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Christoph Hein

In seiner frühen Kindheit
ein Garten

Roman





Suhrkamp

Die namentlich genannten Personen des Romans

sind frei erfunden.


Umschlagabbildung: © Premium/nonstock





ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2005

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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www.suhrkamp.de

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73600-5

»Es gibt glückliche Kinder, die in ihrer

frühen Kindheit einen Garten, eine

Landschaft ihr Reich nennen können.«



Iris Murdoch, Der Schwarze Prinz

1.

Sie schaute auf die Uhr, die neben dem Fernseher an der Wand stand. Es war ein alter Regulator, den sie von seinen Eltern vor Jahrzehnten zu ihrer Hochzeit geschenkt bekommen hatten, ein hoher hölzerner Kasten, in dem hinter einer Glasscheibe ein Pendel schwang. Das Uhrwerk musste wöchentlich aufgezogen werden, und die Zeitanzeige war nicht genau, aber die Pendeluhr hatte alle Neueinrichtungen der Wohnung überlebt. In ihren ersten Ehejahren war sie das einzige wertvolle Stück ihrer Einrichtung, und später passte sie gut zu den Möbeln, die sie sich im Laufe der Zeit in verschiedenen Antiquitätengeschäften zusammengekauft hatten. Richard Zurek hatte es sich angewöhnt, unmittelbar vor dem Beginn der Abendnachrichten neben dem Regulator zu stehen, um beim Gongschlag im Fernsehen den großen Zeiger auf die Zwölf zu stellen. Jeden Abend schob er den Zeiger einen Zentimeter vor, und jeden Abend sagte er dabei den gleichen Satz: »Amici, diem perdidi.«

Als sie wieder auf die Uhr schaute, bemerkte sie, dass der Zeiger kaum weitergerückt war, es waren nur zwei oder drei Minuten vergangen.

An diesem Abend hatte ihr Mann den Zeiger nicht gestellt. Er war vor sieben Uhr aus dem Haus gegangen. Den ganzen Tag war er in der Wohnung umhergelaufen, immer wieder zu ihr in die Küche zurückgekommen, um sie etwas zu fragen, irgendetwas. Sie hatte den Kopf geschüttelt, als er wieder in der Küche erschien und sie nach seiner Taschenlampe fragte.

Beim Kaffeetrinken war ihm der Löffel zweimal aus der Hand gefallen, und den Kuchen hatte er, ohne es zu bemerken, zerkrümelt, während er mit ihr sprach.

»Was bist du nervös, Richard. Fehlt dir etwas? Du solltest zum Arzt gehen. Wann warst du das letzte Mal bei Doktor Sebald?«

Ihr Mann schüttelte den Kopf. »Es ist alles in Ordnung. Ich fühle mich wunderbar. Und bei Sebald war ich gerade. Er wird mich für einen Hypochonder halten, wenn ich schon wieder bei ihm auftauche.«

»Aber du bist so schrecklich nervös. Was hast du nur?«

»Nichts, Rike, gar nichts.«

Er klang verärgert und betonte jede Silbe auf eine Art und Weise, die ihr klarmachen sollte, dass er kein weiteres Wort darüber verlieren wollte. Eine Sekunde später riss er mit dem Ärmel seines Jacketts die Kaffeetasse um, so dass sich der Rest seines Kaffees über die Tischdecke ergoss. Friederike, seine Frau, verzog nur den Mund, stand rasch auf, rückte das Geschirr beiseite, um die Decke abzunehmen, knüllte sie zusammen und wischte mit ihr die polierte Tischoberfläche trocken. Dann eilte sie in die Küche, holte Küchenpapier und rieb den Tisch nochmals gründlich ab.

Ihr Mann saß hilflos daneben, die Hände im Schoß, und war verlegen. Immer wieder knurrte er etwas vor sich hin. Als seine Frau aus der Küche zurückkam und sich wieder an den Tisch setzte, das Geschirr hinstellte und ihm neuen Kaffee eingoss, sagte er anklagend: »Das kommt davon. Weil du mich mit deinen Fragen löcherst.«

»Sehr schön. Dann ist ja alles wieder in Ordnung. Dann haben wir ja einen Schuldigen gefunden.«

Schweigend beendeten sie ihr Kaffeetrinken. Nachdem die Frau das Geschirr in die Küche gebracht hatte, kam sie nochmals ins Wohnzimmer.

»Geh mal unter die Leute, Richard. Du bist seit Wochen nicht mehr rausgegangen. Sitzt den ganzen Abend mit mir vor diesem dummen Fernsehapparat, kein Wunder, wenn dir die Decke auf den Kopf fällt.«

Er hatte nur geknurrt, aber eine halbe Stunde später kam er ins Schlafzimmer, wo sie gerade Wäsche in den Schrank räumte. Er hatte den Mantel angezogen, die Schottenmütze hielt er in der Hand, und sagte ihr, dass er durch die Stadt gehen und auch im Bahnhof vorbeischauen wolle.

