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Joachim Küchenhoff (Hrsg.)

Psychoanalyse und Psychopharmakologie

Grundlagen, Klinik, Forschung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-028432-6

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-028433-3

epub:  ISBN 978-3-17-028434-0

mobi:  ISBN 978-3-17-028435-7

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Inhalt

 

 

  1. Vorwort
  2. Teil 1 Das Verhältnis von psychoanalytischer und psychopharmakologischer Therapie: Grundlagen
  3. Die Analyse der therapeutischen Beziehung und die Psychopharmakotherapie
  4. Joachim Küchenhoff
  5. Konkurrenz zwischen Pharmakotherapie und Psychoanalyse? Ansätze zur Integration am Beispiel der Persönlichkeitsstörungen
  6. Christopher Rommel
  7. Warum das Medikament das Verstehen nicht ersetzen kann Reflexionen zu einer Ethik der Therapie von psychisch kranken Menschen
  8. Giovanni Maio
  9. Teil 2 Allgemeine psychodynamische Psychopharmakologie
  10. »Finding the Body in the Mind …” Neuropsychoanalyse, Embodied Cognitive Science und Psychiatrie im Dialog
  11. Marianne Leuzinger-Bohleber
  12. Gibt es psychopathologische Modelle zur Erklärung der Wirkungen von Psychotherapie und Psychopharmakotherapie?
  13. Franz Resch und Peter Parzer
  14. Psychodynamische Modelle der Medikamentenapplikation und ihre Synergien mit der Psychotherapie
  15. Alois Münch
  16. Patientenautonomie, Psychodynamik und Psychopharmakologie Die Beziehungsdynamik der psychiatrischen Zwangsbehandlung – zwischen medizinisch indizierter Behandlungsnotwendigkeit und Enactment
  17. Claas Happach
  18. Teil 3 Spezielle psychodynamische Psychopharmakologie
  19. Psychotherapie und Psychopharmakotherapie bei depressiv Erkrankten
  20. Heinz Böker
  21. Antipsychotika und Unbewusstes
  22. Martina Jeßner
  23. Psychoanalytische Überlegungen zur Behandlung von Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität und Impulsivität
  24. Dieter Bürgin und Barbara Steck
  25. SSRI in der psychodynamischen Psychotherapie der Bulimia nervosa
  26. Almut Zeeck
  27. Der Einfluss der Medikation auf die psychodynamisch orientierte Therapie der sexuellen Funktionsstörungen und der Paraphilien
  28. Wolfgang Berner
  29. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
  30. Stichwortverzeichnis

 

Vorwort

 

 

Das Buch widmet sich der schwierigen Beziehung von Psychopharmakologie und Psychoanalyse. Es geht aus von der festen und in der Praxis gelebten Überzeugung des Herausgebers, dass die Psychoanalyse in Theorie und Praxis für die Psychiatrie unentbehrlich ist – und dies ganz entgegen dem Zeitgeist, der nicht mehr auf psychodynamisches Denken in der Psychiatrie zählt. Ein weiterer Ausgangspunkt, der gleichsam in umgekehrter Stoßrichtung wirkt, ist die Überlegung, dass die Psychoanalyse verarmt, wenn sie sich nicht den Herausforderungen stellt, die mit den Menschen, die psychiatrisch behandelt werden, gegeben sind. Die Psychoanalyse kann sich diesen Herausforderungen ja sehr gut stellen, heute mehr denn je, da die Konzepte sich immer mehr auf die schweren psychischen Störungen ausgerichtet haben.

Auf diesen grundsätzlichen Überlegungen baut die spezifische Fragestellung des Buchs auf; es widmet sich ja nicht allgemein dem Verhältnis von Psychiatrie und Psychoanalyse, sondern untersucht es anhand eines spezifischen Arbeitsgebiets, der Psychopharmakologie. Noch immer wird, entgegen der praktischen Häufigkeit kombinierter Anwendung, in der Theorie oft ein Trennungsstrich gezogen, so als schlössen sich beide Verfahren aus. Aber auch wo sie nebeneinander angewendet werden, wird diese Kombination wenig reflektiert, und wo das geschieht, so bleibt die Analyse merkwürdig unbeholfen und oberflächlich.

Diesem Mangel will das Buch entgegentreten. Es will das Verhältnis von Psychopharmakologie und Psychoanalyse in seiner Tiefe und Breite ausloten, und zwar in folgenden Hinsichten:

•  Was verändert sich an der therapeutischen Beziehung, wenn Psychopharmaka gegeben werden? Damit verbunden ist das durchaus kontrovers behandelte Thema, ob denn die Behandlung mit Medikamenten in der Hand des Analytikers liegen sollte oder ob sie nicht besser an eine andere Person abzugeben wäre.

•  Was verändert sich an der medikamentösen Behandlung, wenn sie durch eine psychodynamische Reflexion begleitet wird? Dazu gehört, die subtilen und unbewussten Bedeutungen des Medikamentes zu erfassen, aber auch, die subliminalen Nebenwirkungen und psychotropen (unbeabsichtigten) Effekte besser zu erfassen. Dazu gehört auch die Frage, ob eine psychodynamisch fundierte Medikamentengabe nicht Auswirkungen auf das Selbstverständnis und die Rechtfertigungspflicht des Arztes haben muss.

•  Wie lässt sich die Grundlage eines Zusammenwirkens psychodynamischer und neurobiologischer Effekte theoretisch und konzeptuell fassen? Untersucht werden dabei die neurobiologischen Mechanismen, die durch Psychopharmaka oder durch Psychotherapie angestoßen werden. Es werden aber auch psychopathologische Grundlagen zu erarbeiten sein, wenn denn die Psychopathologie nach wie vor als Grundlagenwissenschaft der Psychiatrie gelten darf, die darauf abzielt, verschiedene methodologische Zugangsweisen miteinander ins Gespräch zu bringen.

•  Schließlich soll spezifisch nach dem speziellen Bedeutungsgehalt und den speziellen Wirkungen der Psychopharmakologie unter einer psychoanalytischen Grundlage bei einigen wichtigen Krankheitsbildern, vor allem den psychotischen und den depressiven Störungen, aber auch beim ADHS, den Essstörungen und Sexualstörungen gefragt werden. Hier geht es gewissermaßen um eine spezielle psychodynamische Psychopharmakologie, die bislang nicht oder nur in ersten Andeutungen existiert.

