2Die Ästhetik der Illusion wird gegen Ende des 19. Jahrhunderts verabschiedet, aber zur selben Zeit lässt der Film sie über die Hintertür wieder hinein. Von dort werden die ästhetischen Verfahren der Illusion in die anderen Künste reimportiert: Auf Opern- und Theaterbühnen, in Galerien und Museen wird mit neuen Formen der Einbindung von Film und Video experimentiert. Vor dem Hintergrund dieser zeitgenössischen ästhetischen Praxis der Entgrenzung legt Gertrud Kochs Studie die grundlegende Rolle des Films in der Illusionsästhetik frei und analysiert deren Verfahren anhand konkreter Beispiele aus dem Bereich des zeitgenössischen (Musik-)Theaters (u. a. Heiner Goebbels und René Pollesch) und der Bildenden Kunst.

Gertrud Koch ist Professorin für Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Sprecherin des Sonderforschungsbereichs »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste«.

3Gertrud Koch

Die Wiederkehr der Illusion

Der Film und die Kunst der Gegenwart

Suhrkamp

4Für G.R.K.,
der mir Hören und Sehen beigebracht hat.

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eISBN 978-3-518-74249-5

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5Inhalt

I. Vorwort: Warum Illusion jetzt?

II. Das ästhetische Potenzial des Films zwischen ›Illudierung‹ und ›Massenbetrug‹

II.1. Epistemische und sensuelle Aspekte der Illusionserzeugung

II.1.1. Verschiedene Arten der Illusionserzeugung

II.2. Welt- und Fiktionserzeugung – Materialisierung der Illusion

II.2.1. Weltbezug und Weltprojektion

II.2.1.1. Autonome Welten

II.2.1.2. Was kann der Film und was macht er?

II.2.1.3. Gegenständlichkeit und Projektion

II.2.1.4. Wie eine visuelle Metapher entsteht

II.2.1.5. Erstheit nach Peirce und nach dem Film

II.2.2. Fiktionserzeugung

II.2.2.1. Virtualität und ästhetische Fiktion

II.2.2.2. Relativistischer Realismus

II.2.2.3. Virtus des Mediums

II.2.2.4. Visuelle Fiktion

II.3. Glauben, Wissen, Hoffen

II.3.1. Sehen wir, dass wir glauben müssen?

II.3.2. Stil und die Krise der Narration

II.3.3. Bildmotive und Votivbilder: Die Sehnsucht nach dem Wunder

II.3.4. Schwindel und Stürze

II.3.5. Schwindel und Freiheit

Exkurs: Wo ein religiöser Modus im Ästhetischen beschworen wird, liegt ein mystischer zugrunde

II.3.6. Off/On/In – Die Stimme als Medium der Illusionsbildung: Die Stimme im Kino zwischen Transzendenz und Immanenz

II.4. Das Kino als Massenkunst

II.4.1. Die Masse des Films

III. Das illusionsästhetische Potenzial des Films zwischen und in den anderen Künsten

III.1. Die Plastizität des Realen – Raumkonzepte und Wirklichkeitseffekte in der gegenwärtigen Bildenden Kunst

III.1.1. Körper/Dinge im Raum

III.1.1.1. Fred Sandback: Illusion am seidenen Faden

III.1.1.2. Donald Judd: Optische Illusion

III.1.1.3. James Turrell: Lichterscheinung

III.1.1.4. Gerhard Richter – die Gegenständlichkeit des Raums

III.2. Realismus in der neuesten Gegenwartskunst und der Einsatz von Illusionseffekten

III.1.2.1. Exterieurs: Das Innere nach außen bringen

III.1.2.2. Interieurs: Das Äußere des Inneren

III.1.2.3. Realität und Realien

III.2. Was wird Film, was wird Theater gewesen sein?

III.2.1. Videophagen im Bühnenraum: Über die Präsenz des Bewegungsbildes auf dem Theater

III.2.1.1. Christoph Schlingensief, Jeanne d’Arc – Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna

III.2.1.2 Heiner Goebbels, Eraritjaritjaka. Das Museum der Sätze

III.2.1.3. René Pollesch, JFK

III.2.1.4. René Pollesch, Schmeiß Dein Ego weg

III.2.1.5. Näher und ferner liegende Schlussfolgerungen

III.2.2. Die Gesten des Films, die filmische Geste – gibt es einen Gestus des Films?

III.2.2.1. Die Codes der Gesten, die Gesten der Schauspieler

III.2.2.2. Film und Objektsprache

III.2.2.3. Die Geste als Platzhalter der Sprache

III.2.3. Mimesis und Illusion: Die Operngeste und die filmische Geste in den frühen Filmen Werner Schroeters

III.2.3.1. Once upon a time in the Sixties

III.2.3.2. Die Neapolitanische und andere Gesten

IV. Präsenzästhetik und Wiederholbarkeit: Zu den Paradoxien, die Illusion bewältigen kann

IV.1. Die Illusion des ewigen Lebens

IV.1.1. Warum das Kino und wie macht es das?

IV.1.2. Wie die repressive Macht zum Sterben-Machen und Leben-Lassen von der Bio-Macht des Leben-Machens und Sterben-Lassens beim Tanzen im Dunkeln eingeholt wird

IV.1.3. Re-Running an Object – Das Rendezvous mit dem Flüchtigen

Danksagung

Bildnachweis

9I. Vorwort: Warum Illusion jetzt?

