Quellennachweis

Textauszug aus: Jurek Becker, Jakob der Lügner. Roman. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1976. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.

Textauszug aus: Brigitte Landes, Alles Theater. Schauspielerporträts. Mit farbigen Fotos von Margarita Broich. © Insel Verlag, Berlin 2015.

Robert Gernhardt, Krankheit als Chance. Heute: Beim Hosenkauf. Aus: ders., Gesammelte Gedichte. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2008.

Textauszug aus: Erich Kästner, Emil und die Detektive. © Atrium Verlag, Zürich 1935.

Textauszug aus: Thomas Mann, Der Zauberberg. © S. Fischer Verlag, Berlin 1924. Alle Rechte vorbehalten. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.

Textauszug aus: Ulrich Plenzdorf, Legende vom Glück ohne Ende. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1979. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.

Textauszug aus: Joanne Rowling, Harry Potter und der Gefangene von Askaban. Aus dem Englischen übersetzt von Klaus Fritz. © Carlsen Verlag, Hamburg 1999.

Textauszug aus: Lew Tolstoi, Anna Karenina. Aus dem Russischen neu übersetzt und kommentiert von Rosemarie Tietze. © Carl Hanser Verlag, München

Der Verlag hat die Quellenlage mit größter Sorgfalt recherchiert und die Nennung der Rechteinhaber dementsprechend vorgenommen. Sollte dennoch eine Textpassage nicht ausreichend als Zitat gekennzeichnet worden sein, bittet der Verlag um einen entsprechenden Hinweis des Rechteinhabers.

1

Vielleicht erzähle ich einfach davon, wie Mütterchens Geschichten mich bei Verstand hielten in dem Jahr, als ich dachte, ich müsse sterben.

Oder noch anders. Ich fange mit dem Koffer an.

Mütterchen behauptete immer, es gebe zwei Sorten von Menschen: die ordentlich Unordentlichen und die mit der unordentlichen Ordnung.

»Die einen legen immer alles auf Kante und finden nachher nichts mehr wieder. Bei den anderen ist es zwar nicht wie geleckt, aber gut organisiert.« Sich selbst zählte meine Großmutter eindeutig zur letzteren Kategorie.

Mütterchen war Jahrgang 1912, sie gehörte einer Generation an, die zwei Weltkriege erlebt hatte und mehr als eine Mangelwirtschaft. Sprich: Mütterchen warf nichts weg. In ihrem Schlafzimmer stand eine Truhe, die war groß wie ein Sarg und bis oben hin voll mit Stoffresten. Als ich in die Pubertät kam und beschloss, nur noch Secondhandkleidung aus den Siebzigern zu tragen, war diese Flickentruhe der Schlüssel zu meinem Erfolg. Die Flicken waren älter als meine Jeans – und meine Jeans waren schon älter als ich! Begeistert machte ich mich über Mütterchens archäologische Textilschätze her. »Schal Krümel Weihnachten 74«, stand auf einer ausgewaschenen DDR-Toastbrot-Tüte, in denen drei Fussel der roten Wolle steckten, aus der Mütterchen meiner Mutter seinerzeit den roten Schal gestrickt hatte, den ich Jahrzehnte später erbte, als ich Hippie wurde. Ich trage den Schal bis heute. Er ist drei Meter lang, rostrot und watteweich.

»Mit Mütterchens Näh- und Strickerzeugnissen ist es wie mit den Gedichten von Johannes R. Becher«, sagte meine Mutter immer. »Jedes zehnte ist richtig gut.«

Mütterchens Nähmaschine war eine Singer, alt, aber elektrisch, und sie hütete sie wie ihren Augapfel. »Himmel, Arsch und Zwirn!«, fluchte sie jedes Mal, wenn sie davorsaß. Und das tat sie oft. Die Worte waren mit den Jahren zu einem einzigen zusammengeschmolzen. »Himmelarschundzwirn!«, brüllte sie, und bei jedem Einfädeln hielt sie die Lupe über die Nadel und murmelte: »Komm vor, mach Faxen!«

Meine Großmutter war eine leidenschaftliche Schneiderin, auch wenn über ihr Talent geteilte Ansichten herrschten – ihre eigenen und die der potentiellen Nutznießer ihrer Kunst. Deshalb ging ich auf Nummer sicher und setzte mich lieber selbst an die Nähmaschine. Und da meine alten Hosen oft so fadenscheinig waren, dass praktisch jede Woche ein neuer Flicken nötig war, damit Mütterchens Prophezeiung »Die Buchse wird dir irgendwann vonne Beene fallen!« nicht wahr wurde, saß ich sehr regelmäßig mit meiner Großmutter zusammen in ihrem Wohnzimmer in der Neubauwohnung am Tierpark. Während ich an meinen Hosen herumstichelte, redeten wir über Männer, über Mütterchens Zeit am Theater, ihre Rollen beim Film und über viele andere wichtige Dinge.

»Was ist denn in dem Koffer da oben?«, fragte ich sie einmal, als ich in ihrer Rumpelkammer etwas suchte, einem kleinen Kabuff neben dem Badezimmer, gerade mal einen Quadratmeter groß, alle Wände verstellt mit bis unter die Decke vollgestopften Regalen. Es gab keine Nagelgröße und keine Schnipsgummidicke, die nicht in einer der tausend Schachteln und Schächtelchen, die dort lagerten, zu finden gewesen wäre. Und ganz oben lag der Koffer.

»Ach«, rief Mütterchen aus der Küche, »nur altes Zeug, Briefe und so.«

»Was denn für Briefe?«

»Alte Briefe … Komm her, die Eierkuchen sind fertig!«

Mütterchen backte die besten Eierkuchen der Welt, mit steif geschlagenem Eischnee, den sie unter den Teig hob, damit sie ganz dick wurden und nach Sahnebaiser schmeckten. Die Eierkuchen wurden in Butter gebraten und brannten immer auf mindestens einer Seite an. Das lag an dem alten Elektroherd aus DDR-Zeiten, dem »blöden Scheißteil«, wie Mütterchen sagte, auf dem man nie ordentlich die Temperatur regeln konnte. »Wenn der aus ist, kannst du eine halbe Stunde später noch einen Ochsen drauf braten.«

Ich liebte ihre Eierkuchen. Noch heute, wenn ich sie selber backe, lasse ich sie immer auf einer Seite ein bisschen anbrennen.