Aus den oben stehenden konzeptuellen Bemerkungen hat sich zwanglos die Gliederung des Buches ergeben. In einem ersten Teil geht es in einem sehr weit gefassten Sinn um das Verhältnis von Psychopharmakotherapie und psychoanalytischer Therapie. Durch die Gabe von Psychopharmaka verändert sich die therapeutische Beziehung, das Medikament erzeugt pharmakotrope Übertragungen und Gegenübertragungen. Umgekehrt gilt aber auch, dass eine psychodynamische Fundierung der Medikamentengabe Auswirkungen auf die Medikamenteneffekte selbst hat. Eine psychodynamische Psychopharmakologie ist notwendig; sie zu etablieren ist das Ziel dieses Buches (Joachim Küchenhoff). Im zweiten Beitrag des ersten Teiles wird der Frage nachgegangen, ob Pharmakotherapie und Psychoanalyse denn einander ausschließende therapeutische Wege sind. Diese Fragestellung wird am Beispiel der Behandlung von schweren Persönlichkeitsstörungen diskutiert. Plädiert wird für eine fruchtbare Dialektik zwischen der medikamentösen und der psychotherapeutischen Behandlung, ein konstruktives Miteinander soll ein additives Nebeneinanderstellen von Pharmakologie und Psychotherapie ersetzen. Die Grundlagen für ein solches Miteinander werden in dem Beitrag dargestellt (Christopher Rommel).

In einer ethischen Perspektive schließlich ist es nicht statthaft, Pharmakotherapie und Psychotherapie so zu kontrastieren, dass die gute Psychotherapie der ethisch problematischen Medikation entgegengesetzt wird. Beide Verfahren sind anfällig für Irreführung und Manipulation, wenn auch auf eine je unterschiedliche Weise. Die Selbstbestimmung des Patienten zu wahren oder im Fall der Zwangsmedikation wiederherzustellen, das ist nicht nur durch ein Verstehen im Rahmen der Beziehung zum leidenden Menschen möglich (Giovanni Maio).

Im zweiten Teil werden integrative Forschungsperspektiven aufgebaut und Konzepte des Zusammenwirkens beschrieben. Dieser Teil kann gleichsam als die »allgemeine psychodynamische Psychopharmakologie« gelten. Betrachtet man nicht nur die Beziehungsperspektive, sondern geht man von den neurobiologischen Prozessen aus, die einerseits durch Psychotherapie, andererseits durch die Psychopharmakologie bewirkt werden, so gliedert sich die spezifische Fragestellung des Buches in die allgemeine Fragestellung des Zusammenspiels von mentalen und körperlichen Prozessen ein. Es ist also notwendig, die Perspektiven der Neuropsychoanalyse und des Embodiments als Grundlage zu nehmen, um das Verhältnis von psychopharmakologischer und psychotherapeutisch-psychoanalytischer Wirkung miteinander zu vergleichen (Marianne Leuzinger-Bohleber). Einen anderen Ansatz zur Erklärung des Zusammenwirkens von Medikation und Psychotherapie wählen Resch und Parzer in ihrem Beitrag. Sie beschreiben ein psychopathologisches Modell, in dem eine funktionale Beschreibung von Symptomen entscheidend ist. Die von den Patienten beklagte und gezeigte Symptomatik wird so auf die Umweltbedingungen bezogen, Handlungsäußerungen werden auf ihre Zielsetzungen hin definiert, die situative Überforderung der erkrankten Person wird dargestellt und schließlich wird auf die strukturellen Defizite der Persönlichkeit geachtet. In diese Funktionsanalyse lässt sich die Wirkung der verschiedenen Verfahren gewissermaßen eintragen (Resch und Parzer). Als Grundlage des Verständnisses lässt sich aber auch eine psychodynamische Konzeption wählen. Stavros Mentzos hat hier Vorarbeiten geleistet; auf der Grundlage dieser Arbeiten entfaltet Münch ein psychodynamisches Konzept des pharmakologisch-therapeutischen Zusammenhanges. Ausgangspunkt ist das Modell des intrapsychischen Konfliktes, der im Fall der psychotischen Störungen als Dilemma zwischen Selbstbezug und Objektbezug verstanden werden kann. Die Störung selbst stellt einen – wie immer auch problematischen – Lösungsansatz dieses oder anderer Dilemmata dar. Die pharmakologische ebenso wie die psychotherapeutische Behandlung greift auf unterschiedliche Weise ein in den Umgang mit den beschriebenen Dilemmata (Alois Münch). Zum allgemeinen Teil einer psychodynamischen Psychopharmakologie gehört die Frage nach der Patientenautonomie; die Zwangsbehandlung ist der Prüfstein dafür, wie das Verhältnis von Psychopharmakologie und Psychoanalyse gedacht werden muss. Wird die Zwangsbehandlung im Kontext der Beziehungsdynamik gesehen, kann die Psychoanalyse dazu beitragen, eine Pragmatik der Psychopharmakologie zu ermöglichen, in der Zwang reflektiert und immer wieder auch vermieden werden kann (Claas Happach).

Der dritte Teil des Buches widmet sich der »speziellen psychodynamischen Psychopharmakologie«. In Bezug auf depressive Störungen lohnt es sich zu berücksichtigen, welche Symptome medikamentös beeinflussbar sind und welche Persönlichkeitsfaktoren für eine länger anhaltende psychodynamische Psychotherapie sprechen. Interessant ist es auch, der Forschungsfrage nachzugehen, welche somatischen Faktoren sich durch Psychotherapie bei depressiven und bipolaren Störungen verändern. Auch bei den affektiven Störungen sollte die Behandlung monokausale Ätiologiekonzepte überwinden, so dass die Psychotherapie neurobiologische Veränderungen anstößt, ebenso wie die antidepressive Medikation die Psychotherapie fördert. So ist ein neuropsychodynamisches Verständnis der Depression zu erreichen (Heinz Böker). Immer muss bei der uns interessierenden Frage des Verhältnisses von Psychopharmakologie und Psychoanalyse der Ort der Therapie reflektiert werden; aus der Perspektive einer niedergelassenen Psychiaterin sieht die Medikamentengabe anders aus als während der stationären klinischen Behandlung. Auch die Wirkung der Medikation im Rahmen spezifischer Krankheitsbilder wird unterschiedlich sein. Antipsychotika übernehmen in der Behandlung andere Funktionen als Antidepressiva. Sie können zum Symbol des Realitätsprinzips in einer psychotherapeutischen Behandlung werden und einen sicheren und verlässlichen Behandlungsrahmen darstellen und gerade nicht als Störfaktor erscheinen (Martina Jeszner). Ein besonderer Prüfstein für die Frage nach dem Verhältnis von Psychopharmakologie und Psychoanalyse stellt die Behandlung von Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität und Impulsivität dar. Welche Therapie gewählt wird, hängt auch davon ab, wie neurobiologische Verursachungen oder umweltbedingte Frühtraumatisierungen beachtet werden. Stimulanzien haben sich in der Behandlung ubiquitär verbreitet. Eine psychotherapeutische und psychoanalytische Behandlung der Kinder kann aber auch eine Alternative sein. Wenn Stimulanzien im Rahmen einer psychoanalytischen Psychotherapie verabreicht werden, wird es möglich sein zu erfassen, welche Bedeutung die Medikamente übernehmen und ob sie in der Therapie hilfreich oder umgekehrt belastend wirksam werden (Dieter Bürgin und Barbara Steck). Bei der Behandlung von Essstörungen spielen stimmungsstabilisierende Medikamente eine Rolle. Bei der Bulimia nervosa können sie dabei helfen, die Häufigkeit der Anfälle zu verringern und die Symptomatik zu verbessern oder zugleich auftretende depressive Störungen zu verbessern. Eine psychodynamische Betrachtungsweise widerspricht einer psychopharmakologischen nicht, aber die Bedeutung einer medikamentösen Therapie für die Patientinnen muss differenziert erfasst werden, ebenso wie die Auswirkung auf die therapeutische Beziehung (Almut Zeeck). Bei sexuellen Funktionsstörungen wurde lange Zeit ausschließlich eine Psychotherapie als Therapie gewählt. Mittlerweile aber können Medikamente eingesetzt werden, etwa bei den erektilen Dysfunktionen, bei der Ejakulatio präcox und schließlich bei den paraphilen Störungen. Es gilt genau zwischen den verschiedenen Sexualstörungen zu differenzieren und im Einzelfall genau zu überlegen, was die Psychotherapie und was die Pharmakotherapie bewirken kann. Insgesamt wird die Kombination der Verfahren als aussichtsreich und lohnend dargestellt (Wolfgang Berner).