Der Bahnhof war eine Gaststätte. Als vor dreißig Jahren die Bahnlinie, die in ihre Stadt führte, eingestellt worden war, hatte sein alter Schulfreund Fred Plöger das prächtige Bahnhofsgebäude aus roten Klinkern preiswert kaufen können und die unteren Räume zu einem Restaurant umbauen lassen. Nach einem halben Jahr des Umbaus und der Vorbereitungen eröffnete er es als Weingaststätte mit elsässischer Küche. Er hatte versucht, seinem Haus einen anziehenden Namen zu geben und es ›Zur Kupferpfanne‹ genannt, aber seine Stammgäste, die alle aus dem Wohnviertel stammten, sprachen nur vom Bahnhof, wenn sie von ihm und seiner Gaststätte redeten, und so hatte Plöger sich seinen Gästen gefügt und ein Jahr nach der Eröffnung das Glasschild über der Eingangstür neu beschriften lassen. Nun hieß seine Gaststätte auch offiziell ›Der Bahnhof‹.

Als Zurek das Restaurant betrat, sah er sich um und grüßte einige der Gäste mit einem Kopfnicken. Dann ging er zu einem Tisch, an dem ein Ehepaar saß, gab beiden die Hand und unterhielt sich kurz mit ihnen. Er sah sich nochmals um und setzte sich dann auf einen der Barhocker neben der Theke.

»Was darf es sein, Herr Direktor?«, erkundigte sich der junge Mann, der hinter der Theke mit dem Einräumen von Gläsern beschäftigt war.

»Einen kleinen Roten, bitte.«

»Einen Franken habe ich, einen sehr trockenen. Der wird Ihnen gefallen.«

»Sehr schön. Den nehme ich. – Ist Ihr Vater nicht da?«

»Er war den ganzen Nachmittag im Restaurant. Kann sein, dass er nachher noch mal reinschaut.«

Der junge Mann nahm eine Flasche von der hinteren Anrichte, zeigte Zurek das Etikett und goss dann etwas von dem Wein in einen winzigen Tonkrug, den er zusammen mit einem Glas vor den Gast auf die Theke stellte.

»Wohl bekomms Ihnen, Herr Direktor.«

Zurek dankte ihm.

»Und? Wie geht das Geschäft, Ronald?«

»Klagen kann man immer, aber wir sind zufrieden.«

Ronald war der Sohn von Fred Plöger und arbeitete seit dem Schulabschluss im Restaurant seines Vaters. Er war einige Jahre in dieselbe Klasse wie Zureks Sohn Oliver gegangen, bis dieser auf das Gymnasium kam. Zurek, der an derselben Schule der Stadt Deutsch, Latein und Physik unterrichtet hatte und bis zu seiner Pensionierung zwanzig Jahre der Direktor der Schule gewesen war, hatte ihn und seinen Sohn unterrichtet.

»Nochmals Glückwunsch zu Ihrem Sohn. Und vielen Dank, dass Sie uns die Anzeige geschickt haben. Es ist Ihr zweites Kind, nicht wahr?«

»Genau, das zweite. Jetzt sind die Nächte wieder sehr kurz.«

»Ja, ich weiß. Meine Tochter hat einen kleinen Sohn. Aber es ist die schönste Zeit im Leben, Ronald. Wir haben drei Kinder großgezogen, ich weiß, was das heißt. Glauben Sie mir, es ist die wunderbarste Zeit in Ihrem Leben.«

»Die Große ist drei Jahre alt. Sie ist wirklich ein Sonnenschein.«

»Drei, vier Jahre, das ist das schönste Alter. Wissen Sie, was die Amerikaner sagen? Bei ihnen heißt es, nur deshalb würden immer wieder Menschen geboren, damit die Dreijährigen nicht aussterben. Nehmen Sie sich für die Kinder Zeit und genießen Sie es. Wenn sie erst in die Pubertät kommen, dann fangen die Sorgen an. Und hören nicht mehr auf.«

Ronald warf einen besorgten Blick zu dem Gast, der lächelte ihn unbefangen an und trank ruhig sein Glas aus. Dann stand er auf und legte eine Münze auf die Theke.

»Grüßen Sie bitte Ihren Vater. Wir haben uns lange nicht gesehen.«

»Sie lassen sich selten bei uns blicken, Herr Doktor Zurek. Vater meinte schon, Sie hätten sich bestimmt ein anderes Stammlokal gesucht.«

»Nein. Aber es ist wahr, in den letzten Jahren bin ich selten aus dem Haus gekommen. Genauer gesagt, seit Olivers Tod.«

Er sah dem jungen Mann in die Augen, während er sprach, als habe er ihm eine Aufgabe gestellt und warte nun auf das Ergebnis. Der junge Plöger wurde verlegen, er fühlte sich unbehaglich, beugte sich über die Theke und stieß Biergläser auf die im Wasserbecken stehenden Bürsten.

»Vater würde sich freuen, Sie zu sehen«, sagte er ohne aufzublicken, »vielleicht kommen Sie nun wieder öfter zu uns.«

»Ja«, murmelte der alte Mann. Dann setzte er sich zurück auf den Barhocker und sagte: »Wir haben uns nie darüber unterhalten, Ronald, dabei wart ihr beide einmal ein Herz und eine Seele, du und Oliver. Weißt du, was mit ihm passiert ist? Wie ist es dazu gekommen?«

Der junge Mann nahm die gewaschenen Gläser aus dem Becken und stellte sie zum Trocknen auf das Lochblech der Theke.

»Nein, keine Ahnung. Zu mir hat er darüber nie ein Wort gesagt. Wir hatten uns aus den Augen verloren. Er war selten in der Stadt, das wissen Sie besser als ich. Und besucht hat er mich seit dem Studium nie wieder. Manchmal traf ich ihn zufällig, aber da hat man sich nicht groß unterhalten. Guten Tag und guten Weg, das war alles. Mehr weiß ich nicht. Mich hat das auch alles überrascht. Ich hab es nicht verstanden. Ausgerechnet Ihr Sohn, Herr Doktor Zurek, das geht mir überhaupt nicht in den Kopf. Sie waren immer so …«

Er unterbrach sich und suchte nach Worten.

