Die lauernde Furcht

I. Der Schatten beim Kamin

Donner grollte durch die Nacht, als ich zu dem verlassenen Anwesen auf dem Tempest Mountain hinaufstieg, um der lauernden Furcht zu begegnen. Ich war nicht allein, denn damals mischte sich Tollkühnheit noch nicht mit meiner Liebe zum Grotesken und Schaurigen, die meine Karriere zur pausenlosen Suche nach dem Grauen in der Literatur wie auch in der Realität hatte werden lassen. Mich begleiteten zwei vertrauenswürdige und kräftige Männer, nach denen ich geschickt hatte, als es so weit war – die beiden hatten mich wegen ihrer Geschicklichkeit schon häufig auf meinen schaurigen Forschungsreisen begleitet.

Wir waren in aller Stille aus dem Dorf aufgebrochen, wegen der Reporter, die nach der entsetzlichen Panik des letzten Monats – dem albtraumhaft umherkriechenden Tod – dort noch immer herumlungerten. Später, so glaubte ich, konnten sie mir vielleicht nützlich sein, doch jetzt brauchte ich sie nicht. Ich wünschte bei Gott, ich hätte sie an der Suche teilnehmen lassen, dann hätte ich das Geheimnis nicht so lange alleine mit mir herumtragen müssen; alleine, weil ich fürchte, die Welt würde mich für verrückt halten oder selbst verrückt werden bei den dämonischen Folgerungen aus der Sache. Jetzt, da ich ohnehin davon erzähle, damit das Grübeln mich nicht irremacht, wünschte ich, die Geschichte nie geheim gehalten zu haben. Denn ich, nur ich allein, weiß, welche Art von Furcht auf dem gespenstischen, verlassenen Berg lauerte.

In einem kleinen Auto legten wir den Weg durch den urzeitlichen Wald und über den Hügel zurück, bis der bewaldete Anstieg die Weiterfahrt verhinderte. Die Landschaft hatte etwas ungewohnt Finsteres an sich, da wir sie in der Nacht und ohne die sonst präsenten Mengen von Ermittlern betrachteten, was uns häufig dazu verleitete, die Scheinwerfer zu verwenden, auch wenn wir dadurch Aufmerksamkeit auf uns ziehen mochten. Nach Anbruch der Dunkelheit wirkte diese Landschaft ganz und gar nicht einladend, und ich glaube, mir wäre das Morbide daran auch aufgefallen, wenn ich nichts von dem Grauen gewusst hätte, das hier umherging. Wild gab es hier nicht – Tiere spüren es, wenn der Tod in der Nähe lauert. Die uralten, von Blitzen vernarbten Bäume schienen unnatürlich groß und verwachsen, die übrige Vegetation ungewöhnlich fleischig und rastlos, während eigenartige Hügel in der unkrautüberwucherten, von Blitzröhren zerfurchten Erde mich an gigantisch angeschwollene Schlangen und menschliche Schädel erinnerten.

Die Furcht lauerte schon seit über hundert Jahren auf Tempest Mountain. Das hatte ich rasch aus den Zeitungsberichten über die Katastrophe erfahren, die zum ersten Mal die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Gegend lenkten. Dieser Ort ist eine entlegene, einsame Anhöhe in jenem Teil der Catskill Mountains, der von der niederländischen Zivilisation nur kurz besucht wurde. Nach ihrem Rückzug blieben nur wenige verfallene Herrenhäuser und degenerierte Siedler zurück, die in erbärmlichen Dörfern auf unzugänglichen Hängen hausten. Normale Wesen haben vor der Gründung der Staatspolizei nur selten diese Gegend bereist, und noch heute patrouillieren berittene Polizisten sie nur gelegentlich. Doch in allen benachbarten Dörfern ist die Furcht eine alte Überlieferung, Hauptthema der schlichten Gespräche der armen Tölpel, die ihre Täler zuweilen verlassen, um geflochtene Körbe gegen das Nötigste einzutauschen, das sie nicht jagen, anbauen oder anfertigen können.

Die lauernde Furcht hauste in dem gemiedenen, verlassenen Anwesen der Martenses, das die hohe, gleichmäßig ansteigende Erhebung krönte. Da der Ort häufig Gewittern ausgesetzt war, hatte ihm das den Namen Tempest Mountain eingetragen, also ›Gewitterberg‹. Seit über hundert Jahren war das alte, von einem Hain umgebene Steinhaus das Thema unglaublich übertriebener und scheußlicher Geschichten – Geschichten über einen lautlosen, gewaltigen, kriechenden Tod, der im Sommer die Gegend heimsuchte. Mit geradezu winselnder Beharrlichkeit erzählten die Siedler von einem Dämon, der nach Anbruch der Dunkelheit einsame Reisende packte und sie verschleppte oder in einem fürchterlich angefressenen und zerstückelten Zustand zurückließ. Manchmal tuschelten sie auch von Blutspuren, die zu dem fernen Haus führten und behaupteten, der Donner locke die lauernde Furcht aus ihrer Behausung hervor – andere sagten, der Donner sei ihre Stimme.

Niemand außer diesen Hinterwäldlern hatte diesen vielen, sich widersprechenden Geschichten Glauben geschenkt, die mit unzusammenhängenden, überspannten Beschreibungen des immer nur halb erspähten Bösen gewürzt wurden; allerdings zweifelte auch kein Bauer oder Dorfbewohner an, dass im Haus der Martenses ein grausiges Monster hause. Die örtlichen Annalen schlossen jeden Zweifel daran aus, obwohl von keinem der Forscher, die das Gebäude erkundet hatten, jemals ein Beweis für den Geist erbracht wurde. Alte Frauen erzählten sonderbare Ammenmärchen über das Schreckgespenst der Martenses – Märchen über die Familie der Martense, ihre eigentümliche vererbte Ungleichheit in der Augenfarbe, die lange, ungewöhnliche Familienchronik und von dem Mord, der einen Fluch über sie gebracht habe.

