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Für

Curtis, Julian, Jean, Sidney,

Joanna, Jill und Ava

Rolf Stünkel

MACH 2

Meine Jahre im Cockpit des Starfighters

www.tredition.de

2., überarbeitete Ausgabe
© 2016 Rolf Stünkel

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:978-3-7345-4232-9
Hardcover:978-3-7345-4233-6
e-Book:978-3-7345-4234-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Vorwort

Auf Umwegen ins Cockpit

Freiwillig zum Bund

Auf der Fregatte

Die Einstiegsdroge zum Fliegen

Einstellungstests

Auswahlschulung

Jets für Anfänger

Lone Star State Texas

Auf der „Tweet“

Ausbildung nach Plan

Fliegen und Genießen

Wings

Auf der T-38

Die g-Kraft und ihre Tücken

Supersonic Pilot

Ausflüge und Fortgeschrittenentraining

Endlich fertig

Starfighter fliegen

In Arizona

Background F-104G

Wie der Starfighter nach Deutschland kam

Moderne Technik

Ritt auf dem Strahl

Check und Alleinflug

Das F-104G-Trainingsprogramm

Waffentraining

Unter der Haube

Seltsame Eindrücke

Fahrt ist das halbe Leben

Mach-2-Run

Endspurt

Graduation

Sea Survival und Abreise

Wieder in Deutschland

Friesischer Winter

Fanganlagen

Ein schlechter Tag

Cross-Country

Fliegen für die Flotte

Warum Marineflieger?

Young Punk im Geschwader

Aus der Froschperspektive

On the Job Training: die LCR-Schulung

Tiefflug

Navigation und andere Tücken

Still und leise unterwegs

Selbstschutz im Tiefflug

Waffenausbildung bei den Marinefliegern

Luft-Luft-Schießen

Pilotenalltag

Schnelle und langsame Fliegerei

Staffeldienst

Fliegerdress

Traumberuf Pilot

Karrieren nach der Zeit im Cockpit

VIP-Dispersal

„Baden“ in Nordholz

Fluggast in der F-104

Training über Land und See

Abwechslungsreiche Einsätze

Taktik-Einmaleins

NATO-Basis „Deci“

Cross-Country

Kalter Krieg über der Ostsee

Tauwetter...?

Erlebnisse mit Ostkräften

Aufklärer

Ein potenzieller Gegner: die MiG-21

Die „fliegende Kalaschnikow“

Karriere eines robusten Vogels

Unterschiedliche Ansätze

Kampfeinsätze von F-104 und MiG-21

Eindrücke eines deutschen MiG-21-Piloten

Fliegeralltag in der DDR

Starfighter und Flugsicherheit

Absturz im Kattegat

Faktor Mensch

Mensch und Maschine

Probleme aus Sicht der Marineflieger

Ohne Schub nichts los

Flugzeug-Limits

Der dritte Hochzeitstag

Abschied

Flug nach Island

Neue Zeiten

Die Wende

Ein fliegerischer Beitrag zur deutschen Wiedervereinigung

Wiedersehen

Zurück in Texas

In Arizona

Was aus den Flugzeugen wurde...

Farewell

Der Autor

Dank

Anhang

Starfighter-Versionen

Technische Daten F-104G

Bildnachweis

Piloten ist nichts verboten,

drum gib Vollgas

und flieg um die Welt.

Walter Reisch

Vorwort

Kein Militärflugzeug der Nachkriegszeit polarisiert uns wie der Lockheed F-104G Starfighter. Der schlanke Jet mit den Stummelflügeln zeigte schon in den 1950er-Jahren unvorstellbare Flugleistungen.

Zehn Jahre später geriet er in Deutschland als „Witwenmacher“ in die Schlagzeilen. Schulungsmaßnahmen, technische Verbesserungen und ein vorübergehender Flugstopp änderten dies. Auch wenn die F-104G doppelt so schnell wie der Schall fliegen konnte – etwa 2400 km/h –, im Alltag waren die Piloten meist unter Mach 1 unterwegs. Das war taktisch sinnvoller und verbrauchte weniger Sprit. Mach 2 ist für Piloten flinker Jets – dazu zählen auch MiG-21 und andere Zeitgenossen – eher ein Schlagwort, das sie verbindet wie eine kleine Anstecknadel an der Jacke.

Mach 2 – Meine Jahre im Cockpit des Starfighters ist eine persönliche Rückschau auf eine der dunkelsten Epochen des Kalten Krieges, die späten 1970er und frühen 1980er Jahre, zur Zeit der deutschdeutschen Teilung. Heute ist der Eiserne Vorhang Geschichte, die alten Feindbilder wirken überholt; es mag müßig erscheinen, von ausgemusterten Jets zu erzählen. Der politische Nutzeffekt unserer Fliegerei in jenen Jahren mag diskutabel sein, doch jenseits von Technik und Politik bleiben die spannenden, traurigen oder heiteren Erlebnisse mit Menschen, die uns etwas bedeuteten. Militärpiloten fliegen, feiern und fluchen gemeinsam wie eine Fußballmannschaft. Was für ein Vorzug, einem solchen Team anzugehören!

Bei den Vorbereitungen zu diesem Buch besuchte ich alte Flieger, telefonierte und schrieb e-Mails. Jedes Gespräch hatte denselben Soforteffekt: ich saß wieder im engen Starfighter-Cockpit, im Aufenthaltsraum der Staffel oder an der Bar, umgeben von liebenswerten Querköpfen und Spaßvögeln, Kumpeltypen und selbstbewussten Top- Gun-Aspiranten. Ich bedanke mich bei allen, die meinen „Rückflug“ so freundschaftlich unterstützt haben.