»Was meinst du, Ronald? Engstirnig, spießig, ein Kleinbürger? Sicherlich hattet ihr für euren Direx keine schmeichelhaften Bezeichnungen.«

»Nein, Sie waren ein guter Lehrer, aber streng, sehr streng. Ich hatte immer Manschetten vor Ihnen, auch wenn ich nur zu Besuch bei Oliver war. Sie waren für mich immer eine Respektsperson, der Direktor eben. Irgendwie drohte immer eine schlechte Note, wenn ich Sie sah. Verstehen Sie mich richtig, als Bub hatte man immer etwas ausgefressen, und ein Lehrer ist halt der Lehrer.«

»Vielleicht war ich zu streng mit ihm.«

»Nein, das meinte ich nicht. Sie müssen sich keinen Vorwurf machen. Ich glaube, Sie haben Ihr Bestes gegeben.«

»Davon bin ich leider nicht überzeugt, Ronald. Und ich denke jeden Tag darüber nach. Seit fünf Jahren. Jeden Tag denke ich an ihn.«

Der junge Mann entschuldigte sich, einer der Gäste verlangte die Rechnung.

»Grüßen Sie Ihren Vater«, sagte der alte Mann. Er stand auf, setzte sich die Schottenmütze auf den Kopf und verließ das Restaurant. Ronald Plöger war hinter dem Tresen hervorgekommen und hielt ihm die Tür auf, bevor er zu einem der Tische ging. Nachdem Richard Zurek den Mantel abgelegt und die Schuhe ausgezogen hatte, ging er ins Wohnzimmer. Seine Frau sah ihn prüfend und erwartungsvoll an, er sagte nichts und setzte sich in den Sessel.

»Gleich kommen die Nachrichten. Soll ich den Apparat anschalten?«

»Ja.«

»Ich habe sie vorhin schon angeschaut. Es war nichts Besonderes, nichts von Interesse.«

»Das ist gut.«

»Und wie war es bei dir? Wen hast du gesehen?«

»Ich habe Herrn Baumann auf der Straße getroffen. Seine Frau hatte einen Schlaganfall.«

»Wie alt ist sie? Ich glaube, drei Jahre älter als wir.«

»Sie ist neunundsiebzig, sagte mir ihr Mann. Sie hat jetzt Mühe zu reden, man versteht sie kaum noch. Aber die Lähmung lässt vielleicht nach, habe der Arzt gesagt. Und im Bahnhof habe ich mit dem jungen Plöger gesprochen. Er lässt dich grüßen.«

»Es war gut, dass du mal rausgegangen bist, Richard.«

Auf dem Fernsehschirm war eine Uhr zu sehen, dann begannen die Spätnachrichten, und die beiden schauten wortlos auf den Apparat. Als der Wetterbericht begann und keine weitere Nachricht zu erwarten war, schaltete er den Apparat aus.

»Nichts von Bedeutung«, sagte er, »jedenfalls nicht für uns.«

»Wenn du nicht aufgibst und nun sogar den Staat verklagen willst, dann kommen wir nie zur Ruhe. Wenn du deinem Freund Immenfeld folgst, dann fängt alles wieder von vorne an«, sagte sie bekümmert.

Er nickte. »So wird es kommen«, sagte er dann, »doch das ist kein Grund, einen Mörder laufenzulassen und einem Unschuldigen die letzte Ruhe zu verwehren. Aber nicht Lutz Immenfeld entscheidet, sondern wir, du und ich, und niemand anders.«

Er erhob sich so mühselig aus dem Sessel, dass seine Frau besorgt zu ihm sah und misstrauisch jeden seiner Schritte verfolgte.

2.

Er wurde wach, als seine Frau neben dem Bett stand.

»Das Frühstück ist fertig. Zieh dir den Bademantel über und komm Kaffee trinken.«

»Wie spät ist es denn? Ich muss noch einmal eingeschlafen sein.«

»Neun Uhr. Ist doch schön, Richard. Auf uns wartet ja keiner mehr.«

Nach dem Frühstück duschte er und zog sich an. Dann ging er wieder ins Bad, um sich sorgfältig zu rasieren. Als er in die Küche kam, deutete seine Frau auf eine Tasse, sie hatte ihm bereits seinen Tee eingegossen. Er nahm die Tasse in die Hand und ging in sein Arbeitszimmer.

Der Raum war von einem gewaltigen Schreibtisch beherrscht, der mitten im Zimmer stand. Zwei Wände waren mit einem massiven, zum Schreibtisch gehörenden Bücherschrank und mit Regalen zugestellt, in denen neben den Büchern Aktenordner standen und einige Papierbündel lagen. Er stellte sich vor das schmale Regalteil am Fenster, in dem früher die Geschichtsatlanten und die voluminösen, großformatigen Lexika gestanden hatten, die er für seinen Unterricht brauchte. Nach und nach hatte er sie herausgenommen und im Keller deponiert, um Platz für die Aktenordner zu schaffen. Jetzt standen in diesem Regal zusammengepresst die grauen Ordner, in denen er seinen Briefwechsel mit den Behörden und seinem Anwalt Feuchtenberger abgeheftet hatte, die Schreiben der Staatsanwaltschaft und ihre Pressemitteilungen, die unzähligen Zeitungsartikel und die Kopien von Büchern und Aufsätzen der Zeitschriften, die sich mit dem Fall befassten. In drei der Ordner hatte er gesondert die Artikel der Boulevardpresse gesammelt. Da er in den vergangenen Jahren immer wieder zu diesen Unterlagen greifen und in ihnen blättern musste, hatte er diese reich bebilderten und mit dicken Überschriften versehenen Zeitungsseiten in eigene Ordner gesteckt, er wollte nicht, dass sie ihm beim Durchsuchen der Akten überraschend unter die Augen kamen.