Das Grauen, das mich an diesen Ort brachte, war eine unerwartete, unheilvolle Bestätigung der übertriebensten Legenden der Bergbewohner. Die Region wurde in einer Sommernacht von einem Gewitter von noch nie erlebter Gewalt erschüttert und danach kam es zu einer panischen Massenflucht der Siedler – eine bloße Sinnestäuschung hätte dies sicherlich nicht auslösen können. Die armselige Menge der Einheimischen schrie und jammerte, ein unsägliches Grauen sei über sie gekommen, und niemand zweifelte ihre Geschichten an. Sie hätten ihn zwar nicht gesehen, doch aus einem ihrer Dörfer solche Schreie vernommen, dass sie wussten, ein kriechender Tod war gekommen.

Am nächsten Morgen folgten Bürger und berittene Polizisten den zitternden Bergbewohnern an den Ort, von dem sie behaupteten, er werde vom Tod heimgesucht. Und der Tod war wirklich da: Unter einem der Dörfer hatte sich nach dem Einschlag eines Blitzes der Boden aufgetan und mehrere der übel riechenden Hütten vernichtet; doch dieser materielle Schaden verblasste völlig vor dem organischen Schaden. Von den etwa fünfundsiebzig Einheimischen, die diesen Flecken bewohnt hatten, ließ sich nämlich keiner lebend auffinden.

Die aufgewühlte Erde war mit Blut und menschlichen Überresten bedeckt, die sehr deutlich von dämonischen Zähnen und Klauen kündeten, doch eine sichtbare Spur, die vom Schauplatz des Massakers fortführte, gab es nicht. Allen war sofort klar, dass irgendein scheußliches Raubtier zugeschlagen haben musste, und niemand erinnerte sich daran, dass derart abscheuliche Mordfälle in degenerierten Gemeinden durchaus öfter vorkamen. Diese Anschuldigung wurde erst geäußert, als man von ungefähr fünfundzwanzig Einwohnern keine Leichen fand; doch selbst so war es schwierig, sich die Ermordung von fünfzig Menschen durch halb so viele zu erklären. Es blieb jedoch die Tatsache, dass in einer Sommernacht ein Blitz vom Himmel geschossen war und ein totes Dorf hinterlassen hatte, voll von schrecklich zerfleischten, verstümmelten und zernagten Leichen.

Die erschütterten Siedler brachten das Grauen sogleich mit dem Spukhaus der Martenses in Verbindung, auch wenn der Tatort mehr als fünf Kilometer davon entfernt lag. Die Polizisten waren eher skeptisch und zogen das Herrenhaus nur beiläufig in ihre Untersuchung mit ein, und nachdem sie es völlig verlassen vorfanden, ließen sie diese Spur ganz fallen. Die Land- und Dorfbewohner indessen durchsuchten das Anwesen mit unendlicher Sorgfalt, sie drehten jeden Stein im Haus um, loteten Teiche und Bäche aus, schlugen Sträucher ab und durchstöberten die nahe gelegenen Wälder. Alles umsonst – der Tod, der gekommen war, hatte außer seinen Verheerungen selbst keine Spuren hinterlassen.

Am zweiten Tag der Suche wurde die Sache zum Hauptthema der Zeitungen, deren Reporter nun den Tempest Mountain überrannten. Sie beschrieben den Vorfall in allen Einzelheiten und mit vielen Interviews versuchten sie, die von den ansässigen Großmüttern erzählte Geschichte des Grauens zu erhellen. Diese Berichte verfolgte ich zuerst recht unbeteiligt, da ich ein Kenner auf dem Gebiet des Grauens bin. Nach einer Woche allerdings erregte mich die ganze Atmosphäre dieser Geschichte so sehr, dass ich mich am 5. August 1921 in einem Dorf nahe des Tempest Mountain ins Gästebuch des Hotels Lefferts Corner eintrug, unter die Namen all jener Reporter, die das Hotel bevölkerten und zu ihrem Hauptquartier ernannt hatten.

Drei Wochen später waren die meisten der Reporter wieder abgereist und nun konnte ich ungehindert meine schrecklichen Forschungen beginnen, die auf genauestes Nachfragen und Beobachten aufbauten, mit denen ich mich in der Zwischenzeit beschäftigt hatte. So verließ ich in dieser Sommernacht, in der in der Ferne der Donner grollte, mit meinen zwei bewaffneten Gefährten das Auto und stieg die letzten, von Erdhügeln bedeckten Hänge des Tempest Mountain hinauf, bis die Strahlen unserer Taschenlampen die gespenstisch grauen Mauern berührten, die sich allmählich zwischen den riesenhaften Eichen vor uns zeigten. In der beklemmenden Einsamkeit der Nacht und dem schwachen, schwankenden Licht verströmte der gewaltige, kastenartige Bau eine Andeutung des Grauens, die das Licht des Tages nicht demaskiert hatte; doch ich zögerte nicht, ich war ja mit dem festen Entschluss hergekommen, einen Einfall zu überprüfen. Ich vermutete, dass der Donner den Dämon des Todes aus seinem grässlichen Versteck hervorlockte. Ob dieser Dämon nun ein reales Wesen oder nur eine giftige Ausdünstung war – ich wollte ihn sehen.

