Skármeta, Antonio Mit brennender Geduld

PIPER

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Übersetzung aus dem chilenischen Spanisch von Willi Zurbrüggen

ISBN 978-3-492-97580-3

Dezember 2016

© Antonio Skármeta 1984

Originaltitel: »Ardiente paciencia«

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 1985

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: pwe Kinoarchiv Hamburg

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Für Matilde Urrutia,

die Neruda inspirierte

und damit auch seine

bescheidenen Plagiatoren.

Prolog

VOR VIELEN JAHREN arbeitete ich als Kulturredakteur eines drittklassigen Blattes. Die Tätigkeit meiner Abteilung wurde von dem Kunstbegriff des Direktors geprägt, der sich auf seine Freundschaften »im Milieu« etwas einbildete und mich dazu zwang, Revuestars zweifelhafter Theatertruppen zu interviewen, Bücher von ehemaligen Detektiven zu besprechen, über durchziehende Wanderzirkusse zu berichten und auf den »Hit« der Woche maßlose Lobeshymnen zu singen, die sich jeder Teenager ohne weiteres hätte ausdenken können.

In den feuchten Redaktionsräumen welkten Nacht für Nacht meine Illusionen, Schriftsteller werden zu können. Dort saß ich bis zum Morgengrauen und fing immer neue Romane an, die ich dann halbfertig weglegte, von dem fehlenden Talent und meiner Trägheit entmutigt. Andere Schriftsteller meines Alters hatten im Land Erfolg und gewannen im Ausland sogar Preise: den der Casa de las Americas, der Biblioteca Breve Seix-Barral, den von Sudamericana y Primera Plana. Aber der Neid, anstatt Ansporn zu sein, eines Tages einmal ein Buch zu Ende zu schreiben, wirkte auf mich wie kalter Regen.

In jenen Tagen, in denen diese Geschichte ihren Anfang nimmt – und die, wie die möglichen Leser bemerken werden, begeistert anhebt und unter den Auswirkungen tiefster Niedergeschlagenheit endet –, sagte der Direktor, meine Ausflüge in die Boheme hätten mein blasses Aussehen gefährlich vervollkommnet und er wolle mich für einen Artikel an die Küste schicken, was mir eine Woche Sonnenschein, jodhaltige Luft, Muscheln, frischen Fisch und nebenbei noch wichtige Kontakte für die Zukunft einbringen werde. Es handele sich darum, den Dichter Pablo Neruda in seinem Küstenfrieden zu überfallen, ihn für die verkommenen Leser unserer Postille zu interviewen und so etwas wie – in den Worten des Direktors – »eine erotische Geografie des Dichters« zu schreiben. Im Klartext hieß das, Neruda so anschaulich wie möglich erzählen zu lassen, wie und wie viele Frauen er aufs Kreuz gelegt hatte.

Unterkunft in Isla Negra, fürstliche Spesen, ein Mietwagen von Hertz und die leihweise Überlassung seiner tragbaren Olivetti: das waren die satanischen Argumente, mit denen der Direktor mich dazu brachte, den niederträchtigen Auftrag anzunehmen. Diesen Argumenten fügte ich in jugendlichem Idealismus, und dabei ein auf Seite 28 abgebrochenes Manuskript streichelnd, noch ein weiteres hinzu: Tagsüber würde ich die Neruda-Chronik schreiben und nachts, das Rauschen des Meeres im Ohr, meinen Roman zu Ende bringen. Darüber hinaus nahm ich mir noch etwas vor, das mich fast besessen machte und mich außerdem eine enge Verwandtschaft zu meinem Helden Mario Jiménez spüren ließ: Pablo Neruda sollte zu meinem Roman das Vorwort schreiben. Mit dieser kostbaren Trophäe würde ich dann an die Tür des Verlages Nascimento klopfen und mir nichts dir nichts die – so schmerzlich verzögerte – Veröffentlichung durchsetzen.

