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Marente de Moor

Amsterdam und zurück

Roman

Aus dem Niederländischen von
Waltraud Hüsmert

Suhrkamp

Titel der Originalausgabe: De overtreder

Die Übersetzung des Buches wurde gefördert vom Nederlands Literair

Productie- en Vertalingenfonds.





ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010

© 2007 by Marente de Moor, Amsterdam,

Em. Querido’s Uitgeverij B. V.

© der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag Berlin 2010

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,

auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages

reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.



www.suhrkamp.de

eISBN 978-3-518-74310-2

I

In der ersten Nacht war da wieder der Soldat. Er floh durch die letzten Minuten eines Traums. Er stieß sich mit den Skistöcken im Schnee ab und zog eine Spur im Kopf des Schlafenden. Der hatte diesen Traum schon seit acht Jahren.

Es begann mit der Schneefläche, weit und unerbittlich. Dahinter, bläulich in der Abenddämmerung, der Fichtenwald. Auf einem Hügel stand der finnische Beobachtungsturm, wie ein mißgestalteter Baum, die hölzernen Arme verschränkt. Und dann erschien der Soldat. Er hatte die Ohrenklappen seiner Mütze gelöst, so daß sein Hinterkopf an den eines Plüschkaninchens erinnerte. Sein Körper in dem weißen Overall hob sich kaum vom Schnee ab.

An seinem sorgfältig verpackten Hintern – dafür war gesorgt, während Hände, Füße und Wangen achtlos dem Frost ausgesetzt waren – baumelte die Ausrüstung eines Grenzsoldaten: Maschinengewehr und Klappspaten. Er war auf dem Weg zum Wald. Er glitt auf seinen Skiern in diese Richtung und schaute sich plötzlich um. Sein Gesicht war haarscharf zu erkennen, wie es nur im Traum möglich ist – in Wirklichkeit wäre aus so großer Entfernung nicht auszumachen gewesen, daß er ernst dreinblickte. Bei dem zugefrorenen Fluß löste er sich in nichts auf. Das war’s. Eine stumme Fragmentenfolge, wie in einem sorgsam montierten 16-mm-Film.

Der Schlafende, Witali Kirillow, fiel fast aus dem Bett. Noch vor wenigen Minuten war sein Gesicht entspannt gewesen, mit großen, schlaffen Augenlidern hatte es, umrahmt von schwarzem Wuschelhaar, auf dem Kopfkissen gelegen. Jetzt lief ein Schauder darüber, die Wangenknochen zitterten, weil die Zähne aufeinanderschlugen. Die Bettdecke rutschte zu Boden. Der Mann trug Socken und eine lange graue Unterhose mit schlabbrigen Beinen. Als er an die Bettkante griff, wachte er auf. Wie immer glaubte er sich noch einen Moment im Niemandsland. Seine Finger waren steif vor Kälte, vor acht Jahren waren sie ihm fast erfroren. Meist funktionierten seine Sinnesorgane wieder, sobald er die Tapete an der Wand wahrnahm, nun jedoch hielt das bedrohliche Gefühl an. Er war nicht zu Hause, sondern lag in einem Zugabteil, mit dem Kopf zum Fenster. Im Morgennebel zog ein Waldsaum vorbei.

Es war das erste Mal, daß Witali ins Ausland reiste. Er hatte es sich anders vorgestellt, weniger banal. Im Bett gegenüber lag eine Georgierin, die im Schlaf schmatzte. Nichts Außergewöhnliches. Er stemmte die Füße an die Wand des Abteils und zog die Decke wieder über sich. Er wollte nicht als einziger wach sein. Er wollte die Zeit nicht anders als andere Menschen verbringen. Früher, im Pionierlager, hatte er in seinem Bett einsam auf den durchhängenden Metallrost über sich geblickt, während die anderen Kinder friedlich und gehorsam schliefen. Später, in der Armee, hatte er den Metallrost wiedergesehen und die Waben des Labyrinths gezählt, wenn er der rhythmischen Polyphonie der Schnarchenden ausgeliefert war. Jetzt lag niemand über ihm, doch es war noch sehr früh, also transportierte dieser brave Zug sicher nur Schlafende. Es gelang ihm nicht mehr, sich ihnen anzuschließen. Das war nicht so schlimm, nur noch eine Nacht, und er brauchte sie nie wiederzusehen.

Der Traum hatte ihn überrascht. Nicht der Inhalt, den kannte er allmählich, aber er hatte geglaubt, seine Alpträume würden in Rußland bleiben. Sie verfolgten ihn seit seiner Militärzeit. Es war nicht die Art von Traum, aus dem Afghanistan-Veteranen vom eigenen Brüllen erwachen, in den Jahren jenes Krieges war er verschont geblieben und in die entgegengesetzte Richtung geschickt worden. In einem Sammelzentrum an der Wolga, in dem die aus weitem Umkreis zusammengeharkten Wehrpflichtigen darauf warteten, über die ganze Sowjetunion verstreut zu werden, kam jede Stunde ein Offizier mit einer Liste voller Schicksalsverfügungen in den Raum. Witali saß dort mit sieben anderen Jungs aus seiner Klasse, Schwaflern, die mit uralten Witzen gegen ihre Nervosität ankämpften. Über den Heldenspion Max Otto von Stierlitz, über Tschapajew und seinen Adjutanten Petka und über die Rückständigkeit der Tschuktschen, der Sowjet-Eskimos, die einander alle ähneln (ein Tschuktsche hat sich einen Schrank mit einem Spiegel an der Innentür gekauft. Er öffnet die Schranktür, zeigt auf sich und ruft seine Frau: »Schau mal, mein Bruder ist zu Besuch!« Die Frau stellt sich neben ihn: »Und er hat irgend so ein Weib mitgebracht …«). Schließlich traf es zwei Klassenkameraden. Sie wurden zu den Ausbildungslagern in Mittelasien geschickt und gingen mit hängenden Schultern ihrem vermasselten Leben entgegen.