Die Initiative zu diesem Buch hat sich aus einer Tagung entwickelt, die Christopher Rommel und ich im Rahmen des Arbeitskreises »Psychoanalyse und Psychiatrie« der DGPT im Jahre 2014 in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrie Baselland in Liestal durchgeführt haben. Mein Dank richtet sich zunächst an alle Autorinnen und Autoren, die sehr rasch bereit waren, sich an dem Projekt zu beteiligen. Ich danke Frau Celestina Filbrandt vom Lektorat Psychologie des Kohlhammer-Verlages und Herrn Dr. Ruprecht Poensgen als dem Verlagsleiter des Kohlhammer-Verlages für ihr großes Interesse an diesem Projekt und die fortgesetzte Unterstützung in den verschiedenen Phasen der Entstehung des Buches. Frau Elke Anschütz, Direktionssekretärin Erwachsenenpsychiatrie der Psychiatrie Baselland, stand immer im Kontakt mit den Autorinnen und Autoren und hat die Überarbeitung der Manuskripte begleitet.

Ich freue mich, dass mit dem Buch eine wichtige Brücke geschaffen worden ist zwischen Psychiatrie und Psychoanalyse, eine von vielen notwendigen Brücken, die mir ein besonderes Anliegen sind.

Joachim Küchenhoff, im Sommer 2016

 

 

 

Teil 1
Das Verhältnis von psychoanalytischer und psychopharmakologischer Therapie: Grundlagen

 

Die Analyse der therapeutischen Beziehung und die Psychopharmakotherapie

Joachim Küchenhoff

Der Ausgangspunkt: Die Notwendigkeit, therapeutische Beziehung und Psychopharmaka-Gabe zusammen zu betrachten

Psychopharmaka werden nicht einfach verabreicht; ihre Gabe ist unausweichlich und immer in eine Beziehung eingebettet, ob das der Therapeut will oder nicht. Der praktisch tätige Psychiater weiß das. Weil die Compliance oder Adherence, weil die verlässliche und motivierte Einnahme von verordneten Medikamenten nicht ohne weiteres gewährleistet sind, weil also viele Patienten die ihnen verordneten Medikamente gar nicht nehmen, ist es schon für den biologisch eingestellten Therapeuten notwendig, die Faktoren, die die Patienten abhalten, zu erkennen. Dieser Frage widmen sich viele Forscher. Die Mitarbeit des Patienten in der Medikamenteneinnahme wird mit ausgefeilten empirischen Methoden erfasst, und die Techniken, mit der sich die Adherence verbessern lässt, sind verfeinert worden. Beispielsweise sind psychoedukative Maßnahmen und das Gespräch mit den Patienten nach dem Vorbild des sogenannten Motivational Interviewing für die Förderung der Compliance angepasst und ausgearbeitet worden. Dabei zeigt sich auch in der Forschung, dass psychosoziale Faktoren einen Einfluss haben, dass »reine« Techniken nichts bringen, dass stattdessen die Kombination einer Vielzahl von Vorgehensweisen erfolgversprechender ist (Kane, Kishimoto & Correll, 2013). Es braucht mehr als z. B. eine einfache Psychoedukation.

Dieses Ergebnis ist wichtiger, als es auf den ersten Moment erscheint. Denn zunächst heißt es doch wohl nichts anderes, als dass die Medikation eingebunden sein muss in eine gute und überzeugende therapeutische Beziehung. Dazu gibt es empirische Daten. In der Behandlung schizophrener Patienten etwa führt die gute therapeutische Beziehung zu einer besseren Adhärenz in Bezug auf die Einnahme von Psychopharmaka (McCabe et al., 2012). »Die therapeutische Beziehung ist für die psychopharmakologische Therapie ebenso wichtig wie für die Psychotherapie«, hält ein Standard-Lehrbuch trocken und bestimmt fest (Tasman et al., 2015, S. 2390).

Aber die gute therapeutische Beziehung gibt es nicht gratis und automatisch. Das oben zitierte Ergebnis, dass verschiedene Vorgehensweisen kombiniert werden müssen, ist auch deshalb so wichtig, weil es darauf hinweist, wie komplex die Aufgabe wird, wenn man sich entschließt, die Medikation wirklich in eine Beziehung einzubetten. Dazu ist es natürlich auch notwendig, die therapeutische Beziehung angemessen zu fördern. Das heißt aber auch, dass die Frage beantwortet werden muss, ob und allenfalls wie eine solche Beziehung hergestellt werden kann, was die Faktoren sind, die sie beeinflussen, belasten oder stören, mit einem Wort: wie sich die therapeutische Beziehung selbst, und das Pharmakon als ihr Bestandteil, verstehen lässt. Allzu gern wird die »gute therapeutische Beziehung« wie eine Zutat, eine Ingredienz behandelt, die noch zu den biologischen Effekten gleichsam hinzugegeben werden muss, als ein Gewürz oder ein Bindemittel, damit das Behandlungsregime gut zu einer Einheit verbacken werden kann. So einfach ist es eben nicht.

