Abends: Gottfried von Kramp, der all die unglaublichen Bouteillen gesammelt hatte. Ein zutiefst unangenehmer Mensch, fand Adalbert. Jeden der Anwesenden hatte von Kramp betteln lassen, ja flehen, um heute Abend genau hier auf dem Planeten Erde sein zu dürfen. Siebenunddreißig Personen und damit genau die Zahl seines Geburtsjahres. Diese siebenunddreißig würden die Kunde der Probe hinaus in die Welt tragen.

Bietigheim hatte selbstverständlich weder gebettelt noch gefleht.

Er hatte sich stattdessen bitten lassen, denn er wusste, dass niemand so viel über die Champagne wusste wie er. Stammten doch das Standardwerk Die Geschichte des Champagners und der zweiten Gärung mit Inklusion von Cava, Sekt und Crémant. Unter bewusster Auslassung von Prosecco wie auch das augenzwinkernde Essay Champagner – Der Gottesbeweis in Bläschenform von ihm. Bietigheim hatte zudem den Ausspruch »Das edelste aller Getränke für die edelsten aller Geister« geprägt, womit etliche Champagnerhäuser warben – was er sich in Naturalien bezahlen ließ. Er hatte Gottfried von Kramp, von dem zuvor nie jemand gehört hatte, da der Besitzer einer Glashütte im Stillen gesammelt hatte, die Türen geöffnet.

Der Hals der Flasche zielte nun genau auf von Kramps Stirn.

Und es war keine Zeit mehr, sie abzuwenden.

Die Klinge des Säbels traf den Wulst.

Ein entschlossener, kraftvoller Hieb.

Der Schlag glückte.

Der Hals brach ab.

Durch den Druck des austretenden Schaumweines schoss der Kopf der Champagnerflasche weit in den Raum hinein, vorbei an den Tischen der Staunenden, und näherte sich dem Kopf des Gastgebers mit großer Geschwindigkeit. Die 2,5 bar Druck hatten beim Start für stolze 40 km/h gesorgt. Er wurde zwar peu à peu langsamer, doch von Kramp nutzte die wenige Zeit nicht, um sich in Deckung zu bringen.

Die Blicke der Anwesenden folgten fasziniert dem pilzförmigen Geschoss.

Der Professor dachte darüber nach, einen warnenden Ruf auszustoßen, doch das hätte seinen Schlag sämtlicher Imposanz beraubt – und ihn vor allem als nicht geplant dargestellt. Deshalb ließ er selbst in diesem Moment Contenance walten. Da er genau am Beginn der Flugbahn stand, konnte er erkennen, dass der Flaschenhals – und damit Korken, das Muselet genannte Drahtgeflecht sowie Glas – von Kramp genau auf der Stirn treffen würde. Mittig zwischen die Augen.

Es würde tatsächlich eine legendäre Probe werden.

Der Flaschenhals erreichte den Tisch des Gastgebers.

Benno von Saber erreichte den Tisch des Gastgebers.

Benno von Sabers Pfoten katapultierten den Foxterrier in die Höhe.

Der Flaschenhals war nur noch wenige Zentimeter von der Stirn des Gastgebers entfernt.

Benno von Sabers Maul umschloss den Flaschenhals.

Der Foxterrier landete samt Geschoss auf dem gekachelten Boden.

Die Kapelle explodierte vor Applaus.

Der Professor wies auf seinen Hund und Retter. »Darf ich vorstellen: Benno von Saber!«

Stolz brachte Benno den Fang zurück. Doch als Bietigheim versuchte, ihm diesen aus dem Maul zu ziehen, ließ er nicht los. Da der Professor immer einige Leckerlis bei sich trug, konnte er jedoch einen Gefangenenaustausch arrangieren.

Stolz hob er den abgeschlagenen Flaschenhals empor. »In Frankreich ist es üblich, den abgeschlagenen Kopf und Korken mit dem Datum der Zeremonie zu beschriften und als Glücksbringer aufzubewahren.« Er holte den dafür vorgesehenen Füllfederhalter hervor. »Dieser ist für Gottfried von Kramp, der einen Ort für unsere Probe ausgewählt hat, der angemessener nicht sein könnte. Denn wir huldigen dem vielleicht göttlichsten aller Getränke: dem Champagner!« Er tat so, als wolle er den Korken zu von Kramp werfen, hielt dann jedoch schmunzelnd inne. »Ich fürchte, mein Hund würde ihn vor Ihnen haben!« Dafür erntete er ein Lachen im Kirchenschiff. Er goss den noch verbliebenen Salon-Champagner in die Gläser, die auf einem Silbertablett bereitstanden, und übergab es einem weiß behandschuhten Kellner, der sie an den Tisch des Gastgebers brachte. Weitere Kellner traten in die Kapelle mit Tabletts und gefüllten Gläsern, die sie an den Tischen servierten.