Witali landete bei den Truppen an der finnischen Grenze. Zuerst ging er auf eine Unteroffiziersschule in der Nähe von Alakurtti, einem Dörfchen, das er einmal im Monat besuchen durfte, um eine Wagenladung schmutziger Bettwäsche bei ein paar karelischen Schönheiten abzuliefern. Während sie wuschen, wartete er. Die Stunden verflogen auf der kleinen Veranda vor der Wäscherei; wenn die Frauen aus der Tür traten und achtlos ihre Arbeitskittel öffneten, war auch schon mal eine nackte Brust zu sehen. Leider wurde er im Herbst zu einer Einheit an der Grenze versetzt, achtzig Kilometer nordöstlich von Kowdor. In dieser Gegend lebten keine Frauen, jedenfalls hatte er dort keine gesehen. Die Einwohner von Kowdor hausten in Baracken, die von hoher Hand rings um den Eingang einer Phlogopit-Mine herum hingeknallt worden waren. Die Armeeführung erklärte, es liege am Sauerstoffmangel in der Luft, daß man dort nur schwer atmen konnte und Wunden nicht heilten, sondern ständig eiterten. Nach zwei Jahren kam er mit heiler Haut nach Hause. Das einzige, was er im Norden verloren hatte, war der Rang eines Korporals – schuld daran war der Deserteur, der ihn nun wieder aus dem Schlaf gerissen hatte.

Er warf sich auf die andere Seite und blickte auf das Gepäcknetz an der Wand. Es war mit Sachen vollgestopft, die seine Mutter ihm auf dem Bahnsteig in Gorki zugesteckt hatte. Sprotten, Weißbrot, Jod, Bandagen. Eine Ikone des heiligen Nikolaus aus Plastik und ein Blättchen der Zeugen Jehovas. Pantoffeln, eine kleine Flasche Wodka, Salzgurken, Schuhcreme. Nein, ohne diese Dinge würde ihr Sohn die Reise nicht überleben. Es war wichtig, daß jeder Gegenstand einzeln verpackt wurde. Alles steckte in Plastiktüten, angegammelt vom vielen Auswaschen. So hatte sie es auch mit dem Rest seines Gepäcks gemacht. Russische Mütter haben, was Koffer anbelangt, eine Bakterienphobie – zwanghaft spülen sie alte Verpackungen aus und trocknen sie an Wäscheleinen, damit wieder andere Sachen darin untergebracht werden können, die aus unerklärlichen Gründen nicht miteinander in Berührung kommen dürfen. Beim Abschied hatte sie ihm die Wange hingehalten und ihm, als sich der Zug in Bewegung setzte, beherzt nachgewinkt. Sie hatte sich tapfer gehalten.

Nein, eigentlich nicht. Sie hatte ihn auf einmal wieder synok genannt. Söhnchen. Hier sind Sprotten und Gurken, Jod, Verbandszeug. Da, nimm, synok. Seit er aus der Armee entlassen worden war, benutzte sie diesen Kosenamen nur noch, wenn sich ihr die Gelegenheit bot, ihren Sohn wieder zu vereinnahmen. So wie damals, als die Bande von Wascha, dem Bären, ihn in die Mangel genommen hatte. In der ersten Woche nach der Schlägerei war er nicht nach Hause gekommen. Nachdem die schlimmsten Schwellungen abgeklungen waren, hatte er bei seinem Vater vorgefühlt. Der, selbst stolzer Besitzer einer gebrochenen Nase, hatte den Schaden ähnlich eingeordnet wie ein Rabbi eine Beschneidung. Ohne lädierte Nase kein Mann. Sein Sohn wäre sonst doch nur eine Schwuchtel geworden, mit seinen meergrünen Augen und den pechschwarzen Wimpern. Allerdings hatte er ihn die Flasche Obstwein bezahlen lassen, mit der er seine Frau auf die schlechte Nachricht vorbereiten mußte. Trotzdem konnte sie mit dem ewigen synok gar nicht mehr aufhören. Ihr hübscher Junge, oj, schau doch nur, die halbe Augenbraue eingeschlagen, die Unterlippe aufgeplatzt und auf der Nase eine richtige Plattform. »Und ich, was ist dann mit mir?« hatte sein Vater gerufen und mit der entkorkten Flasche auf sein eigenes zerhauenes Gesicht gezeigt. »Willst du etwa damit sagen, daß du mich häßlich findest?«

Wer sich überhaupt nicht um so was scherte, war Babulja. Witalis Großmutter kam in die dunkle Küche geschlurft, nachdem sich das Gejammere und Gefluche ins Wohnzimmer verzogen hatte. Sie klopfte das Pappmundstück einer Papirossa auf den Rand des Herdes und hielt sie an eine der Flammen. Vom bläulichen Lichtschein des Gases angeleuchtet, sah sie aus wie ein Waldschrat. Sie inhalierte mit hochgezogenen Brauen. Hatte er zurückgeschlagen? Natürlich. Babulja nickte, rauchte, sprach aber wenig. Wenn sie ein Urteil fällte, mußte Witali es hinnehmen. Diese Reise war ihre Idee gewesen. Auch sie war viel gereist. Ihre Touren während des Krieges und gleich danach waren, notgedrungen, eigentlich ein einziger großer Umweg gewesen: von Leningrad über Moldawien und Kasachstan an die Wolga. Man durfte nicht zu lange an einem Ort bleiben, fand Babulja, sonst passierte so was – und sie deutete zum anderen Zimmer, wo Witalis Eltern beim Melodienraten im Fernsehen mitsangen.

Über seine Armeezeit konnte er mit ihr nicht reden. Sie fand, er müsse stolz darauf sein, daß er das Vaterland gegen die Lappen verteidigt habe. Die Lappen seien nun mal ein Volk, dem man nicht trauen könne. Man müsse sie an der Grenze aufhalten. Witali versuchte gar nicht erst, ihr zu erklären, daß es die Russen waren, die sich nach Lappland absetzten, und nicht umgekehrt. Gewisse Umstände, wie das Auseinanderfallen der Sowjetunion, ließ sie nicht in ihr Bewußtsein vordringen. Wenn Witalis Vater einen Witz über seinen degradierten Sohn machte, »das größte Loch im Eisernen Vorhang«, dann lag auf Babuljas Gesicht das entrückte Lächeln einer Gläubigen. Für Witali gab es keinen Unterschied zwischen zwei oder gar keinen Streifen auf den Schulterstücken einer Jacke, die ebenso unsinnig geworden war wie die Schlagzeilen in der Prawda. An der Grenze eines aufgelösten Landes ist nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren. Babulja aber legte für sich selbst fest, ob das Land aufgelöst worden war oder nicht.