Halten wir also fest: Wir wissen, dass wir nicht nicht kommunizieren können, und diese Aussage ist zu einem – allerdings unvermindert wichtigen – kommunikationstheoretischen Gemeinplatz geworden, der sich auch auf die Vergabe von Medikamenten bezieht: Auch wenn der Psychiater sich nicht darauf einstellt, unabhängig also von seinen Überzeugungen, ist die Verabreichung von Medikamenten oder das Ausstellen eines Rezeptes ein kommunikativer Akt, eine Gabe. Und diese Kommunikation findet im Rahmen einer persönlichen Beziehung statt, die wiederum verankert ist in einem aktuell wirksamen soziokulturellen Milieu. Die Verordnung von Psychopharmaka findet auf mindestens drei Ebenen statt. Sie ist neurobiologisch-naturwissenschaftlich begründet. Sie ist gebunden an eine therapeutische Beziehung. Die Gabe selbst ist an gesellschaftliche Diskurse und Zeichensysteme angeknüpft, die darauf Einfluss nehmen, welchen Stellenwert ein Psychopharmakon hat, wie der psychisch Kranke in der Gesellschaft situiert und angesehen ist, wie die Medien psychiatrischen Behandlungen reflektieren etc.

Das alles begründet noch nicht die Notwendigkeit einer psychodynamischen Reflexion. Beziehungsanalyse aber ist die Stärke und der Kern psychoanalytischer Verfahren. Deshalb sind sie – jedenfalls prinzipiell – besonders geeignet, das komplexe Beziehungsgeschehen der Medikamentengabe nicht nur zu beschreiben, sondern auch in seiner Qualität, seiner Dynamik und seinen Auswirkungen zu reflektieren. Gabbard (Gabbard, 2000a) hat von einer dynamischen Psychopharmakotherapie gesprochen, und die brauchen wir in der Tat.

Bislang sind wir davon ausgegangen, dass es der Psychiater in seiner privaten Sprechstunde oder in der Klinik ist, der Medikamente verordnet und dies im Rahmen einer – wie auch immer gearteten – therapeutischen Beziehung tut. Psychopharmaka machen indes vor den Toren der psychoanalytischen Praxis nicht halt. Sie werden auch im Verlaufe von Psychoanalysen häufiger verordnet, als dies vielen Analytikern lieb sein dürfte. Es ist davon auszugehen, dass die meisten unter depressiven Stimmungen leidenden Analysanden sich früher oder später die Frage stellen, ob sie eine medikamentöse Zusatzbehandlung ihrer Leiden erwägen sollten. Wie viele Psychoanalytiker selbst Psychopharmaka einnehmen, darüber existieren keine verlässlichen empirischen Daten. Psychopharmaka sind in irgendeiner Weise in der psychoanalytischen Behandlung präsent; dieser Tatsache gegenüber steht der Umgang mit ihnen. In der Regel sind sie ungebetene oder ungeliebte Gäste, die leicht übersehen oder an den Rand der Aufmerksamkeit gedrängt werden. Psychopharmaka wurden lange Zeit in der Psychotherapie, gerade von Psychoanalytikern, zwar gegeben, der damit verbundene Wechsel in der Behandlungskonzeption wurde aber nicht reflektiert. Viele Psychoanalytiker oder psychodynamische Psychotherapeuten vertreten eine Krankheitstheorie und Behandlungskonzeption, in denen die psychopharmakologische Therapie nur als Ultima Ratio zugelassen ist. Hämisch und kritisch wurde diese Haltung als »psychopharmacological Calvinism« bezeichnet (Radden, 2004), wobei nicht die Psychoanalytiker gemeint waren, sondern all jene, die gleichsam eine Weltanschauung aus der psychosozialen oder existentiellen Verursachung der Melancholie oder der Schizophrenie gemacht haben und die biologische Dimension ausgesperrt haben aus ihrer Krankheitstheorie. Dieser Gesichtspunkt indes ist entscheidend, und wir werden darauf zurückkommen: Sind alle angewandten Methoden auch Teil des komplexen Krankheitsverständnisses? Wird die Gabe eines Antidepressivums während der psychoanalytischen Psychotherapie auch in die Krankheitskonzeption, die gegenüber dem Analysanden vertreten wird, eingebunden? Es scheint, als ob vielmehr die Verordnung gleichsam als Versagen der eigenen Möglichkeiten des Analytikers erlebt wird, über das zudem noch geschwiegen wird – Medikamente sind nötig, vielleicht auch aus rechtlichen Gründen zwingend, aber sie erzeugen Schamgefühle. Eine merkwürdige Stummheit umgibt diese zusätzliche Behandlung, die schamvoll verschwiegen wird und oft nicht zum Gegenstand des therapeutischen Gesprächs wird. Neuere Untersuchungen gehen aber von einer Quote von 20 bis 35 % Psychopharmaka-Einnahme während Psychoanalysen aus (Cabaniss & Roose, 2005, S. 399) – Grund genug, dass sich die psychoanalytischen Forscher mit dem Praxisfaktor Psychopharmakologie auseinandersetzen und gegen die pharmakotrope psychoanalytische Scham ankämpfen. Die folgenden Überlegungen werben nicht für Psychopharmaka, aber für einen psychoanalytischen Realismus, also dafür, nicht die Augen zu verschließen auch vor diesem Zusammenhang zwischen psychopharmakologischer und psychoanalytischer Behandlung, sondern sich mit ihm auseinanderzusetzen.

Der dritte und letzte Punkt, warum es unabweislich wird, sich mit der Verbindung von Psychotherapie und Psychopharmakologie zu befassen, ist in der empirischen Forschung begründet. In der Forschung zeigt sich, dass die Kombination von Psychotherapie und Psychopharmakologie in der Behandlung schwerer seelischer Störungen sehr hilfreich ist. In den S3-Behandlungsleitlinien für unipolare Depressionen etwa wird für die schwere unipolare Depression die Kombination der Verfahren gefordert, die der Medikation unter ärztlicher Begleitung überlegen ist (Küchenhoff, 2012a). In die gleiche Richtung weisen Forschungsstudien, die sich auf psychoanalytisch fundierte Verfahren konzentrieren. Sie weisen darauf hin, wie wichtig eine Kombination von Pharmako- und psychoanalytischer Therapie sein kann: »Neuere Studien belegen eindeutig die Effizienz der Kombination von Psychopharmakologie und psychoanalytischer Therapie. Nun richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Indikationen und Kontraindikationen einer integrierten Behandlung« (Lebovitz, 2004, S. 585, eig. Übersetzung).