Um diesen Prolog aber nicht endlos auszudehnen und meinen wenigen Lesern falsche Erwartungen zu ersparen, will ich hier gleich einige Punkte klarstellen. Erstens ist der Roman, den der Leser in Händen hält, weder der, den ich in Isla Negra schreiben wollte, noch sonst einer, den ich in jener Zeit angefangen hatte, sondern ein Nebenprodukt meines mißglückten journalistischen Überfalls auf Neruda. Zweitens, und obwohl andere chilenische Autoren weiterhin am Kelch des Erfolgs kleben (unter anderem aufgrund von Sätzen wie diesem, sagte mir ein Verleger), bin und bleibe ich strikt unveröffentlicht. Während andere Meister der freien Erzählung in der ersten Person, des Romans im Roman, der Metasprache oder der Verzerrung von Zeit und Raum sind, bin ich bei den im Journalismus arg strapazierten Metaphern, den bei gnadenlosen Naturalisten aufgeschnappten Gemeinplätzen, den von Borges falsch übernommenen grellen Adjektiven und besonders hartnäckig das geblieben, was ein Literaturprofessor mir einmal angeekelt gesagt hat: ein allwissender Erzähler. Und drittens und letztens war die saftige Reportage über Neruda, die der Leser zweifellos lieber in Händen hielte als den ihm jetzt bevorstehenden Roman, der ihm nach der nächsten Seite zusetzen wird, gar nicht machbar, da der Dichter seine Prinzipien hatte; und nicht, weil ich nicht aufdringlich genug gewesen wäre. Mit einer Zuvorkommenheit, die meine niederen Beweggründe nicht verdient hatten, sagte er mir, seine große Liebe sei Matilde Urrutia, seine derzeitige Frau, und er verspüre auch keinerlei Lust noch Interesse, seine »blasse Vergangenheit« aufzurühren. Und mit einer Ironie, die meine Dreistigkeit, ihn um ein Vorwort für ein Buch zu bitten, das es noch gar nicht gab, sehr wohl verdient hatte, sagte er an der Tür: »Wenn Sie es geschrieben haben, mit dem größten Vergnügen«, und holte mich damit auf den Erdboden zurück.

In der Hoffnung, mein Buch zu schreiben, blieb ich lange Zeit in Isla Negra, und um der Trägheit, die mich morgens, mittags und abends angesichts der leeren Seiten überfiel, einen Grund zu geben, begann ich, um das Haus des Dichters herumzulungern und so nebenbei auch um jene herumzulungern, die dort herumlungerten. So lernte ich die Personen dieses Romans kennen.

Ich weiß, daß sich mehr als nur ein ungeduldiger Leser jetzt fragt, wie so ein träger Faulpelz wie ich dieses Buch – so dünn es auch ist – jemals zu Ende bringen konnte. Die plausible Erklärung ist die, daß ich vierzehn Jahre dazu gebraucht habe. Wenn man bedenkt, daß in dieser Zeit Vargas Llosa zum Beispiel Die andere Seite des Lebens, Tante Julia und der Kunstschreiber, Der Hauptmann und sein Frauenbataillon und Der Krieg am Ende der Welt geschrieben hat, dann ist das, offen gesagt, eine Leistung, auf die ich nicht stolz bin. Dazu gibt es aber noch eine ergänzende Erklärung mehr gefühlsmäßiger Natur. Beatriz González, mit der ich, als sie ständig vor den Gerichten von Santiago erscheinen mußte, einige Male essen ging, wollte, daß ich für sie die Geschichte Marios aufschrieb, »ganz gleich, wie lange es dauert und wieviel hinzuerfunden wird«. Derart von ihr entschuldigt, habe ich beiden Schwächen nachgegeben.

ZWEI EBENSO GLÜCKLICHE wie gewöhnliche Umstände brachten Mario Jiménez im Juni 1969 dazu, seinen Beruf zu wechseln. Der erste war seine Abneigung gegen die Fischereiarbeit, die ihn schon vor Tagesanbruch aus dem Bett trieb, und das meist mitten in seinen Träumen von verwegenen Liebesabenteuern mit den strahlenden Leinwandheldinnen, die er im Kurbelkino von San Antonio sah. Dieses Talent gestattete ihm, flankiert von seiner beharrlichen Neigung zu – wirklichen oder erfundenen – Schnupfenanfällen, derentwegen er sich jeden zweiten Morgen für sein Fehlen bei der Arbeitsvorbereitung am Boot seines Vaters entschuldigte, schnell wieder unter seine warmen Decken aus Chiloe zu schlüpfen und seine Traumromanzen weiterzuspinnen, bis der Fischer Jose Jiménez hungrig und durchnäßt von hoher See zurückkam. Sein schlechtes Gewissen beschwichtigte Mario damit, dem Vater eine Mahlzeit aus einem anregenden Tomatensalat mit Zwiebeln, Petersilie und Koriander und dazu knuspriges Brot aufzutischen, während er selbst theatralisch ein Aspirin in sich hineinstopfte, wenn ihm die beißende Bitterkeit seines Erzeugers bis in die Knochen fuhr.