Rolf Stünkel

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An der Piaggio P 149 D, im Frühjahr 1976 (v.l.):

Axel Grossmann, der Autor, Michael Dominiak

Auf Umwegen ins Cockpit

Freiwillig zum Bund

Ein Jahr vor meinem Abitur, im Frühjahr 1971, hatte mein Vater für mich ein Preisausschreiben der Marine ausgefüllt. Solche Nachwuchs- Werbeaktionen waren nichts Besonderes. Mit etwas Glück konnte man einige interessante Tage beim „Bund“ verbringen. Irgendwie musste Papa die Kreuze wohl richtig gesetzt haben, denn ich gewann einen Besuch beim Marinefliegergeschwader 5 in Kiel.

Gut gelaunt nahm ich den Zug von meinem Heimatort Wilhelmshaven zur Stadt an der Förde. Ein freundlicher Offizier mit drei Ärmelstreifen brachte mich vom Bahnhof ins Geschwader, wo schon andere junge Männer warteten. Zwei Tage lang wurden wir wie VIPs betreut, bekamen Vorträge über Seenotrettung und anständiges Essen. Abends fragten wir an der Kegelbahn jungen Soldaten Löcher in den Bauch. Ein großes Albatros-Flugboot nahm uns mit über Helgoland, und zum krönenden Abschluss wurde jeder am Seil eines Sikorsky-Hubschraubers hochgezogen.

Ein toller Fliegerhorst, dachte ich auf der Heimreise. Mit dem Abitur rückte die Bundeswehr näher, und ich musste mich allmählich zwischen Wehrpflicht, Zivildienst oder etwas „Besonderem“ entscheiden. Die Marine hatte mich schon länger interessiert, auch wenn ich ein wenig zur Handelsschifffahrt schielte. Meine besten Schulnoten hatte ich in Sprachen und Musik; auch diese Fächer boten einige interessante Perspektiven.

Nach meiner Rückkehr las ich in der Zeitung von einem attraktiven Angebot der Marine. Junge Offiziersanwärter (OA) konnten bei einer vierjährigen Verpflichtungszeit auf den Schulschiffen Gorch Fock und Deutschland fahren und interessante Lehrgänge machen. Nach nur 21 Monaten würde man zum Leutnant zu See befördert werden, und mit Ablauf der vier Jahre hatte man Anspruch auf eine Abfindung fürs zivile Studium oder eine Fachausbildung - bei solchen Aussichten wirkte die normale Wehrpflicht wie Frondienst.

Die Sache hatte nur einen Haken: Wer in den 1970er Jahren freiwillig zur Bundeswehr ging, musste um seinen Status unter Gleichaltrigen fürchten. „Dienen“ war seit den Studentenunruhen Ende der 1960er nicht mehr „in“. Mit einer Mischung aus Trotz und Neugier entschloss ich mich, dem fremden Riesen Bundeswehr eine Weile über die Schulter zu gucken: als Zeitsoldat der Marine, mit Rückfahrkarte ins Zivilleben.

Die Bundesmarine der 1970er Jahre war eine respektable kleine Armada, ein Vollsortimenter mit anständigem Portfolio. Es gab Fregatten und Zerstörer, Versorger, Schnellboote, Minensuchboote, U-Boote und Spezialfahrzeuge, Schulen, Ämter, den Sanitäts- und Musikdienst, Transporteinheiten und vieles mehr. Worüber ich am meisten staunte: Mit etwa 50.000 Soldaten besaß die kleinste Teilstreitkraft der Bundeswehr rund 200 Flugzeuge, so viel wie eine mittlere Airline. Für die Unteroffiziere und Mannschaften gab es schier unzählige Laufbahnen und Fachrichtungen. Da war zum Beispiel die Ausbildungsreihe 76 der Marine-Landtruppen, deren Abzeichen auf der Jacke lediglich ein unklarer Anker ohne Tampen war, ohne Schlüssel wie beim Stabsdienst, Blitz bei der E-Technik, Harfe für den Musikdienst oder Zahnrad für die Technik. Stattdessen: gar nichts. Nix im Anker, nix im Kopp, hieß es hart, aber herzlich.

Ein paar Monate vor dem Abitur bestand ich den Aufnahmetest an der Offizierbewerberprüfzentrale (OPZ) in Köln. Noch im Juli 1972, ich war gerade 18, begann meine Grundausbildung im Marineausbildungsbataillon 3 in Glückstadt an der Elbe. Es war ein heißer Sommer. Wir machten auf dem Truppenübungsplatz Nordoe ausgiebig „Marinelandkampf“ und verfluchten den süßlichen Duft der nahegelegenen Abdeckerei. Nach drei Monaten, angefüllt mit Kutterpullen, Exerzieren, Märschen und Übungsschießen wurden wir „Matrosen OA“ auf das Segelschulschiff Gorch Fock nach Kiel versetzt.

Nach etwa zwei Wochen kotzte ich mir nicht mehr die Seele aus dem Leib und konnte den Blick von den hohen Rahen genießen. Das war auch gut so, denn auf der Fahrt von Cádiz nach Irland gerieten wir im Ostatlantik in einen Orkan. Unter Sturmsegeln driftete die Fock, wie wir sie alle noch nannten, durch die schäumende See, während unser Schiffsarzt zur allgemeinen Bewunderung einem Kameraden den Blinddarm herausoperierte. Seither weiß ich, warum Kompasse und OP-Tische auf Schiffen kardanisch aufgehängt sind.