»Sehr verehrte Connaisseurs«, hob der Professor wieder an. »Wir haben uns hier versammelt, um gemeinsam Sterne zu trinken – wie der große Dom Pérignon den Genuss von Champagner einst so treffend beschrieb. Es sind die leuchtendsten Sterne, die in unserem Universum existieren. Wir feiern die heilige Dreieinigkeit der Champagne: Pinot Noir, Chardonnay und Meunier. Ja, Sie haben richtig vernommen, ich sage Meunier und nicht Pinot Meunier, denn neueste Untersuchungen zeigen, dass die in Deutschland auch als Müllerrebe bekannte Sorte nicht zur Burgunderfamilie gehört.«

Das Publikum am Anfang mit überraschendem Wissen zu beeindrucken, hatte sich bereits oftmals im Leben Bietigheims als geschickter Kniff erwiesen – der potenzielle Besserwisser verstummen ließ. Und potenzielle Besserwisser waren bei Weinproben stets zuhauf anwesend. »Zugelassen für Champagner sind ebenfalls Arbane, Petit Meslier, Pinot Gris Vrai und Pinot Blanc. Man findet sie kaum noch – dank Gottfried von Kramp werden wir aber auch ihnen heute Abend hier huldigen können. À votre santé!«

Der Professor hob das hauchdünne Glas an die Lippen. Der Stiel war lang, die Form schmal wie eine Flöte, und innen stiegen unaufhörlich feinste Perlen empor. Er ließ das kühle Elixier fließen. Die kleinen Bläschen zerplatzten wie Supernovae am Gaumen, und er schloss unwillkürlich die Augen, um auch ja keine zu verpassen. Was da in seinem Mund passierte, schien nicht von dieser Welt zu sein.

Als er die Augen wieder öffnete, waren die aller Anwesenden auf ihn gerichtet.

Er räusperte sich. Schließlich war Selbstvergessenheit so unakademisch.

»Den Moment auskosten, das lehrt uns der Champagner!«, versuchte er, die Situation zu retten. »Obwohl wir begierig auf die kommenden Genüsse sind, sollten wir uns die Zeit zum Genuss nehmen. Zeit ist das Stichwort, und Zeit ist das Thema heute. Wir reisen zurück in die Zeit und beginnen mit einem Jahrgang, den viele für den besten der letzten zwanzig, vielleicht sogar der letzten vierzig Jahre halten. Den 1996er! Aus diesem Jahr wird es nun einen raren Dom Pérignon Oenothèque geben.« Der Professor stockte, denn die folgenden Worte fielen ihm schwer. »Sehr gerne würde ich selbst Ihnen etwas über diesen Champagner vortragen, da ich mich intensiv mit seiner Geschichte auseinandergesetzt habe, doch unser Gastgeber bestand eindringlich darauf, diesen Wein selbst anzukündigen. Mein Anstand gebietet es deshalb, zurückzutreten und mein umfassendes Wissen zu diesem Thema für mich zu behalten.«

Von Kramp trat mit raumgreifenden Schritten auf die Bühne. Dies sollte, wie der Professor wusste, die Krönung seiner Laufbahn als Champagnersammler sein. Er hatte beschlossen, seine Schätze zu einem Zeitpunkt zu öffnen, da er noch im Vollbesitz seiner Kräfte war. Diese führten ihn nun an das Rednerpult.

Er griff sich das Mikrofon so fest, als wollte es fliehen.

»Nach dem Theoretiker spricht nun der Praktiker! Der Professor mag viel gelesen haben, doch ich habe mehr getrunken!«

Von Kramp erntete einige höfliche Lacher, Bietigheim hielt an sich und spürte, wie seine Hände sich zu Fäusten ballten.

»Am 27. September 1694 schrieb Dom Pérignon, seine Mission sei es, den besten Wein der Welt zu erzeugen. Und man kann sagen …«

»Es war der 29. September.«

Von Kramp hielt inne und blickte in das Kirchenschiff, suchte den Störenfried. Als er ihn nicht ausmachen konnte, grunzte er mürrisch und begann von vorn. »Am 27. September 1694 …«

»Es war der 29. September. Wie ich schon sagte.«

Von Kramp blickte den Professor an, doch dieser bedeutete ihm, dass seine Lippen wie mit einem Reißverschluss zugezogen seien. Mit einem Kopfschütteln fuhr von Kramp deshalb fort: »Man kann sagen, es ist ihm und seinen Nachfolgern geglückt.« Er schaute zum Professor. »Das können Sie einem Mann wie mir glauben, der wohl mehr Perry-Jahrgänge getrunken hat als jeder andere hier.« Der Professor bedauerte nun, dass der Champagnerkorken sein Ziel eben nicht erreicht hatte. Es hätte ihm einiges erspart. Er war nicht bereit, milde zu lächeln, nur einen abfälligen Blick hatte er für von Kramp übrig.

»Heute ist Dom Pérignon in großen Jahren fraglos einer der besten Weine der Welt. Kein Wunder, dass James Bond im Film Goldfinger sagte: ›Man trinkt nie einen 53er Dom Pérignon, wenn er eine Temperatur über neun Grad hat. Das wäre genau so, als hörte man den Beatles ohne Ohrenschützer zu!‹«

»Über acht Grad«, war die störende Stimme wieder zu hören. Sie klang sonor und ungemein selbstsicher. Die Gäste im Kirchenschiff sahen sich um. Wie Metallspäne nach einem Magneten richteten sich die Köpfe zu einem massigen Mann, der ganz an der Seite saß, am schlechtesten Platz, direkt hinter der Theke. Er war dem Professor schon beim Eintreten aufgefallen, denn im Gegensatz zu den anderen trug er keinen Anzug. Stattdessen sah er aus wie ein Clochard. Angefangen bei den abgewetzten Sandalen, in denen nackte Füße steckten, über die dunkle Jogginghose, das ausgeleierte T-Shirt unter der unmodischen Strickjacke bis zum fusseligen Bart und den langen strähnigen Haaren hätte man sich keinen Menschen vorstellen können, der weniger hierher passte. Und doch musste er eine exorbitant teure Karte erworben haben.