Er nahm einen der Ordner aus dem Regal, legte ihn auf den Schreibtisch und setzte sich. Einen Moment starrte er auf den geschlossenen Aktendeckel, dann schlug er ihn auf, las eine Zeile, schaute auf die Beschriftung der Trennblätter und klappte ihn mürrisch zu. Er musste nicht darin lesen. Seit fünf Jahren hatte er die Akten immer wieder studiert, hatte versucht, die seltsamen Formulierungen zu verstehen, den Sinn zu erfassen, um die Gründe zu begreifen, in der Hoffnung, den Schlüssel für das Geschehene zu finden. Er kannte jede Zeile, er würde nichts finden, was ihm das Unerklärliche verständlich machen könnte. Ein Rad begann sich in seinem Kopf zu drehen. Er schloss die Augen und massierte beide Schläfen. Unversehens wurden seine Augen nass, er weinte minutenlang. Das Telefon klingelte. Er nahm seine Brille ab und wischte mit einem Taschentuch hastig die Tränen ab. Er hörte seine Frau im Flur telefonieren. Einen Moment lauschte er der Stimme, sie sprach mit einer Gertrude, und er vermutete, dass es ihre Cousine war. Er schob den Ordner beiseite, griff nach einem Blatt Papier und begann einen Brief zu schreiben.

Eine Stunde später schrieb er noch immer an diesem Brief. Wie bei einem Schulanfänger war das Blatt mit Korrekturen überdeckt, kaum ein Wort auf dem Papier, das nicht durchgestrichen und überschrieben war. Als seine Frau an die Tür klopfte und sie öffnete, um ihn zum Mittagessen zu rufen, schaute er belustigt auf das Schreiben, schüttelte den Kopf und steckte den Füllfederhalter in das Etui auf dem Schreibtisch.

»Kannst du mir sagen, was du eben gegessen hast?«, fragte seine Frau, als er den Suppenlöffel auf den leeren Teller zurücklegte.

»Eine Suppe. Eine sehr gute Suppe.«

Sie schaute ihn fragend an, sagte aber nichts.

»Entschuldige, Rike. Ich war mit den Gedanken woanders.«

»Es war eine Fenchelsuppe. Mit Kreuzkümmel und Sahne.«

»Den Kreuzkümmel habe ich herausgeschmeckt«, beteuerte er ernsthaft.

Sie nahm gekränkt die Suppenteller, brachte sie in die Küche und kam mit einem Tablett zurück. Die Schüsseln und die Platte mit dem Fisch stellte sie in die Mitte des Tisches und begann aufzugeben.

»Heute kannst du keinen Mittagsschlaf machen.«

»Warum nicht? Erwarten wir Besuch?«

»Du bist mit dem Pfarrer verabredet. Hast du das vergessen? Ihr wollt euch heute mit dem Architekten im Gemeindesaal treffen.«

Er zog seinen Taschenkalender aus dem Jackett und schlug ihn auf: »Du hast natürlich Recht, Rike. Ich trinke noch einen Kaffee und mache mich dann auf den Weg. Andererseits, was kann ich dem Architekten schon sagen? Er wird wieder so lange auf uns einreden, bis wir ihm alle zustimmen. Er ist der Fachmann.«

»Hast du an Feuchtenberger geschrieben?«

»Nein.«

»Hast du dich schon entschieden?«

Er schüttelte den Kopf.

»Es schmeckt köstlich, Rike. Ich genieße jeden Bissen.«

»Mach dich bitte nicht über mich lustig. Es ist kein Vergnügen, stundenlang in der Küche zu stehen, um dann zuzusehen, wie du das Essen einfach hinunterschlingst.«

»Ich habe mich entschuldigt.«



Pfarrer Härle stand in der Eingangstür des neuen Saals und begrüßte die eintreffenden Mitglieder des Gemeindekirchenrats mit Handschlag. Härle war vor drei Jahren zu ihnen gekommen, zuvor hatte er eine Pfarrei in einer Kleinstadt im Nordrheinischen betreut. Er war Anfang dreißig, ein wilder Bart verdeckte den unteren Teil des Gesichts und gab ihm, zumal er ein untersetzter, kräftiger Mann war, eher das Aussehen eines Waldarbeiters oder Seemanns als das eines Geistlichen. Neben ihm stand Hossenfelder, der Architekt aus Köln, ein Bruder des Apothekers. Als die fünf Mitglieder des Kirchenrats eingetroffen waren, es waren alles Männer, gingen sie in den Gemeindesaal, der im vergangenen Jahr fertiggestellt worden war. Der Architekt holte seine Zeichnungen aus der Tasche, legte sie auf einen der Tische, die unter den Fenstern standen, und erläuterte die Skizzen.