An und für sich war es kein Grund für spätere Alpträume, was vor acht Jahren auf diesem totenstillen achtundsechzigsten Breitengrad geschehen war. Der Soldat hatte die Grenze nach Finnland überschritten. Wie durch Zufall stand er plötzlich hundert Meter vom Grenzübergang entfernt. Vom Fichtenwald aus blickte er zu Witali herüber. Einen Augenblick zuvor hatten sie noch nebeneinander gestanden, Korporal und Soldat, und sich schweigend eine Zigarette geteilt. Sie hatten sich nicht viel zu sagen gehabt, keine besonderen Vorkommnisse, und sie froren. Sich auf Patrouille begeben, was sollten sie sonst machen? Langsam auf den Skiern hinund hergleiten. Den Blick auf unendlich gestellt, jedoch sehr ernst, denn es konnte ja sein, daß aus diesem Wald der Feind auch zu ihnen herüberstarrte. Und auf einmal stand der Soldat dort.

Er mußte geflogen sein, so schnell war es passiert. In dem Moment, als Witali ihn entdeckte, stand er reglos da. Worauf wartete er?

Dann hatte er den Blick abgewandt, die Skistöcke langsam gesenkt, mit seinen Filzstiefeln auf den Brettern ein paar ungeschickte Schritte gemacht, den Körper um neunzig Grad gedreht. Und war losgefahren. In einem Atemzug verschwamm er, beim Fluß war er außer Sichtweite. Witali hatte fassungslos ins Niemandsland gestiert. Hier hatte jemand in aller Gemütsruhe die Sowjetunion verlassen. Witali hätte schießen müssen, am besten auf den verpackten Hintern, zur Not auf den lächerlichen Kaninchenkopf mit den Schlappohren. Doch er stand da wie festgefroren. Ein Schneemann, stocksteif in der plumpen Montur. Die wattierte Mütze mit der langen Ohrenklappe, die über seinen ganzen Kopf gewickelt und mit einer Schlaufe am Kinn befestigt war, hielt ihn in Stille gefangen. Wäre es schlimm gewesen, wenn er ihn erschossen hätte? Jetzt war noch weniger von ihm übrig. Nur hin und wieder ein Alptraum. Ein verschwimmender Hintern, Maschinengewehr, Klappspaten. Der Soldat war mit nichts anderem als seiner Ausrüstung weggegangen. Ohne Hausrat, ohne Andenken – vermutlich hatte er nicht mal was zu essen mitgenommen. Das einzige, was er zurückließ, war eine Skispur. Auf die zielte Witali dann doch noch und schoß das Magazin leer, zwei Salven auf den langen Einmannpfad. Das Geräusch drang nicht weit durch den fallenden Schnee. Alle würden sich denken können, daß er den anderen hatte laufen lassen. Als er das Walkie-talkie an den Mund hielt, um dem Telegraphisten die Koordinaten durchzugeben, begriff er, daß er von der Herkunft und der Zukunft des Soldaten nichts wußte, während sein eigenes Schicksal glasklar vor ihm lag: Degradierung zum einfachen Soldaten, kaum fünf Stunden Schlaf pro Nacht und jeden Tag gefrorene Scheiße in den Latrinen der Kaserne hacken. Danach würde er aus dem Militärgefängnis weiter nach Norden verfrachtet werden, zu einer Sondereinheit mit fünfzehn verwilderten Männern, die jeden Monat in ein Geheule ausbrachen, wenn in der Polarnacht ein Helikopter mit Proviant auftauchte.

Er wußte den Namen nicht mehr. Das wurmte ihn am meisten. Von dem Moment an, als er den Namen des Soldaten nennen sollte, streikte sein Gedächtnis. Der Telegraphist notierte: Durchbrechen der Staatsgrenze durch Unbekannten Soldaten. Nach all den Jahren ärgerte er sich noch immer darüber. Das bedrohliche Gefühl in seinem Traum flaute nach dem Aufwachen schnell ab, über den Namen aber konnte er gut und gern eine Stunde nachgrübeln. Hier, den Blick auf eine Dose Sprotten gerichtet, in einem Zug, der unbekümmert aus Weißrußland hinausfuhr, entsann er sich vielleicht unvermittelt wieder. Er könnte sich auf die Suche nach dem Soldaten machen. Wenn er ihn fände, könnte er ihm etwas zurückgeben. Etwas von zu Hause, eine Erinnerung, die er verloren hatte. Sich selbst. Nicht schlecht! Doch der Name blieb verschwunden. Vom Gang hörte er das dumpfe Fluchen von Passagieren, die hastig von der Raucherecke zur Toilette polterten, der eine Raum noch übler riechend als der andere.

2

Das Geschmatze der Georgierin ging ihm auf die Nerven. Er konnte nicht erkennen, ob sie wach war. Schon am Tag davor, als der Zug aus Moskau abfuhr, hatte sie so dagelegen. Witali hatte die Abteiltür aufgeschoben und seinen Augen nicht getraut. Dort lag seine Reisegefährtin für die kommenden Tage, über zwei Sitzplätze ausgestreckt, den einen drallen Fuß über den anderen gelegt, zwischen Daumen und Zeigefinger ein geräuchertes Kotelett. Sie hatte sich beim Schaffner bereits eine Garnitur bretthart gestärktes Bettzeug und zwei Kissen besorgt; darin würde ihr toplastiger Oberkörper die ganze Fahrt über ruhen. »Meine Küche«, hatte sie gesagt und auf den kleinen, mit kalt gewordenem Essen überladenen Tisch gedeutet; wer weiß, wie lange das alles schon unterwegs war. (Er hätte es schlechter treffen können. Die Zugfahrt von Gorki nach Moskau hatte er in Angst und Schrecken verbracht, nachdem der ruhige Student, der ihm gegenübersaß, von einem tschetschenischen Hinkebein und dessen Kumpel rauskomplimentiert worden war und ihn die beiden Männer dreißig Stunden lang, immer wütender, zum Kartenspielen aufforderten.) Witali hätte nie gedacht, daß Leute, denen man normalerweise nur auf Regionalbahnhöfen begegnete, bepackt mit Bettzeug und Seesäcken voller Lebensmittel, auch in den Westen reisten. Die Georgierin hielt jetzt eine angebissene Pirogge in der Hand. So war sie eingeschlafen. Ihr zusammengesacktes Gesicht zeigte keine Spur von Verwunderung darüber, daß sie in einem Höllentempo aus dem Land gefahren wurde. Sie hatte ihm erzählt, daß sie nach Deutschland unterwegs war. Was wollte dieses Gesicht dort? Hängebacken, Damenbart, offener Mund – gab es in Deutschland auch Piroggen zum Reinstopfen? Dem Geruch nach zu urteilen, bestand das Gepäck der Frau nur aus Eßwaren. Proviant für Monate. Sie würde garantiert überleben. Die Frage war nur, warum unbedingt hinter der Grenze.