»Nun tun Sie doch etwas!«, wandte sich von Kramp an den Professor. »Der Mann soll mich nicht stören.«

»Wenn Sie recht hätten, mein lieber von Kramp, würde ich Ihnen zustimmen!«

»Was soll das?«

»Wir alle sollten dem Herrn dort dankbar sein, dass er Sie so freundlich korrigiert hat.«

Von Kramp wandte sich an den Professor und senkte die Stimme. »Er hat gestört!«

»Im Dienste der Wahrheit!«

»Stimmen Sie mir also nicht zu?« Von Kramps buschige Augenbrauen zogen sich zusammen wie fette Raupen.

»O doch, wenn Sie meiner Meinung sind, stimme ich Ihnen gerne zu.«

Von Kramp nickte, die Antwort des Professors völlig missverstehend, und blickte dann strafend zu dem Unbekannten. »Entweder Sie lassen mich nun meinen Vortrag halten oder ich entferne Sie aus der Kirche! Ob Sie gezahlt haben oder nicht!« Ihm standen dicke Schweißperlen auf der Stirn. Als keine Widerworte erklangen, fuhr er fort: »Der erste Dom Pérignon kam 1936 auf den Markt – es war der Jahrgang 1921.« Nervös blickte er in Richtung des schlecht gekleideten Gastes, doch dieser schwieg.

»Dom Pérignon ist der einzige Champagner, der Trauben von allen siebzehn Grands Crus der Champagne vereint – wie auch vom legendären Hautvillers Premier Cru.« Wieder hielt von Kramp inne. Keine Widerworte. Er nickte zufrieden und wollte fortfahren, als der merkwürdige Gast erneut sprach.

»Das Haus Moët & Chandon hat Besitz in allen Grand-Cru-Lagen, verwendet aber nur die Trauben von acht Grands Crus für den Dom Pérignon – vier mit Chardonnay und vier mit Pinot Noir bestockte. Und falls Sie das gleich auch noch falsch sagen: Pinot Meunier ist nie enthalten. Pardon, Professor, Meunier, danke für Ihren Hinweis!«

Bietigheim schloss den Unbekannten jetzt richtig ins Herz.

Von Kramp anscheinend weniger. »Raus!«, rief er und deutete mit dem Finger auf das Hauptportal der Kapelle.

Der Professor trat vor. »Sollen wir wirklich diesen klugen Mann entfernen lassen, der gerade eine beachtliche Anzahl falscher Informationen dankenswerterweise korrigiert hat? Sollen wir ihn nicht lieber bitten, seine Korrekturen aufzuschreiben, sodass ich sie überprüfen und am Ende Ihres Vortrages dann als Paket vortragen kann?«

»Mein Vortrag ist fertig«, erwiderte von Kramp knapp. »Zum Wohl!« Damit stürmte er aus dem Altarraum.

Bietigheim referierte noch einige Fakten zu Dom Pérignon, zu denen es, wie von ihm erwartet, keine Zwischenrufe gab, und öffnete dann die erste Flasche. Wie es sich gehörte, mit einem möglichst leisen Plopp, der den Champagner nicht irritierte. So als würde man ihn ganz sanft aus dem Schlaf wecken.

Adalbert erschnupperte und erschmeckte frisch gepflückten weißen Pfirsich, von Meisterhand kandierte Limonen, Pralinen mit weißer Schokolade und eine kecke Prise weißer Pfeffer. Er nahm einen großen Schluck, denn Champagner musste stets in solchen genossen werden.

Es wurden noch viele wundervolle Champagner an diesem denkwürdigen Abend verkostet. Und doch bescherte ihm keiner davon ein solches Glücksgefühl wie der 96er Dom Pérignon.

Oder besser: von Kramps Versagen, sich essenzielle Fakten zu merken, die jeder Drittklässler kennen musste.

Am Abend war der Professor noch traurig gewesen, dass er so viele grandiose Schlucke Champagner hatte ausspucken müssen, da er als Einziger einen klaren Kopf zu behalten hatte. Doch als er nun am Sonntagmorgen in die Kapelle am Schafsberg trat, wo das gemeinsame Champagnerfrühstück angesetzt war, erhellte sich seine Miene. Die Schwerkraft wirkte so mächtig auf die Köpfe der Anwesenden, dass sie es nur mühsam schafften, nicht auf die reich gefüllten Tischplatten zu knallen. Von Kramp war nicht anwesend. Ebenso wenig der gut betuchte Clochard. Vermutlich begannen sie den Tag mit einer ordentlichen Prügelei.

Den bereitstehenden Champagner rührte niemand an.

Das heißt, Adalbert goss sich nun genüsslich ein großes Glas vor den Augen aller ein. »Zum Wohl, sehr verehrte Damen und Herren!«

Das exklusive Büfett bot keine übermäßig würzigen, scharfen oder geschmacksintensiven Gerichte, auch keine trockenen, knusprigen oder besonders süßen und bitteren Speisen, zu all diesen passte edler Jahrgangschampagner nicht. Es gab auch nichts, das stark nach Zitrone, Essig oder Oliven schmeckte, nichts Eingelegtes, keinen Knoblauch oder rohes Gemüse. Der Professor hatte dafür gesorgt. Und natürlich gab es keine Minze. Diesen Beweis, dass Gott den Menschen die Kreuzigung seines Sohnes nicht vergeben hatte. Bietigheim verachtete Minze zutiefst, konnte den Duft und erst recht den Geschmack nicht ertragen. Er wollte einfach nichts essen, das wie Zahnpasta schmeckte.