Ein Umbau des neuen Hauses war notwendig geworden, da fünf Monate nach der Einweihung des Gemeindezentrums ein leichtes Erdbeben die Region erschüttert hatte. Außer einer heftigen Verwirrung der Einwohner, die seit Menschengedenken kein Beben in ihrer Heimat erlebt oder je von einem in ihrer Stadt gehört hatten, deren Fantasie und Ängste jedoch von den Schreckensbildern des Fernsehens und der Zeitungen über die Folgen einer solchen Erschütterung auf anderen Kontinenten erregt waren, und von einer einzigen Ausnahme abgesehen, gab es aber keine Schäden. Die Rückwand des soeben fertiggestellten Gemeindesaals war bei dem Beben gerissen, und nach aufwendigen Untersuchungen des gesamten Gebäudes und seiner Fundamente entschloss man sich nach Absprache mit der verantwortlichen Baubehörde, die beschädigte Wand von innen her zu sichern und eine zweite Rückwand davorzusetzen. Der Gemeindesaal würde nur geringfügig kleiner sein, anderenfalls stünde ein Abriss und Neubau an, der die finanziellen Mittel der Kirche übersteigen würde. Hossenfelder, der Architekt des Gemeindehauses, war mit dem Umbau beauftragt worden und hatte neben den durch das Beben notwendigen Veränderungen noch die weiteren Wünsche des Pfarrers und der Gemeindevertretung berücksichtigt, die sich nach der ersten Fertigstellung des Hauses trotz sorgsamer Planung ergeben hatten.

Der Architekt erklärte gewissenhaft die Zeichnungen, wies auf elegante Details und raffinierte Lösungen und vermochte mit seiner Begeisterung für den eigenen Entwurf den jungen Pfarrer und die Gemeindevertreter anzustecken. Pfarrer Härle war mit dem Entwurf mehr als zufrieden.

»Offenbar war selbst Gott mit unserem Bauwerk nicht zufrieden«, sagte er, als der Architekt die Zeichnungen in seiner Tasche verstaute, »immerhin bedurfte es eines Erdbebens, damit wir einen makellosen Gemeindesaal erhalten, und ein Erdbeben ist in unserer Stadt nicht eben gewöhnlich.«

Dann sprach er über die Kosten, die der Umbau verursachen würde, und als Hossenfelder erklärte, er würde auch diese Arbeit nicht berechnen und sie wie die ursprünglichen Bauskizzen angesichts der prekären finanziellen Verhältnisse der Kirchengemeinde und seinem Bruder zuliebe als Spende und etwas höhere Kirchenkollekte ansehen, nahm Pfarrer Härle das großzügige Angebot dankend, aber mit großer Selbstverständlichkeit an.

»Eine wohlüberlegte Entscheidung, Herr Hossenfelder«, sagte er lediglich, »sehen Sie es so: Sie haben nicht auf Ihr Honorar verzichtet, sondern es auf Risiko angelegt. Falls es dafür keine Ausschüttung geben sollte, ist es ein üblicher Bankverlust, anderenfalls dürfen Sie mit einer ungewöhnlich vorteilhaften Rendite rechnen.«

Der Architekt lachte schallend. »Ich hatte meinen Glauben bisher nicht als Anlagegeschäft betrachtet«, erwiderte er, »ich sehe, Sie gehen mit der Zeit, Herr Pfarrer.«

Er verabschiedete sich und verließ zusammen mit seinem Bruder, dem Apotheker, den Gemeindesaal. Härle besprach mit den verbliebenen Männern des Kirchenrats das in vierzehn Tagen auszurichtende Erntedankfest, er bat die Männer wegen der Ausschmückung der Kirche all jene ihrer Bekannten anzusprechen, die eine Gärtnerei oder Landwirtschaft besaßen oder sich sonstwie an der Ausgestaltung des Gotteshauses beteiligen könnten, weil er die Ausgaben für die Kirche künftig stärker einschränken müsse. Als sie den Gemeindesaal verließen und sich trennten, hielt Pfarrer Härle Richard Zurek auf. Wenn er sich gedulde, bis er alle Türen verschlossen habe, sagte er zu ihm, dann könnten sie sich zusammen auf den Heimweg machen. Richard Zurek nickte und wartete vor der Tür auf ihn. Als Härle wieder erschien, trug er in jeder Hand eine Aktentasche.

»Ich schleppe das halbe Büro mit mir herum«, sagte er und hob mit einem entschuldigenden Lächeln die Taschen hoch, »wir sind alle nur noch Verwaltungsangestellte irgendeines Archivs, gleichgültig, welchen Beruf wir eigentlich gewählt hatten. Ich soll mit den Menschen reden, für sie da sein, aber dazu lassen mir die Akten keine Zeit.«

»So geht es heutzutage jedem«, tröstete ihn Zurek, »als ich im Dienst war, brauchte ich ständig irgendwelche Akten und musste deshalb jeden Tag mit dem Auto zur Schule fahren, obwohl es für mich ein Fußweg von einer Viertelstunde gewesen wäre.«

»Sie waren hier der Schuldirektor, ist das richtig?«

»Ja, aber das ist lange her. Es war vor Ihrer Zeit, Herr Pfarrer. Ich bin schon seit acht Jahren in Pension.«

Eine Frau kam über die Straße gelaufen, grüßte die beiden Männer und fragte, ob sie den Herrn Pfarrer kurz sprechen könne. Zurek trat ein paar Schritte zurück und schaute sich ein Schaufenster mit Gartengeräten an. Als er seine Brille aufsetzte und sich vorbeugte, um die Beschriftung an einem Spaten zu lesen, wurde die Ladentür geöffnet. Der Besitzer fragte ihn, ob er ihm helfen könne, und bat ihn, in das Geschäft zu kommen, doch Zurek dankte und wehrte ab. Er würde ein andermal vorbeikommen, um sich im Laden umzuschauen.