Die Dialektik der modernen Kunst ist in weitem Maß die, dass sie den Scheincharakter abschütteln will wie Tiere ein angewachsenes Geweih.

(Theodor W. Adorno)[1]

Das ineffabile von Illusion verhindert es, in einem Begriff absoluter Erscheinung die Antinomie des ästhetischen Scheins zu schlichten.

(Theodor W. Adorno)[2]

Adorno ist sicherlich unverdächtig, einer Ästhetik der Illusion das Wort zu reden. Dennoch sieht er in seiner ästhetischen Theorie eine Spannung zwischen der unvermeidbaren Illusion im Ästhetischen und ihrer vorgeblichen Aufhebung im Schein. Das »ineffabile« Gespenst der Illusion ist ein Wiedergänger der Kunst, der auf die Logik der Kunst verweist und nicht als ihr vormoderner Antagonist zu historisieren ist.

Die ästhetische Illusion ist im Gegensatz zur epistemischen kein Phänomen der Täuschung, sondern des Erscheinens. In ihr geht es nicht um die Verhüllung von Sachverhalten, sondern darum, etwas zur Erscheinung zu bringen: das ästhetische Objekt. Produktionsästhetisch ist die Hervorbringung von Illusion gebunden an bestimmte Verfahren und Techniken der Darstellung, sie ist Teil einer Poetik des Erscheinens. Rezeptionsästhetisch ist sie gebunden an die Hervorbringung einer bestimmten Haltung zum Ästhetischen. In diesem Prozess der ›Illudierung‹ des Betrachters wird dessen Bereitschaft vorausgesetzt, sich immersiv auf das ästhetische Objekt einzulassen, ohne sich über dessen epistemischen Status zu täuschen. Die ästhetische Illusion ist immer gewusste Illusion, die in der klassischen Formulierung von Coleridge jenen ›Moment der gewollten Aussetzung des Unglaubens‹ hervorbringt, der sich als eine zeitlich und kognitiv partielle Illudierung verstehen lässt, in der keineswegs Realität und Fiktion verwechselt werden.

Diese Art Intensivierung der ästhetischen Erfahrung ist als poetisches Verfahren nie zur Gänze ausgesetzt worden. Gerade un10ter den aktuellen Bedingungen einer radikal sich vollziehenden Entgrenzung der Künste lässt sich beobachten, dass mediatisierte Verfahren der Illusionserzeugung zwischen den Künsten migrieren. Diesen Bewegungen, die sich in der Bildenden Kunst, dem Musik- und Sprechtheater, der Videokunst und der Fotografie beobachten lassen, korrespondieren neue ästhetische Praktiken und Verfahren. Viele dieser Praktiken basieren auf der Umsetzung der Ästhetik des Films und seiner spezifischen apparativen und rezeptiven Verfahren, ihr fällt in den neuen Erscheinungsweisen der Illusionsästhetik eine besondere Rolle zu.

Historisch hat die Ästhetik der Illusion verschiedene Ausformungen erfahren. Die philosophische Ästhetik der Illusion hatte mit Moses Mendelssohn und Diderot ihren Höhepunkt erreicht. Die ästhetischen Techniken und Verfahren zur Illusionserzeugung waren im Realismus und Naturalismus als Stil etabliert und im frühen 20. Jahrhundert verabschiedet worden. Faktisch aber wurden sie gleichzeitig diskursiv und praktisch auf die neuen apparativen Medien – erst der Fotografie, dann des Films, später des Videos und der digitalen Bildgenerierung – verschoben. Allerdings entstand mit den neuen technischen Massenmedien ein Diskurs, der das Schisma von Kunst und Massenkunst begleitet. ›Ästhetische Illusion‹ als ein integrierter Begriff philosophischer Ästhetik und Kunstpraxis erfährt eine Aufspaltung, aus der heraus der antiästhetische Illusionsbegriff der Täuschung extrahiert und im Zusammenhang mit den apparativen Medien implementiert wird.

Die illusionserzeugende Kraft scheint dem Apparat innezuwohnen. Damit wird die illusionistische Erzeugung des ›schönen Scheins‹ von der Kunstfertigkeit des Einzelnen abgezogen und auf den anonymen Apparat übertragen: Die Hand des Zeichners wie die des Malers scheinen durch eine Geisterhand in der Apparatur ersetzt. Die Begeisterung für das Automatische, die sich mit den futuristischen und surrealistischen Strömungen traf, schlug in die andere Richtung aus, denn der Gebrauch der Apparate wurde allzu freudig als Automatismus ohne Autor, als Produktion ohne Produzenten beschworen.[3] Die Grenze zwischen mimetischen Abbildun11gen und freier Konstruktion wurde neu gezogen. Es ist überflüssig, noch einmal den Streit nachzuzeichnen, der aufkam, als es um die normative Bewertung des damals neuen Mediums Film ging, das wie die Fotografie unter den Verdacht gestellt wurde, kunstunfähig zu sein, eben weil seine Produktionsweise automatisch statt autonom sei. Der zweite Distinktionspunkt von Kunst und Nicht-Kunst band sich genau an den Illusionscharakter des Films, der ganze Welten bis ins naturalistische Detail darstellen konnte. Die Erzeugung von Illusion ist ein sensationeller Effekt und dem Kino kommt in dieser genealogischen kulturkonservativen Erzählung die Funktion zu, den schönen Schein des Ästhetischen in der Kunst durch die Überrumpelungseffekte der Maschine einer apparativen Massenkunst zu übertrumpfen.