Als Mütterchen ins Pflegeheim kam, im sagenhaften Alter von zweiundneunzig Jahren, lösten meine Mutter, meine Tante, mein Cousin und ich ihre Wohnung auf. Mütterchens Nähmaschine wanderte zu mir, ich war die Einzige, die mit dem Gerät umgehen konnte.

»Was ist mit den Drehbüchern?«, fragte meine Mutter, als sie einen Wandschrank voller Manuskripte öffnete.

»Nehme ich«, rief ich. War schließlich alles Archivmaterial für den Jahrhundertroman, den ich schreiben wollte.

»Programmhefte«, seufzte meine Tante, als sie ein Fach der Kommode öffnete, auf der Mütterchens Fernseher gestanden hatte.

»Die nehme ich auch«, sagte ich.

Und irgendwann räumten wir die Kammer aus.

»Was ist eigentlich in diesem Koffer?«, wunderte sich meine Mutter.

Ich stand gerade in der Küche und sortierte Konserven aus, auf denen man das Verfallsdatum nicht mehr lesen konnte. »Briefe oder so«, sagte ich zerstreut und überantwortete eine halbverrostete Dose Hering in Tomatensoße dem Mülleimer.

»Klong!«, machte die Dose, und gleichzeitig drang ein Rumpeln aus der Kammer, begleitet vom Ächzen meiner Mutter, einem dumpfen Aufschlag und dem Ausruf: »Ach, du kriegst die Tür nicht zu!«

»Mama!«, rief ich. »Alles klar?«

Meine Mutter stand in Küchenschürze und Haushaltshandschuhen vor dem braunen Pappkoffer, der bei dem Sturz aufgesprungen war und nun wie ein weit offener Schlund seinen Inhalt offenbarte: Fotoalben, vergilbte Briefe, Reisetagebücher, Zeugnisse und noch mehr Theaterprogrammhefte und Drehbücher. Mütterchens Nachlass.

»Ich will den Koffer!«, stieß ich hervor.

Doch meine Mutter wiegelte gleich ab. »Der Koffer kommt zu mir. Und du«, sie drehte sich halb zu mir um, »du machst erst mal dein Studium fertig!«

*

Vor dem Panoramafenster des Arztzimmers stoben die Schneeflocken von links nach rechts. Es war Anfang Januar, ein kalter Wintertag. Die Lungenärztin, eine gesund aussehende Frau Mitte vierzig, ernst, kompetent, saß vor Paul und mir und redete irgendwas. Dabei machte sie dieses Gesicht. Sie sah nur Paul an, meinem Blick wich sie aus. Paul sog ihre Worte förmlich auf, all die sachlichen Worte. Er wollte verstehen, wollte einen Überblick haben. Ich wollte nur Trost. Und dann sagte sie dieses eine Wort.

Krebs.

Das Zimmer war nicht groß. Links Schränke, geradeaus eine Fensterwand, davor der Schreibtisch, schräg in den Raum gestellt wie ein Schutzwall, hinter dem die Ärztin in Deckung gehen konnte. Rechts eine Pritsche für Untersuchungen und eine Lichtwand für die Röntgenaufnahmen.

Die Ärztin redete und redete, ich glaube, sie hörte sich selbst gar nicht zu. Zwischendurch stand sie auf, ging zur Lichtwand hinüber, schaltete das Licht an, betrachtete die Röntgenbilder, ging zum Schreibtisch zurück, setzte sich, stand wieder auf, schaltete das Licht aus, nahm die Aufnahmen, ging zum Schreibtisch, hielt die Bilder gegen die Schreibtischlampe. Wie ein Tiger im Käfig. Ich sah zu Paul, er sah die Ärztin an. Er wirkte wie ein Jäger mit erhobenem Speer, ruhig und hochkonzentriert. Er wartete auf die gute Nachricht.

Sie schickte uns zum CT. Computertomographie. Auf der Überweisung stand »Pneumonie« – und dieses andere Wort. Wir fuhren direkt zum Krankenhaus, das CT sollte noch am selben Abend gemacht werden. Im Taxi brach ich in Tränen aus.

»Es tut mir so leid!«, schluchzte ich.

»Was tut dir leid?«

»Ich will nicht sterben!«

Paul hielt mich fest. Der Taxifahrer blickte stumm auf die Straße.

Der Computertomograph sah aus wie ein weißer Sarkophag. Eine junge Assistenzärztin führte mich in eine Kabine von der Größe einer Telefonzelle.

»Sie können sich schon mal frei machen«, sagte sie.

Normalerweise habe ich kein Problem damit, mich auszuziehen. Nacktheit ist ein wundervoller Zustand. Man kann schöne Sachen machen, wenn man nackt ist. Baden gehen, sich massieren lassen, vögeln. Ich mag die Nacktheit in Gemeinschaftsumkleidekabinen, beim Sport, in der Sauna. Wichtig ist, dass alle gemeinsam nackt sind. Im Krankenhaus ist aber immer nur einer nackt: der Patient, die Patientin. Die da. Die einsame Nacktheit entblößt. Nie zuvor hatten so viele Fremde meine Brüste gesehen, meinen Bauch, meine Beine, mich angefasst, mich abgetastet. Nie habe ich mich so entkörpert gefühlt wie 2011, in dem Jahr, als ich Krebs hatte.

»Kommen Sie bitte«, sagte die Radiologin. Es war kalt im Untersuchungsraum, ich hatte Gänsehaut auf meinen Knochen, so dünn war ich geworden. Der Computertomograph stand in der Mitte des Raums, weiße Pritsche, weißes Laken, weißer Torbogen. Ich sah die Radiologin an. Das Licht war grell, die Flächen glatt. Ich hatte Angst. »Na, kommen Sie, so schlimm wird es schon nicht werden.«

Ich wusste nicht, ob sie die Untersuchung meinte oder deren Ergebnis. Es war mir egal. Der Trost in ihrer Stimme tat gut.