»Es ging um eine Taufe«, sagte der Pfarrer, nachdem sich die Frau verabschiedet hatte und sie weiterliefen, »das ist das Allerschönste in meinem Beruf, wenn diese winzigen Menschen zu mir gebracht werden. Haben Sie Kinder, Herr Zurek?«

»Ich hatte drei. Ein Mädchen und zwei Jungen. Einer der beiden, Oliver, ist tot. Und Christin, unsere Tochter, hat nun selber einen Sohn.«

»Entschuldigen Sie, Herr Zurek, das hatte ich vergessen. Von der Geschichte mit Ihrem Sohn habe ich natürlich gehört. Tut mir leid.«

»Es ist jetzt fünf Jahre her. Seit fünf Jahren ist er tot.«

»Ja, ich weiß. Damals stand es ja in allen Zeitungen. Haben Sie und Ihre Frau es einigermaßen verwunden?«

Richard Zurek blieb stehen und dachte nach. »Nein«, sagte er dann und ging weiter.

»Mit Gottes Hilfe«, begann der Pfarrer zu sprechen, aber er brachte den Satz nicht zu Ende. Zu oft in seinem Leben hatte er von Gottes Hilfe gesprochen, und zu oft hatte nichts und niemand geholfen, und er hatte den schalen Geschmack seines billigen, nichtssagenden Trostes als peinigend empfunden. Was wissen wir schon, was Gott mit uns vorhat, sagte er sich, vielleicht hat er genau das für uns vorgesehen, gegen das wir um seinen Beistand bitten.

»Wenn Sie mit mir über Ihren Sohn sprechen wollen, Herr Zurek, ich bin jederzeit für Sie da.«

»Danke«, sagte Richard Zurek, und der Pfarrer wusste nicht, ob er sein Angebot annehmen wollte oder es mit der Bemerkung abgelehnt hatte. Als sie über den Markt liefen, wies Pfarrer Härle belustigt zu einem Haus, an dem zwischen zwei Balkonen ein weißer Stoffstreifen gespannt war, auf dem mit grellroter Farbe eine Losung gemalt war.

»Der Kampf geht weiter. Die Gefallenen leben in unseren Herzen. Venceremos!«, las er die Aufschrift laut vor. Er wandte sich zu Zurek. »Jedenfalls hat Herr Schmückle diesmal keine Rechtschreibfehler gemacht. Im vorigen Jahr musste ich ihn einmal darauf hinweisen, dass auch in der wildesten Anarchie ein R enthalten sein muss. Kennen Sie Gerd Schmückle?«

»Natürlich. Irgendwann saßen alle einmal vor mir auf der Schulbank. Schmückle hatte schon als Schüler seine Schwierigkeiten mit der Orthografie. Dafür führte er große Reden auf dem Schulhof. Er war immer ein Großmaul, ein verspäteter Revoluzzer. Und seit er dieses Haus geerbt hat, beglückt er die Stadt mit seinen Sprüchen.«

»Als ich ihn auf den Schreibfehler hinwies, sagte er zu mir: Danke, Genosse. Ich erwiderte, ich sei nicht sein Genosse, sondern der neue Pfarrer. Und da ich mich für die Kinder verantwortlich fühle und sie kein falsches Deutsch lernen sollen, wolle ich seine Losung korrigieren, selbst wenn ich ihr nicht zustimmen könne. Ein merkwürdiger Mensch.«

»Ja. Oliver war mit ihm befreundet, das glaube ich jedenfalls. Ein fataler Mensch, dieser Schmückle.«

Als Zurek sich verabschieden wollte, winkte der Pfarrer ab und bestand darauf, ihn bis zu seinem Haus zu begleiten.

»Unsere Gemeinde bekommt einen erdbebensicheren Kirchensaal«, sagte er, als sie sich verabschiedeten, »unsere Patengemeinde in Kolumbien wird uns beneiden.«

»Nein, sie wird uns auslachen, Herr Pfarrer. Für diese Leute war das kein Erdbeben. Sie wären nicht einmal vor die Tür gegangen, um nachzuschauen, ob noch alles am Platz steht.«

»Vielleicht haben Sie Recht. Furcht und Schrecken sind wie Recht und Unrecht eine Frage der Gewöhnung, und was für den einen unerträglich ist, das ist für einen anderen der Alltag. Grüßen Sie Ihre Frau von mir. Wir sehen uns am Sonntag.« Zurek betrat sein Haus und ging ins Wohnzimmer, wo seine Frau am Tisch stand und Hemden bügelte. Der Fernseher war eingeschaltet. Er erzählte, was man mit dem Architekten vereinbart hatte, und lief dann in die Küche, um Tee zu kochen. Er stellte Tassen und Kanne auf ein Tablett, brachte es ins Wohnzimmer, goss ein und verschwand mit der Tasse in seinem Arbeitszimmer.

Eine Stunde später ging er mit einem Briefbogen durch die Wohnung und suchte seine Frau. Sie stand auf dem Balkon, sammelte die trockenen Blätter auf, die um die Blumenkästen herumlagen, und zupfte vorsichtig die welken Blätter von den Pflanzen.

»Was hast du da? Hast du heute Briefe geschrieben?«, erkundigte sie sich.