Nach dieser ersten gemeinsamen Reise begann unser Offizierslehrgang an der Marineschule Flensburg-Mürwik, wo seit Kaisers Zeiten die Offiziere der Marine ausgebildet werden. Wir büffelten Navigation, Seemannschaft und Elektrotechnik, machten Segel- und Motorbootscheine, lernten nette Mädels kennen und genossen den Sommer an der Förde. Eines Tages entdeckte ich in einem Säulengang des ehrwürdigen Schulgebäudes – es war der Marienburg in Ostpreußen nachempfunden – zwei verdächtig jung aussehende Kapitänleutnante. Sie warteten vor dem Admiralsbüro, unterhielten sich angeregt und sahen irgendwie anders aus als unsere Ausbilder im gleichen Rang. Der eine trug auffallend lange Koteletten, der andere lässig die Hände im Bunker1. Beide hatten Schwingen an ihren Uniformen, eine kleine aus Metall und eine größere aus Stoff. Starfighter-Piloten, dachte ich bewundernd. Diese Kaleus müssen ein aufregendes Leben führen.

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Das Segelschulschiff „Gorch Fock“ – es gibt wohl keinen Ehemaligen, der nicht von seinen Erlebnissen auf der Dreimastbark schwärmt.

Nach einem Dreivierteljahr Marineschule gingen wir für eine weitere Herbstreise an Bord des Schulschiffs Deutschland. Diesmal sollten wir nach Tarent und Izmir fahren. Auf dem großen Pott kannten wir von der Gorch Fock schon den Ersten Offizier, ein freundliches Raubein mit buschigen Augenbrauen und dem treffenden Namen „Wind“. Auf diese Reise, die wir schon als Fähnriche zur See, aber nachts immer noch in der Hängematte absolvierten, folgten Lehrgänge an der Fernmelde-, Ortungs-, Versorgungs- und Unteroffiziersschule. Wir paukten in Flensburg geheime Verschlüsselungsmethoden und gegnerische Radarfrequenzen, lernten in Neustadt/Holstein, in ausrangierten Schiffen Brände zu löschen, marschierten um den eisigen Plöner See und ließen uns unter der ABC-Schutzmaske von Tränengas einnebeln. Dann hielt die Marine Wort: Pünktlich nach 21 Monaten wurden wir zum Leutnant zur See befördert. Ich war gerade 20 Jahre alt und lud meine Familie stolz zum Essen ein.

Auf der Fregatte

Mein erster Einsatz als Leutnant führte mich an Bord der Fregatte F223 Karlsruhe, ein schnittiges 2000-Tonnen-Schiff mit Liegeplatz in meiner Heimatstadt Wilhelmshaven. Das ehemalige Geleitboot aus den späten 1950er-Jahren war mit ordentlich Feuerkraft ausgestattet und schaffte, angetrieben von vier Dieseln und zwei Gasturbinen, 29 Knoten Höchstgeschwindigkeit. Unter den Offizieren der 212 Mann starken Besatzung war ich mit Abstand der jüngste.

Mein Job als Fernmeldeoffizier (FmO) umfasste den Fernmelde- und Funkbetrieb, dazu die Brückenwache und jene in der OPZ, der Operationszentrale im Innern des Schiffs, das Ganze im Schichtdienst mit anderen Offizieren. Als nebenamtlicher Schriftführer tippte ich im Auftrag des Ersten Offiziers die Beurteilungen der übrigen Offiziere. Gelegentlich war ich Zeuge bei Verhören, wenn unter den Mannschaften mal wieder eine Prügelei, seltener auch ein kleiner Diebstahl aufgefallen war.

FmO war ein typischer Einsteigerposten. Ich hätte mit meinen Voraussetzungen auch ebenso gut Ortungsoffizier (OrtO) auf einem Zerstörer oder einer Fregatte oder 2. Wachoffizier (II WO) auf kleineren Minensuchbooten, Schnellbooten oder Versorgern werden können. Zum Glück war ich aber wunschgemäß auf einer Fregatte gelandet. Wir waren ständig in der Nord- und Ostsee unterwegs, machten Artillerie- und Notfallübungen und brachen zu längeren Überwachungsfahrten auf. Es erfüllte mich mit einem gewissen Stolz, Teil der Crew zu sein, je besser ich die Karlsruhe und ihre Mannschaft kannte.

Unter den älteren Offizieren waren harte, trinkfeste Burschen. Manche hatten es vom Unteroffizier zum Kaleu gebracht, andere waren schon auf großen Handelsschiffen zur See gefahren. Sie rauchten sogar in der engen OPZ bei jedem Seegang unbekümmert wie die Schlote, spielten in der wachfreien Zeit in der Messe Karten, tranken Bier und schienen fast nie zu schlafen. Für einen milchbärtigen Ex-Gymnasiasten wie mich war der ständige Schlafmangel durch die vielen Wachen sehr anstrengend. Wollte ich einmal eine kurze Pause auf der Koje einlegen, gab es garantiert Rollenschwoof, Übungen diverser Gefechts- und Notmanöver auf See, was noch mehr Schlaf kostete. Im Winter war es auf der offenen Brücke saukalt; nach vier Stunden Nachtwache kroch ich nass und völlig durchgefroren in die Koje, nur um wenig später wieder zum Tagesdienst aufzustehen. Wenn ich mal wieder so richtig die Nase voll hatte, tröstete ich mich damit, dass ich an meinem Heimatort stationiert Wilhelmshaven stationiert war.

Während unserer Seetage donnerte ab und zu ein deutsches Marineflugzeug über uns hinweg. Ihr seid in einer halben Stunde zu Hause, dachte ich dann. Wir dümpeln noch zwei Wochen hier herum! Ich ahnte noch nicht, dass meine Seefahrtszeit bald abrupt enden sollte.