»Legen Sie sich bitte auf den Rücken«, sagte sie dann. »Sie müssen ganz ruhig liegen, sonst verwackelt die Aufnahme. Ich gehe jetzt raus, dann kommt über Lautsprecher die Ansage, was Sie machen sollen. Dauert nicht lange.«

Ich lag auf der Pritsche wie ein bloßes Hühnchen beim Fleischer in der Auslage. Ein sehr mageres Hühnchen. Ich schloss die Augen und versuchte, mich nicht zu bewegen, versuchte, das Zucken meiner Beine zu unterdrücken, das Zittern meines Körpers. Eine blecherne Frauenstimme hallte durch den Raum: »Bitte einatmen.« Ich atmete ein. »Luft anhalten.« Ich hielt die Luft an. Unendlich langsam fuhr die Pritsche, auf der ich lag, unter dem Torbogen durch. Vielleicht fuhr der Torbogen auch über mich, ich weiß es nicht mehr. Ich kam mir ausgeliefert vor, so bewegt im schlechten Sinne, so mitgenommen. Der Torbogen machte Maschinengeräusche. Das Licht veränderte sich. Wie ein Zug auf einem Rangierbahnhof, dachte ich und musste grinsen. Nicht lachen!, befahl ich mir selbst und stellte mir vor, wie die Röntgenstrahlen auf meine Brust prasselten, die Haut durchdrangen, die Knochen, Sehnen, Nerven, das Blut und die Eingeweide. Ich stellte mir vor, dass jeder Strahl ein kleiner Stachel wäre, der in mich eindrang und durch mich hindurchschoss, eine Schneise hinterließ, eine Wunde, tausend kleine Löcher, die nur mühsam wieder zuwachsen und heilen würden, von tausend kleinen Nadeln, die mich durchsiebten. Tränen schossen mir in die Augen, der Sauerstoffvorrat in meiner Lunge war verbraucht, der Raum um mich herum begann sich zu drehen, die Stimme sagte: »Weiteratmen.«

Am nächsten Tag saßen wir wieder in dem kleinen Sprechzimmer vor dem Riesenschreibtisch der Lungenärztin. Meine Mutter war auch dabei. Blass und aufgeräumt saßen wir da, ich in der Mitte, Paul hielt meine linke Hand, ich hielt die Hand meiner Mutter. Das Gesicht der Ärztin war wie versteinert. Sie räusperte sich mehrere Male, als hätte sie etwas Großes im Hals stecken. Auch ihr Schreibtischstuhl schien plötzlich zu Stein geworden zu sein. Sie rutschte nervös darauf herum, bis sie endlich eine Position gefunden hatte, in der sie ein wenig Ruhe fand.

»So«, sagte sie, räusperte sich wieder und drehte den Bildschirm ihres Computers zu uns herum. Meine Mutter runzelte die Stirn. Das, was aussah wie ein Rorschachbild, seien meine Beckenknochen, erklärte uns die Ärztin und führte uns an ihrem Bildschirm auf eine imaginäre Reise durch meinen Körper. Ich sah nichts weiter als weiße und schwarze Flecke. »Hier, das sieht alles unauffällig aus«, meinte sie und scrollte weiter.

»Unauffällig«, murmelte meine Mutter.

»Unauffällig ist gut«, sagte Paul.

Die Ärztin nickte abwesend und scrollte weiter bis zum oberen Ende der Wirbelsäule. »Aber hier, sehen Sie, hier ist etwas.« Sie deutete mit dem Cursor auf ein schwarzes Loch.

Meine Mutter quetschte meine Hand und fragte: »Was denn?«

Die Ärztin rückte erst die Brille auf ihrer Nase und dann ihren Hintern auf dem Schreibtischstuhl zurecht, atmete tief ein und sagte schließlich sehr schnell und sehr leise: »Es kann aufgrund der vorliegenden Bilder nicht eindeutig festgestellt werden, aber die Vermutung liegt nahe, dass die Hypothese zugelassen werden kann, dass …«

»Ist es wirklich Krebs?«, unterbrach ich sie.

Die Ärztin starrte mich an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Das ist jetzt nicht wahr, dachte ich. Sie erhob sich und hielt sich die Hand vor den Mund.

»Entschuldigen Sie«, setzte sie mit zittriger Stimme an. »Es tut mir sehr leid, es ist was in meiner Familie, hat nichts mit Ihnen zu tun.«

Okay, das war’s, dachte ich. Wenn deine Ärztin vor dir heult, dann ist es aus. Den Rest der Zeit war ich nur noch körperlich anwesend. In Gedanken ordnete ich bereits meinen Nachlass. Wer sollte meine Wohnung übernehmen? Wer meine Bücher erben? Und das Wichtigste: Was würde aus Mütterchen werden? Ich wollte doch ihre Geschichte aufschreiben! Die Geschichte meiner Großmutter. Das hatten wir so besprochen. Vor einer halben Ewigkeit schon.

2

Mütterchen war höchstens zwölf, als sie mit dem Rauchen anfing, wahrscheinlich sogar jünger, und sie klaute auch keine einzelnen Zigaretten aus den herumliegenden Schachteln ihrer Eltern, wie ich es als Teenager getan hatte, sie klaute die Kippen gleich stangenweise.

Ihre Mutter Marie war eine von vier Millionen »Kriegerfrauen« im Deutschen Reich gewesen, die eine staatliche Stütze bekamen, solange ihre Männer an der Front waren. Mit einem Kind erhielt eine Kriegerfrau je nach Region, in der sie lebte, Zuschüsse von zusammengerechnet etwa 45 Mark. Männer verdienten in Friedenszeiten aber pro Monat mindestens 120 Mark. Marie und Mütterchen verfügten zwischen 1915, als der Vater Max eingezogen wurde, und 1921, als er aus der französischen Kriegsgefangenschaft wieder nach Hause kam, also über lediglich ein Drittel dessen, was sie sonst zum Leben hatten. Das Geld reichte vorn und hinten nicht. Deshalb beschloss die kluge Marie, »in Vaters guter Stube« einen Tabakladen zu eröffnen – er sei ja nicht da gewesen und habe das Zimmer eh nicht nutzen können, meinte meine Großmutter. Sie selbst musste helfen, die Zigarettenlieferungen vom Grossisten abzuholen.