Sie blieb liegen, als der Zug bei Brest in eine Halle fuhr, unter Megaphongebrüll mit Drahtseilen festgezurrt wurde und fast eine Stunde über dem Erdboden schwebte. Witali wollte das Ganze vom Gang aus beobachten, aber den hatte eine Horde grimmiger Monteure in Beschlag genommen. Sie stiefelten durch die Waggons und konnten auf schlaftrunkene Zuschauer gut verzichten. Unter den Moskau-Expreß mußten in einer Dreiviertelstunde andere Drehgestelle montiert werden, da die Gleise hinter der Grenze eine schmalere Spurweite hatten. Ein Mann in einem pinkfarbenen Trainingsanzug wurde aufgefordert, in sein Abteil zu gehen. Er wich den ölverschmierten Händen eines Monteurs aus.

»Ich gehe nur zur Toilette, ich störe Sie überhaupt nicht.«

»Sie möchten doch sicher weiter?«

»Junger Mann, ich stehe Ihnen nicht im Weg!«

»Sie wollen doch unbedingt in den Westen! Von mir aus können Sie in Rußland bleiben!«

Der Monteur war ein Musterbeispiel für proletarischen Stolz, der sonst schon überall ausgestorben war; hier jedoch, in der Halle, wo noch niemand die Sowjetparolen von den Wänden entfernt hatte, in diesem Theater an der Grenze, spielte er seine Rolle mit Feuereifer. In dieser idealen Miseen-scène von Arbeitern und Landesverrätern auf ein paar Quadratmetern Gang war zu erwarten, daß der Mann im Trainingsanzug schließlich kapitulieren und der Monteur weitermarschieren würde, die ölverschmierten Hände zur Faust geballt.

Nichts deutete darauf hin, daß dieser Zug zu einem Ort mit dem sonderbaren Namen »Hoek van Holland« unterwegs war. Die drei Wörter hatten zwar in zungenbrecherischer kyrillischer Transkription auf den Hinweistafeln gestanden, verloren sich jedoch in dem üblichen Ambiente einer russischen Bahnreise mit allem Drum und Dran − wie aus den Lautsprechern scheppernder Marschmusik (»Abschied der Slawin«) und einem hustenden Schaffner auf dem Trittbrett, der aus einem Samowar Tee ausschenkte. Und dann die Passagiere. Auf dem Durchgang zwischen den Waggons standen mindestens zehn Leute mit den gleichen Visagen wie in den Bummelzügen auf dem platten Land. Sie rauchten Opal-Filterzigaretten, und ihre Körper dünsteten einen schwindelerregenden Promillesatz aus. Witali mußte das in Kauf nehmen, es gab nur diese eine Raucherecke.

»Wohin geht die Reise?« fragte ein Mann in einer Wildlederweste. Er hielt ihm ein brennendes Streichholz hin.

»Holland. Amsterdam.«

»Donnerwetter! Ich komme nur bis Poznań.«

Der Mann zog die Unterlippe über die Oberlippe und starrte zur Decke. »Zwei Autostunden von der deutschen Grenze. Vielleicht sogar noch weniger.«

Die Stahltür zur Plattform wurde aufgerissen, und zwei weitere Raucher zwängten sich in die Runde. Der Mann berührte nun mit seiner Schulter die von Witali. Er atmete schwer über den Unterkiefer. Witali sah die Goldzähne darin.

»Was haben Sie in Amsterdam vor, oder ist das ein Geheimnis?«

»Mein Cousin lebt dort. Ein Künstler.«

Witali bereute seine Offenheit sofort, denn der Mitraucher packte ihn fest an der Schulter, um ihm etwas vorzuschlagen. Von solchen Zeitgenossen hielt man sich besser fern. Am Polytechnischen Institut in Gorki war auch so einer rumgelaufen. »Hör mal zu, nur eine Minute!« Und dann, die Augen halb geschlossen, hinter vorgehaltener Hand, wie in einem Jugendfilm: »Laß uns von hier verschwinden. Von denen lassen wir uns nichts mehr weismachen.« Witali war nie dahintergekommen, was dieser Bursche im Institut zu suchen hatte. Er war jedenfalls nicht in seinem Jahrgang und auch kein Dozent. Er sagte immer: »Laß uns einen Plan schmieden.« Immer, wenn solche Typen etwas mit »Laß uns« begannen, bedeutete das, daß man etwas für sie erledigen sollte.

Hinter dem verkratzten Fenster tauchte eine Landschaft mit Feldern, vollgehängten Wäscheleinen und sorgsam geschichteten Holzstapeln auf. Bei ein paar Häusern hintereinander stand der gleiche Hund. Der Mann mit der Weste räusperte sich.

»Die Polen schaffen’s nie. Nicht ohne uns. Sie halten sich für wer weiß was. Letztes Jahr ist eine polnische Delegation in unsere Fabrik gekommen, es war von einer Übernahme die Rede. Auf einmal waren sie überall. Mit vorgestreckten Bäuchen und arrogant hochgezogenen Schnurrbärten sind sie durchs Dorf stolziert. Und jetzt schauen Sie mal aus dem Fenster. Wenn das Wohlstand sein soll …«

Einige Raucher nickten zustimmend.

»Und überhaupt: Polen als solches existiert gar nicht. Es tut nur so. In dem einen Jahrhundert lagen die Grenzen hier, im anderen waren sie nach Westen verschoben, wieder hundert Jahre später hatten die armen Teufel gar kein Land mehr. Was soll man mit so was anfangen?«

»Nichts«, erwiderte ein Mann mit eingedrückter Nasenwurzel. »Überhaupt nichts, und das ist die verdammte Wahrheit.«

Eine Stunde später hielten sie für den Mittagsimbiß an. Der Zug hatte keinen Speisewagen, polnische Bäuerinnen verkauften kandierte Früchte und Wurstbrote, die sie durch die Fenster ins Abteil reichten. Sie hatten auf einem zwischen Feldern und Äckern unvermittelt auftauchenden Bahnsteig gewartet, und als der Zug die Geschwindigkeit drosselte, rannten sie freudestrahlend an den Waggons entlang, als seien die Reisenden alte Bekannte. Die reagierten ebenso begeistert, zählten das Wechselgeld nicht nach und winkten den Frauen, bis der Bahnsteig wieder außer Sichtweite war. Auf dem Gang wurden die Tüten sofort aufgerissen und leer gefuttert wie auf einem Kindergeburtstag. Der Schaffner kochte einen Kessel Tee. Schnaufend, ohne sich wegen seiner Alkoholfahne zu schämen, bediente er die in der Schlange wartenden Passagiere. Neben dem Kessel stand ein Becher mit schalem Bier, ein Nottropfen. Der Schaffner bemerkte Witalis Blick und spülte es prompt runter. Dann straffte er seinen Rücken. Ich scheiß auf alles, merk dir das.