»Such dir eine Arbeit«, lautete der kurze, schreckliche Satz, mit dem der Mann einen anklagenden Blick beendete, der bis zu zehn, aber niemals weniger als fünf Minuten dauerte.

»Ja, Papa«, antwortete Mario und putzte sich mit dem Ärmel die Nase.

War dies der gewöhnliche Umstand, so war der glückliche der Besitz eines Fahrrads Marke Legnano, mit dessen Hilfe Mario jeden Tag den Blick auf den kargen Horizont der kleinen Fischerbucht mit der Ansicht des ziemlich winzigen Hafens von San Antonio vertauschte, der ihm jedoch im Vergleich zu den paar Hütten seines Heimatorts einen babylonisch prunkvollen Eindruck machte. Das bloße Betrachten der Kinoplakate mit grell geschminkten Frauen und knallharten Männern, Havannas zwischen die makellosen Zähne geklemmt, ließ ihn in eine Traumwelt versinken, aus der er erst nach zwei Zelluloidstunden wieder erwachte, um dann, untröstlich über seinen grauen Alltag, zurückzuradeln – oft unter einem für die Küstengegend typischen Regen, der ihm wahrhaft biblische Erkältungen einbrachte. Die Großzügigkeit seines Vaters ging nicht so weit, die Ausschweifungen des Sohnes zu fördern, so daß Mario Jiménez sich manchmal ohne Geld mit Streifzügen durch die Gebrauchtzeitschriftenläden begnügen mußte, wo ihm nichts anderes blieb, als die Fotos seiner Lieblingsschauspielerinnen zu befummeln.

Es war an einem dieser Tage trostlosen Herumlungerns, als Mario im Fenster des Postamts einen Aushang entdeckte, dem er – obwohl die Mitteilung nur mit der Hand auf das karierte Papier einer einfachen Rechenheftseite geschrieben war und er während seiner Schulzeit in Mathematik nicht gerade geglänzt hatte – nicht widerstehen konnte. Mario Jiménez hatte noch nie im Leben eine Krawatte getragen, aber bevor er das Postamt betrat, richtete er sich seinen Hemdkragen, als trüge er eine, und versuchte – mit einigem Erfolg – seine von einem Foto der Beatles inspirierte Mähne mit einem Kamm in Form zu bringen.

»Ich komme wegen des Aushangs«, verkündete er mit einem Lächeln, das es mit dem von Burt Lancaster aufnehmen konnte.

»Haben Sie ein Fahrrad?« fragte der Postbeamte verdrießlich.

Marios Herz und seine Lippen sagten einstimmig: »Ja.«

»Na gut«, sagte der Postbeamte und putzte sich die Brille. »Es handelt sich um die Stelle des Briefträgers für Isla Negra.«

»So ein Zufall«, sagte Mario, »ich wohne gleich nebenan, in der Bucht.«

»Das ist ganz gut; aber wohl nicht so gut ist, daß es dort nur einen Kunden gibt.«

»Nur einen?«

»Ja, nur einen. In der Bucht wohnen sonst nur Analphabeten. Die können nicht einmal eine Rechnung entziffern.«

»Und wer ist der Kunde?«

»Pablo Neruda.«

Mario Jiménez hatte das Gefühl, einen ganzen Liter Spucke auf einmal schlucken zu müssen. »Aber das ist ja phantastisch!«

»Phantastisch? Er bekommt jeden Tag kiloweise Post. Mit dem Postsack auf dem Rücken in die Pedale zu treten ist das gleiche, wie einen Elefanten auf den Schultern zu tragen. Der Briefträger, der das vorher gemacht hat, ist bucklig wie ein Dromedar in Rente gegangen.«

»Aber ich bin siebzehn!«

»Bist du denn auch gesund?«

»Ich? Ich bin gesund wie ein Pferd. Nicht einen Schnupfen in meinem ganzen Leben.«