Das Psychopharmakon und sein Einfluss auf die therapeutische Beziehung

Diskursformen

Pharmaka werden von Ärzten verschrieben, nicht von Psychotherapeuten oder Psychoanalytikern. Der Therapeut, der sie einsetzt, wird in diesem Moment zum Arzt. Die Medikamentengabe ist Teil des medizinischen Diskurses, mehr noch: Das Medikament konstituiert einen medizinischen Diskurs. Unter Diskurs wird hier die Bindung des sozialen Handelns und des Sprechens an einen sozialen Zusammenhang und an ein Regelwerk von Zeichen verstanden, das den Teilnehmern an einer Kommunikation die Kommunikationsformen vorgibt. Wenn etwa der Therapeut Medikamente verordnet, tritt er als Experte auf, er verpflichtet sich in seiner Rolle und durch die Übernahme der ärztlichen Aufgaben dazu, Fachwissen zu erwerben und es weiterzugeben. Deshalb sucht der Patient ihn auf; der die Medikamente verschreibende Arzt muss zwischen den pharmakologischen Möglichkeiten auswählen, muss das rechte Medikament empfehlen, muss über Wirkungen und Nebenwirkungen aufklären und die Effekte der Therapie überwachen. Sobald ein Medikament verordnet wird, wird eine medizinische Beratungs- und Expertensituation geschaffen. Arzt und Patient verpflichten sich einem medizinischen Diskurs. In der Arzt-Patient-Beziehung sind die Rollen eindeutig verteilt. Der Arzt besitzt das Wissen; er »verordnet«, wobei er dem Patienten nicht eine Behandlung anordnen kann.

Damit unterscheidet sich die Rollendefinition des Arztes fundamental von der des Psychoanalytikers. Natürlich verfügt der Analytiker ebenso über ein differenziertes Fachwissen. Aber er setzt es gebrochen ein. Im psychoanalytischen Gespräch der Kur versteht sich der Analytiker als derjenige, dem Wissen von Seiten des Analysanden unterstellt wird, als das »Sujet supposé savoir« (Lacan, 1978/1980). Bei ihm – das kann diese Formel meinen – ist das Wissen so untergestellt oder deponiert, dass es bei ihm in Sicherheit gebracht worden ist oder von ihm verwahrt werden kann; aber die Formulierung kann zugleich bedeuten, dass das Wissen des Analytikers auf einer Täuschung beruht, dass er über kein eigenes und unabhängiges Wissen verfügt, sondern nur das vom Anderen verstehen kann, was ihm von diesem vermittelt wird. Auch der Analytiker schwebt stets in Gefahr, in einen »Herrendiskurs« (»discours du maitre«) zu verfallen, also Macht auszuüben (Lacan, 1978/1980, S. 242 ff.; s. Widmer, 1990, v.a. 158 ff.). Durch die Verordnung von Medikamenten findet notgedrungen ein Diskurswechsel statt, jedenfalls dann, wenn eine Psychotherapie auf analytischer Grundlage durchgeführt wird; man kann ihn übersehen (wollen), vermeiden lässt er sich nicht.

Der psychoanalytische Raum und das Psychopharmakon

Damit eine psychoanalytische Psychotherapie oder eine Psychoanalyse fruchtbar werden kann, braucht sie einen räumlich-zeitlichen Rahmen, der es zulässt, dass freie Assoziationen geäußert werden, in dem Phantasien möglichst ohne Bewertung und Zensur zugelassen sind und in dem sich in der therapeutischen Beziehung ein Übergangsraum ausbildet, der ein Raum der Kreativität ist (Küchenhoff, 2016). Dieser Raum kann empfindlich gestört werden durch die Medikamentengabe. Der Diskurswechsel, der soeben beschrieben wurde, kann zu einem veränderten Krankheitskonzept führen. Auf der Seite des Patienten kann es dazu kommen, dass er sich selbst objektiviert, also wie ein Objekt des psychiatrisch-psychopathologischen Blicks ansieht. Teil der Krankheitsvorstellung sind dann nicht mehr die eigene Subjektivität und die Suche nach den persönlichen Faktoren, die mit der Krankheit etwas zu tun haben könnten. Die Gefahr ist infolgedessen groß, dass der Patient den Spielraum oder Möglichkeitsraum verliert, der für die Entfaltung seiner Subjektivität in der Behandlung so wichtig ist und der es ermöglicht, die eigenen Erfahrungen mit der Krankheit zu verbinden und sie in seine persönliche Geschichte einzuordnen. Der Diskurswechsel kann diese Fähigkeit des Patienten zu denken, seine Erzählungen von sich und von anderen im Blick auf die eigene Lebensgeschichte oder die Gegenwart zu erweitern, seine narrative Kompetenz beeinträchtigen (Cheuk, 2010, S. 655 ff.). Ebenso sehr aber kann sich auf Seiten des Analytikers der Phantasieraum, seine Fähigkeit zur Rêverie einschränken, die freilich für die psychoanalytische Tätigkeit zentral ist (Warsitz & Küchenhoff, 2015); die Medikamentengabe zwingt ihn unter Umständen dazu, auf die Äußerungen des Analysanden nicht mehr mit seiner gleichschwebenden Aufmerksamkeit, seinem eigenen Vermögen zu phantasieren und mit dem »dritten Ohr« zu hören, sondern die Worte und Verhaltensweisen des Analysanden als Symptome aufzufassen, die einen Hinweis darauf geben, ob die Medikamentengabe gerechtfertigt ist oder nicht, ob der Analysand auf die Medikation anspricht oder Ähnliches.

An dieser Stelle sei vor vorschnellen Parteinahmen gewarnt, die dazu führen, dass die eine Seite für einen verunreinigenden und störenden Faktor gehalten wird, die andere hingegen für die einzig angemessene. Es sei auch gewarnt davor, in Alles-oder-Nichts-Kategorien zu denken. Wenn Diskurswechsel und Verengungen des analytischen Raums beschrieben werden, so sollen damit die nichtpharmakologischen, beziehungsdynamischen Wirkungen der Psychopharmaka-Verordnung reflektiert und sichtbar gemacht werden. Über diese Wirkungen sollte man nicht hinweggehen, sondern sie festhalten und mit ihnen in der Praxis rechnen. Damit ist freilich nicht die Aussage verbunden, dass der Diskurswechsel starr und endgültig ist, auch nicht, dass der psychoanalytische Raum zerstört wird und sich nicht mehr wieder aufrichten lässt. Diskursform und Übergangsräume sind verändert, aber nicht dauerhaft ge- oder gar zerstört.