»Sie sind bestimmt noch nicht verheiratet«, sagte er mit rauher Stimme.

»Nein.«

»Und haben Sie’s auch nicht vor?«

»Keine Ahnung. Mit Zucker, bitte.«

Der Schaffner kramte zwei Würfel aus einer Schachtel.

»Dann passen Sie bloß auf!«

»Wobei?«

»Beim Heiraten. Heiraten Sie auf keinen Fall dort.« Er deutete in die Fahrtrichtung. »Da ist alles möglich. Glauben Sie nicht, daß ich nicht Bescheid weiß. Zweimal im Monat komme ich da hin. Und dann steh ich lange genug auf den Bahnhöfen, um mir ihre Frauen anzugucken. Manchmal fahren sie mit. Lebensgefährlich. In ihren Augen sind Sie ein attraktiver Mann. Einer von uns, ein richtiger Kerl. Sie werden sich auf Sie stürzen und Sie in Stücke reißen. Richtige Kerle, die gibt’s bei denen nicht.«

Er selbst sah ziemlich jämmerlich aus. Die runden, glänzenden Augen nahmen die Hälfte seines Mäusegesichts ein, und nach jedem Satz zog er die Nase hoch. Witali bedankte sich für den Tee und flüchtete ins Abteil. Dort saß die Georgierin hellwach in den Kissen. Sie reichte ihm eine gebratene Hühnerkeule.

»Das schmeckt besser als das Zeug von den Polen.«

Dabei beließ sie es. Sie ging ihm nicht mit Geschwätz auf die Nerven, denn sie sprach kaum Russisch. Doch sie duldete nicht, daß er nichts aß, und das Tischchen durfte sich nicht leeren, also häufte sie Hähnchenfleisch in Nußsauce auf gefüllte Auberginen und Käsebrote und fütterte ihn, bis es dunkel wurde. Er schlug sich den Bauch voll, sie platzte fast vor Lachen, drückte ihn an ihre Brust, nahm ihre Taschen und verließ den Zug mitten in der Nacht.

Berlin, nichts davon war zu sehen. Nicht nur wegen der Dunkelheit. Hinter dem schmutzigen Fenster mit den Baumwollvorhängen war vor zwölf Stunden auch Warschau unbemerkt vorbeigeglitten. Ein paar Leute waren ausgestiegen, aber niemand war zugestiegen. Der staubige Koloß mit den roten Sternen an den Flanken stampfte durch das vereinte Deutschland, doch drinnen trank Witali Tee aus einem Glas in einem versilberten Halter, auf dem der Kreml als Mittelpunkt des Kosmos abgebildet war. Das alte Radio über der Tür schwieg, würde aber sicher jeden Moment ausrufen: »Hier spricht Moskau!« Die Georgierin hatte einen vollen Abfallbehälter zurückgelassen, der das Abteil nach Datscha riechen ließ. Solange er diesen ganzen Sowjetkram um sich hatte, würde er keine Grenze überschreiten, jedenfalls sah es so aus.

Er starrte eine Weile auf das schwarze Fenster. Sein Buch, Erzählungen von Bulgakow, hatte er mehrmals aufgeschlagen, um dieselbe Seite noch einmal zu lesen. Von Zeit zu Zeit klappte er die Sitzbank hoch und inspizierte den Inhalt seines Koffers. Jeans, Pullover, zwei Hemden, vier Paar Socken, Turnschuhe. Er fragte sich, ob er mit dieser Kleidung in Amsterdam nicht zu sehr auffallen würde. Den Reisepaß steckte er in ein Seitenfach, zu der Zollerklärung und dem Bahnticket. Zwischen den Hemden fand er (wieder in so einer ausgewaschenen Plastiktüte) eine Schachtel. Seine Mutter hatte einen Zettel mit der Telefonnummer seines Cousins Ilja daran befestigt.

An dem wackligen Küchentisch hatte sie sie aufgeschrieben, einen Ellbogen zwischen den Blättern des Adreßbüchleins, die Augen zusammengekniffen wegen des weißen Lichts, das von den gekachelten Häusern gegenüber in die Küche fiel. Den Drahtrundfunkempfänger hatte sie abgestellt. Als sie fertig war, blätterte sie noch eine Weile in dem Adreßbuch. Das Geräusch des aussetzenden Kühlschranks, der sich wie ein nasser Hund schüttelte, durchbrach die Stille.

»So«, hatte sie gesagt. Sie hatte beschlossen, nicht zu weinen. »Er muß dir helfen. Ljuda hat versprochen, ihn anzurufen, bevor du fährst.«

Ilja stammte aus einer früheren Ehe seiner Tante. Bevor sie das große Los gezogen hatte mit Onkel Kolja (kein Trinker/ Wohnung/Auto/Garage/Datscha), hatte sie ein Techtelmechtel mit einem Künstler gehabt. Daraus war Ilja hervorgegangen. Alles, was an Ilja anders war, wurde dem »Künstler« zugeschrieben, obwohl der sich seit Iljas Geburt nicht mehr hatte blicken lassen. Die roten Locken hatte er mit Sicherheit von seinem Erzeuger, denn der Rest der Familie hatte das üppige pechschwarze Pferdehaar von einem tatarischen Großvater geerbt. Daß Ilja sich idiotisch herausputzte, mit Klamotten aus dem Leihhaus, hatte er auch von dem Künstler. Er war unhöflich zu den Mädchen, verscheuchte sie mit grimmigen Witzen. Um den Dienst in der Armee hatte er sich gedrückt, indem er den Verrückten spielte. Statt dem Vaterland zu dienen, war er nach Sankt Petersburg gezogen, das damals in seinen letzten Jahren als Leningrad die Aktionen des ungeduldigen Undergrounds erlebte. Dort schuf er Wandmalereien im Innenhof der Puschkinstraße 10, im Café Saigon und im Tam-Tam-Club, dem Krawall-Tempel. An allem war der Künstler schuld. Niemand hatte je erfahren, welche Art von Künstler Iljas Vater gewesen war. Ilja selbst meinte, er sei nichts weiter als ein Holzwerker, der dekorative Schneidebretter für die kleinen Volkskunstläden anfertigte. Der eigentliche Künstler in der Familie war er, Ilja, der vor seiner Abreise in die Niederlande noch einmal nach Gorki zurückgekommen war, um ein paar Sachen mitzunehmen und sich über das, was er zurückließ, lustig zu machen.