Stattdessen gab es Kaviar, Austern, Hummer, Krebse, Langusten, Jakobsmuscheln und Foie gras. Sie hatten allerdings vergessen, die Trüffel aufzutragen. Verdammt noch eins, dabei gingen diese doch so famos mit dem Blanc de Noirs des kleinen Champagnerhauses aus Bouzy zusammen, den er gerade im Glas hatte. Also würde er sie eben selbst aus der Küche holen. Was man nicht selber machte!

»Sie dürfen da nicht rein«, waren die Worte des Kellners, der den Professor am Besuch der Küche hindern wollte.

»Hätten Sie für Trüffel gesorgt, müsste ich dort auch gar nicht hinein. Ihnen ist doch hoffentlich klar, dass es in Frankreich mit Freiheitsstrafe geahndet wird, diesen Champagner ohne Trüffel zu servieren!«

Es sollte ein geistreicher Scherz sein, doch der junge Mann huschte verängstigt davon, als sei ihm der französische Auslandsgeheimdienst bereits auf der Spur.

Der Professor trat mit Benno im Schlepptau in die kleine Küche, in der drei Köche in dichtem Dampf ihrer Arbeit nachgingen. »Weitermachen«, entgegnete der Professor, als sie hochblickten.

Die Küche war bis zum Rand gefüllt mit Düften und Aromen, viele davon heiß und intensiv. Auch Trüffel waren darunter wie ein dunkles Feuer, das immer noch in der Erde zu brennen schien. Die Edelpilze fand der Professor in einer kleinen Plastikdose, wo sie mit Küchenkrepp ummantelt lagen. Ihr Duft hatte es hindurch geschafft. Sicher nicht für jeden zu erschnuppern, doch Adalberts Nase war ein fein austariertes Präzisionswerkzeug zur Identifizierung und Auffindung von kulinarischen Genüssen. Einmal pro Woche, falls irgend möglich Freitagnachmittag um 16:15 Uhr, musste seine wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität der Hansestadt Hamburg, Rena Balingen, ihm die Augen mit einem Seidenband verbinden, selbstverständlich sachte, und zur Übung zehn Dinge, die sie zuvor wahllos eingekauft hatte, vor seine Nase halten.

Den Klostein nahm er ihr bis heute übel.

Das Riechorgan des Professors schlug nun an. Irgendetwas stimmte nicht. Er konzentrierte sich auf sein Riechorgan. Wäre es ein disharmonischer Klang gewesen, ein störendes Geräusch, so hätte er alle bitten können, für einen Moment ruhig zu sein, und es in der entstehenden Stille ausmachen können. Doch Duftaromen konnte niemand befehlen aufzuhören. Und in dieser Küche duftete etwas, das hier nicht hergehörte.

Eine junge Kellnerin trat durch die Pendeltür ein und – als sie den Professor mit weit geblähten Nüstern in der Küche sah, wie er sich langsam um die eigene Achse drehte_– sofort wieder heraus.

»Alles gut?«, fragte der Chefkoch.

»Nein«, antwortete der Professor. »Ein, wie soll ich sagen, trauriger Geruch.«

»Ein trauri … was?«

»Wie umgekippte Milch. Schlecht gewordenes Fleisch. Fauliges Obst. Ein Geruch, der anzeigt, dass etwas nicht mehr gut ist. Was ich äußerst traurig finde.«

Der Chefkoch trat näher und baute sich vor Bietigheim auf. Von Nahem war er bedeutend größer. Und mieser gelaunt. »In meiner Küche ist kein trauriger Geruch!«

»Doch.«

»Der einzige traurige Geruch hier sind Sie!«

»Ich habe frisch geduscht. Unter Zuhilfenahme unparfümierter Kernseife. Alle Körperteile. Und zwar in der richtigen Reihenfolge.«

»Der richtigen Reihenfolge? Wie geht die denn bitte?«

Der Professor wies auf eine kleine Tür. »Wo geht es dort hin?«

»In den Weinkeller.«

»Die ehemalige Krypta nehme ich an? Dürfte ich dort wohl hinein?«

»Mir ist egal, wohin Sie gehen, solange Sie traurige Gestalt aus meiner Küche verschwinden. Und nehmen Sie Ihr Geschwafel über traurige Düfte gleich mit.«

»Es ist kein Geschwafel. Ihre Gerichte duften im Übrigen alle deliziös, und Ihre Küche ist in einem geradezu exquisiten Zustand.«

Dem Koch stand der Mund offen.

»Sie sollten Ihren Mund wieder schließen und weiterkochen. In der gusseisernen Pfanne brennt gerade das Rührei an.«

Und damit ging er in Richtung Weinkeller.

Der Geruch wurde stärker.

»Benno, bei Fuß!«

Der Foxterrier rannte voraus, die steinernen Treppenstufen hinunter. Folgsames Benehmen war Glückssache. Doch der Professor versuchte es immer wieder und redete sich ein, die Zufallstreffer wären Erziehungserfolge.

Plötzlich bellte Benno.

Das tat er nur, wenn er fressen oder vor die Tür gehen wollte, ein Vogel dreisterweise auf seinem Balkon einen Zwischenstopp einlegte – oder etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

Der Professor legte den Lichtschalter um, flackernd erwachten die Neonröhren zum Leben. Die dunklen Mauersteine waren mit schwarzen Pilzflechten überwuchert, auch die Lampen schienen den Kampf gegen diese Kellerbewohner zu verlieren. Je tiefer er in den schlecht beleuchteten Keller stieg, desto stärker wurde der Geruch. Unten angekommen, stellte sich das Kreuzgewölbe als ausgesprochen niedrig heraus, die Nischen, in denen sich ehemals Steinsärge befunden haben mussten, waren nun mit Regalen zugebaut, das Holz morsch. Im vorderen Teil lagerten keine Weine, sondern Konserven, die es nicht störte, dass ihre Etiketten von der moderigen Feuchtigkeit zersetzt wurden.