Pharmakotrope Übertragungen

Das Medikament tritt als etwas Drittes in die therapeutische Beziehung. Auf dieses Dritte werden Phantasien gerichtet, an die sich unterschiedliche Übertragungsphantasien anknüpfen können. Wenn der Analytiker derjenige ist, der auch selbst die Medikamente verordnet, dann kann die ärztliche Funktion, die dieser Medikation inhärent ist, zu einer Folie werden, auf die Übertragungen projiziert werden; der Therapeut wird u. U. zum strafenden Vater, zur behütenden und sorgenden Mutter, zum abwesenden und aus der Ferne machtvoll agierenden Elternteil (u. a. Kapfhammer, 1997). Auf den Psychiater, der sich auf die Medikation konzentriert, ohne über Übertragungsbeziehungen nachzudenken, richten sich natürlich gleichwohl dieselben Übertragungsphantasien, nur bleiben sie dann in der Regel unbeachtete, aber umso wirksamere Einflussfaktoren. Spürbar werden diese Übertragungsfaktoren dann in der Veränderung der Compliance. Der Patient, der auf den Psychiater die Imago eines beschämenden, bloßstellenden, Schwäche verächtlich behandelnden Objekts überträgt, lehnt die Medikation ab, weil sie der Beweis wäre, dass er tatsächlich schwach ist und durch die Medikation nicht versorgt, sondern verachtet wird. Wenn der überdauernde seelische Konflikt des Patienten um die Polarität von Kontrolle versus Unterwerfung kreist und der Psychiater als das bestimmende Objekt erlebt wird, das Unterwerfung verlangt, wird die heimliche Gegenwehr des Patienten in dem Boykott der Einnahme der verordneten Substanzen liegen. Aber nicht nur die fehlende Compliance, sondern auch die allzu willige Mitarbeit kann Folge einer wirksamen, aber unbeachteten Übertragung sein. Der Patient, der es gewohnt ist, nicht autark zu handeln, sondern sich passiv versorgen zu lassen, wird diese passive Version eines Versorgungs-Autarkie-Konfliktes so umsetzen, dass er alles Mögliche einnimmt, ohne Rücksicht auf Wirkungen und Nebenwirkungen.

Der Diskurswechsel selbst löst Phantasien aus. Gehen wir von dem Fall aus, dass der Analytiker seinen Patienten eine lange Zeit in einem analytischen Setting behandelt und der Patient immer depressiver wird, so dass der ärztliche Analytiker sich entschließt, Antidepressiva zu verordnen: Was vermittelt er dem Analysanden mit dieser Empfehlung oder Verordnung? Sie prägt die Übertragung, die Veränderung in der Beziehung wird auf dem Hintergrund der eigenen lebensgeschichtlichen Beziehungserfahrungen interpretiert. »Mein Therapeut weiß sich nicht mehr zu helfen«, »Ich bin nicht therapierbar«, oder: »Er sorgt sich um mein Wohlergehen« oder »Er schickt mich weg, er ist das Reden mit mir leid.« – Wohlgemerkt, diese unvermeidbaren Folgen des Diskurswechsels sprechen nicht zwingend dafür, die Verordnung auf zwei verschiedene Personen zu verteilen. Es hängt vom Selbstverständnis des Analytikers ab, von seiner Fähigkeit, beide Diskurse zu bedienen und zugleich analytisch den Diskurswechsel zu reflektieren und zu deuten. Das mag sehr schwierig sein, die Gefahr einer unprofessionellen Medikamentenbehandlung ist ebenso wenig zu unterschätzen wie eine analytisch unbearbeitete Verschreibung. Auf der anderen Seite ist es vorteilhaft, dass die so verschiedenen Behandlungspraktiken nicht voneinander isoliert ablaufen; die Delegation an einen Dritten führt mit höherer Wahrscheinlichkeit zu einer Projektion der mit der Medikamentengabe verbundenen Problematik, die dann in der Analyse nicht mehr deutend aufgegriffen wird.

Ein drittes Element betritt die therapeutische Szene, das Medikament selbst. Es ist nicht nur – sonst gäbe es keine Placebowirkung – chemische Substanz mit neurochemischen und anderen Effekten, sondern auch Bedeutungsträger, Träger einer Selbst- oder einer Objektphantasie: »Ich brauche, um vollständig zu sein, eine Krücke, allein bin ich defekt« – so die Phantasie einer Patientin, die die Medikation in ihr Selbstbild integriert hat, als Bestätigung ihrer Überzeugung, niemals aus eigener Kraft leben zu können. Ein Patient mit der Diagnose einer Schizophrenie, den ich lange psychotherapeutisch begleitet habe, wünschte ab und zu eine Veränderung der – von ihm insgesamt sehr gut tolerierten – neuroleptischen Medikation. Sobald ich zustimmte und noch bevor sie realisiert wurde, wurde er unruhig: Das Medikament war ihm ein Rahmen, garantierte so etwas wie eine häusliche Ordnung, die der Patient infolge seiner Psychose gründlich verloren hatte. Die Veränderung signalisierte dann: Es ist nicht mehr alles beim Alten, und damit schon der Anfang vom Ende. Wohl bekannt schließlich ist die Dynamik bei Patienten, die unter Angststörungen leiden. Der Tranquilizer in der Handtasche, auch wenn er gar nicht genommen wird, bekommt die Qualitäten eines steuernden Objektes zugeschrieben, eines ständigen Begleiters, der sie an der Hand nimmt, der im Zweifel immer bei ihnen ist.

Pharmakotrope Gegenübertragungen

Zur dynamischen Psychopharmakologie gehören die Übertragungen des Psychiaters und die Anleitung seines Handelns durch Gegenübertragungen (Rubin, 2001). Auch der Psychiater überträgt auf das Medikament, indem es zum Symbol seiner Selbstunsicherheit oder seines Unvermögens werden kann, wenn er sich doch vorgenommen hat, den Patienten allein durch das Wort und die Beziehung zu heilen. So kann das Medikament zum unerwünschten, aber tolerierten Dritten werden, mit dem ein Angriff auf das psychotherapeutische Ichideal verbunden wird.

Aus der Enttäuschung heraus, dass eine Therapie nicht vorangeht und sich ein lang ersehnter Erfolg nicht einstellt, kann, wird sie nicht reflektiert, eine verheerende Rückkopplung und ein maligner Zirkel entstehen: Der durch das Versagen der Medikamentengabe narzisstisch gekränkte Therapeut versucht, die eigene (Omni-)Potenz wiederzuerlangen, indem er noch mehr verordnet, die Medikamente höher dosiert, sie kombiniert mit anderen Medikamenten etc.

»Der Therapeut übernimmt die Rolle des Trägers eines esoterischen Wissens, das er an den Patient weitergibt, um ihn zu verändern. Wenn dieser eine Besserung nicht zustande bringt, …, dann fühlt sich der Therapeut unter Umständen impotent, was er sich gar nicht eingestehen mag. So antwortet er darauf, indem er seine Omnipotenz stärkt. Immer mehr betont er die Krankheit und die Defizite des Patienten, der sich seinerseits immer hilfloser fühlt« (Meares & Hobson, 1977, S. 358; eig. Übersetzung).

Diese maligne Konstellation wird drastisch, aber treffend »Verfolgungsspirale« genannt.