Witali öffnete die Schachtel, die Tante Ljuda ihm für ihren Sohn mitgegeben hatte. Sie enthielt einen Brief, den er nicht lesen wollte, eine Blisterpackung mit Tabletten und ein rotes Tuch, das sich beim Auseinanderfalten als Pionierhalstuch erwies. Witali erinnerte sich an ein Foto von Ilja im Pionierlager. Er schien sich dort pudelwohl gefühlt zu haben, dieser Bubi mit dem breiten Grinsen. Facht die Lagerfeuer an, wir sind die Kinder der Arbeiter!

»Was blieb mir anderes übrig?« sagte er später. »Ich mußte ja den verdammten Eid schwören!«

Es war schon spät. Als Witali die Stirn durch sein Spiegelbild hindurch ans Fenster preßte, sah er draußen Signalmasten. In der dunklen Einöde wirkten sie so überflüssig, daß es ihn nicht gewundert hätte, wenn sie in Wirklichkeit Attrappen gewesen wären, die an einem Stock rasend schnell hin und her bewegt wurden, während der Zug die ganze Zeit stillstand.

Die Niederlande tauchten am Morgen auf. Eine Frau bei den Toiletten machte ihn darauf aufmerksam. Sie deutete mit dem Kopf auf eine Gegend mit kleinen Gemüsegärten und Holzschuppen: »Die Holländer kriegen nur ein paar Quadratmeter vom Staat.«

Witali nahm seinen Koffer und wartete auf Amsterdam. Er sah regennasse Äcker, Dörfer mit bimmelnden Bahnschranken, knallrote Briefkästen, leuchtendgelbe Züge auf dem Nachbargleis und ein mittelalterliches Tor in einer Stadt mit einem Namen, der sich wie Amsterdam anhörte, es aber nicht war. Er traute sich nicht, die anderen Passagiere zu fragen. In seinem Waggon waren noch sechs Leute übrig, sie standen mit ihren Koffern im Gang, jeder wich den Blicken der anderen aus und versuchte so zu tun, als sei für ihn alles Routine. Von der ausgelassenen Stimmung, mit der sie am Vortag die polnischen Butterbrote miteinander geteilt hatten, war nichts mehr zu merken. Der Schaffner war seit der deutschen Grenze spurlos verschwunden, die Tür des Kabuffs mit dem Samowar hatte er offengelassen. Erst eine Dreiviertelstunde später, als sich der Zug ruckelnd und ächzend der Endstation näherte, kam er hinter einem Türspalt zum Vorschein. Auf dem Bahnhof entriegelte er die Tür und trat das Trittbrett hinunter. Als Witali sich beim Aussteigen von ihm verabschiedete, spuckte er nur auf den Boden.

3

Hoek van Holland war tatsächlich die Endstation. Mit kreischenden Bremsen war der Zug am Rand der Nordsee zum Stehen gekommen. Die grüne Lok war in Berlin durch ein seltsam kurzes, gelbes Fahrzeug niederländischer Bauart ersetzt worden. Von den russischen Waggons waren nur zwei übrig, angekoppelt an einige deutsche Wagen. Der »Rollende Russe«, so wurde der Moskau-Expreß in den Niederlanden genannt. Dreißig Jahre lang bekamen die deutschen und niederländischen Zollbeamten keinen Fuß in die Türen der verriegelten Waggons; was darin transportiert wurde, hat niemand je erfahren. Als die Sowjetunion nicht mehr existierte, blieben auch die Zahlungen für die niederländische Lok aus. Darum durfte der Rollende Russe künftig nur noch bis Warschau fahren. Die Strecke wurde Ende Mai 1993 eingestellt, kurz nach Witalis Reise – er war einer der letzten Passagiere.

Der Bahnhof Hoek van Holland sah eher aus wie eine alte Fabrik, mit seinen braunen Backsteinmauern, den leblosen kleinen Fenstern und den Gleisen, die vor einem Mäuerchen endeten. Die Passagiere hatten dort nichts zu suchen. Sie gingen gleich weiter zum Terminal, wo hinter gläsernen Schiebetüren die Fähre nach England angelegt hatte, gigantisch und glänzend weiß, wie ein gestrandeter Pottwal. Witali lief über den Deich, an einem kleinen Hafen mit Schubbooten entlang. Aus dem Wasser streckten sich Tentakel von Kränen, an Land ragten zwei Leuchttürme auf, an den Deichrand duckten sich kleine Häuser. Die Bewohner hatten Schiffsanker und Rettungsbojen in ihren Gärten aufgestellt, und an der Innenseite der Fenster klebten Fotos von Hunden. Kein Mensch war zu sehen. Nur am Ende, auf der Kreuzung, ein Hüne aus Bronze, ein sozialrealistischer Riese in Regenmantel und Schaftstiefeln, den Blick auf unendlich gestellt. Und ein Wegweiser zum Meer. Harwich.

Witali merkte plötzlich, daß er todmüde war. Er sackte zu Füßen des Fischers zusammen und wurde eine Stunde später von einem Mann geweckt, der wie ein Briefträger aussah, sich jedoch als Polizist entpuppte. Nach einem Zusammenspiel von aufmunterndem Schulterklopfen, einem Funksprechgerät und einer Sprache mit vielen lebhaft klingenden Lauten, die wohl Niederländisch sein mußte, erschien am Nachmittag, wie ein Geschenk des Himmels, ein fluchender Ilja auf dem Bahnsteig von Hoek van Holland.

»Penner!« rief er schon von weitem. Er fuchtelte mit beiden Händen in der Luft herum, wie es alte Leute machen, wenn sich jemand in der Schlange vordrängelt. Witali wußte, daß Ilja sich wie ein altes Waschweib benehmen konnte. Ständig beleidigt, und dann noch diese Krähenstimme.