Die Einstiegsdroge zum Fliegen

Im Sommer war mal wieder Herzschmerz angesagt: Das Mädchen meiner Träume hatte mich in die Wüste geschickt. Es war einfach zum Weglaufen! Meine Lehrgangskumpels Mike und Balu, der eine Leutnant auf einem Zerstörer, der andere auf einem Schnellboot, wollten mich trösten. Wir buchten einen billigen Fallschirmkurs auf der Nordseeinsel Texel. Die Aussicht auf luftige Abenteuer besserte meine Stimmung, und meinen Eltern erzählte ich vorsichtshalber nichts.

Auf der Insel ging es gleich zur Sache. Die sonnengegerbten Ausbilder des Paracentrum Texel/Spa stimmten uns mit Humor und Drill auf das neue Hobby ein. Unsere Ausrüstung bestand aus runden, rotweißen Fallschirmen, die schon etwas in die Jahre gekommen waren. Man hatte sie hier und da mit Klebstreifen geflickt. Obendrein hatten diese Rundkappen, wie wir bald am eigenen Hintern erfahren sollten, eine Gleitzahl12 von Eins zu Plumps.

Alle Absprünge verliefen nach dem gleichen Schema: Ich kletterte aus der Cessna, wo sonst die Kopilotentür war und setzte das Außenbein aufs Rad, das andere aufs Trittbrett. Dann hielt ich mich mit beiden Händen an der Flügelstrebe fest und blickte rüber zum Ausbilder, der wie ein brasilianischer Taxidieb neben dem „Fahrer“ auf dem Fußboden kauerte.

Auf sein Kommando Ready-Go! stieß ich mich nach hinten ab, fiel ein paar Meter Reißleine nach unten – bei diesen Automatiksprüngen zog man nur im Notfall selbst – und baumelte kurz darauf am Schirm. Es war ein Riesenspaß! Der „Flug“ dauerte eine gefühlte Ewigkeit, obwohl es nur Minuten waren. Irgendwann nahmen die Dünen wieder Kontur an, und schon wurde es Zeit, die eingeübte Landehaltung einzunehmen: Beine zusammen, Knie leicht einfedern, Ellenbogen zusammen. Kurz vor dem Aufsetzen nicht nach unten gucken, hatte man uns eingeschärft; das sollte das reflexhafte Spreizen der Beine vermeiden. Die hohe Sinkrate sorgte regelmäßig für einen deftigen Landestoß, nach dem Aufprall zerrte der Nordseewind am Schirm. Es war besser, man rollte sich möglichst schnell ab und raffte alles sofort zusammen.

Nach dem achten Hüpfer war die Ausbildung zu Ende, und ich fühlte mich wie Supermann. Mit dem niederländischen A-Brevet-Abzeichen war ich ein echter Fallschirmspringer! Irgendwie bewunderte ich aber den Piloten der kleinen Cessna noch mehr als mich selbst. Wie lässig er mit seiner Felljacke hinterm Steuerhorn saß!

Wer sich nie groß geträumt hat, aus dem wird nichts, hatte Oberstudienrat Hengelbrock immer gesagt. Sollte ich nicht auch fliegen lernen? Eine kurze Anfrage bei der Lufthansa ergab, dass man dort gerade keine Piloten suchte; außerdem musste ich ja noch zwei Jahre bei der Marine dienen und war währenddessen unabkömmlich. Ich blätterte in einigen Bundeswehr-Broschüren und bemerkte das Foto eines schicken grauweißen Propellerflugzeugs. Der Seefernaufklärer Bréguet Atlantic war schon oft über unsere Karlsruhe hinweg gebrummt; manchmal sah man jemanden in der vorderen Glaskanzel hocken.

Mit ihren zwölf Mann Besatzung ging die Atlantic auf Einsätze im Inund Ausland, vor allem betrieb sie Aufklärung; das klang nach Geheimdienst, Action und Spaß. Ihre Piloten wurden wie alle Transportflieger zur Lufthansa-Ausbildung an der Fliegerschule in Bremen geschickt. Das war auch nicht zu verachten! Kurz entschlossen schickte ich von Bord der Karlsruhe eine Bewerbung fürs Fliegende Personal ab. Die nehmen dich nie, dachte ich. Aber versuchen will ich es wenigstens.

Einstellungstests

Es dauerte nicht lange, und ich wurde zur Tauglichkeitsuntersuchung ans Flugmedizinische Institut der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck bei München kommandiert, in Pilotenkreisen Fürsty genannt. Nach den üblichen Gesundheitstests nahmen mich Psychologen in die Mangel; dann setzte man mich in einen Simulator und gab mir Rechenaufgaben, während ich Kurven flog und genau nach Stoppuhr eine bestimmte Flughöhe einzunehmen versuchte. In einer großen Druckkammer musste ich mit den anderen Probanden in zehn Kilometern „Höhe“ die Sauerstoffmaske abnehmen und warten, bis die Ohnmacht nahte. So konnte jeder testen, welche persönlichen Sauerstoff-Mangelsymptome er zeigte: Euphorie oder Passivität, eine Blaufärbung der Fingerspitzen, Juckreiz in den Gelenken – oder einfach gar nichts.