Wichtiger noch erscheinen die Gegenübertragungen im engeren Sinn. Schon die Indikationen zur Medikation folgen unter Umständen einer Gegenübertragungseinstellung; die Verordnung kann eine gegenübertragungsbestimmte Reaktion auf den Hilferuf des Patienten sein. Wenn der ängstliche Patient beim Therapeuten seinerseits Angst hervorruft, so kann die Medikation ein Versuch der Angstbindung sein, also des Umgangs mit der eigenen, gegenübertragungsinduzierten Angst des Therapeuten.

Die Medikation distanziert unter Umständen, erlaubt einen Abstand aus einer bedrängend dicht werdenden therapeutischen Beziehung. Die Verordnung kann dann einen unbewussten Versuch darstellen, sich vom Patienten zurückzuziehen oder sogar um sich seiner zu entledigen. Pharmakotherapie schafft u. U. eine »delusion of precision« (Gutheil, 1982, S. 321 ff.), eine Scheinsicherheit, hinter die sich der Therapeut zurückziehen kann und mit deren Hilfe er sich aus der therapeutischen Beziehung entfernen kann. Doppeldeutig und doch entlarvend deutlich klingt die Formulierung, es werde ein Mensch ruhig gestellt. Wörtlich genommen, könnte damit ein beruhigendes, schonendes Eingreifen angesprochen sein, und doch schwingt im Sprachgebrauch eine andere Ebene, die von Gewalt und Fremdbestimmung, mit.

Die Psychopharmakologie als Voraussetzung einer psychotherapeutischen Beziehung

Psychopharmaka sind i. d. R. differente Medikamente, also Medikamente, die über eine eigenständige biologische Wirkung verfügen, die in den Hirnstoffwechsel, meist auf der Ebene der synaptischen Verschaltung, eingreifen und auf verschiedenen Wegen das Angebot an neurochemischen Überträgerstoffen regulieren. Nicht die biochemischen Wirkmechanismen sind hier zu beschreiben, sondern die psychologischen Auswirkungen, die die Medikamente haben können. Im vorausgehenden Abschnitt wurden bereits die Beziehungsaspekte beschrieben, und es wurde angedeutet, dass die Medikamentengabe in eine Konfliktdynamik eingelassen sein kann, die es zu reflektieren gilt. Aber es gibt auch eine andere Seite, nämlich dass Psychopharmaka dazu beitragen, eine tragfähige therapeutische Beziehung überhaupt aufzubauen.

Entscheidend für einen Patienten in der Krise ist die Frage nach der ihm gebliebenen Autonomie und Selbstständigkeit. Für ihn wird es einen entscheidenden Unterschied machen, ob die Medikamente ihm aufgezwungen worden sind, also seine Autonomie durch die Medikamente als gebrochen erlebt wird, oder ob umgekehrt zumindest im Behandlungsverlauf deutlich werden kann, dass die Medikamente das Ichgefühl verbessern, die Handlungsfähigkeit stärken, kurz: das Gefühl von Selbstwirksamkeit restaurieren können. Das macht die Therapie manischer Patienten so sehr schwierig, weil die pharmakogene Dämpfung in der Regel als schwerer Verlust erlebt wird. Für den durch Halluzinationen und Verfolgungsideen geplagten schizophrenen Patienten hingegen kann das Medikament als wirkliche Unterstützung erfahren werden. Die respektvolle, die Persönlichkeit des Patienten würdigende Beziehungsarbeit ist die Voraussetzung dafür, dass die Medikation als Zunahme an Selbstwirksamkeit erlebt wird. Aber der Zusammenhang lässt sich andersherum lesen; wenn die Medikamente in das psychotische Erleben wirksam eingreifen, entspannen sie die Beziehung, so dass die Patienten für die therapeutischen Interventionen aufgeschlossener sind.

Freud war davon ausgegangen, dass bestimmte Patientengruppen von vornherein von der Analyse ausgeschlossen seien. In den »Vorlesungen« schreibt er: »Viele Behandlungsversuche misslangen in der Frühzeit der Analyse, weil sie an Fällen unternommen waren, die sich überhaupt nicht für das Verfahren eignen, und die wir heute durch unsere Indikationsstellung ausschließen. Aber diese Indikationen konnten auch nur durch den Versuch gewonnen werden. Von vornherein wusste man seinerzeit nicht, dass Paranoia und Dementia praecox in ausgeprägten Formen unzugänglich sind, und hatte noch das Recht, die Methode an allerlei Affektionen zu erproben« (Freud, 1915–1917, S. 476). Heute lässt sich dieses Verdikt nicht mehr aufrechterhalten, und das liegt einerseits an der Entwicklung der psychoanalytischen Theorie, auch der psychoanalytischen Psychosenpsychotherapie (Küchenhoff, 2012b), andererseits aber auch an der Entwicklung einer medikamentösen Therapie, die es erlaubt, die Persönlichkeit eines psychisch schwer kranken Menschen so weit zu stabilisieren, dass er durch diese Stabilisierung therapiefähig wird, wobei freilich das Setting der psychoanalytisch fundierten Therapie sorgfältig angepasst werden muss an das Strukturniveau des Patienten.

Offensichtlich wird der Zusammenhang bei der Therapie schwer essgestörter Patientinnen. Eine bulimiekranke Frau, die x-mal am Tag bricht und Fressanfälle hat, deren Gedanken sich 24 Stunden ums Essen drehen, hat keinen genügenden Spielraum für eine psychoanalytisch angeleitete Selbstreflexion, ein Therapierahmen muss erst geschaffen werden. Die Behandlung des Symptoms mit Medikamenten heißt hier, Psychotherapie überhaupt erst zu ermöglichen. Empirisch eindeutig ist der Befund, dass eine medikamentöse Behandlung mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmern die Anfallshäufigkeit zu reduzieren helfen kann. Psychopharmaka können also u. U. dazu beitragen, den Indikationsspielraum für psychoanalytische Behandlungen zu vergrößern.