»Nur einen.«

»Den ganzen Tag hast du an einem Brief geschrieben? An wen hast du geschrieben? Willst du mir den Brief vorlesen?«

»Nein, lies ihn selbst. Ich habe an den Minister geschrieben.«

»An den Minister?« Sie schaute ihn verwundert an und legte den Plastikbeutel, in dem sie das Laub sammelte, auf der Brüstung ab.

»Ja«, sagte er, »ich will wissen, warum er zurückgetreten ist. Ich habe einen Anspruch darauf, es zu erfahren. Ich will es wissen, ich muss es wissen.«

»Aber du hast ihm schon geschrieben. Hast du das vergessen?« Beunruhigt sah sie ihn an. »Du hattest ihm geschrieben, und er hat dir nicht geantwortet.«

»Ja, aber das war vor fünf Jahren. Vielleicht ist er heute bereit, meine Frage zu beantworten.«

Noch immer argwöhnisch ihren Mann betrachtend wischte sie die Finger an der Schürze ab, dann ging sie in die Küche, wusch die Hände, setzte sich an den Küchentisch und nahm den Brief.

»Bist du einverstanden?«, fragte er, nachdem sie den Brief zweimal gelesen hatte.

»Ja, du hast Recht, er muss dir antworten. Du hast den Brief sehr schön geschrieben. Zeig ihn aber vorher Feuchtenberger und sprich mit ihm darüber.«

»Das geht Feuchtenberger nichts an. Das ist eine Sache zwischen uns und dem Minister, das ist nichts für die Öffentlichkeit. Ich will den Minister nicht vor Gericht bringen, ich will nur, dass er uns antwortet. Er soll uns eine Auskunft geben, er soll mir sagen, was er weiß, und kein anderer Mensch wird je davon erfahren. So wie ich es ihm geschrieben habe.«

»Wenn der Minister ein Herz hat, muss er dir antworten, Richard.«

»Hoffen wir, dass er mir trotzdem antwortet.«

Er nahm den Brief an sich und wollte die Küche verlassen, als seine Frau ihn fragte: »Und Feuchtenberger? Was willst du ihm schreiben? Hast du dich entschieden?«

»Wir haben drei Monate Zeit, es uns zu überlegen, Rike. Ich denke, ich sollte zuvor einmal nach Kleinen fahren.«

Seine Frau war überrascht. Er lächelte sie beruhigend an und sagte: »Es ist so lange her. Heute werden wir bestimmt von keinem mehr belästigt. Meinst du nicht auch?«

Sie erwiderte nichts. Erst nach dem Abendessen erkundigte sie sich, wann sie nach Kleinen fahren wollten.

»Würdest du mitkommen?«, fragte er verwundert.

»Ja. Ich habe von diesem Bahnhof so oft geträumt. Vielleicht verschwindet er endlich, wenn ich ihn gesehen habe.«

»Dann sollten wir die Sache nicht auf die lange Bank schieben, Rike. Morgen ist Mittwoch, ich glaube, da bietet die Bahn verbilligte Tarife an. Ich rufe gleich mal an und erkundige mich.«

Beim Abendbrot erzählte er ihr, was er am Telefon erfahren hatte. Sie könnten kurz nach sieben Uhr losfahren, wären mittags in Kleinen, könnten drei Stunden später zurückreisen und wären um Mitternacht wieder zu Hause. Seine Frau nickte, wurde dann jedoch plötzlich nervös. Sie krampfte die Finger ineinander, und auf den Wangen und der Stirn tauchten kleine rötliche Flecken auf.

»Vielleicht sollten wir Heiner bitten, uns zu begleiten. Er war schon in Kleinen, er könnte uns helfen und uns alles zeigen.«

»Nein. Heiner hat uns schon mehr als genug beigestanden, wir werden ihn nicht schon wieder um Hilfe bitten, Rike. Der Junge hat seine Arbeit zu machen, wir können ihn nicht immerzu belästigen.«

Sie atmete schwer, als sie ihn fragte, was sie auf die Reise mitnehmen sollten.

»Nichts. Etwas Obst, ein paar Schnitten und die Thermoskanne mit Tee. Wir sind doch abends wieder daheim, Liebe«, antwortete er.

Nach den Abendnachrichten ging er nochmals in sein Arbeitszimmer. Aus den Aktenordnern suchte er ein paar Zeichnungen und Fotos heraus, die er in einen großen Briefumschlag steckte, um sie auf die Fahrt mitzunehmen.

3.

Sie trafen erst am frühen Nachmittag in Kleinen ein. Sie hatten zweimal umsteigen müssen und durch eine Verspätung einen Anschluss versäumt, so dass sie genötigt waren, eine Stunde in einem Bahnhofsrestaurant zu verbringen. Als ihr Zug in Kleinen einlief, standen beide am Fenster und sahen sich aufmerksam den Bahnhof an. Nur wenige Leute standen auf dem Bahnsteig, außer ihnen stiegen zwei Jugendliche und eine Gruppe von fünf Rentnern aus. Sie blieben auf dem Bahnsteig stehen, bis der Zug abgefahren und die wenigen Passagiere verschwunden waren.

Nach dem Tod ihres Sohnes hatten sie sehr bald das Bedürfnis gehabt, den letzten Ort seines Lebens und den Platz seines Todes zu sehen, aber sie fürchteten, dass sie auf einer Reise dorthin von neugierigen Journalisten begleitet oder am Ort von ihnen empfangen würden, und hatten sich daher diese Reise bisher untersagt. Der Bahnhof, auf dem Oliver starb und auf dem sie nun standen, war ihnen merkwürdig vertraut, da sie ihn so häufig auf Fotos und in Filmberichten gesehen hatten.