Diese filmhistoriografische Erzählung wird freilich nur noch bedingt akzeptiert, und zwar in zwei Hinsichten: sowohl vom systematischen Gedanken einer philosophischen Illusionsästhetik her als auch von den ästhetischen Programmen und Produktionen, die sich auf präsenzästhetische Motive und leibgebundene Aisthetiken der Immersion stützen.

In den folgenden Kapiteln geht es um eine Revision dieser impliziten Geschichtserzählung, nach der es eine Vorgeschichte von der Verfallenheit an die Illusionsästhetik gibt, von der aus eine zukünftige Erlösung des Films aus dieser gedacht wird. Dagegen möchte ich für eine andere Erzählung argumentieren. Die Erfahrung, die den Anstoß hierzu gegeben hat, ist selbst eine historische. Dass nämlich die Techniken und Formen der Illusionsästhetik eine eigentümliche Wiederkehr erfahren an Orten, wo man dies am allerwenigsten vermuten durfte, wie zum Beispiel im post-dramatischen Theater und in der ganz jungen Kunst.

Abgesehen von diesen kunstkritischen Umwertungen geht es aber auch um eine Revision filmtheoretischer Positionen, die sich mit dem illusionsästhetischen Kern des Films auseinandergesetzt haben. Eine erfahrungsbezogene Ästhetik des Films kann nur in 12dieser doppelten Auseinandersetzung erarbeitet werden: einerseits die Ausgrenzung des Films aus den Künsten zu erhellen und andererseits die Wiederkehr filmischer Dispositive in den anderen Künsten als seine eigene Entgrenzung zu sehen. Eine Entgrenzung, die freilich oft genau in der Frei- und Wiedereinsetzung des Potenzials zur Illusionsbildung besteht, die die anderen Künste vermeintlich aufgegeben haben.

Es geht dabei um eine Vermittlung zwischen den verschiedenen ästhetischen Modi der Illusionserzeugung, wie sie sich zwischen den Medien und Künsten entwickelt haben – und weniger um eine Subgeschichte des aisthetischen Nachlebens sensualistischer, körperbezogener Genres und Formen, die im Sinne des Karnevalesken Bachtin’schen Zuschnitts gegen die Zumutungen der modernen Reflexionskunst ins Getriebe der Kunst rieseln. Es geht also nicht um die Subversion der Illusionsästhetik als einer Art Aberglaube an den Zauber alter Fetische, der sich in Szene setzt gegenüber den abstrakteren Aufstufungen der Denkformen der Kunst, sondern um die Wiederkehr der Illusion, die nicht erst aus dem Unbehagen an der ›hohen‹ Kunst entstand und auch nicht schon immer ihr Anderes war, sondern darum, dass im Zentrum jeder Ästhetik ein Moment der Illusionsbildung steckt.

Dass die Kunst selbst die Illusion nicht auslöschen kann, nagt an den großen reflexiv gebrochenen Kunstwerken nicht weniger als an den ästhetischen Genres und Formen, die sich der Illusion anschmiegen und damit gerade die Differenzerfahrung, die der ästhetischen Illusion eingeschrieben ist, verkennen. Das Somatische der ästhetischen Erfahrung provoziert zum illusionsästhetischen Diskurs. Wenn Adorno schreibt, dass die »nach Wedekinds Wort körperliche Kunst […] nicht nur hinter der vergeistigten zurückgeblieben, nicht einmal bloß deren Komplement«, sondern »als intentionslose auch deren Vorbild« sei, dann exemplifiziert er dies an Becketts Beschwörung des Clowns: »Wollen Becketts Stücke, grau wie nach Sonnen- und Weltuntergang, die Buntheit des Zirkus exorzieren, so sind sie ihm treu dadurch, daß sie auf der Bühne sich abspielen, und man weiß, wie sehr ihre Antihelden von den Clowns und der Filmgroteske inspiriert wurden.«[4] Die komplexe Beziehung zwischen Werk und Welt ist eine Spirale, auf der sich die 13Kunst sowohl in die Welt hinein- wie aus der Welt herausdrehen kann, ohne sie je ganz verlassen zu können:

Die vorkünstlerische Schicht der Kunst ist zugleich das Memento ihres antikulturellen Zuges, ihres Argwohns gegen ihre Antithese zur empirischen Welt, welche die empirische Welt unbehelligt läßt. Bedeutende Kunstwerke trachten danach, jene kunstfeindliche Schicht dennoch sich einzuverleiben. Wo sie, der Infantilität verdächtig, fehlt: dem spirituellen Kammermusiker die letzte Spur des Stehgeigers, dem illusionslosen Drama die letzte des Kulissenzaubers, hat Kunst kapituliert. Auch über Becketts Endspiel hebt verheißungsvoll sich der Vorhang; Theaterstücke und Regiepraktiken, die ihn weglassen, springen mit einem hilflosen Trick über ihren Schatten. Der Augenblick, da der Vorhang sich hebt, ist aber die Erwartung der apparition.[5]

Illusion wirkt selbst mit sowohl an jener Verflechtung der Künste, die in Adornos Worten, sich ›verfransen‹, als auch an ihrer Verfransung mit der Welt: »oder genauer: ihre Demarkationslinien verfransen sich«.[6] Ästhetische Illusion täuscht nicht eine Welt vor, die es nicht gibt, sondern verweist negativ auf das ihr Vorgängige der empirischen, der körperlichen Welt. Das Illusionsmoment der Kunst ist die appellative Verweisung auf ihre fehlende Materialität und wird damit zum paradoxen Zeichen für diese.