Ich hatte die Ruine des Anwesens schon zuvor gründlich durchsucht, daher kannte ich die Anlage gut. Als Ort für meine nächtliche Wacht wählte ich das alte Zimmer von Jan Martense aus, dessen Ermordung eine so große Rolle in den bäuerlichen Legenden spielt – intuitiv hatte ich das Gefühl, dieser Raum des frühen Opfers eigne sich für meine Zwecke am besten. Die Kammer war ungefähr sechs Meter lang und ebenso breit und enthielt wie die anderen Zimmer nur Schutt, der einstmals Mobiliar dargestellt hatte. Der Raum lag im ersten Stock im südöstlichen Winkel des Hauses und verfügte über ein riesiges Ostfenster und ein schmales nach Süden, die beide keinerlei Scheiben oder Jalousien mehr enthielten. Dem großen Fenster gegenüber befand sich ein gewaltiger holländischer Kamin mit Kacheln, auf denen die biblische Geschichte des verlorenen Sohnes erzählt wurde, und gegenüber dem kleinen Fenster war ein geräumiges Bett in die Wand eingebaut.

Als der von den Bäumen gedämpfte Donner allmählich lauter wurde, ordnete ich die Einzelheiten für meinen Plan an. Zuerst befestigte ich an dem Sims des großen Fensters nebeneinander drei Strickleitern, die ich mitgebracht hatte. Ich wusste, dass sie bis auf den Rasen draußen hinabreichten, denn ich hatte sie bereits erprobt. Dann schleppten wir zu dritt aus einem anderen Zimmer ein breites Bettgestell mit vier hohen Pfosten herbei und schoben es längsseits vors Fenster. Dann belegten wir es mit Fichtenzweigen und ließen uns mit gezogenen Automatikpistolen darauf nieder; zwei ruhten, während der dritte Wache hielt. Aus welcher Richtung der Dämon auch kommen mochte, wir hatten für jeden Fall eine Möglichkeit zur Flucht. Kam er aus dem Innern des Hauses, blieben uns die Strickleitern am Fenster, kam er von draußen, standen uns die Tür und die Treppe offen. Anhand der früheren Vorfälle hielten wir es für nicht wahrscheinlich, dass er uns selbst im schlimmsten Falle weit verfolgen würde.

Ich hielt von Mitternacht bis ein Uhr Wache, als mich trotz des düsteren Hauses, des ungeschützten Fensters und des anrückenden Gewitters die Schläfrigkeit überfiel. Ich lag zwischen meinen beiden Begleitern, George Bennett auf der Fensterseite, William Tobey auf der Seite des Kamins. Bennett schlief, da er anscheinend von derselben ungewöhnlichen Müdigkeit wie ich befallen war, also bestimmte ich Tobey zur nächsten Wacht, obwohl auch er gegen das Einnicken ankämpfte. Es ist sonderbar, wie gebannt ich auf den Kamin gestarrt hatte.

Der anschwellende Donner muss sich auf meine Träume ausgewirkt haben, denn während meines kurzen Schlafes nahm ich Unheil verkündende Visionen wahr. Einmal erwachte ich beinahe, wahrscheinlich weil der Schlafende auf der Fensterseite unruhig einen Arm auf meine Brust gelegt hatte. Ich wurde nicht wach genug, um zu kontrollieren, ob Tobey aufmerksam Wache hielt, doch ich verspürte deswegen eine deutliche Angst. Niemals zuvor hatte die Gegenwart des Bösen so stark auf mir gelastet.

Später muss ich wieder eingeschlafen sein, denn mein Geist wurde aus einem unwirklichen Chaos gerissen, als die Nacht durch unvorstellbare Schreie, wie ich sie noch niemals zuvor gehört hatte, zum Grauen wurde. In diesem Kreischen rüttelte das Innerste der menschlichen Angst und Qual irrsinnig und ohne Hoffnung an den schwarzen Pforten des Vergessens.

Ich erwachte in rotem Wahnsinn, verspottet von Hexerei, während sich die kranke, klebrige Panik immer weiter zurückzog und aus der Tiefe widerhallte. Es war dunkel, doch der leere Platz rechts neben mir verriet, dass Tobey fort war, Gott allein weiß wohin. Von links lag noch immer Bennetts Arm schwer über meiner Brust.

Dann schlug der verheerende Blitz ein, der den ganzen Berg erschütterte, die dunkelsten Grüfte des altersgrauen Waldes erhellte und den Erzvater der krummen Bäume spaltete. Als eine ungeheure Feuerkugel dämonisch aufflackerte, schreckte George Bennett plötzlich auf, während das grelle Licht von draußen seinen Schatten lebhaft auf den Rauchabzug über dem Kamin warf.

Dass ich noch lebe und bei Verstand bin, ist ein Wunder, das ich kaum begreife. Ich verstehe es nicht, denn der Schatten auf dem Rauchabzug stammte weder von George Bennett noch von irgendeinem anderen menschlichen Wesen. Es war eine gotteslästerliche Abnormität aus den tiefsten Höllenkratern; eine namenlose, unförmige Scheußlichkeit, die kein Verstand zu erfassen oder auch nur ansatzweise zu beschreiben vermag. Einen Augenblick später war ich allein in dem verfluchten Herrenhaus, zitternd und lallend. George Bennett und William Tobey haben keine Spuren hinterlassen, nicht einmal die eines Kampfes. Man hörte nie wieder von ihnen.

II. Einer geht im Sturm vorüber

Noch Tage nach diesem entsetzlichen Erlebnis in dem waldumringten Anwesen lag ich mit erschütterten Nerven in meinem Hotelzimmer in Lefferts Corner. Ich weiß nicht, wie es mir gelang, das Auto zu erreichen, es zu starten und unbemerkt zurück ins Dorf zu gelangen. Die einzigen Eindrücke, die ich noch habe, sind die von den wild mit den Armen fuchtelnden Riesenbäumen, dem tobenden Donnergrollen und den tiefen Schatten über den niedrigen Erdhügeln, die die Gegend durchzogen.