»Dort ist das Café«, sagte Richard Zurek und wies auf das niedrige Gebäude auf dem danebenliegenden Steig, »sehen wir es uns an.«

Sie liefen durch die Unterführung zum anderen Bahnsteig und blieben vor dem Café stehen. Die Tür war verschlossen, es gab keinen Hinweis auf Öffnungszeiten. Sie gingen um das kleine Gebäude herum, das mitten auf dem Bahnsteig stand, und schauten durch die verdreckten Fenster in das Innere des Cafés. Eine Theke konnten sie erkennen und mehrere Tische, auf denen Stühle abgestellt waren. Bierkästen standen im Raum, ein Besen lag auf der Theke und ein Staubsauger. Das Café wirkte, als sei es aufgegeben worden, aber vielleicht war es auch nur wegen Urlaub vorübergehend geschlossen.

»Da hat Oliver gesessen«, sagte Richard Zurek zu seiner Frau, »da hat er mit Katharina Blumenschläger einen Kaffee getrunken, bevor sie zu ihrem Zug gingen. Bevor er . . .«

Er brach ab, und sie schauten nochmals durch die schmutzige Fensterscheibe in das Innere der Gaststätte. Als sie weitergingen, griff Friederike Zurek nach dem Arm ihres Mannes. Hand in Hand gingen sie zur Treppe in die Unterführung zurück. Auf dem danebenliegenden Bahnsteig blieben sie an der Treppe stehen. Richard Zurek deutete mit der Hand auf eine Stelle des grauen Betons, dann wies er auf die Bahngleise neben dem Steig, sagte aber nichts. So standen sie mehrere Minuten schweigend beieinander. Schließlich gingen sie zu einer der verschmutzten Bänke. Friederike Zurek rieb mit einem Papiertaschentuch mehrmals über das weißliche Plastik, bevor sie sich vorsichtig auf den Rand der Bank setzten. Neben ihnen saß eine Frau mit einem Baby, dem sie die Brust gab. Die Frau war sehr jung, fast noch ein Mädchen. Ihre Haare waren gelb gefärbt, die Spitzen rötlich, sie trug eingerissene Jeans und Springerstiefel, ihre Ohren waren dicht an dicht mit Ringen besteckt, ein Ring haftete an einem Nasenflügel. Sie streichelte unablässig den Kopf des Säuglings und redete leise auf ihn ein, während sie ihn stillte. Als sie die Blicke des älteren Ehepaares neben sich auf der Bank verspürte, lächelte sie ihnen zu. Friederike Zurek begann ein Gespräch mit ihr, fragte nach dem Alter des Säuglings und seinem Namen. Als der Säugling, durch das Gespräch vom Trinken abgelenkt, seinen Kopf drehte, verstummten die Frauen, um ihn nicht zu stören. Ein Personenzug fuhr ein. Die Frau entzog dem Säugling behutsam ihre Brust, legte ihn in die Tragetasche und knöpfte ihre Bluse und Jacke zu, um einzusteigen. Richard Zurek bot ihr an, den kleinen Koffer zum Abteil zu tragen. Die Frau nahm das Angebot dankend an. Als der Zug abfuhr, winkten sie der Frau zu, die den Säugling an der Fensterscheibe hochhielt.

Richard Zurek nahm den großen Briefumschlag aus ihrer Reisetasche und öffnete ihn, um Skizzen und Lagezeichnungen hervorzuziehen, doch bevor er sie vollständig entnommen hatte, schob er die Papiere in den Umschlag zurück und legte ihn wieder in die Tasche. Er wies auf den Bahnhofskiosk. Sie standen auf und gingen zu dem Häuschen, um das herum Pappschilder aufgestellt waren, auf denen für verschiedene Zeitungen geworben wurde. In dem Kiosk, dessen Regale mit Süßigkeiten und Zigaretten gefüllt waren, stand eine Frau, sie packte Zeitungen zusammen und verschnürte sie. Richard Zurek sprach sie an, verlangte eine Tageszeitung und sagte, dass sie auf diesem verlassenen Bahnhof wohl kein gutes Geschäft machen könne. Die Frau gab ihm das gewünschte Blatt und sagte, sie sei zufrieden. Als er sich erkundigte, seit wann sie in diesem Kiosk arbeite, zogen sich die Augen der Frau zu kleinen Schlitzen zusammen. Misstrauisch und mürrisch sagte sie: »Seit zwei Jahren.«

Richard Zurek hatte das Gefühl, die Frau habe plötzlich Stacheln ausgefahren, und er verstand sie. Sie hatte zu oft die Fragen neugieriger Reisender gehört, die auf diesem Bahnhof umgestiegen waren und sich des zurückliegenden Ereignisses erinnerten, über das von der Boulevardpresse damals ausführlich und genüsslich berichtet worden war. Er begriff, dass diese Frau nichts mehr dazu sagen konnte, gleichgültig, ob sie tatsächlich erst seit zwei Jahren auf diesem Bahnsteig arbeitete oder schon vor fünf Jahren in dem Kiosk saß. Er dankte ihr und wandte sich ab.

Zu seiner Frau sagte er lediglich: »Sie ist neu hier. Sie weiß von nichts.«