Nach kurzer Zeit ohne Sauerstoff redete jeder nur noch Blödsinn. Auch ich bekam Tunnelblick, und es rauschte immer kräftiger in meinen Ohren. Kurz vor dem Umkippen befahl Übungsleiter Hoffmann Maske auf!, und in Sekundenschnelle war alles wieder bunt und schön wie in einem Hollywoodfilm. Wie frisch und lecker der Sauerstoff schmeckte! Augenblicke später wurde die Stille von einem lauten Knallen und Zischen zerrissen, und die Druckkammer war schlagartig eingenebelt. Druckabfall! Der Lungeninhalt und alle, wirklich alle Körpergase wurden schlagartig ausgestoßen. Militärpiloten wiederholen solche Kammerübungen einige Male in ihrer Laufbahn. Manche Schüler bekommen Panik und müssen die Kammer vorzeitig verlassen, was im Wiederholungsfall zum Abbruch der Jet-Ausbildung führt. Zwei meiner Mitbewerber hatten dieses Pech, doch beide schafften es später ins Verkehrsflugzeug-Cockpit.

Was macht einen echten Fighterpiloten aus, fragte ich mich. Fitness? Schnelle Autos, harte Drinks? Darf er Plomben im Zahn haben? Viele Menschen glauben, die Füllungen könnten sich durch Beschleunigung oder Druckunterschied im Cockpit lösen und in die Luftröhre gelangen - Tod durch Zahnersatz, lateinisch exitus aspiratione. Barer Unsinn! Schon junge Menschen haben ja meist ein Gebiss voller Ersatzteile, so auch die Flieger. „Kein Problem, solange die Beißer saniert sind“, meinte der Fliegerarzt. „Dann gibt es auch keine Hohlräume, wo kleine Luftmengen schmerzhaft pochen.“

Kampfflieger tragen in Kinofilmen immer eine Sauerstoffmaske locker am Helm und setzen sie fast nie auf. Wie soll man den Schauspieler sonst auch erkennen? Im richtigen Leben ist das anders. „Piloten tragen gleich nach dem Einsteigen Helm und Maske“, hatte der Fliegerarzt erklärt. „Sie können bei Bedarf auf 100 Prozent Sauerstoff schalten.“ Brachte das mehr Fitness ins Cockpit, zum Beispiel nach einer schweren Nacht an der Bar? Ich musste an den Popsänger Michael Jackson denken, der angeblich des Öfteren unter einem Sauerstoffzelt ausruhte. Der Doc lachte, als ich ihm davon erzählte. „100-Prozent-Beatmung ist schon okay“, meinte er. „Das verbessert das Nachtsehvermögen.“

Ein paar Wochen nach meiner Tauglichkeitsuntersuchung flatterte das Ergebnis aufs Schiff. Ich hatte mit der Stufe 1a bestanden und war damit auch für Jets geeignet. Das hatte ich nicht erwartet und überlegte nun, welche Richtung ich einschlagen sollte. Angehende Piloten der Bundeswehr mussten sich für zwölf, möglicherweise fünfzehn Jahre Dienstzeit verpflichten, das hing von der Laufbahn ab. Ich entschied mich für die Bréguet und die Lufthansa-Ausbildung. Falls ich das Training nicht packte, konnte ich ja die Bundeswehr vorzeitig verlassen, studieren und Lehrer oder Musiker werden.

Nach einem halben Jahr rief mich der Erste Offizier in seine winzige Kammer, das Versetzungsschreiben zur Fliegerschule in der Hand. „Sie wollen uns verlassen?“, brummte er väterlich. „Jawoll, Herr Kapʼtän!“, antwortete ich so markig ich konnte. Mir leuchtete ein, dass viele angehende Flugschüler die Ausbildung nicht schafften und auf ihre Posten zurückkehrten. Der Eins-O war ein Mann von Humor. Er erzählte von eigenen hochfliegenden Plänen als junger Mann, mit „Admiralsrosinen“ im Kopf, und dass diese Rosinen irgendwann futsch waren.

Jahre später sah ich ihn zufällig in einer Fernsehdokumentation und kapierte, wovon er gesprochen hatte. Die Sendung handelte von der Undercover-Bergung eines DDR-Republikflüchtlings vom ostdeutschen Kreuzfahrtschiff Völkerfreundschaft. Mein Erster Offizier, damals Kommandant eines kleinen U-Boot-Jagdschiffs, hatte den Ozeanriesen im Verlauf der Aktion bei Fehmarn versehentlich längsseits gerammt und erheblich beschädigt.3 Kollisionen waren bei der Marine nicht unbedingt Karrierekiller, und ein alter Marinespruch lautete: Wer nicht einen Zerstörer vierkant auf die Pier gesetzt hat, wird kein Admiral. In diesem Fall haute der Spruch aber nicht hin, denn die deutschdeutsche „Ramming“ des Ostdampfers durch den Klassenfeind war politisch einfach zu brisant. Der junge Kommandant wurde nie Admiral, machte aber eine respektable Karriere – was ich meinem hochverehrten, viel zu früh verstorbenen Vorgesetzten Johannes H. rückblickend von Herzen gönne.

Bis zur fliegerischen Ausbildung war noch etwas Zeit. Ich hatte gerade mal wieder Brückenwache in der Ostsee, als ein ehemaliger Starfighterpilot hinzutrat. Er flog aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr und war ein paar Tage als „Badegast“ auf der Karlsruhe eingeschifft. Wir unterhielten uns über Arizona, den Grand Canyon und alles, was dieser Ex-Pilot an der Jetfliegerei so toll fand: Geschwindigkeit und Flugzulage, schnellere Beförderungen und sogar eine Frühpensionierung mit 41 Jahren. Der Mann hatte Überzeugungskraft! Die Frührente lag noch zwanzig Jahre in der Zukunft und war mir ziemlich wurscht, doch der Rest klang sexy.