Mit anderen Worten, die zeitgenössische Rückständigkeit des Films in Bezug auf seine naturalistische Gegenständlichkeit war immer schon nur die konventionelle Hülle der Illusion, die ihre ästhetische Kraft noch im abstraktesten Experimentalfilm zur Geltung bringt. In den Ausstellungshallen der neuen Bildenden Kunst und auf den Bühnen der Theater ziehen die eingeigelte Illusionsästhetik und der Haken schlagende Hase der Avantgarden und Post-Avantgarden ihre ungleichen Runden. Es sieht so aus, als bestünde eine eigentümliche Rache der zu spät Gekommenen darin, dass sie in einer Gegenwärtigkeit präsent sind, die der linearen Dreiteilung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft widerspricht. Die Kraft zur Illusionsbildung, die der Film auch in den anderen Künsten zur Geltung bringt, ist eher eine Disposition als ein Dogma im Sinne einer normativen Aussage über die Verfasstheit der 14Kunst. Die Disposition zur Illusionsbildung ist dem Film auf eigene Weise inhärent und deswegen scheint er eine so faszinierende subkutane Wirkung an Orten zu entfalten, wo er sich historisch nicht aufhielt.

Im Folgenden geht es mir darum, durch die Analyse der illusionsbildenden Qualitäten des Films hindurch implizit eine ästhetische Theorie zu entwerfen, für die Film das Paradigma ist. Insbesondere der Film und seine institutionalisierten Formen haben sich von Anfang an in einer Métissage der sozialen Sphären vermehrt. Zwischen Wissenschaft, Kunst und Unterhaltungskultur changiert das neue Medium zugleich auch in unterschiedlichen normativen Prägungen: als Experiment zur Realitätsprüfung, als materiale Erweiterung des Bildes in die Bewegung hinein sowie als massenwirksame Zerstreuung stand es dem Konzept eines Fortschrittsgedankens gegenüber, das sich am präsenten Entwurf von Zukünftigem in Kunst und Wissenschaft orientierte beziehungsweise an der Neuschaffung einer populären Massenkunst. Im Spannungsverhältnis dieser Sphären wird der illusionsästhetische Rahmen des neuen Mediums vermessen. Die wissenschaftliche Seite eines Aufzeichnungsapparats, mit dem im Anschluss an die großen Bewegungsexperimente von Muybridge und Marey Zeitabläufe als Bewegungsgestalt festgehalten werden können, versprach etwas zeigen zu können, was sich dem bloßen Auge entzieht: Nun stand eine Apparatur zur Verfügung, die mehr festhielt, als das träge menschliche Auge sehen konnte. Mit diesem apparativen Vermögen hatte sich seit der Romantik ein ästhetisches Programm verbunden, das die Erweiterung des Wissens als eine Erweiterung von Bewusstseinszuständen dachte. Die Subjektivierung des Erkennens wird zur Basis einer Verschränkung von Wahrnehmen und Erkennen, in der die Illusionsbildung eine zentrale Rolle einnimmt, insofern in ihr das Vorstellungsvermögen das vollziehen muss, was sich mit den neuen Apparaten scheinbar zwanglos von alleine ergibt: ein Bild zu geben, das etwas zeigt, was man sich gar nicht vorstellen konnte, wie zum Beispiel, ob Pferde beim Galopp je einmal alle vier Beine gleichzeitig vom Boden lösen oder nicht. Die durch die Raschheit des Galopps sich entziehende Beobachtung war bis dato nur spekulativ-hypothetisch vorgestellt worden, zum Beispiel in der Malerei. In den apparativ erzeugten Bildern fällt Zeigen und Vorstellen zusammen in der Illusion, den zeitlichen Moment als 15räumliche Extension sehen zu können. Astrid Deuber-Mankowsky hat in einer Studie zu Kants Illusionsbegriff diese Kippfigur von Erkennen und Illudierung rekonstruiert als eine Konsequenz aus der Umarbeitung der optischen Täuschung durch die perspektivische Konstruktion zum bewusstseinsbildenden Medium.[7] In Kants so genannter »Opponenten-Rede« ist die Illusion eine transzendentale Gegebenheit der Bewusstseinsbildung, die sich eben aus der Perspektivität der optischen Illusion als ›objektive Illusion‹ ergibt: Diese ist nun eine Illusion, die sich trotz des Differenzwissens einstellt. An diese hängt Kant, so Deuber-Mankowsky, eine zeitphilosophische Perspektive: In dieser unentrinnbar sich einstellenden Illusion wirkt die perspektivische Projektion als zeitliche Horizontüberschreitung und verbindet sich darin mit dem Motiv der Hoffnung auf eine Zukunft, die uns als Illusion immer schon begleitet. In dieser Konstruktion kann man sich die ästhetische und die Verstandesdimension ineinander geblendet vorstellen. Die rein ästhetisch gedachte Illusion ist ›erlaubte Täuschung‹, die ihre Stärke aus der bewusst bleibenden Differenzerfahrung von Illusionsbildung und Realitätsbezug zieht, im selben Sinne wie später Ernst Gombrich von der Partialität der Illusionsbildung als Voraussetzung ihrer ästhetischen Wirkung ausgeht.