»Na ja«, sagte Mütterchen, »was soll sein. Da hab ich eben mal eine probiert.«

Zigaretten zu rauchen galt damals noch nicht als gesundheitsschädigend, im Vergleich zu den bislang üblichen Pfeifen und Zigarren sogar als geradezu verantwortungsbewusst. Außerdem war es billig und betäubte den Hunger in Zeiten des Krieges. Und nachdem Asta Nielsen 1912 rauchend in einem Film zu sehen gewesen war, galt die Zigarette auch als wichtiges Insignium der Neuen Frau: selbständig, mondän, weltoffen und ein bisschen unanständig. Insofern ein Pflichtaccessoire für meine Großmutter, die schon damals, als ganz junges Mädchen, nur den einen Wunsch hatte: Sie wollte Schauspielerin werden.

Mit sechzig hörte Mütterchen auf zu rauchen, nachdem ein Arzt ihr gesagt hatte, es sei ungesund. Bei der Familienfeier zu ihrem neunzigsten Geburtstag allerdings griff sie plötzlich wie selbstverständlich nach dem roten Päckchen, das vor mir auf dem Tisch lag.

»Wem gehören denn die Kippen hier?«, fragte sie und schüttelte prüfend die Schachtel. Ein paar Zigaretten waren noch drin.

»Das sind meine«, sagte ich. »Warum?«

»Aha«, sagte Mütterchen, »dann nehme ich mir mal eine.«

»Omi!«, rief ich. »Bist du sicher? Seit wann rauchst du denn wieder?«

»Wieso wieder? Ich habe immer geraucht.«

»Echt?« Ich war ehrlich erstaunt. Andererseits traute ich meiner Großmutter so einiges zu, deshalb ließ ich sie gewähren und wollte ihr gerade Feuer geben, als die Stimme meiner Tante über den Tisch schallte: »Was macht ihr denn da?«

»Mütterchen will eine rauchen«, sagte ich.

»Kinder, nun habt euch mal nicht so!«, rief meine Oma genervt. »Zu Hause habe ich immer Zigaretten!«

Ich nickte meiner Tante triumphierend zu.

»Aber Mütterchen«, schaltete sich meine Mutter ein. »Das stimmt doch gar nicht. Du hast vor dreißig Jahren mit dem Rauchen aufgehört!«

Mütterchen sah ihre Tochter an, dann sah sie ihre Enkelin an, dann die Zigarette, dann die andere Tochter. Schließlich fing sie an zu kichern und sagte: »Ach ja. Hatte ich vergessen.«

*

Ich habe in der Lungenklinik im Alten Krankenhaus mit dem Rauchen aufgehört, obwohl – das möchte ich ausdrücklich betonen – meine Erkrankung nichts damit zu tun hatte, das wurde nachgewiesen. Ich war nie eine von denen, die ständig ein schlechtes Gewissen haben und bei jeder Zigarette, die sie anzünden, verkünden: »Das ist jetzt aber wirklich die letzte!«

Doch in meiner stetigen körperlichen Erschöpfung und mit dem Verdacht auf Lungenkrebs verlor ich jegliche Lust auf Zigaretten. Dabei habe ich wirklich gern geraucht – und konsequent Kette, seit ich siebzehn war.

Das Alte Krankenhaus ist eine über hundertjährige Anlage freundlicher Backsteinbauten, umgeben von großzügigen Grünflächen mit Bäumen mittendrin. Im Januar 2011, als ich dort mit Verdacht auf Lungenkrebs eingeliefert wurde, waren die Bäume kahl und die Wiesen verschneit, still lagen die Backsteinbauten da, die Luft war kalt und schneidend klar. Am Rande des Geländes stand ein verfallenes Pförtnerhäuschen. Ich stellte mir vor, Paul und ich seien ein Graf und eine Gräfin, die Gräfin sei schwindsüchtig und deshalb zum Kuraufenthalt im Sanatorium.

»Denkst du, ich sollte noch mal versuchen, den Zauberberg zu lesen?«, fragte ich Paul auf einem unserer Spaziergänge. Es war so schön, seine Hand in meiner zu spüren. Es war so schön, neben ihm herzulaufen. Es war so normal.

»Mach doch«, sagte Paul, »vielleicht lenkt dich das ab.«

Eine Frau kreuzte unseren Weg. Sie schob einen Rollstuhl vor sich her, in dem ein Mensch saß, der buchstäblich nur aus Haut und Knochen bestand. Selbst durch die gefütterte Winterjacke zeichneten sich seine Schulterblätter ab. Der Rollstuhl war nicht groß, aber der Mensch hätte locker zweimal hineingepasst. Über seinen Knien lag eine Wolldecke gegen die Kälte, die Beine darunter waren so dünn, dass sie zusammen als eines hätten durchgehen können. Am gruseligsten jedoch war der Anblick seines Gesichts. Edvard Munch, dachte ich, oder Auschwitz.

Paul zog mich fort. Am nächsten Tag brachte er das Buch mit.

Sprechen Sie mir nicht von »Vergeistigung«, die durch Krankheit hervorgebracht werden kann, um Gottes willen, tun Sie es nicht!, schrieb Thomas Mann. Eine Seele ohne Körper ist so unmenschlich und entsetzlich wie ein Körper ohne Seele, und übrigens ist das erstere die seltene Ausnahme und das zweite die Regel. In der Regel ist es der Körper, der überwuchert, der alle Wichtigkeit, alles Leben an sich reißt und sich aufs widerwärtigste emanzipiert. Ein Mensch, der als Kranker lebt, ist nur Körper, das ist das Widermenschliche und Erniedrigende – er ist in den meisten Fällen nichts Besseres als ein Kadaver …

Ich legte ihn schnell wieder beiseite, den Thomas Mann. Ich konnte mich ohnehin nicht konzentrieren. Mechanisch griff ich nach dem Minicomputer auf meinem Nachttisch, den ich mir kurz zuvor gekauft hatte, um die Zeit im Krankenhaus zum Arbeiten zu nutzen. Um Geschichten zu schreiben, Mütterchens Geschichten aufzuschreiben. Stattdessen spielte ich nun Tetris, stapelte virtuelle Klötzchen und sortierte Karten. Es beruhigte mich. Es gab mir ein Gefühl von Kontrolle, und es erinnerte mich an meine Kindheit.