Der Professor konnte den Geruch nun identifizieren. Es war ein einfacher Champagner, das Standard-Cuvée von Moët & Chandon. Bietigheim hatte gedroht, den Vortrag nicht zu halten, wenn es während seines Aufenthalts ausgeschenkt würde. Der Geruch dieses Gesöffs war deshalb noch trauriger als sonst, da es oxidiert schien. Die Fruchtaromen wie ausgetrocknet, deren Frische nun Vergangenheit, ersetzt durch fahles, fades Alter.

Der Professor richtete sich nach Bennos Bellen, bog um eine Ecke und stand plötzlich in einer Lache. Im schummrigen Licht des Kellers sah die Flüssigkeit schwarz wie Tinte aus, doch es handelte sich um das Blut der Champagne.

In das sich weiteres Blut gemischt hatte.

Das Blut eines Menschen.

Den Benno nun unentwegt anbellte.

Weil er hoffte, von ihm gestreichelt zu werden.

Am Ende des kleinen Ganges, der links und rechts Weinregale aufwies, in denen rare Tropfen der Lahn lagerten, stand ein mannshohes, hölzernes Rüttelpult, wie es verwendet wurde, um bei Schaumweinen die Remuage durchzuführen, also die Hefe nach der zweiten Gärung in den Flaschenhals zu befördern. Dafür wurden die kopfüber gelagerten Bouteillen acht bis zehn Tage lang immer wieder gedreht, zuerst um ein Zehntel, bis eine volle Umdrehung erreicht war, dann um ein Sechstel, schließlich um ein Viertel. Und nach einer vollen Runde stets ein wenig steiler aufgestellt. Einhundertzwanzig Flaschen hatten in diesem Pult Platz. Doch keine einzige befand sich darin, alle waren auf den Boden geworfen worden. Das Restaurant schien es als dekorative Lagermöglichkeit für Champagner genutzt zu haben. Dekorativ war es im Moment überhaupt nicht.

Denn statt der Flaschen befand sich ein Mann auf dem Rüttelpult.

Wie bei einer mittelalterlichen Folterszene war er auf das Pult gespannt worden, die Arme mussten auf der Rückseite festgebunden sein. Eigentlich sah alles an ihm normal aus. Er trug sogar einen Anzug, der perfekt saß. Das heißt: bis auf die Krawatte.

Was daran lag, dass eine Krawatte einen Hals braucht, um Halt zu finden.

Doch einen Hals im eigentlichen Sinne gab es nicht mehr.

Der Kopf des Mannes hing nach hinten, nur noch an einem blutigen Zipfel am Rumpf befestigt. Der ganze Rest musste mit einem großen Messer zerhackt worden sein.

Die Tatwaffe lag daneben.

Es war ein Champagnersäbel, die Klinge blutig, Stücke von Haut und Knochensplittern daran.

Der Professor überwand seinen Ekel, beugte sich vor und schloss dem Toten sanft die Augen.

Denn das tat man für einen guten Freund.

Besonders für einen wie Ghislain de Montgolfier.

»Er erwartet Sie schon, Herr Professor.« Von Kramps Frau Petra schien die Leidenschaft des britischen Königshauses für Pastellfarben zu teilen und auch deren Faible für kleine Hunde. Fünf Langhaardackel standen um sie, als die Tür geöffnet wurde. Sie scharten sich sogleich um Benno, wobei fünf feuchte Hundenasen versuchten, dessen Hinterteil zu erschnüffeln. »Die tun nix, die wollen nur spielen.«

Benno war es sichtlich unangenehm, dass sie dies alle auf einmal tun wollten.

»Wo finde ich Ihren Mann denn?« Adalbert wollte diesen Termin schnell hinter sich bringen. Er würde nicht zulassen, dass der Mord an seinem Freund ungesühnt bliebe. Und wenn er dafür ein Freisemester nehmen musste!

»Er badet.«

»Dann warte ich so lange.«

»Nein, Sie können hoch zu ihm. Er wird ohnehin lange in der Wanne bleiben. Das macht er immer, wenn ihn etwas beschäftigt. Und dieser Mord …«

»… verlangt nach einem mehrtägigen Bad.«

»Er hat bereits fünfmal warmes Wasser nachlaufen lassen.«

»Ich möchte Ihren Herrn Gatten ungern unbekleidet sehen.«

»Es ist ein Schaumbad.«

Bevor der Professor etwas erwidern konnte, drehte sie sich um und stieg die Treppe empor, gefolgt von den fünf Dackeln, die ihr wie Enten der Mutter hinterherwatschelten.

Er musste ihr wohl ebenfalls folgen – vor allem, da er wirklich nicht Zeit hatte zu warten, bis Gottfried von Kramp so schrumpelig aufgequollen war, dass kein Wasser mehr zu ihm in die Wanne passte.

Das Badezimmer war nicht zu übersehen, genau wie alles andere auf der Etage. Von Kramp schien Glas nicht nur zu produzieren, sondern auch zu viel davon zu besitzen. Sämtliche Türen bestanden aus Glas. Und nur eine davon war beschlagen.

Der Professor klopfte an.

»Ist offen.«

Er trat ein – und hätte sich beinahe übergeben. Von Kramp verwendete ein Minz-Intensivbad. Selbst der Dampf war grün.