Als ich schaudernd über diesen hirnzerfressenden Schatten nachdachte, wusste ich, dass ich tatsächlich einen der äußersten Schrecken der Erde erblickt hatte – einen namenlosen Gifthauch aus fernen Bereichen, dessen leises, dämonisches Kratzen wir zuweilen am äußersten Rand der Stille vernehmen, vor dem uns jedoch unsere eigene begrenzte Sichtweise gnädigerweise schützt. Den Schatten, den ich gesehen hatte, wagte ich kaum zu erklären. In jener Nacht hatte sich irgendetwas zwischen mir und dem Fenster bewegt, doch jedes Mal erbebte ich, sobald sich der Instinkt zur Erklärung nicht abschütteln ließ. Hätte es bloß gefaucht oder gebellt oder gekichert – selbst das hätte die abgründige Scheußlichkeit geschmälert. Doch es war völlig lautlos gewesen. Es hatte einen schweren Arm oder Vorderlauf auf meine Brust gelegt …

Offenkundig war es organisch, oder war es zumindest früher gewesen … Jan Martense, in dessen Zimmer ich eingedrungen war, lag auf dem Friedhof in der Nähe des Herrenhauses begraben … Ich muss Bennett und Tobey finden, falls sie noch leben … weshalb hat es sich die beiden ausgesucht und mich bis zum Schluss aufgehoben? Die Schläfrigkeit ist so erdrückend, und die Träume sind so schrecklich …

Schon bald wurde mir klar, dass ich jemandem meine Geschichte erzählen musste oder völlig zusammenbrechen würde. Ich hatte bereits den Entschluss gefasst, die Suche nach der lauernden Furcht nicht aufzugeben, erschien mir in meiner unbesonnenen Ignoranz doch die Ungewissheit schlimmer als eine Aufklärung, ganz egal wie furchtbar diese auch sein mochte. Deshalb überlegte ich mir die beste Vorgehensweise und wen ich ins Vertrauen ziehen konnte, um dieses Wesen, das diesen albtraumhaften Schatten geworfen und zwei Menschenleben ausgelöscht hatte, aufzuspüren.

Meine wichtigsten Bekannten in Lefferts Corner waren einige der geselligen Reporter, von denen noch einige anwesend waren, um letzte Eindrücke von der Tragödie zu sammeln. Unter diesen wollte ich mir einen Begleiter wählen, und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr neigte ich einem gewissen Arthur Munroe zu. Er war ein dunkelhaariger, schlanker Mann von Mitte dreißig, dessen Bildung, Geschmack, Intelligenz und Temperament ihn als jemanden auszuzeichnen schienen, der offen für unkonventionelle Gedanken und Einsichten ist.

An einem Nachmittag Anfang September lauschte Arthur Munroe meiner Geschichte. Ich bemerkte von Anfang an, dass er mir sowohl Interesse als auch Mitgefühl entgegenbrachte, und als ich schloss, analysierte und erörterte er die Sache mit größtem Scharfsinn. Sein Rat war überaus vernünftig, denn er empfahl mir, so lange nichts im Anwesen der Martenses zu unternehmen, bis wir uns ausführliche historische und geografische Angaben beschafft hätten. Daraufhin durchforsteten wir die Umgebung nach Informationen über die schreckliche Familie und stießen dabei auf einen Mann, in dessen Besitz sich ein bemerkenswert informatives Tagebuch befand, das einst einer seiner Ahnen geführt hatte. Wir unterhielten uns auch lange mit einigen Bergbewohnern, die nicht vor dem Grauen auf fernere Hänge geflohen waren, und bereiteten uns abschließend auf die genauere Untersuchung der Orte vor, die mit den verschiedenen Tragödien aus den Legenden der Siedler in Verbindung standen.

Was für ein Wesen eigentlich hinter der lauernden Furcht steckte und wie sie aussah, ließ sich aus den verängstigten und geistlosen Hüttenbewohnern nicht herausholen. Im gleichen Atemzug sprachen sie von einer Schlange, dann von einem Riesen, von einem Donnerdämon, einer Fledermaus, von einem Geier oder von einem wandelnden Baum. Wir hielten unterdessen die Annahme für berechtigt, es handle sich um einen lebendigen Organismus, der sehr empfindlich auf spannungsgeladene Gewitter reagierte, und obwohl einige der Sagen darauf hindeuteten, dass es Schwingen besaß, glaubten wir, dass seine Abneigung gegen freie Flächen eine Fortbewegung auf der Erde wahrscheinlich machte. Das Einzige, was nicht so recht zu dieser Auffassung passen wollte, war die Schnelligkeit, mit der die Kreatur sich fortbewegt haben musste, um alle ihm zugeschriebenen Taten vollbracht zu haben.

Als wir die Siedler allmählich besser kennenlernten, entpuppten sie sich in vielerlei Hinsicht als recht liebenswert. Es handelte sich um schlichte Gemüter, die die Evolutionsleiter wegen ihrer bedauerlichen Abstammung und stupiden Isolation hinabstiegen. Sie hatten Angst vor Fremden, gewöhnten sich allerdings langsam an uns; schließlich halfen sie uns sogar dabei, bei unserer Suche nach der lauernden Furcht alle Gebüsche abzuschlagen und alle Zwischenwände des Herrenhauses einzureißen. Als wir sie darum baten, uns beim Aufspüren von Bennett und Tobey zu unterstützen, zeigten sie sich wirklich bekümmert, denn so sehr sie uns helfen wollten, wussten sie doch, dass die beiden Opfer ebenso vollständig von der Erdoberfläche verschwunden waren wie ihre eigenen Vermissten. Dass viele von ihnen wirklich verschleppt und getötet worden waren, ebenso wie das Wild längst verscheucht war, davon waren wir natürlich gründlich überzeugt, und wir warteten ängstlich gespannt auf weitere tragische Zwischenfälle dieser Art.