Mütterchen war nach der Wende die Einzige gewesen, bei der ich Gameboy mit eingeschaltetem Ton spielen durfte. Meine Mutter sagte, das Gepiepse mache sie wahnsinnig. Mütterchen hingegen war so taub, dass sie das Piepsen gar nicht hörte. Das war ein weiterer der vielen Vorteile, bei Mütterchen zu übernachten – neben Eierkuchen bis zum Atemstillstand und Fernsehgucken bis Sendeschluss: Tetris mit Musik.

Mit mir im Krankenzimmer lag eine alte Dame, Frau Zierlaub, die ebenfalls schon ziemlich taub war.

»Tach, Zierlaub heiß ick«, sagte sie bei unserer ersten Begegnung.

»Tach, Streisand«, antwortete ich.

»Wie? Kaiser?«, brüllte Frau Zierlaub.

»Nee, Streisand«, rief ich.

»Na, sag ick ja, Kaiser«, schnaubte Frau Zierlaub, und dabei blieb es. Sie war dreiundachtzig Jahre alt, sah aus wie dreiundsechzig, war Friseurhelferin gewesen und hatte vier Kinder großgezogen. »Ick hab mich immer alleine frisiert«, sagte sie stolz zwischen schlimmen Hustenanfällen, die ihr ganzes Bett erbeben ließen. »Wissen Sie denn, wie ditt jetz hier weitergeht, Frau Kaiser?«, fragte sie mich, während sie an ihrer blondgefärbten Ponyfrisur herumnestelte.

Ich hatte keine Ahnung. Wir waren beide Krankenhausneulinge, und keiner von den Schwestern, Pflegern oder Ärzten hatte die Zeit, uns irgendetwas zu erklären. Frau Zierlaub fand das nicht so schlimm. Sie gehörte einer Generation von Patientinnen an, für die Ärzte Halbgötter in Weiß waren.

»Machen Se ma, Herr Dokter!«, sagte Frau Zierlaub. »Sie wern schon wissen, watt zu tun ist.«

Ich beneidete die alte Dame um ihr Gottvertrauen. Meine beste Freundin arbeitete als Ärztin, ich wusste, es war nur ein Beruf wie alle anderen.

Frau Zierlaub und mir wurde das Blut literweise abgenommen. Immer wieder das blaue Band um den Oberarm, das kratzende Wischen der mit Alkohol getränkten Watte über die dünne Haut in der Armbeuge, der suchende Blick der Schwester, das Klopfen auf die Vene, Nadeln und Röhrchen vorbereiten, noch mal die Armbeuge desinfizieren, Nadel waagerecht an der Haut ansetzen, zielen, stechen. Wenn sie gut waren, trafen sie gleich, ansonsten konnte es schmerzhaft werden.

»Bald ist keen Blut mehr drinne«, sagte Frau Zierlaub.

Am dritten Tag wurde jeder von uns ein kleiner Gummischlauch in die Vene geschoben, der sollte nun drinbleiben. Auf der Haut darüber wurde ein kleiner Plastikkasten befestigt, ungefähr so groß wie ein Legostein. Das war der »Zugang«. Ich stellte mir vor, wie ein Team von winzig kleinen Ärzten und Entdeckern durch den Zugang in meinen Körper marschierte, um ihn zu erforschen, zu begutachten, ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Vielleicht fanden sie wertvolle Erze oder unbekannte Lebensformen.

Der Blick aus unserem Fenster ging auf den Innenhof des Krankenhauses. Die Lungenklinik war einer von zwei identischen einander gegenüberliegenden Gebäudekomplexen, die eine eckige Klammer um eine von Kieswegen durchzogene Rasenfläche bildeten, in deren Zentrum die »Cafeteria« stand. Die Cafeteria war eigentlich nur ein stinknormaler Kiosk, wo man trockenen Kuchen und lauwarmen Kaffee oder Bockwurst und Brause kaufen konnte. Für mich jedoch war die Cafeteria ein heiliger Ort, allein aus dem Grund, weil man dort etwas kaufen konnte. Kaufen, diese egozentrischste aller Handlungen im Kapitalismus, war für mich plötzlich gleichbedeutend mit Selbstbestimmung. Jeden Tag, wenn Paul mich besuchen kam, gingen wir »einen Kaffee kaufen« und saßen für ein paar Minuten draußen in der Januarsonne, ein paar Minuten in selbstbestimmter Normalität.

Es gab auch einen Raucherpavillon im Hof für die, die sich von so einer Scheißkrankheit nicht den Spaß verderben lassen wollten.

»Oh, die rauchen!«, sagte Frau Zierlaub immer sehnsuchtsvoll, wenn sie aus ihrem Bett die zwei Meter zum Fenster geschafft hatte. »Ick würde ooch so jerne eine rauchen!«, seufzte sie.

»Na, machen Sie doch!«, sagte ich. Lungenklinik hin oder her, in ihrem Alter erschien es mir beinah albern, plötzlich mit dem Rauchen aufzuhören.

»Ick hab ja keine Zijaretten!«, sagte Frau Zierlaub unglücklich. »Ick werd ma meine Tochter anrufen, dett se mir welche mitbringen tut.«

»Genau, machen Sie das. Und ansonsten könnten Sie ja auch die Pfleger anschnorren«, schlug ich vor, und Frau Zierlaub lachte sich in einen neuen Hustenanfall hinein.

3

»Warum heulste denn?«, fragte Mütterchen mich einmal, nachdem ich hingefallen war.

»Ich bin hingefallen, Oma!«, schnaufte ich empört. Ich war zehn Jahre alt.

»Das sehe ich«, sagte Mütterchen, »aber das ist kein Grund zum Heulen. Dann steht man einfach wieder auf.«

Mütterchen ist immer wieder aufgestanden. Auch auf der Bühne. Meine Großmutter war Schauspielerin mit Leib und Seele, und im Theater heißt es: »Der Lappen muss hoch!«, die Vorstellung muss laufen. The show must go on.