»Setzen Sie sich, hier in den Korbsessel.«

Bietigheim hustete. Und wäre Benno nicht hineingestürmt, hätte er wohl kehrtgemacht. »Ich habe leider nicht viel Zeit.«

»Nun kommen Sie schon näher.«

Der Professor trat langsam zu ihm.

Auch hier im Badezimmer bestand alles aus Glas. Die Schränke, das Waschbecken, der Stuhl.

Und leider auch die Wanne.

Bietigheim wusste nicht, ob er besser stehen oder sitzen wollte. Jeder Blickwinkel war problematisch.

»Setzen Sie sich endlich!«

Benno hatte Aufstellung vor der Wanne genommen und beobachtete fasziniert, was sich da im Wasser bewegte.

Bietigheim nahm widerwillig Platz. »Die Polizei wird sich um alles kümmern. Und zu gegebener Zeit Pressemitteilungen herausgeben.«

»Aber ich will alles von Ihnen hören, Professor. Sie haben den Mann schließlich gefunden. Stimmen die Details denn? War es ein Mord im Affekt?«

»Wenn das ein Mord im Affekt war, dann liegt die Hansestadt Hamburg am Indischen Ozean. Zum einen waren Ghislain de Montgolfiers Hände und Füße mit Kabelbinder fixiert, der in einem Weinkeller nicht einfach so herumliegt, zum anderen war der Säbel präpariert – oder überhaupt erst zu einem wirklichen Säbel gemacht worden.«

»Wie meinen Sie das?« Von Kramp richtete sich auf.

Der Professor rückte den Stuhl zurück.

Benno bellte die Wanne an. Er hoffte wohl, man werfe ihm etwas daraus zu. Zum Beispiel das wurstähnliche Ding. Sah aus wie eine Nürnberger.

»Normalerweise sind diese Champagnersäbel stumpf, da der Flaschenhals nicht abgeschnitten, sondern abgeschlagen wird. Doch die Klinge dieses Säbels ist mit einem Wetzstein bearbeitet worden – und einen solchen trägt man nicht bei sich. Und dann ist da noch dieses andere unappetitliche Detail.«

»Welches denn?«

»Jenes, das erklärt, warum niemand Ghislain schreien hörte.«

»Hat man ihm etwa die Zunge herausgeschnitten?«

Bietigheim schüttelte entschieden den Kopf. »Befinden wir uns im Mittelalter? Wohl selbst an der Lahn nicht. Ghislains Mund war bis zum Bersten gefüllt. Und zwar mit Korken seines Champagnerhauses. Es ist ein Wunder, dass er nicht daran erstickt ist, bevor er geköpft wurde. Oder genauer: größtenteils geköpft.«

»Weiß die Polizei denn schon, wann Ghislain de Montgolfier ermordet wurde?«

»Ungefähr eine Stunde nachdem die Probe zu Ende war. Die Schnittwunden an Armen und Beinen durch die eng zugezogenen Kabelbinder müssen ihm aber bereits kurz danach zugefügt worden sein.«

»Das heißt …«

»Dass er bis zu seinem Tod vermutlich gefoltert wurde. Die Frage ist, warum ihn der oder die Täter nicht gleich getötet haben. Vielleicht sollte Ghislain etwas verraten, was er nicht preisgeben wollte? Und nach einer guten Stunde tat er es dann doch – oder der Fragensteller verlor die Geduld. Sie müssen Wasser in die Wanne nachlassen, der Schaum schwindet. Es ist nicht gut, wenn der Schaum schwindet. Gar nicht gut.«

»Ja, natürlich.«

»Geben Sie auch Schaumbad nach.«

Von Kramp griff danach, Benno bellte. »Warum ist Ihr Hund so aufgeregt?«

»Ich bevorzuge es, nicht darüber nachzudenken. Stattdessen werde ich jetzt ein wenig die Augen schließen, um besser denken zu können.«

Bietigheim hörte es plätschern, während von Kramp tat, wie geheißen. Um sich abzulenken, dachte der Professor laut.

»Es gibt viele offene Fragen. Mit wem hat Ghislain zuletzt geredet? Hat ihn jemand gesehen, als er in den Keller ging? Wurde er dorthin gezwungen, oder hatte er dort eine Verabredung? War jemand zum Zeitpunkt der Tat in der Kapelle? Hat jemand den oder die Täter gesehen? Findet sich dieser vielleicht unter den Gästen der Probe?«

»Nein!« Von Kramp schlug so entschlossen ins Wasser, dass Minz-Schaumspritzer den Professor trafen, der sie sofort mit seinem Seidentaschentuch entfernte.

»Leider doch, es könnte einer Ihrer Gäste gewesen sein, auch wenn Sie sich anderes wünschen. Aber das Leben ist kein Wunschkonzert.«

»Meines schon. Und Sie werden dafür sorgen!«

Bietigheim öffnete die Augen wieder, damit von Kramp den Ärger darin sah. »Ich bin akademisch wie privat strengstens der Wahrheit verpflichtet.«

»Ich biete Ihnen Geld! Finden Sie den Mörder, und zwar einen, der nicht Teil der Probe war. Das würde den Ruf dieser historischen Verkostung völlig ruinieren.«

Bietigheim stand auf.

»Setzen Sie sich sofort wieder hin. Ich verlange es!«

Bietigheim ging Richtung Tür. »Mit Verlaub, Sie sind wirklich die Stradivari unter den Arschgeigen.«

»Was haben Sie gesagt? Ich hatte gerade Schaum in den Ohren.«

»Sie sind wirklich die Stradivari … ach nein, ich erinnere mich lieber wieder an meine außerordentlich gute Kinderstube. Benno, wir gehen!«

Doch Benno wollte noch nicht gehen.