Mitte Oktober sahen wir verwundert, dass wir einfach nicht weiterkamen. Aufgrund der klaren Nächte hatten sich keine weiteren dämonischen Übergriffe ereignet und unsere vollkommen ergebnislose Suche im Haus und der Umgebung ließ uns beinahe glauben, die lauernde Furcht sei eine rein körperlose Kraft. Wir befürchteten, dass das kalte Wetter bald alle weiteren Erkundungen vereiteln würde, denn es hieß allgemein, dass sich der Dämon im Winter meist ruhig verhielt. Und so lag eine verzweifelte Hast in unserer letzten Suche bei Tageslicht durch das vom Grauen gepeinigte Dorf, das wegen der Ängste der Siedler jetzt verlassen war.

Dieses vom Unglück heimgesuchte Dörfchen trug keinen Namen, obwohl es schon seit Langem in einer geschützten, aber baumlosen Felsspalte zwischen zwei Erhebungen namens Cone Mountain und Maple Hill existierte. Es lag näher an Maple Hill als am Cone Mountain, und manche der plumpen Behausungen waren wirklich bloß Höhlen in der Flanke des Berges. Geografisch lag es ungefähr drei Kilometer nordwestlich des Fußes von Tempest Mountain und fünf Kilometer von dem von Eichen umringten Herrenhaus entfernt. Zwischen dem Dörfchen und dem Anwesen lagen ganze dreieinhalb Kilometer offenen Geländes; die Ebene war mit Ausnahme einiger der niedrigen, geschlängelten Erdwälle recht flach und nur verstreut von Gras und Unkraut bewachsen.

Angesichts dieser Topografie waren wir zu dem Entschluss gekommen, dass der Dämon über den Cone Mountain gekommen sein musste, von dem ein bewaldeter südlicher Ausläufer bis kurz vor den westlichsten Vorsprung von Tempest Mountain reichte. Das aufgeworfene Erdreich ließ sich ganz plausibel auf einen Bergrutsch am Maple Hill zurückführen, bis zu einem hohen, einsamen, zersplitterten Baum, in dessen Flanke der Blitz eingeschlagen war, der das Biest hervorgelockt hatte.

Als Arthur Munroe und ich ungefähr zum zwanzigsten Mal jeden Zentimeter des zerstörten Dorfes genauestens absuchten, erfasste uns eine untrügliche, mit unklaren, starken Ängsten gekoppelte Entmutigung. Es war sehr unheimlich – selbst wenn man an Beängstigendes und Unheimliches gewohnt war –, es mit einem so spurenlosen Tatort zu tun zu haben, an dem sich jedoch so außergewöhnliche Dinge zugetragen hatten. Wir liefen unter dem bleiernen, finster werdenden Himmel mit jenem tragischen, ziellosen Eifer hin und her, der sich ergibt aus dem Wissen um die Vergeblichkeit und um die Notwendigkeit des Handelns. Wir untersuchten zum Abschluss alles noch einmal überaus sorgfältig, jede Hütte wurde neuerlich betreten, jede Höhle in der Hügelflanke nochmals nach Leichen abgesucht, jeder dornenbewehrte Meter der anliegenden Hänge wieder nach Verstecken und Höhlen abgelaufen – aber alles ohne Ergebnis. Und doch plagten uns, wie ich bereits sagte, unklare, neue Ängste, als schielten riesige Greife mit Fledermausschwingen aus den Zwischenräumen kosmischer Abgründe nach uns.

Der Nachmittag verging und das Tageslicht wurde schnell schwächer, weil sich, wie wir hören konnten, über dem Tempest Mountain grollend ein Unwetter zusammenbraute. Dieses Geräusch an diesem Ort alarmierte uns natürlich sehr, auch wenn es bei Nacht schlimmer gewesen wäre. So konnten wir nur verzweifelt hoffen, dass das Gewitter erst nach Anbruch der Dunkelheit einsetzen würde. Wir ließen jetzt von der ziellosen Suche auf den Berghängen ab und gingen in das nächste bewohnte Dorf, um einige Siedler zu finden, die uns bei den Untersuchungen unterstützen wollten.

Obwohl diese Leute ängstlich und scheu waren, vertrauten uns doch einige der jüngeren Männer und versprachen zu helfen. Wir hatten uns kaum umgedreht, da stürzte ein solch blendender Sturzbach vom Himmel, dass wir dringend einen Unterschlupf benötigten. Die extreme, fast nachtschwarze Finsternis des Himmels ließ uns umherstolpern, aber geleitet vom zuckenden Licht der vielen Blitze und unserer Kenntnis des Dorfes erreichten wir bald die wasserbeständigste Hütte von allen – eine wirr zusammengewürfelte Zusammensetzung aus rohen Stämmen und Brettern, deren noch vorhandene Tür und das einzige, winzige Fenster in Richtung Maple Hill blickten.

Wir verbarrikadierten die Tür vor dem Toben von Wind und Regen und schlossen die primitiven Fensterläden. Es war trostlos, in der tintenschwarzen Dunkelheit auf wackligen Kisten herumzusitzen, doch wir rauchten Pfeifen und ließen gelegentlich die Taschenlampen aufleuchten. Dann und wann sahen wir durch Risse in den Wänden die Blitze – der Nachmittag war so unglaublich finster, dass jeder Blitz sich anschaulich abhob.

Die stürmische Wacht erinnerte mich schaurig an die grässliche Nacht auf dem Tempest Mountain. Mein Verstand wandte sich wieder der befremdlichen Frage zu, die ich mir seit dem albtraumhaften Geschehnis so oft stellte: Wieso hatte der Dämon, der sich uns drei Wächtern entweder vom Fenster oder aus der Zimmermitte genähert hatte, mit den beiden Männern auf den Seiten angefangen? Warum hatte er mich in der Mitte so lange aufgehoben, bis die gewaltige Feuerkugel ihn vertrieb? Weshalb hatte er sich seine Opfer nicht in der logischen Reihenfolge genommen – denn aus welcher Richtung er sich auch genähert hatte, hätte ich nicht der zweite sein müssen? Mit welch langen Greifarmen schnappte er sich seine Beute? Ob er gewusst hatte, dass ich der Anführer war, und hatte er mich für ein Los aufgespart, das schrecklicher als das meiner Begleiter werden sollte?