Es passierte 1968 bei der zehnten Vorstellung der legendären Faust-Inszenierung von Adolf Dresen am Deutschen Theater. Mütterchen hatte die Regieassistenz übernommen und außerdem die Rolle der alten Baubo, eine Mininebenrolle ohne Text. Ein kurzer Auftritt nur in der Walpurgisnacht, sie sollte auf einem Schwein über die Bühne reiten. Das Schwein war aus Holz und auf die Drehbühne montiert. Geplant war, dass Mütterchen hinter der Bühne auf das Schwein stieg und zu den Versen Die alte Baubo kommt allein, / Sie reitet auf einem Mutterschwein über die Bühne fuhr.

Mütterchen muss spät dran gewesen sein, vermute ich. Jedenfalls rannte sie in letzter Sekunde auf die Bühne. Gegen die Fahrtrichtung.

Macht das bloß nicht, das ist eine ganz blöde Idee! Was nämlich passiert, kann man sehr schön an Leuten studieren, die aus fahrenden U- oder S-Bahnen steigen – je cooler, desto früher. Paul hat es erlebt, es hat ihn fast von den Beinen gesäbelt.

Eine Drehbühne ist zwar keine S-Bahn, doch der Effekt ist vergleichbar: Mütterchen säbelte es die Beine weg. Sie verlor das Gleichgewicht. Und einen Schneidezahn. Weil sie aber durch und durch Schauspielerin war, meine Großmutter, und weil der Lappen nun mal hochmuss, rappelte sie sich auf, kletterte auf ihr Schwein und ritt über die Bühne. Erst später, nach getaner Arbeit, fiel sie in Ohnmacht.

*

Der Oberarzt der pneumatischen Abteilung im Alten Krankenhaus war ein freundlicher Mann mittleren Alters mit dunklen Haaren und Brille.

»Frau Streisand, wir haben jetzt die Ergebnisse der Biopsie«, sagte er eines Nachmittags.

Ich saß in dem Aufenthaltsraum mit den sonnengelb gewischten Wänden und hatte bei Tetris soeben meinen Highscore geknackt. Ich wollte nicht im Bett liegen. Ich wollte nicht krank sein. Unwillkürlich befühlte ich meine Kehle, wo der Verband über dem Schnitt klebte, durch den sie mir einen Lymphknoten am Hals entnommen hatten.

»Wir wissen jetzt, wie das Biest mit Vornamen heißt«, verkündete der Arzt gutgelaunt. »Es handelt sich …«

»Können wir warten, bis meine Mutter da ist?«, unterbrach ich ihn. »Bitte!« Ich wollte keine Nachrichten mehr hören, weder gute noch schlechte, solange nicht jemand bei mir war, der mithörte. Meinen Ohren traute ich nicht mehr. Die Angst hatte sie völlig verklebt. Sie verdrehte die Worte der Ärzte, und aus angeblich guten Nachrichten wurden Todesurteile. Ich brauchte Zeugen. Je mehr Ohren, desto besser. Dann konnten wir nachher wenigstens eine Referatsgruppe bilden und uns gemeinsam den Kopf darüber zerbrechen, was uns der Arzt mit seinen Worten eigentlich sagen wollte.

Als der freundliche Oberarzt am Nachmittag wieder in den Aufenthaltsraum trat, war meine Mutter bei mir. Er setzte sich zu uns und sagte feierlich: »Herzlichen Glückwunsch! Sie haben sich von allen Scheißkrankheiten die beste ausgesucht.«

Morbus Hodgkin, auch Hodgkin-Lymphom oder Lymphogranulomatose genannt, ist eine bösartige Erkrankung des lymphatischen Systems, benannt nach dem englischen Arzt und Pathologen Thomas Hodgkin, der die Krankheit 1832 zum ersten Mal beschrieb. Der Morbus Hodgkin gehört – zusammen mit der großen Gruppe der sogenannten Non-Hodgkin-Lymphome – zu den malignen Lymphomen. »Maligne« heißt »bösartig«, »Lymphom« nennt man die Schwellung. Bereits vor Monaten hatte ich geschwollene Lymphknoten überall an meinem Körper ertastet, mir jedoch nichts weiter dabei gedacht. Meine Lymphknoten schwollen bei jedem Infekt zur Größe von Walnüssen an. Außerdem war erst Herbst gewesen und dann Winter, die typische Erkältungszeit. Und schließlich ging es mir schon länger nicht gut. Der Unterschied, den ich damals noch nicht kannte, war der: Grippeschwellungen tun weh, Hodgkin-Lymphome nicht.

»Und die Rückenschmerzen?«, wollte meine Mutter wissen.

»Ein Lymphom sitzt auf Ihrer Wirbelsäule«, erklärte der Arzt, an mich gewandt.

Ich schlug die Hand vor den Mund. »Und ich habe mich vom Chiropraktiker behandeln lassen!« Die Vorstellung, dass mir mit Gewalt vermeintliche Blockaden in der Wirbelsäule gelöst worden waren, während sich dort in Wahrheit ein Tumor versteckt hielt, jagte mir nachträgliche Schauer des Entsetzens über den Rücken.

Ein ganzes Jahr, mindestens, hatte ich unter höllischen Schmerzen gelitten. »Ist ja kein Wunder, so wie Sie laufen«, hatten die Ärzte gemeint. »Da hätte jeder Rückenschmerzen.« Ich hinke ein wenig, ich kann weder so lange noch so weit oder so schnell laufen wie andere, und ich bin immer die Letzte. Diese Gehbehinderung habe ich seit meiner frühesten Kindheit. Mein linkes Bein ist etwas kürzer und weniger beweglich als das rechte. Infantile Zerebralparese heißt das, passiert vermutlich durch Sauerstoffmangel bei der Geburt. Insgesamt eine lästige Sache, vor allem, wenn ich mein Fahrrad mit in die S-Bahn nehmen will, an den Bahnhöfen die Fahrstühle kaputt sind und ich deshalb auf die Hilfe fremder Leute angewiesen bin. Aber eine Gehbehinderung verursacht keine chronischen Schmerzen.

Es gibt diesen Witz: „Wenn du über dreißig bist, morgens aufwachst und nichts tut dir weh, dann weißt du, dass du tot bist.“

Ich war einunddreißig. Wie hatte ich nur so schnell alt werden können?