Welches aber sind nun die funktional-teleologischen Wirkungen und Kräfte, die man der Illusion zutraut? Im 18. Jahrhundert war die Illusion moralphilosophisch ausgezeichnet worden, als Modus eines enthusiastischen Mitschwingens, das, sofern diese Entwicklung im Kunstwerk angelegt ist, in der Lage ist, Mitleid zu erwecken und damit moralische Haltungen affektiv in den Erfahrungshorizont des Illudierten zu rücken. Die moralphilosophische Grundierung wich im 19. Jahrhundert einem biologistischen Argument, dass nämlich in der Illusionsbildung gerade unter Aussetzung moralischen Urteilens eine ständige Erweiterung des Zugangs zur Wirklichkeit geschult werde, die ähnlich dem ›Gedankenexperiment‹ eine Art ›Gedankenleben‹ öffne, in dem die ästhetische 16Lust neue Erfahrungen und Adaptionen bestärke, da gerade der Eindruck der Lebendigkeit, der der illusionären Vorstellung immanent ist, eine Voraussetzung für diesen Vorgang sei.

Dass die Illusion im Laufe ihrer Begriffsgeschichte immer wieder in diese Dichotomien geraten ist, verbindet sie mit der Ästhetik und ihrer Begrifflichkeit. Dass die Illusion immer dort ins Spiel gebracht wird und auftaucht, wo zwischen Geist und Körper, Rationalität und Affekt, zwischen dem Logozentrismus der Sprache und dem Ausdrucksgebaren des Körpers starr unterschieden wird, macht sie zu einem Joker, der in vielen Farben und unter vielen Zeichen auftreten kann.

17II. Das ästhetische Potenzial des Films zwischen ›Illudierung‹ und ›Massenbetrug‹

Das fotografische und das filmische Bild haben seit jeher einen prekären Status, der ihrer Herkunft entstammt: ihrer wissenschaftlichen und ästhetischen Genese. Beiden ist dieser doppelte Gebrauch in ihre eigene Medialität des apparativen Instruments eingelassen. Der szientifische Gebrauch des fotografischen Apparates führt zu einer langen Liste an Bildtypen, die aus Praktiken wie der Aufzeichnung, der Archivierung, der referentiellen Registrierung hervorgegangen sind: Beweisfoto, diagnostisches Foto, Typensammlung, Fotokarteien von Personen etc. Sowohl im szientifischen Gebrauch wie auch in der Pressefotografie werden Fotos daraufhin betrachtet und diskutiert, ob sie der Wirklichkeit treu geblieben sind oder diese verzerrt wiedergeben. Aus diesem Anspruch leiten sich auch die Vorwürfe ab, die gegen den Fotojournalismus, die Werbefotografie und die politische Propaganda wegen retuschierter, manipulierter Fotografien erhoben werden. Diese Wahr/falsch-Unterscheidung des szientifischen Gebrauchs bedient sich eines Zeugen- und Beweismodells, das die Ko-Präsenz von Fotografen und Fotografiertem voraussetzt. Das Foto bewahrt und transportiert durch Zeit und Raum, was der Fotograf gesehen hat. Dabei werden Fotos mit einem Wahrheitswert versehen, der für das Kunstfoto nicht relevant ist, denn die Richtigkeit einer ästhetischen Darstellung entscheidet sich nicht über die Beziehung zum Referenten (ist die Person, die auf dem Foto der Überwachungskamera zu sehen ist, dieselbe Person, die bereits erkennungsdienstlich ›behandelt‹ und in der Akte der Fahnder abgelegt wurde, stimmen Passbild und Reisender überein etc.?), sondern an der Gelungenheit einer Fiktionalisierung (die ›schöne‹ Sicht, die dadurch erzielt wird, dass ein bestimmter Ausschnitt gewählt wird, ein bestimmtes Objektiv in die Kamera geschraubt wird etc. – ganz zu schweigen von der Nachbearbeitung). Die Kunstfotografie betrachtet das Foto als ästhetisches Objekt, das sich vom Referenten vollständig lösen kann, aber nicht muss, und folglich auch nicht durch eine ontologische Be18stimmung über diesen referentiellen Realismus definiert werden kann.[1]

Im Film wird diese Aufspaltung mit dem fotografischen Erbe übernommen. Film reüssiert im szientifischen Bereich als Möglichkeit zur Bewegungsaufzeichnung und -beobachtung. Im extremen Zeitraffer werden dann zum Beispiel die Wachstumsprozesse von Pflanzen sichtbar, die dem bloßen Auge verborgen bleiben müssen. In dem Film Das Blumenwunder (1926), den die Badische Anilin und Soda Fabrik (BASF) in Auftrag gegeben hatte, hat es also »die kinematographische Wunderlampe« möglich gemacht, »unser Auge auf einen anderen Lebensrhythmus einzustellen, auf den Lebensrhythmus der Pflanzen. Vierundzwanzig Stunden sind auf eine Sekunde zusammengedrängt, und vor unseren Augen spielen sich bei den Pflanzen Bewegungen, die wir sonst kaum beobachten können, ab.«[2]

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19Abb. 1-3: Das Blumenwunder, 1926

20Das Blumenwunder fand eine breite Rezeption, vor allem auch bei Philosophen, die mit unterschiedlichen Argumenten auf die Illumination der »Wunderlampe« eingingen, nicht zuletzt in Abhängigkeit davon, wie stark sie davon überzeugt waren, dass die von der filmischen Technik geschaffene Illusion der pflanzlichen Bewegung etwas sichtbar mache, was wirklich am Pflanzenkörper vorhanden sei, oder ob es ein technisch induzierter Effekt des expressiven Filmbildes sei.