Mitten in diese Überlegungen hinein, wie um sie dramatisch zu verstärken, krachte in der Nähe ein heftiger Blitz zu Boden, gefolgt von den Geräuschen eines Erdrutsches. Im selben Augenblick steigerte sich das wolfsgleiche Heulen des Windes zu einem dämonischen Crescendo. Wir waren uns sicher, dass der einzige Baum auf Maple Hill erneut getroffen worden war, und Munroe sprang von seiner Kiste und ging zu dem kleinen Fenster, um sich den Schaden anzusehen. Als er die Fensterläden öffnete, heulten Wind und Regen so ohrenbetäubend in den Raum, dass ich das, was er sagte, nicht verstehen konnte, also wartete ich, solange er sich hinauslehnte und das Pandämonium der Natur bestaunte.

Allmählich ließ der Wind nach und die Auflockerung der ungewöhnlichen Dunkelheit verriet das Abklingen des Sturmes. Ich hatte gehofft, er würde bis in die Nacht andauern, um uns bei unserer Suche zu helfen, aber schon drang ein verstohlener Sonnenstrahl durch ein Astloch hinter mir herein.

Ich schlug Munroe vor, mehr Licht für den Fall weiterer Schauer zu besorgen, und entriegelte und öffnete die grob gezimmerte Tür. Draußen war der Erdboden eine einzige Masse aus Schlamm und Pfützen inmitten frischer Haufen Erde, die von dem leichten Bergrutsch herrührten. Ich sah jedoch nichts, was das Interesse meines Gefährten so fesselte, dass er sich noch immer stumm aus dem Fenster lehnte. Ich näherte mich ihm und berührte seine Schulter. Munroe regte sich nicht. Deshalb schüttelte ich ihn leicht, drehte ihn herum und spürte die erstickenden Fühler eines krebsartig wuchernden Grauens, dessen Wurzeln bis in die unermessliche Vergangenheit und die bodenlosen Abgründe der Nacht reichten, die jenseits der Zeit brütet.

Denn Arthur Munroe war tot. Und dort, inmitten der Überreste seines zerfressenen und ausgehöhlten Kopfes, befand sich kein Gesicht mehr.

III. Was das rote Glühen bedeutete

In der vom Sturm gepeitschten Nacht des achten Novembers 1921 stand ich allein in den Gruftschatten einer Laterne und hob wie ein Verrückter das Grab des Jan Martense aus. Ich hatte mit dem Schaufeln schon am Nachmittag begonnen, als ein Gewitter sich zusammenbraute, und nun, da es dunkel war und der Sturm sich über dem wahnsinnig dichten Laubwerk ergoss, überkam mich eine Erleichterung.

Ich glaube, mein Verstand war durch die Geschehnisse seit dem fünften August teilweise etwas aus dem Gleichgewicht geraten – der dämonische Schatten im Herrenhaus, die starke Anspannung, die Enttäuschung und die Sache, die sich während des Oktobersturms in dem Dorf zugetragen hatte. Anschließend hatte ich ein Grab für einen ausgehoben, dessen Tod ich nicht begreifen konnte. Ich wusste, dass auch andere ihn nicht begriffen hätten, und so ließ ich sie in dem Glauben, Arthur Munroe sei fortgegangen. Sie suchten, fanden aber nichts. Die Siedler hätten es wohl verstanden, doch wagte ich nicht, ihnen noch mehr Angst einzujagen.

Ich selbst schien merkwürdig abgebrüht. Jener Schock im Herrenhaus hatte sich irgendwie auf mein Gehirn ausgewirkt, und ich vermochte nur noch, an die Suche nach dem Grauen zu denken, das in meiner Vorstellung riesige Ausmaße annahm – und diese Suche, das ließ mich das Los von Arthur Munroe geloben, musste ich geheim halten und alleine weiterverfolgen.

Der Ort meiner Ausgrabungen allein wäre schon genug gewesen, um jeden gewöhnlichen Menschen aus der Fassung zu bringen. Bedrohliche, urzeitliche Bäume von unheiliger Größe wie die Säulen eines teuflischen Druidentempels schielten grotesk auf mich herab. Sie dämpften den Donner und den reißenden Wind und ließen nur wenig Regen durch. Hinter den vernarbten Stämmen erhoben sich, vom schwachen Licht der gefilterten Blitze erhellt, die feuchten, rankenbewachsenen Mauern des verlassenen Hauses, und etwas näher lag der ehemalige holländische Garten. Seine Wege und Beete waren von einer weißen, pilzartigen, stinkenden, übernährten Vegetation besudelt, die niemals das volle Licht des Tages sah. Um mich herum befand sich der Friedhof, wo die deformierten Bäume mit wahnsinnigen Ästen um sich schlugen, während ihre Wurzeln unheilige Grabplatten verschoben und Gift aus dem sogen, was darunter lag. Hier und dort konnte ich unter dem braunen Grabtuch verfaulenden Laubes in der vorsintflutlichen Finsternis des Waldes die bedrohlichen Umrisse einiger der niedrigen Erdwälle ausmachen, die diese von Blitzen durchfurchte Gegend charakterisierten.