Seit sechs Monaten konnte ich ohne Schmerzmittel nicht mehr einschlafen und wachte trotzdem zuverlässig jede Nacht auf. Meine Magisterarbeit schrieb ich dennoch zu Ende, lernte für die Abschlussprüfungen und las auf Lesebühnen lustige Geschichten vor. Es wunderte mich nicht, dass ich immer dünner wurde, ständig erschöpft war. Wenn es einem über so lange Zeit schlechtgeht, dann vergisst man irgendwann, wie es ist, sich gut zu fühlen. Oder man meint, es vergessen zu müssen. Eine Begründung dafür, nicht ganz auf der Höhe zu sein, gibt es immer: Der Sommer war zu heiß, der Winter zu kalt, zu viel Arbeit, zu wenig Salat, und über dreißig war ich schließlich auch. Doch gar nicht mal so tief in meinem Innern wusste ich: Hier stimmt etwas nicht. Es ist nicht normal, dass ich keine Lust mehr habe, tanzen zu gehen. Es ist nicht normal, dass ich mit dem Fahrrad keinen Berg mehr hochkomme.

Irgendwann schlug meine Psychotherapeutin vor: »Machen Sie doch mal ein Blutbild. Vielleicht ist etwas mit der Schilddrüse nicht in Ordnung!«

Ich bin seit langem der Meinung, dass jeder erwachsene Mensch früher oder später eine Therapie machen sollte. Mir hat meine vermutlich das Leben gerettet.

Als die Auswertung des Blutbildes kam, habe ich schrecklich geheult. Ich habe bei jedem Arztgespräch schrecklich geheult. Vielleicht habe ich auch überhaupt bei jedem Gespräch geheult. Ich war so schwach, so zermürbt von den ständigen Schmerzen, den dauernden Erkältungen. Die Entzündungswerte im Blut waren so hoch, dass alle sich fragten, wie ich überhaupt allein stehen konnte. Mein Immunsystem war längst zusammengebrochen, und ich stapfte auf seinen Trümmern immer noch tapfer weiter. So bin ich erzogen worden. Du darfst jammern, aber du musst weitermachen.

Man begab sich auf die Suche nach dem Herd der Entzündung, und damit begann der Ärztemarathon. Wochenlang habe ich nur in Gesichter mit vor Sorge gerunzelten Augenbrauen und vor Schreck geweiteten Pupillen gesehen. Generell empfiehlt es sich immer, nicht allzu viel darauf zu geben, was die Leute sagen. Die meisten Menschen achten nicht darauf, welche Worte sie benutzen, und sagen ständig Dinge, die sie nicht so meinen. Als Zuhörer konzentriert man sich am besten darauf, dem Sprecher beim Sprechen zuzusehen. Und ich sah vor allem eines: große Besorgnis.

Als Kind war ich ständig krank gewesen. Meine halbe Grundschulzeit verbrachte ich mit einem Teller Haferflockensuppe, einer Kanne Kamillentee und einem Haufen Bücher im Bett. Damals machten meine Eltern sich auch Sorgen. Darüber, wann ich wieder gesund werden würde, wann sie wieder zur Arbeit gehen könnten. Die Sorge, die ich nun in den Gesichtern um mich herum lesen konnte, war jedoch anders. Fundamentaler. So als wären alle Krankheiten vorher nur die Probe für die Premiere gewesen, die mir jetzt bevorstand.

Wie aus der Ferne hörte ich den Oberarzt sagen: »Krebs ist nicht gleich Krebs. Morbus Hodgkin ist gut behandelbar, und Sie haben den nodulär-sklerosierenden Typus, der kommt am häufigsten vor. Das ist großartig!« Er klang, als hätte ich im Lotto gewonnen. Herzlichen Glückwunsch! Sie bekommen den Porsche unter den Krebserkrankungen.

Krebs ist eine Angstkrankheit. Allein das Wort ruft vielfältigste Assoziationen des Verderbens hervor. In jedem Kopf drei andere. Jeder kennt jemanden, der genau diese Krankheit auch schon mal hatte. Oder so was Ähnliches. Oder schon mal unter einem Artikel zu dem Thema auf »Gefällt mir« geklickt hat. Und jeder weiß ganz genau, was zu tun ist, welchen Tee du trinken, welche Bücher du lesen musst und in welche Richtung das Kopfende deines Krankenhausbettes zeigen sollte, damit die Therapie anschlägt.

Anfangs, direkt nach der Diagnose, ist man dankbar für all die Ratschläge. Man fühlt sich weniger allein, nicht so ausgegrenzt, nicht so in die Vitrine gesetzt und ausgestellt vor aller Welt. Aber mit der Zeit hat man die Nase voll von den verständnisvollen Tipps und Beteuerungen. »Einen Scheiß verstehst du!«, möchte man rufen, tut es aber nicht, weil man die Nähe und das Verständnis der anderen doch so sehr braucht. Todesangst kann niemand verstehen. Todesangst macht einsam. Angst überhaupt macht einsam. Vielleicht liegt darin das Problem. Die Angst ist ein Arschloch, sie trennt dich von deinen Freunden und sperrt dich in einen tiefen dunklen Keller ohne Licht, in den gedämpfte Geräusche von oben dringen, von dort, wo die anderen sind, die dich nicht hören, weil sie da sind, wo das Leben ist. Das Leben feiert eine Party da oben, und alle trinken und haben Spaß, nur du bist der Spielverderber und stirbst hier unten. Manchmal sperren die Partygäste die Kellertür auf, werfen Häppchen zu dir runter, bieten dir Getränke mit Schirmchen an, doch sie hören dir nicht zu, sie verstehen nicht, dass du stirbst.

Das ist Angst, und Angst ist scheiße.

Krebs ist der König der Angst. Wenn man mir nicht gesagt hätte, dass Morbus Hodgkin eine Krebserkrankung ist, hätte ich dann weniger gelitten? Wenn ich nicht mit dem Gedanken hätte leben müssen, dass etwas in mir drin ist, das lebt, das von mir lebt, das mich auffrisst?