Starfighter fliegen – wie aufregend musste das sein! Ich war doch jettauglich und konnte es probieren; mehr als auslachen und raus werfen konnten sie mich nicht. Kurzentschlossen verfasste ich ein neues Fernschreiben und bat um einen anderen Lehrgangsplatz. Nun wollte ich Strahlflugzeuge fliegen.

Auswahlschulung

Meine „Flugerfahrung“ bestand aus einigen wenigen Urlaubstrips mit Linienmaschinen und ein paar lächerlichen Fallschirmhüpfern. Ohne auch nur einmal im Leben ein Modellflugzeug gebaut zu haben, hatte ich mich als Marineflieger beworben.

Ich hatte gelesen, dass die angehenden Jetpiloten nach der normalen Seeoffiziersausbildung in ein Auswahlprogramm bei der deutschen Luftwaffe und anschließend ins US-Pilotentraining gingen. In der Broschüre stand auch, dass die Marine zwei F-104-Geschwader besaß, die stolz als Hammer der Flotte tituliert wurden und sehr effektiv mit anderen Flugzeugen und Schiffen zusammenarbeiteten.

Die Aussicht, einmal im Starfighter-Cockpit im Tiefstflug über See zu düsen, war für mich wie ein ferner Traum; beim Bund schien es jedenfalls kaum einen vergleichbaren Kick zu geben. Ältere Offiziere behaupteten zudem, Marinepiloten hätten mehr Spaß als die der Luftwaffe, die ja ebenfalls F-104 besaß. Eines stand fest: Vor unserer Küste begann das Gebiet des Warschauer Pakts. Ich malte mir aus, wie unsere Marineflieger auf ihren Einsätzen direkt vor der Haustür des potenziellen Gegners herumdonnerten, auf russische Zerstörer, allerlei Ost-Jets und Bomber trafen und unter ihren Augen militärische Übungen durchführten. Das musste wahrlich ein abwechslungsreicher Job sein!

Ich hatte freilich großen Respekt vor der Ausbildung. Nicht einmal begnadete Testpiloten wachten nach ein paar Übungsstunden als fertige Starfighter Driver auf. Was musste ich als blutiger Anfänger erst alles lernen! Alle Fluganwärter wurden zunächst in Fürstenfeldbruck einem Screening (einer Auswahlschulung) unterzogen und bei Erfolg zum weiteren Training auf Jets, Props oder Hubschrauber verteilt.

Ich fuhr mit meinem rostigen BMW im Januar 1976 direkt vom Schiff nach Bayern. Der Fliegerhorst war ein Werk des berühmten Braunschweiger Architekten Ernst Sagebiel4,, und unsere Unterkünfte lagen im legendären, ellenlangen Kilometerbau.

Sofort nach unserer Ankunft begann in einer Baracke der Theorieunterricht. Einige Fächer wurden auf Englisch gegeben. Mister M. A. Din, ein früherer Flight Lieutenant (Hauptmann) der pakistanischen Luftwaffe, brachte uns Principles of Flight bei, Aerodynamik für Fußgänger. Seine Methode war ebenso wirkungsvoll wie einfach: Wichtiges wurde auswendig gelernt und gebetsmühlenartig abgefragt.

„Is flying a piece of cheesecake, Mr. …?“, lautete die bereits dutzendfach gestellte Frage zu Beginn jedes Unterrichts. Der Angesprochene musste antworten: „No, Mister Din. It is highly intricate and complex.“ Sätze wie diese machten den guten Mister Din unsterblich und halfen uns, auch den trockensten Stoff zu verdauen. Ich bekam allmählich Ahnung von Flugzeugen und war gespannt auf das praktische Screening.

Bald schoben wir tarnfarbene Tiefdecker aus dem Zulu-Hangar im Norden des Brucker Fliegerhorsts. Die „Pidschies“, amtlich Piaggio P 149 D, waren muntere viersitzige Flugzeuge mit Einziehfahrwerk, Verstellpropeller und einem kräftigen, aber ziemlich durstigen Lycoming-Sechszylindermotor. Das Instrumentenbrett war voller Uhren, die ich beim Blindfold Cockpit Check mit verbundenen Augen zeigen musste.

Dann kam der große Moment des ersten Fluges. Ein freundlicher, graubärtiger Leutnant namens Nostrini drehte mit mir ein paar Runden im Norden der Basis. „Dafür bekommen wir noch Geld!“, rief er gut gelaunt. Falls ich das Screening bestand, wollte ich das Fliegen von so motivierten Leuten erlernen.

Das Aussieben untauglicher Fluganwärter hatte begonnen und unser Häuflein wurde kleiner. Wir lernten, präzise Flugmanöver auswendig und genau in der Luft zu demonstrieren: Steilkurven, Strömungsabriss, Landeanflüge und so weiter. Bis zum Soloflug sollten die Fluglehrer herausfinden, ob wir zum Flugschüler geeignet waren und falls ja, für welche Art von Luftfahrzeug. Ansonsten blieb man Fußgänger, sofern nicht gerade Bedarf an Kampfbeobachtern (KBO) für das hintere Cockpit eines Kampfjets vorhanden war. Diese Tätigkeit kam für mich nicht infrage: Ich wollte selber fliegen oder die Bundeswehr verlassen.