Die Vergangenheit hatte mich zu diesem alten Grab geleitet. Ja, die Vergangenheit, denn sie war nun alles, was mir noch blieb, nachdem alles andere in höhnischem Satanskult geendet war. Ich glaubte inzwischen, dass die lauernde Furcht kein stoffliches Wesen, sondern ein Gespenst mit Wolfszähnen sei, das mit den mitternächtlichen Blitzen herabfuhr. Und aufgrund der vielen regionalen Überlieferungen, die ich bei der Suche mit Arthur Munroe ans Tageslicht gebracht hatte, glaubte ich, dass es sich bei diesem Gespenst um den Geist von Jan Martense handelte, der 1762 gestorben war. Aus diesem Grund buddelte ich wie ein Irrer in seinem Grab.

Das Anwesen der Martenses war 1670 von Gerrit Martense erbaut worden, einem wohlhabenden Händler aus New-Amsterdam, dem der Wandel im Lande unter britischer Herrschaft missfallen hatte und der sich dieses prächtige Domizil auf dem entlegenen, bewaldeten Berg errichten ließ, weil dessen unberührte Einsamkeit und ungewöhnliche Landschaft ihm zusagten. Die einzige erhebliche Beeinträchtigung an diesem Ort stellten die häufigen und heftigen Gewitter im Sommer dar. Als er sich den Berg auswählte und sein Herrenhaus errichten ließ, hatte Mynheer Martense diese häufigen Ausbrüche der Natur zuerst als eine Eigenheit des Jahres angesehen, doch bald wurde ihm bewusst, dass diese Stelle besonders anfällig für solche Phänomene war. Da ihn diese Stürme starke Kopfschmerzen bereiteten, richtete er einen Keller ein, in den er sich vor ihrem größten Aufruhr zurückziehen konnte.

Von Gerrit Martenses Nachfahren ist weniger bekannt als von ihm selbst; sie waren alle mit einem Hass auf die englische Kultur erzogen worden und man hatte ihnen eingeimpft, alle Kolonisten zu meiden, die nach ihr lebten. So gestaltete sich ihr Leben überaus abgeschieden, und die Leute erklärten, dass diese Isolation bei ihnen eine Schwerfälligkeit im Reden und Begreifen mit sich gebracht habe. Äußerlich hatten sie alle eine sonderbare, ererbte Ungleichheit der Augenfarbe gemein – meist war eines blau und das andere braun. Ihre gesellschaftlichen Kontakte wurden weniger und weniger, bis sie schließlich dazu übergingen, sich mit den zahlreich vertretenen Dienstboten und Knechten des Anwesens zu vermählen. Viele Abkömmlinge dieser auf engem Raum zusammenlebenden Familie degenerierten, zogen auf die andere Seite des Tales und vermengten sich dort mit der Bevölkerung, aus der später die armen Siedler hervorgingen. Der Rest klammerte sich missmutig an den Wohnsitz der Ahnen, lebte immer zurückgezogener, wurde verschwiegener und entwickelte eine nervöse Empfindlichkeit gegenüber den häufigen Gewittern.

Ein Großteil dieser Informationen erhielt die Außenwelt durch den jungen Jan Martense, der sich aus einer inneren Unruhe heraus der Kolonialarmee anschloss, als Nachrichten über den Kongress von Albany auch Tempest Mountain erreicht hatten. Er war der Erste von Gerrits Nachfahren, der etwas von der Welt sah. Als er 1760 nach sechs Jahren Krieg heimkehrte, brachten sein Vater, seine Onkel und Brüder ihm Abscheu entgegen wie einem Außenseiter, obgleich auch er die unterschiedlichen Martense-Augen hatte. Er vermochte die Eigenheiten und Vorurteile der Martenses nicht länger zu teilen, und die Berggewitter wirkten sich nicht mehr so stark auf ihn aus wie früher. Stattdessen bedrückte ihn seine Umgebung, und häufig schrieb er an einen Freund in Albany von seinem Vorhaben, das väterliche Anwesen zu verlassen.

Im Frühjahr 1763 sah sich Jonathan Gifford, der Freund Jan Martenses aus Albany, durch das lange Schweigen seines Briefpartners beunruhigt, vor allem vor dem Hintergrund der Zustände und Streitigkeiten im Hause der Martenses. Entschlossen, Jan persönlich zu besuchen, reiste er zu Pferd ins Gebirge. Sein Tagebuch vermerkt, dass er am 20. September auf Tempest Mountain ankam und dort ein stark verfallenes Anwesen vorfand. Die brummigen Martenses mit den merkwürdigen Augen, deren schmutziges, fast tierisches Erscheinungsbild ihn bestürzte, erklärten ihm in gebrochenen Kehllauten, dass Jan tot sei. Er sei, so behaupteten sie, im letzten Herbst vom Blitz erschlagen worden und läge nun hinter den vernachlässigten, eingesunkenen Gärten begraben. Sie zeigten dem Besucher das Grab, öde und ohne jede Kennzeichnung. Irgendetwas im Verhalten der Martenses flößte Gifford Abscheu und Misstrauen ein, und eine Woche später kehrte er mit Spaten und Hacke zurück, um die Grabstätte genauer zu erforschen. Er fand, was er erwartet hatte – einen wie von heftigen Schlägen grausig zerschmetterten Schädel –, und nach seiner Rückkehr nach Albany klagte er die Martenses offen des Mordes an ihrem Verwandten an.

Es fehlte an triftigen Beweisen, doch die Geschichte verbreitete sich in der Gegend sehr schnell und von dieser Zeit an wurden die Martenses von der Gesellschaft geächtet. Niemand trieb mehr Handel mit ihnen, und ihr fernes Anwesen wurde wie ein verfluchter Ort gemieden. Irgendwie gelang es ihnen, sich von den Erträgen ihres Anwesens zu ernähren, denn die Lichter, die man gelegentlich von fernen Hügeln beobachtete, kündeten von ihrer beharrlichen Anwesenheit. Diese Lichter wurden noch 1810 gesehen, doch schließlich traten sie nur noch sehr selten auf.