»Herr Professor, Sie müssen die Sache aufklären. Sie können so was doch. Auch mein guter Ruf steht auf dem Spiel! Sie können alles von mir verlangen. Gehen Sie raus in meinen Luftschutzbunker und nehmen Sie sich jede Flasche meiner Sammlung, die Sie wollen.«

»Ihr … Luftschutzbunker?«

Eine Sekunde später wünschte der Professor, er hätte nicht gefragt, denn von Kramp stand auf. Die Haftfestigkeit des Schaums auf seinem Körper ließ dabei sehr zu wünschen übrig.

»Dahinten, Sie können es jetzt schlecht sehen. Ich muss mich ja selbst vorbeugen.«

Bietigheim drehte sich um. Minze in Kombination mit nacktem Weinsammler war sensorisch einfach zu viel.

»Ich weiß, was ich mir von Ihnen wünsche. Und es ist viel wertvoller als jeder Wein. Habe ich Ihr Wort?«

»Alles, mein lieber Professor, wirklich alles!«

Der Professor nickte zufrieden. Wenn alles gut ging, würde er bald wieder einen Abend in der kleinen Kapelle erleben. Und zwar einen, der noch mehr in die Geschichte eingehen würde! »Ich nehme Sie beim Wort. Und Sie geben mir zu Beginn Namen und Adresse des Mannes, der aussieht wie ein Clochard.«

»Er hat sich über einen Freund, dem ich vertraute, eine Karte besorgt. Ich kenne den Mann überhaupt nicht. Verdächtigen Sie ihn etwa?«

»Nein, ich will mich bei ihm nur bedanken, dass er den Abend so interessant gestaltet hat.«

Bevor der Schaum weiter zusammenfallen konnte, verließ der Professor lächelnd den Glaspalast.

Es war einen Tag später, als der Regen angemessen langsam und stilvoll auf die Dächer von Cambridge prasselte. Auch auf das Dach von Aunties Tea House in der St. Mary’s Passage, wo Pit Kossitzke gerade eine Kanne First Flush Darjeeling aufgoss. Pit Kossitzke war ein Mann, den man nicht in einem solch distinguierten Haus erwartete, sondern eher lallend in der Gasse dahinter. Seit er denken konnte, war Pit überzeugter Rocker, liebte schwarzes Leder, je mehr Nieten, desto besser, und seine weiße Haarpracht hatte er konzentriert – auf das Kinn. Eigentlich war er Taxi-Unternehmer in Hamburg mit zwielichtiger Vergangenheit, doch hier in England nur Aunties Lebensgefährte. Eigentlich hieß sie Diana, war die Liebe seines Lebens, rundherum wundervoll und seit Kurzem Mutter seines Sohnes.

Als bärtiger Riese passte Pit so gut in ein Teehaus wie ein Orang-Utan in einen Stall mit puscheligen Häschen.

Und diesen Häschen musste er jetzt Tee servieren.

Es war nicht sein Tagesjob, er half nur aus, und doch verfluchte er jeden einzelnen Tropfen in der Teekanne aus tiefstem Herzen.

Pit setzte ein Lächeln auf.

Es schien den älteren Damen an Tisch sieben etwas Angst zu machen.

»Hier kommt Ihr Tee, meine Hochverehrtesten«, sagte er zu diesen und stellte das silberne Tablett vor ihnen, dem »Cambridge Knitting Wifes Club von 1728«, ab.

»Ist es auch Darjeeling?«, fragte die Vorsitzende, Mrs Gwyneth Molesworth, mit strengem Blick.

»Jedes Blatt«, antwortete Pit. »Ich habe sie alle einzeln nach ihrer Herkunft befragt.«

»Und schön heiß ist er auch?«

»Brühend.«

»Nicht zu lange gezogen? Wir mögen es nämlich nicht, wenn er zu lange gezogen ist.«

»Wenn gleich der Wecker auf dem Tablett klingelt, ist er perfekt gezogen. Verzogen sind hier nur manche Gäste.« Pit grinste. »Anwesende selbstverständlich ausgenommen.«

Mrs Molesworth musterte ihn kritisch, denn sie liebte es, etwas zu finden, das sie kritisieren konnte. Erst dann war Mrs Molesworth zufrieden. Ihre Miene erhellte sich plötzlich. Auf eine bedrohliche Art.

»Ich habe gerade ein merkwürdiges Geräusch gehört.«

»Dies ist ein wundervolles altes Haus mit einer historischen Heizung. Das macht den Charme aus.«

»Ich habe das Geräusch aber aus Ihnen gehört.«

Pit nickte und strich über sein Wams. »Ich spüre die Macht in mir – es kann aber auch mein Magen sein.«

»Dann essen Sie etwas, das ist schon sehr störend.«

»Vielen Dank für den netten Vorschlag, Sie alte Schachtel.«

»Was haben Sie gerade gesagt?« Mrs Gwyneth Molesworths Haut, die sonst nur noble Blässe aufwies, sah nun aus, als hätte jemand Tomatenketchup darübergeschüttet.

»Ich sagte vielen Dank für den netten Vorschlag, ich schaue in die alte Schachtel. Da sind nämlich die Cookies drin.« Der kleine Wecker auf dem Tablett klingelte. »Ihr Tee ist jetzt perfekt.« Er drehte sich um. »Und das Gift müsste sich mittlerweile vollständig aufgelöst haben.«

Es war nur ein Scherz, ein privater noch dazu, doch er tat gut.