Ich konsultierte den Psychoonkologen. Ich wollte eine Waffe gegen die Angst haben, eine Methode gegen das Gefühl totaler Hilflosigkeit.

»Ich habe solche Angst«, sagte ich.

»Wovor haben Sie Angst?«

»Dass ich sterbe.«

»Und was wäre dann?«

»Dann bin ich weg. Und ich hatte doch noch so viel vor!«

Der Arzt räusperte sich.

»Frau Streisand«, sagte er. »Ich hatte mal eine Patientin mit austherapiertem Lungenkrebs. Die hat sich zwei Wochen vor ihrem Tod noch neue Schuhe gekauft. Leben kann man bis zum Schluss.«

Der Satz hätte von Mütterchen sein können.

Kurz darauf wurde ich in ein anderes Krankenhaus überwiesen, in die Wasserburg.

Der für mich zuständige Onkologe war ein kleiner kräftiger Mann mit Bart und riesigen Händen.

»Gibt wieder nur Handschuhe in Kindergrößen!«, schimpfte er, wenn er ein Behandlungszimmer betrat. Es war stets ein hübscher Slapstick, wenn er versuchte, seine Pranken in die engen Gummihandschuhe zu zwängen. Wie Bud Spencer in Skinny Jeans. Er hieß Ernst. Ernst Hadubrandt. Doktor med. Ernst Hadubrandt. Aber wir nannten ihn immer nur Ernst, wenn wir über ihn sprachen.

»Was hat Ernst gesagt?«, fragte meine Mutter, wenn ich aus dem Krankenhaus kam. Ich glaube, sie war ein bisschen verknallt in ihn. Wie wir alle.

Ernst wirkte irgendwie eingezwängt in seinem Arztkittel, zurückgehalten, wie ein Hund an der Leine oder ein Pferd im Zaumzeug. Seine Krawatten waren grundsätzlich von ausgesuchter Langweiligkeit, was so gar nicht zum Rest des Mannes passen wollte. Sowieso passten Krawatten nicht zu ihm. Sie verstärkten den Eindruck, der Mann sei irgendwie ein- und angebunden.

»Ist Vorschrift«, erklärte Ernst mir später einmal. »Das steht so im Protokoll, hat der Chefarzt angeordnet. Sonst sieht man ja gar keinen Unterschied mehr zwischen Medizinstudenten und Oberärzten. Einen Kittel darf ja heute jeder tragen.«

Ich stellte mir Ernst in seiner Freizeit vor, in zerschlissenen Holzfällerhemden und Arbeitshosen, wie er Baumstämme durch die Gegend schleppte oder Bären mit bloßen Händen erlegte.

»So eine Behandlung ist wie eine Ehe«, meinte Ernst bei unserem ersten Gespräch. »Sie müssen sich darauf einstellen, dass Sie die nächsten sechs Monate mit diesem Laden hier verheiratet sind.«

Er erläuterte uns den Ablauf der Chemotherapie: Vier bis acht Zyklen, je nach Behandlungserfolg. Ein Zyklus dauere drei Wochen, erste Woche stationär, zwei Wochen zu Hause, dann wieder von vorn.

»Sie werden sehr oft untersucht werden, es kann sein, dass wir Ihnen täglich Blut abnehmen müssen.« Und dann fügte er einen Satz hinzu, der mein Leben für immer verändern sollte: »Es kann sein, dass sie danach keine Kinder mehr kriegen können.«

Mein Hals fühlte sich an, als hätte ich Asche geschluckt. Meine Ohren drückten, als wäre ich in einem Fahrstuhl zu schnell nach unten gefahren.

So hatten wir nicht gewettet, das Schicksal und ich. So nicht! Es war mir klar gewesen, dass 2011 ein beschissenes Jahr werden würde. Aber wenn ich durch die Scheiße hindurchgewatet wäre, wollte ich mein Leben zurückbekommen und selbst bestimmen, was ich damit machte. Kinder oder nicht – das war ja wohl meine Entscheidung!

Paul brachte mich zum Auto.

»Was ist denn jetzt?«, fragte mein Onkel Manni, der am Steuer saß.

Meine Mutter hatte eine Art privaten Fahrdienst für mich eingerichtet. »Verteilen Sie Aufgaben«, hatte der Psychoonkologe im Alten Krankenhaus mir geraten, »geben Sie Ihren Angehörigen etwas zu tun, damit sie sich nicht so hilflos fühlen.« Neben dem Fahrdienst organisierten meine Freunde einen Essensdienst und einen Unterhaltungsdienst, abwechselnd brachten sie dampfende Töpfe voll Suppe vorbei und besorgten DVDs und Spiele. Es war ein bisschen wie die Schulklassenämter der DDR. Fehlte eigentlich nur der Wandzeitungsbeauftragte.

»Nun erzählt doch mal!«, beharrte Manni.

»Der Arzt hat gesagt, ich kann keine Kinder mehr kriegen«, heulte ich.

»Der Arzt hat gesagt, die Chance, dass du nach der Chemo auf natürlichem Wege schwanger wirst, liegt bei fünfzig Prozent«, korrigierte Paul.

»Na ja«, heulte ich. »Das ist gerade mal die Hälfte!«

»Dann nehmt ihr eben die andere Hälfte«, meinte Manni.

Ich war untröstlich.

»Lea«, sagte Manni schließlich. Mein Onkel ist ein sehr beleibter Mann mit einer sehr tiefen und sehr lauten Stimme. Eigentlich wäre er gern Kabarettist geworden, aber dann kam die Wende. »Lea«, sagte Manni noch einmal, »du kennst doch den Film Manche mögen’s heiß

»Ja«, schniefte ich.

»Wie lautet der letzte Satz?«

»Nobody is perfect.«

»Und der davor?«

»Ich bin ein Mann.«

»Und der davor?«

Ich wusste genau, worauf er hinauswollte. Es war die berühmte Schlussszene, in der Daphne alias Jack Lemmon sich als Jerry outet, um ihrem/seinem Verehrer beizubringen, dass sie/er ihn nicht heiraten könne. »Ich kann keine Kinder kriegen«, sagt Daphne, und der liebeskranke Millionär Osgood Fielding erwidert achselzuckend: »Wir adoptieren welche!«

4