Glück und gute Tagesform brachten mich heil über den Checkflug. Ich hatte das Screening bestanden! Noch etwas Flugphysiologie bei Mister Din, und unsere Klasse konnte ins Pilotentraining nach Texas gehen. Doch im Sommer 1976 waren auf der Sheppard Air Force Base im fernen Wichita Falls alle Lehrgangsplätze belegt. Wir wurden als „Überhänger“ in Bayern geparkt und genossen dort den Rest des Jahres. Wer nicht auf dem Ammersee segelte, erkundete München. Ich besuchte mit ein paar Freunden das funkelnagelneue Olympiastadion, wo Paul McCartney mit den Wings seine Fans mit einer gewaltigen Lasermusikshow zum Toben brachte. So ging ein schönes Jahr in Bayern vorbei, und wir freuten uns auf das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

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Einweiser auf dem Fliegerhorst Fürstenfeldbruck, 1976

Jets für Anfänger

Lone Star State Texas

Der 12. Januar 1977 war ein eisiger Tag. Schwerfällig startete die vollbesetzte Luftwaffen-Boeing B 707 von Köln in Richtung Amerika, an Bord viele Soldaten und Familienangehörige. Dreizehn Monate Texas lagen vor uns. Danach sollte jeder auf sein Flugzeugmustertraining auf einen anderen US-Platz oder nach Deutschland gehen, vorausgesetzt, er schaffte das texanische Undergraduate Pilot Training (UPT).

Unser Dienstvertrag wurde erst nach Bestehen der jeweils nächsten Hürde verlängert. Am Ende der Ausbildung winkte der Berufssoldatenstatus mit einer Altersgrenze von 41 Jahren, einem gewissen Pensionsanspruch und der Zusage, nach der Dienstzeit auf Bundeswehrkosten umschulen oder studieren zu können. Solche Privilegien genossen nur Düsenflieger: wegen des frühen Verschleißes, wie es hieß. Ich war bereit, mich in die Mangel nehmen zu lassen.

Nach einem kurzen Zwischenstopp in Washington landete die B 707 auf der Sheppard Air Force Base in Texas. Wir hatten schon viel vom reichen Ölstaat gehört, dessen Bewohner auf ihren Lone Star State schworen und sich aus dem Rest Nordamerikas nicht viel machten. Man verglich sie in mancher Hinsicht, auch wegen des besonderen Dialekts, mit unseren Bayern.

Der ehemalige Bomberplatz des Strategic Air Command (SAC) der U.S. Air Force lag dicht an der Grenze zu Oklahoma und beherbergte rund 18.000 Soldaten, darunter die 89th Flying Training Wing mit der benachbarten 1. Deutschen Luftwaffen-Ausbildungsstaffel USA. Schuljets, Verwaltung und Sportanlagen befanden sich gleich um die Ecke.

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Ein riesiges Flugfeld: Sheppard Air Force Base im Jahre 1977

Wir wurden zu je vier Mann in kleine Bungalows gesteckt. Dieses Mini-Dorf, Germantown, stand unweit des Officers’ Clubs. Wie wir erfreut feststellten, wohnten ganz in der Nähe auch Hunderte junger Flight Nurses – frisch ausgebildete, für medizinische Evakuierungsflüge vorgesehene Krankenschwestern. Sie lernten marschieren, bevor sie zu ihren Einsatzflugplätzen versetzt wurden. Germans passten offensichtlich in ihr Beuteschema. Wir hatten nie Langeweile und mussten das Gelände eigentlich nur verlassen, um eine der riesigen Stereoanlagen zu kaufen oder mit einem weiblichen Oberleutnant in die Disco zu gehen.

Auf der „Tweet“

Ich kam in die C-Flight auf den zweistrahligen Unterschalltrainer Cessna T-37, meinen ersten Jet. Düsenflugzeug, das verhieß Eleganz und Power. Von wegen! Die T-37 war ein hässliches Entlein mit seltsam gedrungenen Proportionen und winzigen, ohrenbetäubend schrillen Triebwerke. Von den Piloten wurde die T-37 liebevoll Tweet oder Tweety-Bird genannt, manchmal auch Zwille. Wir Neulinge waren mächtig stolz auf das Vögelchen.

Mein erster Fluglehrer, Captain Heath, kam direkt vom mächtigen B-707-Tanker auf die kleine Tweet und empfand dies als Schmähung. Es war ihm wie den anderen Fluglehrern ergangen, die von Transportern und Kampfjets zum Air Training Command (ATC) versetzt worden waren: Sie alle mussten die Zähne zusammenbeißen und fliegen, was man ihnen vorsetzte. Captain Heath war ein netter Bursche. Nach den ersten, schier endlosen Trudelübungen mit der Tweet packte ich meine volle Kotztüte ins Kartenstaufach, was er höflich übersah.

Unsere Flüge wurden auf computerlesbaren Bögen erfasst. Der Fluglehrer bewertete die Mission auf kleinen Einzelfeldern, die per Bleistift geschwärzt wurden. Die Noten reichten von „E“ wie excellent bis „U“ für unsatisfactory, ungenügend. Das Trainingsprogramm hatte eine große Tücke: Es setzte ständige Fortschritte voraus. Was gestern noch mit excellent bewertet worden war, galt schon am nächsten Tag als Mindeststandard. Am übernächsten Tag reichte die gleiche Leistung kaum noch für ein fair (ausreichend).

Einzelne „U“ durfte man sich leisten, zwei davon machten den Flug zunichte und man wurde gepinkt. Der Ausdruck stammte noch aus Zeiten, als man schlechte Benotungen auf rosa Zetteln, sogenannten pink slips, vergab. Einen Pink konnte man meist wiederholen, beim zweiten bekam man schon einen neuen Fluglehrer zugeteilt. Wieder kein Fortschritt – und nur noch ein Gremium von Fluglehrern und Vorgesetzten konnte bei der sogenannten Boardverhandlung darüber entscheiden, ob weiteres Training für den Kandidaten noch sinnvoll war.