Hingerissen schreibt Max Scheler seiner Frau:

Wunderbar war ein Pflanzenfilm, indem je 24 Stunden auf eine Sekunde zusammengezogen ist (war mit Wertheimer dort); man sieht die Pflanzen atmen, wachsen und sterben. Der natürliche Eindruck, die Pflanze sei unbeseelt, verschwindet vollständig. Man schaut die ganze Dramatik des Lebens – die unerhörten Anstrengungen. […] wenn die Ranke […] ›verzweifelt‹ ins Leere greift, sucht und sucht […], bis sie sich nach Mißerfolgen umwendet […], das erschütterte mich so, daß ich mit Mühe die Tränen zurückhielt. O wie ist das ›Leben‹ überall gleich süß, zuckend und schmerzhaft, Liebe und wie ist alles, alles Leben eins.[3]

Eine Position, die in den kritischen Äußerungen Helmut Plessners ihren Widersacher fand, der es als »Verrat am Wesen der Pflanze« sah, wenn man ihr, wie im Film suggeriert, »Empfindungsfähigkeit« unterstelle.[4] Während Scheler sich ganz der anthropomorphisierenden Tendenz des Films hingibt und mit einem holistischen Lebensbegriff seine Emotionen begründet, hat sich für Walter Benjamin im Blumenwunder weniger die Welt der Blumen als die der Bilder erschlossen. In einer kurzen Rezension zu Karl Bloßfeldts Urformen der Kunst. Photographische Pflanzenbilder geht er auf das Blumenwunder ein, ohne den Titel zu nennen: »Ob wir das Wachsen einer Pflanze mit dem Zeitraffer beschleunigen oder ihre Gestalt in vierzigfacher Vergrößerung zeigen – in beiden Fällen zischt an Stellen des Daseins, von dem wir es am wenigsten dachten, ein 21Geysir neuer Bilderwelten auf.« Allerdings sind es Bilderwelten, die »innere(n) Bildnotwendigkeiten« entspringen und auf das Schöpferische der Natur verweisen.[5] In der Auseinandersetzung mit dem Blumenwunder war es Ludwig Klages, der auf die technische Induziertheit hinwies: »Die kinematographisch erzeugten Vorstellungen zum Pflanzenleben gelten Klages daher als ›Sachverhaltsfälschung‹, die durch willkürliche Zeitverdichtung im Laufbild erzeugt wird, wie auch im Fall der kreisenden Ranken im ›Blumenwunder‹.«[6] Die Illusion des kinematographischen Bewegungssehens wird einmal als Modus des Erscheinenlassens, das andere Mal als Tatsachentäuschung gesehen. Ein diskursives Gespann, das noch lange durch die Filmtheorie fahren wird.

Diese Aufteilung setzt sich fort in der Diskussion über die Illusion sowohl in Bezug auf die Filmwahrnehmung als auch auf die Filmproduktion mit ihren Genrezuordnungen des Spiel- und des Dokumentarfilms. Wird zum einen unterstellt, dass wir im fotografischen Bild genauer, mehr und anderes sehen, als es dem unmediatisierten Auge möglich ist, wird andererseits gewarnt vor der Sinnestäuschung durch die retuschierten, digitalisierten oder anderweitig manipulierten und bearbeiteten Bilder. In der Filmproduktion werden die Fragen von Illusionsbildung nur scheinbar unterlaufen durch die grobe binäre Genreaufteilung in Spielfilm (fiction) einerseits und dokumentarischem Film andererseits. Eine Aufteilung, die überhaupt nur Sinn macht unter dem Aspekt des Bezugs zur Wirklichkeit als eines Maßstabs für beide Bereiche. Das Dokumentarische hat einen deiktischen, einen verweisenden und referentiellen Bezug zur Realität, während der Spielfilm einen ›als ob‹-Charakter hat, in dem Realitätseffekte zur Beglaubigung einer projektiven Welt einladen. Die Illusionsbildung hingegen liegt quer zu diesen Einteilungen, sie findet sowohl auf der basalen Ebene der Bewegungserzeugung und -wahrnehmung statt wie auch auf der komplexen Ebene einer kohärenten Schließung des Wahrgenommenen zu einem deutbaren Gefüge. Schon an der Diskussion zum Blumenwunder lässt sich diese Einsicht gewinnen.