Noch auf dem Weg zurück in die Küche hörte er das Glöckchen über der Eingangstür, das einen neuen Gast ankündigte. Dieser sagte etwas, das wie ein Zitat aus einem Film klang. Aus einem in Schwarz-Weiß.

»Telegramm für Pit Kossitzke!«

Er drehte sich um.

Da stand tatsächlich jemand von der Royal Mail und lächelte ihn glücklich an. »Das wollte ich immer schon mal sagen. Seit ich bei der Post angefangen habe.«

Pit trat zu ihm. »Ich bin Pit Kossitzke.«

»Dann ist das für Sie. Es kommt von …«

»… Professor Adalbert Bietigheim. Ich kann’s mir denken.«

»Woher?«

»Weil niemand sonst im 21. Jahrhundert ein Telegramm schicken würde.« Pit nahm es an sich.

»Dieser Professor muss ein ganz besonderer Mensch sein.«

»Wenn Sie wüssten, wie besonders!« Statt eines Trinkgelds drückte Pit dem Mann eine Packung Teebeutel in die Hand und wollte schon Richtung Küche verschwinden, als der Royal-Mail-Mann noch etwas sagte.

»Es sind insgesamt zwei Telegramme. Sie müssen den Erhalt von beiden quittieren. Soll ich auf eine Antwort von Ihnen warten? Das wollte ich übrigens auch immer schon mal sagen.«

Die Damen des »Cambridge Knitting Wifes Club von 1728« schauten bereits kritisch und fühlten sich in ihrer Teestunde gestört. Mrs Gwyneth Molesworth hatte schon den Mund geöffnet, um sich im Namen aller Anwesenden bitterlich zu beschweren.

Pit sprach deshalb lauter.

»Nein, das ist nicht nötig. Gehen Sie bitte schnell wieder. Sonst beschwert sich die liebenswerte Mrs Gwyneth Molesworth.« Er lächelte sie zufrieden an, quittierte den Erhalt der Telegramme und zog sich schnell in die Küche zurück, um die beiden Nachrichten in Ruhe zu lesen. Die Zeit, um ein Messer zum Öffnen zu suchen, nahm er sich nicht, es ging schließlich auch mit dem Finger.

 

Mordfall STOPP Limburg STOPP Unterstützung nötig STOPP So bald als möglich STOPP Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Adalbert Bietigheim STOPP Lehrstuhl für Kulinaristik STOPP Universität der Hansestadt Hamburg.

Pit lachte laut. Das war so typisch für den Professore! Den eigentlichen Inhalt hatte er komprimiert auf sieben Worte, aber seinen Namen mit allem Zumm und Zamm geschrieben.

Das zweite Telegramm war deutlich kürzer.

 

PS: Benno vermisst Sie STOPP

Er las die Worte nochmals und spürte, wie sich in seinem Körper Rührung breitmachte. Nie würde der alte Griesgram zugeben, dass er selbst ihn wiedersehen wollte. Dieses PS war seine Art, es zu sagen. Und Pit mochte sie sehr.

Die Küchentür ging auf, und Diana trat ein. »Finde ich hier den Mann, der Mrs Molesworth als alte Schachtel bezeichnet hat?«

»Äh, ja?«

Sie umarmte ihn stürmisch. »Ich wusste doch, dass du der Richtige bist!«

Die beiden küssten sich, was einige Zeit dauerte. Dann wedelte Pit mit den Telegrammen vor ihren Augen herum. »Der Professore braucht mich. Ganz dringend. Ich muss nach Deutschland.«

»Was? Wieso? Ich brauch dich doch hier.«

»Es gibt einen Mordfall. Er hat geschrieben, dass er ohne mich nicht weiterkommt und ich sofort los soll. Dass er verzweifelt ist. Er fleht mich an.«

»Wohin sollst du denn?«

»An die Lahn, da einigen Leuten auf den Zahn fühlen.«

Diana nahm sich einen der Shrewsbury Biscuits, die sie am Morgen noch gebacken hatte. »An die Lahn? Stammst du nicht von dort?«

»Ja«, antwortete Pit. Und dort war seit Jahren eine Rechnung offen. Das Schicksal hatte ihm wohl einen Wink gegeben, sie bei dieser Gelegenheit zu begleichen.

Diana schob ihm einen der Biscuits in den Mund. »Aber du musst bleiben, das Damenkränzchen aus Middle Fritham kommt doch morgen früh, die haben dich so ins Herz geschlossen. Ich glaube, Mrs Nether Addlethorpe ist sogar ein wenig verknallt in dich.«

»Und da bist du nicht eifersüchtig?«

»Nö.«

»Dass dir eine deinen großen, lieben, sexy Kuschelbären streitig machen könnte?«

»Bei Mrs Nether Addlethorpe wärst du in guten Händen. Bei ihr geht es allen Tieren gut. Ob Hunden, Katzen oder …«

»Bären. Schon klar.«

Sie griff sich die Telegramme und überflog diese, bevor Pit sie ihr entreißen konnte. »Verzweifelt? Soso. Fleht dich also an? Aha. Sofort kommen?« Sie hielt ihre Augen ganz nah an das Telegramm, dann drehte sie es suchend auf die Rückseite.

»Man muss bei dem Professor halt zwischen den Zeilen lesen können«, erklärte Pit.

»Da steht aber ganz schön viel zwischen den Zeilen.«

»Ist ja auch ein Professor. Die können so was.«

Sie hielt das Telegramm noch näher vor ihre Augen. »Ich glaube, du hast da was überlesen.«

»Ich? Überlesen? Kann ich mir kaum vorstellen.«