Der Analysand muss für eine psychoanalytische Therapie Voraussetzungen mitbringen; die Grundvoraussetzung ist das Verständnis der und das Bemühen um die Grundregel der freien Assoziation. Strukturelle Einschränkungen können so stark werden, dass es dem Analysanden nicht mehr möglich ist, sich seinen Gedanken zu überlassen, sei es weil die Reflexionsmöglichkeiten massiv eingeschränkt sind, sei es dass die negativen Affekte zu stark werden und die Toleranz im Verarbeiten der negativen Affekte aufgebraucht ist. Wer sich aufgrund der schweren depressiven Verstimmung so stark selbst bezichtigt, dass der Eindruck des Schuldwahns entsteht, der ist u. U. durch Deutungen, so richtig sie sein mögen, nicht mehr zu erreichen. Wer so stark dissoziativen Erfahrungen ausgesetzt ist, dass er von den Erfahrungsfragmenten überfordert wird, die er nicht zusammenführen kann, kann seine Gedanken nicht mehr ordnen. Hier können Medikamente während der Psychoanalyse hilfreich sein. Psychopharmaka können es z. B. durch die mit ihnen erreichbare Affektdämpfung und Abwehrstabilisierung u. U. dem Analysanden ermöglichen, ein aus der Balance gekommenes Gleichgewicht von Affekt und Struktur wieder zu erreichen. Durch die Restabilisierung der Affektbalance und der Selbststeuerung, der Selbstreflexionsfähigkeit und der Fremdwahrnehmung werden die »Arbeitsanforderungen« an den psychischen Apparat einerseits heruntergeschraubt, andererseits die Ichfunktionen stabilisiert. Insofern können Psychopharmaka eine nützliche Notlösung sein, um Krisensituationen in der Analyse zu bewältigen, ohne dass die Analyse unterbrochen oder abgebrochen werden muss, oder sie können überhaupt erst die Voraussetzungen für eine tragfähige therapeutische Beziehung schaffen.

Klinische Strukturdynamik und OPD: Auf dem Weg zu einer Integration psychopharmakologischer und psychodynamischer Behandlungskonzepte

Psychodynamische Psychopharmakologie und psychopharmakologisch informierte Psychoanalyse

Wie wichtig es ist, psychopharmakologische Therapien unter dem Gesichtspunkt einer psychodynamischen Beziehungsanalyse zu sehen und durchzuführen, das sollte bislang gezeigt werden. Damit diese Haltung überzeugend umgesetzt werden kann, ist noch ein weiterer und grundsätzlicher Schritt notwendig; das Verhältnis von Psychodynamik und Pharmakotherapie muss anders denn als Polarität bestimmt werden, auch das Zugestehen eines pragmatischen Miteinanders reicht nicht aus, vielmehr sollten die Wirkprinzipien beider Behandlungskonzepte so verstanden werden, dass sie sich miteinander in einem theoretischen Modell verschränken lassen. Es ist erstaunlich, wie wenig dieses Verhältnis reflektiert worden ist, obgleich sich zunehmend viele psychoanalytische Veröffentlichungen mit dem Thema befassen (besonders wichtig in unserem Zusammenhang Lebovitz, 2004). Aber eine schlüssige integrative Theorie fehlt bislang. Mintz und Belnap haben zu Recht eine psychoanalytische Psychopharmakologie gefordert; sie definieren sie aus der Perspektive der Psychopharmakologie folgendermaßen: »Psychodynamische Psychopharmakologie ist eine Disziplin, die ausdrücklich die zentrale Rolle der Bedeutung und der interpersonellen Faktoren in der psychopharmakologischen Behandlung anerkennt« (Mintz & Belnap, 2006, S. 581; eig. Üb.). So wichtig diese Facette ist, so unvollständig ist sie andererseits, wenn wir aus der Perspektive der psychoanalytischen Praxis fragen, wann, unter welchen Bedingungen und in welchen dynamischen Konstellationen Psychopharmaka in der Analyse oder analytische Psychotherapie wichtig werden. Das wäre der Gesichtspunkt einer »psychopharmakologisch informierten Psychoanalyse«.

Das Fehlen von oder der Mangel an schlüssigen integrierten Modellen wirkt sich auf die Praxis aus. Er ist – umgekehrt betrachtet – an einer Unsicherheit in der Praxis ablesbar. Wie werden Patienten über ihre Krankheit aufgeklärt? Welches Krankheitsmodell bekommen sie vermittelt? An dieser Frage scheiden sich die Geister, entscheidet sich, wie ernst es mit der Verbindung von Psychotherapie und Psychopharmakologie gemeint ist. Das bio-psycho-soziale Modell wird theoretisch vielleicht bejaht, aber es wird nicht konsequent umgesetzt. Auch wenn Psychotherapie und Psychopharmakologie gemeinsam angewendet werden, werden sie doch meist nicht beide zugleich ernstgenommen. Psychotherapie im einseitig biologischen Modell wird zur seelsorgerischen Begleitmusik; Psychopharmakologie in der strikt analytischen Praxis wird zum schuldbeladenen Sündenfall oder zum schamvoll zu verleugnenden therapeutischen Seitensprung.

Auf dem Weg zur Integration psychopharmakologischer und psychodynamischer Perspektiven?

Die weiter oben scheinbar leichtfertig hingeworfene Aussage, dass schlüssige integrative Theorien fehlten, soll im Folgenden begründet werden. Zunächst ist der abgenutzt verwendete, unbedacht gebrauchte, aber doch so wichtige Begriff der Integration zu klären. Andernorts habe ich das versucht; dort wurde Integration, in Abhebung von Methodenvielfalt, Eklektizismus und Synergie folgendermaßen definiert: »Integer (lat.) meint unberührt, neu, rein, unbescholten, ganz. Eine integrative Therapie führt Behandlungselemente nicht einfach zusammen, um von den gemeinsamen Kräften zu profitieren, sondern es entstehen neue Modelle. Die integrative Therapie baut ganzheitliche Konzepte auf, sie können ihre Wurzel in bekannten Elementen haben, aber sie gehen vollständig auf in der Integration, ein ganzheitliches Konzept wird neu gebildet« (Küchenhoff, 2009). Die allgemeinen Merkmale eines Integrationsprozesses lassen sich gut an der Integration von Psychotherapie und Psychopharmakologie ablesen.

•  Methodenvielfalt wird dann angewandt, wenn Psychotherapie und Psychopharmakotherapie nebeneinander praktiziert werden, ohne dass die unterschiedlichen Therapiestandpunkte aufeinander bezogen werden.

•  In einem eklektischen Vorgehen wird die eine Therapie, also z. B. eine Psychoanalyse, für das eine Ziel, etwa die Bearbeitung eines ödipalen Konflikts, die andere, z. B. die Pharmakotherapie, für ein anderes Ziel, die Stimmungsaufhellung, eingesetzt. Die Ziele werden definiert, die als geeignet angesehenen Verfahren ausgewählt, ohne ihre Wechselbeziehungen zu berücksichtigen.

•  Synergistisch werden die beiden Therapieformen eingesetzt, wenn die Wechselwirkungen zwischen den Verfahren berücksichtigt werden. Sie sollen »zusammen arbeiten«, so die wörtliche Übersetzung von Synergie, sie sollen einander in der Wirkung unterstützen.

•  Eine Integration ist dann erreicht, wenn eine neue Behandlungskonzeption entwickelt worden ist, die psychopharmakologische und psychoanalytische Behandlungsansätze in einer überwölbenden klinischen Theorie »zusammendenkt«.