Im Folgenden gilt es zu klären, welche bisherigen Diskurse der 22Filmtheorie und -wissenschaft in Bezug auf die Illusionsbildung in Filmwahrnehmung und -herstellung stattgefunden haben. Von besonderem Interesse ist, ob die Illudierung des Zuschauers als ein positives ästhetisches Vermögen gesehen wird oder ob von der Illusionserzeugung als einem gezielten Täuschungsmanöver die Rede ist. Beide Diskurse trennen sich auch darin, dass sie den Zuschauern unterschiedliche Eigenschaften unterstellen, je nachdem, ob er als aktiv Partizipierender gesehen wird oder als passiv Manipulierter. Insofern geht es im Streit, ob die filmische Welt auf Trugbildern fußt, um mehr als einen bloßen Bilderstreit, es werden darin diskursiv ganze Teile der Anthropologie verhandelt. Zu den festen Bestandteilen der Kulturanthropologie gehört die Idee vom Menschen als bilderzeugendem Wesen, das in seiner Fähigkeit zur piktorialen Repräsentation neben der Sprache eine zweite mediale Dimension seiner Reflexivität eingeschrieben hat. In der bildlichen Vorstellung ist die Fähigkeit angelegt, Abwesendes in sinnlicher Präsenz erscheinen zu lassen. Anders als die arbiträren Zeichen der Sprache bleibt hier ein deiktisch-mimetisches Verweisungsverhältnis erhalten. Bilder werden zu Spiegeln einer mimetischen Episteme. Die großen Kulturtheorien der letzten Jahrzehnte haben immer wieder den Versuch unternommen, aus diesem Verhältnis zum Bild ein onto- und phylogenetisches Netz zu spinnen, mit dem die Erkenntnis zwischen täuschender Fehlerkennung und reflexiver Widerspiegelung ausgeschöpft wird – um hier nur zwei Positionen zu benennen, die direkt oder indirekt die Filmtheorie stark geprägt haben: Lacan zieht ein düsteres Fazit aus dem Spiegelstadium der Subjektkonstitution des Menschen, wenn er in ihm den Kern einer unabdingbaren Disposition zur Fehlerkennung sieht; das Spiegelbild präsentiert gegenüber der Selbstbeobachtung das vollkommenere Wesen und konstituiert so eine Fehldeutung im Innersten des Subjekts, dessen Begehren auf eine Vollkommenheit und Komplettheit gerichtet wird, die immer auf ein Imaginäres zielen muss. Das Begehren ist also bereits eine negative Episteme.[7] Kracauers Metapher vom Film als ›blanker Schild der Athene‹, dessen Spiegelung es Perseus erlaube, Medusa zu enthaupten, schreibt der Medialität des Spiegelbildes hingegen eine performative positi23ve Kraft zu.[8] Nur durch die mediale Distanz werden Vorstellungen zu Handlungen. Das Subjekt spiegelt nicht die äußere Natur als Bild nach innen, um an ihm die äußere Welt lesbar zu machen (Rorty hat im Spiegel der Natur diesen epistemischen Fehlschluss aufgerollt), sondern genau in der Verdinglichung zum Bild wird der Terror des Realen gebannt – und dadurch können Erkenntnis und Handeln zusammengebracht werden.[9] Mit der Thematisierung der Handlungsaspekte des Bildes als performativer Kraft stellt sich auch die implizit politische und ethische Frage danach, ob die erzielte und beabsichtigte Täuschung eine Verletzung des Willens der Getäuschten darstellt, wie man es für die Manipulation annehmen würde. Oder ob es sich um eine pflichtvergessene gewusste Täuschung handelt, die bereits selbst auf einem skeptischen Weltbild aufsitzt wie viele bilderskeptische Positionen, die an Typen metaphysischer oder religiöser Wahrheiten ausgebildet worden sind.

Bei Plato sind Bilder immer nur eine schwächer werdende Kette von Abbildungen von Ideen – so wird die Idee des Tisches zum Beispiel im gezimmerten Tisch noch besser repräsentiert als im Bild vom Tisch, das nur noch die Repräsentation einer Repräsentation ist und damit in die negative Potenzierung von Idee und Abbild geraten ist. Unter den vielen Täuschungen, in denen unser Weltverhältnis befangen ist, wäre dann die des filmischen Bildes nur eine weitere Variante. Zu dieser würde dann auch die Kritik an der hedonistischen Variante eines Eskapismus gehören, der im unterhaltsamen Spiel mit der Illusion die Konfrontation mit der letzten unabdingbaren Wahrheit, der eigenen Sterblichkeit, zu vermeiden sucht. Auf diese Position bezieht sich Pascal kritisch in seinen Gedanken mit der berühmten Formulierung, dass alles Unglück der Welt daher komme, dass der Mensch es nicht alleine in seinem Zimmer aushalte.[10] So ist es also allenfalls Willensschwäche, die in der leidvollen Vermeidung liegt, sich selbst zu reflektieren. Diese kann zur Selbsttäuschung führen, wenn zum Beispiel die eigene Willensschwäche nicht mehr erkannt wird und stattdessen die Me24dien als Agenten eines fremden Willens aufgefasst werden, denen man ausgeliefert ist – eine andere Variante in der Behandlung des epistemischen Problems wäre der radikale Skeptiker, der prinzipiell von der Unerkennbarkeit der Welt ausgeht und für den die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Täuschung überflüssig ist.

Die Diskurse über die filmische Illusionsbildung beginnen in einer Ära, die die Verwissenschaftlichung des Alltagslebens programmatisch bejaht. Mit der Institutionalisierung und Habitualisierung des szientifischen Weltbildes wird aber schließlich auch die manipulative Instrumentalisierung von Können und Wissen betont und beklagt. Am Ende steht schließlich die skeptische Frage, wie es denn um die Trennschärfe von Wissen und Glauben stehe. In der Manipulation werden wir gezwungen, etwas zu glauben, das ›besserem Wissen‹ nicht standhalten würde, in der Illusion hingegen verschaffen wir uns eine Sicht auf die Welt, die nicht einfach gegenüber der Wirklichkeit verzerrt ist, sondern diese imaginär umbaut. Einmal wird also die Illusion wie eine Lüge, die man nicht durchschauen kann, gesehen, zum anderen als eine imaginäre Scheinwelt, die Entwurfscharakter hat und deren Realitätsprüfung auf einer anderen Ebene liegt als der einer Übereinstimmung mit der real existierenden Wirklichkeit, nämlich in der Konfrontation mit Wünschen und ihrem Als-ob-Status. In fast all diesen Diskursen basiert das Verdikt über die Illusion auf einer These, die vorrangig das Verhältnis von Film und Realität im Auge hat. Wenn man von Illusion als Täuschung redet, dann impliziert das meistens ja eine Täuschung über etwas, über die Wirklichkeit, Sachverhalte, die ›wahren Verhältnisse‹, das eigene Interesse etc.