Der Postbeamte schob seine Brille auf die Nase und sah Mario über den Rand hinweg an. »Der Lohn ist beschissen. Die anderen Briefträger regeln das über die Trinkgelder; aber bei einem einzigen Kunden reicht es höchstens für einmal Kino die Woche.«

»Ich nehme die Stelle trotzdem.«

»Gut, mein Name ist Cosme.«

»Cosme.«

»Für dich ›Don Cosme‹.«

»Jawohl, Don Cosme.«

»Ich bin dein Chef.«

»Jawohl, Chef.«

Der Mann nahm einen blauen Kugelschreiber, hauchte auf die Mine, um die Tinte flüssig zu machen, und fragte, ohne aufzusehen: »Name?«

»Mario Jiménez«, antwortete Mario feierlich.

Nachdem er diese lebenswichtige Mitteilung gemacht hatte, ging er zum Fenster, riß den Zettel von der Scheibe und ließ ihn in die tiefsten Tiefen seiner Gesäßtasche gleiten.

WAS DEM OZEAN mit seiner an die Ewigkeit gemahnenden Geduld nicht gelungen war, das gelang dem nüchternen kleinen Postamt von San Antonio: Mario Jiménez stand nicht nur pfeifend und mit freier, unternehmungslustiger Nase bei Tagesanbruch auf, sondern begann auch seinen Dienst mit einer solchen Pünktlichkeit, daß der alte Cosme ihm bald die Schlüssel des Postamts anvertraute für den Fall, daß er sich einmal zu einer Tat durchringen würde, von der er schon lange träumte: so lange in den Tag hineinzuschlafen, bis es Zeit für die Siesta wäre, und dann eine so lange Siesta zu halten, bis es Zeit zum Schlafengehen wäre, und dann so tief und fest zu schlafen, daß er am nächsten Tag zum erstenmal diese Arbeitslust verspüren würde, die Mario ausstrahlte und die Cosme geflissentlich übersah.

Von seinem ersten Gehalt, das, wie in Chile üblich, mit eineinhalbmonatiger Verspätung ausgezahlt wurde, erwarb der Briefträger Mario Jiménez folgende Güter: eine Flasche Wein Cousino Macul Antiguas Reservas für seinen Vater, eine Kinokarte, mit der er die West Side Story mit Natalie Wood bis zum letzten auskostete, einen deutschen Metallkamm, den ein fliegender Händler auf dem Markt von San Antonio mit den Worten anpries: »Deutschland hat zwar den Krieg verloren, aber nicht seine Industrie. Rostfreie Kämme Marke Solingen«, und, weil Pablo Neruda sein Kunde und Nachbar war, die Losada-Ausgabe der Elementaren Oden.

Er nahm sich vor, dem Dichter in einem günstigen Augenblick, wenn er guter Laune schien, zusammen mit der Post das Buch in die Hand zu drücken und sich ein Autogramm zu verschaffen, mit dem er hypothetische, aber bildschöne Frauen beeindrucken könnte, die er eines Tages in San Antonio kennenlernen würde oder in Santiago, wohin er mit seinem nächsten Gehalt fahren wollte. Ein paarmal war er drauf und dran, seinen Vorsatz wahrzumachen, aber dann hemmten ihn jedesmal die Schwerfälligkeit, mit der der Dichter seine Post entgegennahm, die Schnelligkeit, mit der ihm dieser sein Trinkgeld zusteckte (manchmal mehr als das Übliche), sowie dessen Miene eines abgrundtief in sich versunkenen Menschen. Kurz und gut, über einige Monate hinweg wurde Mario das Gefühl nicht los, durch das Klingeln an der Haustür der Inspiration des Dichters, der wahrscheinlich gerade dabei war, einen genialen Vers zu formulieren, einen tödlichen Schlag zu versetzen. Neruda nahm immer den Packen Briefe, drückte Mario ein paar Escudos in die Hand und verabschiedete sich mit einem Lächeln, das so lang war wie sein Blick. Von diesem Augenblick an ließ der Briefträger bis zum Ende des Tages die Elementaren Oden nicht mehr aus der Hand, in der Hoffnung, sich eines Tages doch noch einen Ruck geben zu können.