»Wie hast du das fertiggekriegt, du Penner? Du bist achtzig Kilometer zu weit gefahren!«

»Der Zug fuhr nicht über Amsterdam.«

»Ich faß es nicht. Was zum Teufel tun wir hier? Was ist das für ein Scheißkaff? Komm!«

Im Zug nach Amsterdam redete Ilja ohne Punkt und Komma. Äußerlich hatte er sich kaum verändert. Seine Haare waren länger geworden, die roten Locken fielen ihm bis auf die Schultern. Ständig versuchte er sie mit einer sanften Bewegung glattzustreichen. Er trug seine alte Brille, ein Ding aus Horn, das er eigentlich nie gebraucht hatte. Und dieselben Lackschuhe mit Schnallen wie zu Hause. Trotzdem war er ihm nicht vertraut. Witali sah seinen Cousin an, der einen Schwall russischen Gossenjargons in das niederländische Abteil schleuderte, der auf einem knallgrünen Sitz in einem knallgelben Zug saß und so tat, als würden sie sich kaum kennen. Als hätten sie nicht in Gorki im tanzenden Staub in einem sonnigen Zimmer auf dem Bett gelegen, die Köpfe an den Wandteppich gelehnt, und sich die Beatles vom Kassettenrekorder angehört. Als ob sie sich nicht öfter in die Augen sehen würden, wenn sie jetzt nicht durch diese fremde, haarscharf gezeichnete Landschaft führen.

»Ich sag dir eins über die Niederländer«, dozierte Ilja. »So auf den ersten Blick kommen sie einem wie sehr freundliche Riesen vor. Aber der Schein trügt. Sie haben große Füße, mit denen sie sich aufrecht halten. Nimm dich in acht, denn mit diesen großen Füßen …! Na, du weißt schon, was ich meine.«

Witali hatte keine Ahnung, was er meinte. Er umklammerte den Koffergriff und schielte auf einen Jungen und ein Mädchen auf der Bank schräg vor ihm. Das Mädchen hielt dem Jungen eine Tüte grellbunter Bonbons hin, und der Junge fischte sich, ohne hinzusehen, etwas heraus. Sie kauten und lachten, bis sie Witali bemerkten. Der wandte rasch den Blick ab. Er hatte sich seit fast einer Woche nicht mehr rasiert. Ilja war das auch aufgefallen.

»Bleibt der Bart so? Du siehst aus wie ein Gangster aus dem Kaukasus. Von denen gibt’s hier übrigens auch genug. Nur kommen sie aus der Türkei und aus Marokko.«

Der Zug fuhr an einem Platz mit glattgeschorenem Rasen vorbei, auf dem in einem Kreis in regelmäßigen Abständen Laternenpfähle standen und dazwischen Bänke und Abfalleimer. Genau in der Mitte saß ganz allein ein Mann in einem Rollstuhl.

»Kriminelle Typen, diese Türken und Marokkaner, halt dich bloß von denen fern. Ein Freund von mir, Roman, ist von einer türkischen Gang überfallen worden. Sie haben seine ganzen Bilder geklaut. Die Polizei hat sich nicht drum gekümmert.«

»Wo schlafe ich heute nacht?«

Ilja sah ihn kurz begriffsstutzig an. Dann verdrehte er wieder die Augen.

»Bei mir natürlich. Jedenfalls wenn du willst.«

»Wovon lebst du? Ich habe nur hundert Dollar. Studierst du schon an der Kunstakademie? Das hattest du doch vor, oder?«

»Mann, entspann dich. Wie lange gilt dein Visum?«

»Drei Monate.«

»Über dieselbe Agentur, von der ich meins hatte?«

»Ja. Hundertfünfzig Dollar.«

»Mensch, drei Monate legal. Den ganzen Sommer. Das mußt du ausnutzen. Ich nehm dich morgen gleich mit zu Roman, du kannst Bilder für ihn verkaufen. Er will nur Legale.«

Das war abgemacht. Danach redete Ilja übers Wetter, daß der Sommer schön werden würde, über die niederländischen Frauen, die traumhafte Ärsche hätten, über ein Fahrrad, das er für ihn organisieren würde, über Marihuana und die coole Polizei, die es selber rauchte, über Poffertjes mit Zucker, die besser seien als die Pfannkuchen, denn die gerieten den Niederländern viel zu dick. Ilja sprach lauthals weiter, als sie durch die Kakophonie der Amsterdamer Centraal Station stiefelten, er zog ihn durch einen Hafen von klingelnden Straßenbahnen, Radfahrern, Omnibussen und Menschen aller Hautfarben, an einer schwarz verrußten Kirche und einer schreienden Irren in einer Nische vorbei, durch eine Gasse, in der die Häuser aneinanderlehnten wie Zähne in einem Unterkiefer und eine verstaubte Kneipe an die andere grenzte, um die Ecke, wo Leute auf Stühlen neben einem stinkenden Wassergraben saßen und vor Lachen brüllten. Als Witali das Gefühl hatte, dies sei mehr, als er ertragen konnte, schob ihn Ilja durch die schmächtige Tür der Leiche eines Hauses, eines absackenden Gebäudes mit nach hinten geneigtem Vorsteven und verbarrikadiertem Erdgeschoß.

»Komm, wir trinken erst mal Tee. Du hast doch bestimmt von zu Hause was zum Tee mitgebracht? Schokoladenpflaumen? Bärchen im Norden? Die nicht zu verachtende, unübertroffene Kiewer Torte?«

4

Das Haus lag am Ende des Sint Olofssteeg, einer der feuchten Gassen mit windschiefen Häusern am Rand des Rotlichtviertels. Sie kreuzte den Oudezijdsachterburgwal in einem Bogen dort, wo das dunkelgrüne Wasser aus der Kolksluis an die Ufermauer schwappte. Auf einem Reliefstein an der Fassade stand, daß diese Gegend früher »Fischerviertel« geheißen hatte. Andere Verzierungen zeugten davon, daß hier Bierkrüge auf Köpfen zerschellten wie Schiffe an Wogen.