Das Fortschrittsprinzip war gnadenlos. Wer nicht mithalten konnte, war in wenigen Tagen weg vom Fenster. Mancher kassierte montags seinen ersten Pink und packte schon am darauffolgenden Freitag die Koffer.

Sechs von uns vierzehn kehrten vorzeitig nach Hause zurück. Die meisten waren nach ersten Anfangserfolgen in irgendeiner Trainingsphase abgelöst worden. Einzelne Schüler mit Schwächen in Formations- oder Kunstflug, aber ansonsten soliden Leistungen, durften zu den Transportfliegern wechseln.

Zu den Lichtblicken zählte der hemdsärmelige Umgangston. Die Amis verstanden Spaß, nach einer Weile durfte man die meisten mit Bill oder Cliff statt mit Sir anreden. Cooperate and graduate, hämmerten uns die Lehrer ein. Arbeitet zusammen und ihr schafft es. Manchem half Teamarbeit über schwache Phasen hinweg. Für Sonderlinge war im System wenig Platz. Wer in der Ecke hockte und sich nicht helfen ließ, war selbst schuld.

Ich war noch im Rennen, hoffte auf mein Glück und flog, so gut ich konnte. Die U.S. Air Force als Hausherr teilte sich das Training mit unserer 1. Deutschen Luftwaffen-Ausbildungsstaffel, und unsere Lehrer stammten aus beiden Ländern. Unter ihnen waren Vietnamveteranen, Collegeabsolventen der Air Force Academy, trockene Norddeutsche und waschechte Bayern – allesamt handverlesene, gute Piloten, wo auch immer sie herkamen. Mancher amerikanische Instructor war gerade Mitte zwanzig und selbst vor kurzem durch das UPT-Programm gegangen.

Deutsch zu sprechen war im Dienst untersagt. Die Amis machten sich über unser holpriges Englisch lustig, dafür ärgerten wir sie mit ihren lückenhaften Geschichts- und Erdkundekenntnissen. Am Freitag traf sich alles in Duffy’s Bar im Offiziersheim. Jeder wollte nach der harten Woche entspannen und feiern, dass er noch im Programm war. „Are you German?“, fragten die hübschen Krankenschwestern vom Nachbartisch. Das Wochenende nahm seinen Lauf.

Das Cockpit der T-37 war retro – nichts als Uhren, uralte Funkgeräte und dicke Schalter. Immerhin kam man mit dieser Steinzeitausstattung von A nach B, sofern der geringe Spritvorrat reichte. Man saß nebeneinander auf einfachen Schleudersitzen. Die Feuerstühle sollten einem im Ernstfall den Hintern retten, vorausgesetzt, Mindesthöhe und Geschwindigkeit passten. Das Notverfahren zum Ausschuss hieß: Arming handles ... raise. Trigger(s) ... squeeze, auf Deutsch: Zieh die Sicherungsgriffe hoch und drücke [mindestens] einen Abzugsgriff. Wir trugen Fallschirme wie auf der Piaggio. Oberhalb von 10.000 Fuß (etwa 3 km) Flughöhe wurde eine Verbindungsleine getrennt, die beim Notausstieg sofort den Fallschirm ausgelöst hätte. Das war wichtig, denn man durfte in großen Höhen nicht zu lange ohne Sauerstoff am Schirm baumeln, den hatte man dann ja nicht am Mann. Das Aushängen dieser Zero Delay Lanyard-Leine garantierte, dass der Pilot nach dem Ausstieg erst in dichtere Luftschichten fiel, bevor der Höhenautomat den Rettungsschirm auslöste.

Die Tweets der U.S. Air Force waren schon seit den späten 1950er-Jahren im Einsatz, in Mittelamerika flog sogar die bewaffnete A-37-Version. Sie sollte, ganz in Tarnfarben, wohl Eindruck auf Guerillas und Schmuggler machen. Unsere unbewaffnete Tweet war mit ihren gerade mal drei Tonnen Abfluggewicht ein kleiner, zahnloser Zwerg, aber ein ehrliches Schulflugzeug: einfach zu bedienen, prima zu trudeln und gnädig bei miesen Landungen.

Die Sheppard Air Force Base teilte sich das Gelände mit dem Wichita Falls International Airport. Das bedeutete Mischverkehr von T-38-Trainern, „richtigen“ Kampfjets, Bombern, Verbindungsflugzeugen, Helikoptern und Airlinern. Unter den letzteren waren auch interessante Oldies - 1950er-Jahre-Convair-440-Brummer, winzige Beech-18 - und DC-8-Frachter, die im Regierungsauftrag diskret mysteriöse Ladung an Bord nahmen oder ausluden.

Die Militärlotsen im Tower (der gesamte Platz wurde von der US Air Force technisch betreut) hatten schon mit dem normalen Verkehr alle Hände voll zu tun. Darum standen an einigen der drei Landebahnen extra Beobachtungshäuschen zur Beaufsichtigung des Schulungsbetriebes. Kampfjets fegen in der Regel mit hoher Geschwindigkeit in Formation über den Platz. Auf ein Handsignal bricht der Leader zur Platzrunde hinweg, mit wenigen Sekunden Abstand der nächste, und so weiter. Im Gegenanflug wird das Fahrwerk ausgefahren. Landescheinwerfer, Klappen – schon ist jeder im Endanflug für den Touch and Go (Durchstarten) oder die Full Stop-Abschlusslandung.

Propellerflugzeuge fliegen in der Regel ein Box-Pattern