Er lief so geschäftig mit dem Buch hin und her, blätterte so oft in ihm herum und klemmte es sich unter der Laterne an der Plaza so oft in den Hosenbund, um sich vor den Mädchen, die ihn nicht beachteten, einen intellektuellen Anstrich zu geben, daß er es schließlich sogar las. Mit die-ser Tat hoffte Mario, einen Krümel jener Beachtung zu finden, die der Dichter genoß, und an einem klaren Wintermorgen schmuggelte er ihm mit den Briefen zusammen das Buch in die Hand und sagte dabei einen Satz, den er vor unzähligen Schaufensterscheiben einstudiert hatte: »Und hier bitte ein Autogramm, Maestro.« Ihm den Gefallen zu tun war für den Dichter reine Routine, und nachdem er den Wunsch des Briefträgers erfüllt hatte, verabschiedete er sich mit der ihm eigenen kurz angebundenen Höflichkeit. Mario untersuchte den Schriftzug eingehend und kam zu dem Schluß, daß von einem »Herzlichst, Pablo Neruda« seine Anonymität nicht wesentlich geringer wurde. Er beschloß, irgendwie eine Beziehung zu dem Dichter herzustellen, dank der er eines Tages mit einer Widmung ausstaffiert sein würde, in der mit der grünen Tinte des Poeten zumindest sein vollständiger Name geschrieben stände: Mario Jiménez S. Ganz optimal wäre ihm natürlich ein Text wie »meinem geliebten Freund Mario Jiménez, Pablo Neruda« erschienen.

Er erzählte seinen Herzenswunsch dem Telegrafisten Cosme, der, nachdem er ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, daß die chilenische Post es ihren Briefträgern untersagt, ihre Kundschaft mit betriebsfremden Ersuchen zu belästigen, ihn darauf hinwies, daß ein und dasselbe Buch nicht mit zwei verschiedenen Widmungen versehen werden könne. Das hieß, es sei höchst unschicklich, den Dichter – mochte er auch noch so ein Kommunist sein – zu bitten, seine Widmung zu streichen und durch eine andere zu ersetzen.

Mario erkannte die Richtigkeit dieses Einwands, und als er in einem offiziellen Briefumschlag sein zweites Gehalt bekam, erstand er mit einer Geste, die ihm konsequent erschien, den Losada-Band Neue elementare Oden. Den Verdruß, daß er seinen Traum von einem Ausflug nach Santiago aufgeben mußte, wischte er beiseite und war schon über jede Beklemmung hinweg, als der gewitzte Buchhändler ihm sagte: »Und nächsten Monat habe ich für Sie Das dritte Buch der Oden

Aber keines der beiden Bücher sah je das Autogramm des Dichters. An einem weiteren klaren Wintermorgen, ähnlich dem anderen, ebensowenig ausführlich beschriebenen, verbannte er die Widmung aus seinem Kopf. Nicht jedoch die Poesie.

UNTER FISCHERN AUFGEWACHSEN, wäre Mario Jiménez nie auf die Idee gekommen, daß sich in der Post dieses Tages ein Köder befand, an den der Dichter anbeißen würde. Kaum hatte er ihm den Packen ausgehändigt, als Neruda mit unfehlbarer Zielstrebigkeit einen Brief herausfischte und ihn direkt vor Marios Augen öffnete. Dies ungewöhnliche, mit der Gelassenheit und Zurückhaltung des Dichters unvereinbare Verhalten ermutigte den Briefträger zu einer Frage, die der Anfang für viele weitere Fragen und – warum es nicht sagen – einer Freundschaft war.

»Warum öffnen Sie diesen Brief so schnell?«

»Weil er aus Schweden kommt.«

»Und was hat Schweden Besonderes, außer den Schwedinnen?«

Obwohl Pablo Neruda nie auch nur mit einer Wimper zuckte, blinzelte er jetzt.

»Den Nobelpreis für Literatur, mein Junge.«

»Den bekommen Sie?«

»Falls das sein wird, werde ich ihn nicht ablehnen.«

»Und wieviel ist er wert?«

Der Dichter, inzwischen zum Kern des Briefes vorgedrungen, sagte ohne besondere Betonung: »Einhundertfünfzigtausendzweihundertundfünfzig Dollar.«

Mario dachte daran, die witzige Bemerkung »und fünfzig Cents« zu machen, unterdrückte seine vorlaute Naseweisheit jedoch instinktiv und fragte statt dessen sittsam: »Und?«

»Hmm?«

»Bekommen Sie den Nobelpreis?«