Unterdessen rankte sich um das Anwesen und den Berg allmählich ein Gespinst diabolischer Legenden. Der Ort wurde gemieden und mit jedem geflüsterten Aberglauben in Verbindung gebracht, den die Überlieferung aufbot. Bis 1816 besuchte niemand das Haus, erst dann wurde das beständige Ausbleiben einer nächtlichen Beleuchtung von den Siedlern bemerkt. Deshalb untersuchte eine Gruppe von ihnen das Gelände, die das Haus verlassen und zum Teil verfallen vorfand.

Da sie nirgends Gerippe fanden, glaubten sie eher an eine Abreise als an den Tod der Bewohner. Der Clan schien das Anwesen schon vor mehreren Jahren verlassen zu haben, und einige einfache Anbauten zeigten, wie stark er vor der Abwanderung angewachsen sein musste. Das kulturelle Niveau musste sehr tief gesunken sein, wie das vermodernde Mobiliar und das umherliegende Silberbesteck bewiesen, die wohl schon lange vor der Abreise der Besitzer nicht mehr benutzt worden waren. Doch obwohl die gefürchteten Martenses fort waren, blieb die Furcht vor dem gespenstischen Haus, ja, sie wurde sogar noch gesteigert, als neue, seltsame Geschichten unter den Gebirgsbewohnern die Runde machten. So stand das Anwesen, verlassen, gefürchtet und mit dem rachsüchtigen Geist von Jan Martense verbunden. Und so stand es noch immer in der Nacht, als ich Jan Martenses Grab aushob.

Ich habe mein sich hinziehendes Graben als verrückt beschrieben, und das war es auch durchaus, was Absicht und Vorgehen anging. Der Sarg von Jan Martense kam bald zum Vorschein – er enthielt nur noch Staub und Salpeter –, doch in meinem Wahn, auch seinen Geist zu exhumieren, grub ich irrationalerweise und unbeholfen immer weiter an der Stelle, wo er gelegen hatte. Gott weiß, was ich zu finden erwartete – ich spürte bloß, dass ich in dem Grab eines Mannes grub, dessen Geist in der Nacht umging.

Es ist unmöglich zu sagen, welch ungeheuerliche Tiefe ich erreicht hatte, als erst mein Spaten und dann ich durch den Grund brachen. Unter den Umständen war das ein Ereignis von enormer Tragweite, wurden doch durch das Vorhandensein unterirdischer Räume hier meine irren Theorien auf schreckliche Art bestätigt. Bei meinem kurzen Sturz war meine Laterne ausgegangen, aber ich nahm eine Taschenlampe und betrachtete den schmalen, waagerechten Tunnel, der sich in beide Richtungen ins Unendliche erstreckte. Er war breit genug, dass ein Mensch sich hindurchwinden konnte, und obgleich keine vernünftige Person das zu diesem Zeitpunkt versucht hätte, vergaß ich in meinem monomanen Fieber, die lauernde Furcht aufzuspüren, alle Gefahr, Vernunft und Reinlichkeit. Ich schlug die Richtung zum Haus ein und kroch leichtfertig in die enge Erdhöhle, schlängelte mich blind und hastig voran und schaltete nur selten die Lampe ein, die ich bei mir trug.

Welche Sprache vermag das Schauspiel eines Mannes zu beschreiben, der sich in den unendlichen Abgründen der Erde verläuft, der scharrt, sich windet und keucht, der wie toll durch eingesunkene Krümmungen uralter Schwärze kriecht, ohne einen Gedanken an Zeit, Sicherheit, Richtung oder Ziel zu verschwenden? Es liegt etwas Scheußliches darin, aber genau das ist, was ich tat. Ich kroch so lange dahin, bis das Leben für mich zu einer fernen Erinnerung verblasste und ich eins wurde mit den Maulwürfen und Maden der nachtschwarzen Tiefen.

Es lag nur an einem Zufall, dass ich nach unendlichen Windungen meine schon vergessene Taschenlampe einschaltete, sodass sie ihr Licht auf den unheimlichen Höhlengang aus verkrustetem Lehm warf, der sich vor mir ausdehnte und vorwärtskrümmte.

Ich kroch einige Zeit weiter, bis die Batterie schon fast erschöpft war, als der Durchgang plötzlich scharf nach oben führte. Als ich jetzt den Blick hob, sah ich ohne jede Vorbereitung weit vor mir zwei dämonische Reflexionen meiner schwachen Lampe schimmern – zwei Reflexionen, die mit tödlichem und eindeutigem Glanz aufglühten und irremachende, unklare Erinnerungen hervorlockten. Unwillkürlich blieb ich hocken, doch um den Rückzug anzutreten, fehlte es mir an Verstand.

Die Augen näherten sich, doch von dem Wesen, zu dem sie gehörten, erkannte ich lediglich eine Klaue. Doch was für eine Klaue! Dann hörte ich weit über mir ein schwaches Grollen, das ich wiedererkannte. Es war der wilde Donner des Berges, zu hysterischer Wut gesteigert – ich musste also schon seit einiger Zeit nach oben gekrochen sein, denn die Oberfläche war mir nun recht nahe. Und während die gedämpften Donnerschläge dröhnten, starrten mich diese Augen immer noch mit geistloser Bösartigkeit an.

Ich danke Gott, dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, was es war, sonst wäre ich gestorben. Aber ebenjener Donner, der es heraufbeschworen hatte, rettete mich, denn nach einer entsetzlichen Zeit des Wartens schoss aus dem unsichtbaren Himmel einer der häufigen Blitze in den Berg, deren Auswirkungen ich hier und da an den aufgewühlten Erdhaufen und Blitzröhren unterschiedlicher Größe gesehen hatte. Mit zyklopischer Wut durchzuckte der Blitz den Erdboden über dieser verfluchten Grube, blendete und betäubte mich, ließ mich aber nicht völlig in Bewusstlosigkeit versinken.