Unabhängig davon, ob die Auseinandersetzung mit der filmischen Illusionsbildung sich zu dieser in ein positives oder negatives Verhältnis setzt, unterstellt die Annahme der Illusionsbildung dieser ein Vermögen. Die Illusion ist Resultat einer dreistelligen Relation: x erzeugt y in z. Dieses den Bildern zugeschriebene Vermögen zur Illusion und/oder Täuschung geht davon aus, dass nicht nur wir etwas mit den Bildern machen, sondern diese auch etwas mit uns. Im kritischen Diskurs über die Massenmedien wird diese Frage im Hinblick auf den manipulativen Einfluss der Bilder gestellt, ihre Suggestionskraft, die mehr vermittelt, als die bloße Intention ihrer Produzenten in sie hineingelegt hat. Damit werden aber die Bilder selbst in einen Subjektstatus gerückt, werden sie doch in 25eins gesetzt mit einer Sprecherposition, die sonst nur an Personen gebunden ist. Was können Bilder? Können Bilder lügen, können Bilder töten? Die letzte Frage hat sich Marie-José Mondzain gestellt – und sie in einem längeren Essay als eine rhetorische Figur definiert und insofern auch beantwortet.[11] Es geht also darum, aus der »Art der Verbindung zwischen dem, was man sieht, und dem, was man tut, Schlussfolgerungen zu ziehen. Das ist gewissermaßen eine Frage nach dem performativen Charakter des Bildes, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass man sich nicht fragt, was das Bild macht, sondern was es auslöst.«[12]

Damit wird die Performativität des Bildes bereits eingeschränkt. Es kann selbst nur ganz bestimmte Handlungen vollziehen, nämlich die, auf das Handeln von Personen zu wirken. Bilder sind also symbolische Medien unseres Handelns – aber können wir nicht auch Medien der Bilder werden? Mondzain scheint diese Frage wohl eher zu verneinen, sie schiebt sie in einen Zwischenbereich der Psychologie beziehungsweise Pathologie, wenn sie schreibt:

Wenn man von einem Bild sagt, dass es gewaltsam ist, unterstellt man, dass es ohne jede sprachliche Vermittlung direkt auf ein Subjekt einwirken kann. Das bedeutet, den Bereich der symbolischen Produktionen zu verlassen und sich dem viel ungreifbareren der quasi hypnotischen Beeinflussung, des Realitätsverlustes der kollektiven Halluzinationen oder des privaten Wahns zu nähern.[13]

Es wird später noch darauf zurückzukommen sein, ob nicht diese Umkehr eine Bedeutung für den Film haben kann, dessen Bewegungsbilder, dessen Aufführung im Halbdunkel und dessen suggestive Stimmlichkeit den Zuschauer in einen Zustand mehr halluzinatorischer als träumerischer Aktivität/Passivität versetzen kann.[14] Gerade der Film beziehungsweise das Kino wurde ja von Anfang an diskursiv in die Zone der ›gefährlichen‹ Bilder geschoben, die verderben können, die ungebrochen und damit unreflektiert dem Betrachter in den Körper fahren und ihn in Besitz nehmen wie ein Dybbuk. Aber auch wenn man diese meist in kulturkritischer 26Absicht vorgetragene These reformuliert in einer Ästhetik der Immersion oder der phänomenalen Affektübertragung, wie es die im Anschluss an Merleau-Pontys Philosophie des Sichtbaren von Sobchack entworfene Filmtheorie der somatischen Affizierung tut, endet die performative Bewegung wieder im Auge und Körper des Betrachters. In Abgrenzung von Identifikationsmodellen, die auf intrapersonale Aspekte bezogen sind, erlaubt das Immersionsmodell eine stärkere Betonung intermodaler Wahrnehmung und deren Ausweitung auf nicht personale Gegenstände, aber auch auf die somatische, die körperliche Basis des Filmzuschauers.[15] Immersion wird hier verstanden als empathisches Eintauchen in die sinnlich-materiale Seite der Objektwelt wie Rhythmus, Farbe, Morphologie und anderes, die eine haptische Wahrnehmung des projizierten Lichtbildes evozieren. Siegfried Kracauer hat das mit der Metapher vom Filmzuschauer, der dies ›mit Haut und Haar‹ sei, gefasst. Miriam Hansen betont in ihrer Einleitung zur neuen englischen Ausgabe von Theory of Film diesen Aspekt, wenn sie schreibt:

In der Art und Weise, wie das Kino mit der materialen Realität des Zuschauers, dem Menschen »mit Haut und Haar«, verfährt, unterminiert es äußerst effektiv idealistische und anthropozentrische Positionen auf der Ebene der Rezeption. Im Gegensatz zum geistig bestimmten und psychologisch integrierten »referentiellen Subjekt des Theaters«, das von Kracauer »der Mensch in Totale« genannt wird, adressiert der Film seinen Betrachter als körperliches Wesen.[16]