Bevor das Viertel saniert worden war, hatten niederländische und spanische Kommunisten das Haus besetzt. Sie boten Osteuropäern eine Bleibe, die nichts von diesem linken Engagement kapierten, sich jedoch im Tausch gegen ein Bett feixend auf das Spiel einließen. Das wurde, zum Mißfallen der ursprünglichen Bewohner, immer lästiger, je mehr Typen aus dem Ostblock auf der Matte standen. Mit der Loyalität junger Auswanderer untereinander luden sie sich gegenseitig ein. Gegen soviel Solidarität kamen die Kommunisten nicht an. Das Ende ließ nicht lange auf sich warten. Die Niederländer packten ihre Siebensachen zusammen, als die Stirn von Lenin auf einem DDR-Poster durch einen Weinfleck verunstaltet war, für die Spanier war das Maß voll, als der Gips-Marx von seinem Sockel gestürzt worden war (Ilja erklärte, er sei »von allein kaputtgegangen«, als Stas, ein Ukrainer, einen Nagel damit in die Wand hatte schlagen wollen). Nur die Spanierin Maria ließ sich nicht vertreiben, und das wiederum nötigte den Russen Bewunderung ab. Ilja hatte sich deshalb erst mit ihr beraten, bevor er die Sowjetflagge von der Fassade abnahm. Kurz zuvor hatte die Polizei die illegale Kneipe im Parterre geschlossen. Eigentlich hätten Hammer und Sichel sehr gut zu dem verbarrikadierten Erdgeschoß gepaßt: Umständehalber aufgelöst. Ilja benötigte das Tuch jedoch für ein Kunstwerk.

Damals gab es noch nicht viele Russen in Amsterdam. Sie konnten laut fluchen und über die Leute in der Straßenbahn herziehen. Allenfalls kamen Niederländer von der interessierten, freundlich lächelnden Sorte auf sie zu, die sich erkundigten, welche Sprache das sei, und Ilja antwortete dann immer: »Suaheli.« Zu dem Zeitpunkt, als Witali durch die schmale Eingangstür geschoben wurde, wohnten im Haus drei Russen, ein Ukrainer, die Spanierin und ein Pole. Der Pole zählte nicht. Er war fast sechzig und ließ sich den ganzen Tag nicht blicken, denn er ging arbeiten. Er hatte einen großen Schnauzbart und entsprach auch sonst in jeder Hinsicht dem Bild von einem Polen. Die Russen nannten ihn Lech Wałęsa. Er ließ sich Kartons voller Krakauer Würste aus Deutschland kommen, die ein niederländischer Postbote an der Tür ablieferte. Damit verschanzte er sich dann in seinem Zimmer. Stas, der Ukrainer, wußte, wie man das Schloß des Zimmers knacken konnte. Und so wurden die Würste, wenn Wałęsa arbeiten war, doch noch kollektiviert.

Als Witali dem Ukrainer vorgestellt wurde, reichte der ihm eine Hand voller Holzsplitter. Stas baute auf dem Dachboden mit viel Elan einen Lehnstuhl zusammen. Das war seine Arbeit. Mit einem Lastenfahrrad holte er die Wracks bei einem Tischler hinterm Albert Cuypmarkt ab, und wenn er sie repariert wieder ablieferte, wurde er gut dafür bezahlt.

»Ist das dein Bruder?« brüllte er Ilja an. »Er sieht ein ganzes Stück besser aus als du. Wiktor Zoi wie aus dem Gesicht geschnitten!«

Witali wurde öfter mit dem Popsänger verglichen, der im übrigen Halbkoreaner war. Doch wenn er zugab, daß er nicht Gitarre spielen konnte, geschweige denn so gut singen (er versuchte es nicht mal, denn es klang grausig, wenn Leute diese getragene, desolate Stimme zu imitieren versuchten), waren alle enttäuscht. Auch er konnte ihr Idol, das bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen war, nicht wieder lebendig machen.

»Hast du zufällig ein Päckchen Zigaretten in der Tasche?« fragte Stas mit einer Anspielung auf ein Lied von Zoi und seiner Band Kino. »Ich will eine rauchen.«

Als Stas sich reckte, sah Witali, was für ein Hüne er war. Auf seinen Wangen wuchs ein flachsartiger Bart. Vor einem Jahrtausend mußte es einen Waräger mit sehr durchsetzungsfähigem Blut in die Ukraine verschlagen haben. Wenn er aufrecht stand, berührte sein Kopf die Balken. Auf dem Dachboden stank es nach nassem Hund. Überall lagen Hobelspäne, Nägel, zerknülltes Zeitungspapier und Jutelappen, nur eine Ecke war sauber gefegt, für die Sachen eines Mädchens. Ein paar Schnürstiefeletten mit offenen Schuhbändern, ein Parfumflakon, eine Haarbürste, Kajalstifte in einem Glas, eine Puderdose, ein Spiegel in einem dunklen Rahmen mit einer Ansteckblume darauf. Vor dem hochgeschobenen Fenster wiegte sich eine weiße Bluse auf einem Kleiderbügel sanft im Wind. Darunter, auf der Fensterbank: sechs graubraune Totenschädel. Nach hinten gekippt, grinsten sie zur Decke. Einige hatten noch Zähne.

»Alte Holländer«, sagte Stas und streichelte über die Schädeldecken. »Lena hat sie in der Baugrube nebenan gefunden. Wie ein Hund buddelt sie nach Knochen. Was für ein Glück für die Burschen, Jahrhunderte unter der Erde und jetzt wieder an der Sonne.«

Als sie die Treppe hinunterkraxelten, flüsterte Ilja Witali zu, er solle nicht erschrecken, wenn er Lena nachts kreischen höre. Das komme hin und wieder vor. Sie rede stundenlang mit ihrem Lieblingsschädel, den sie für den von Till Eulenspiegel halte. Mitunter raste sie dabei aus. Stas versuche sie immer zu beruhigen, doch dann beschimpfe sie ihn bis in den frühen Morgen.

Ein halbes Stockwerk tiefer, hinter einer Klappluke im Treppenhaus, wohnte Tjoma aus Syktywkar. Artjemi für Außenstehende, wie er beschlossen hatte. Das kumpelhafte »Tjoma« war Freunden vorbehalten, die er allerdings nicht hatte. Witali traf ihn im Schneidersitz auf einer Matratze unter einem Yellow-Submarine-Poster an. Er kannte solche Typen und wußte im voraus, daß Tjoma eine ausgestreckte Hand mit einem Kopfnicken beantworten würde und daß er die kluge Musik von Akwarium mochte und nicht die von Wiktor Zoi. Außerdem war er sich sicher, daß Tjoma in nur fünf Minuten mindestens zweimal das Wort »Selbstverwirklichung« in den Mund nehmen würde und ebensooft das Wort »Weltanschauung«, daß er Vegetarier war, nicht wegen der Tiere, sondern weil der organism gereinigt werden müsse, daß ihm die Mädchen an den Lippen hingen, seine schönen Haare zu einem Pferdeschwanz binden wollten und ihr letztes Hemd für ihn gaben, weil er nun mal in einer völlig anderen ismerenie (Dimension) schwebte. Als Tjoma anfing, aus den Büchern des New-Age-Gurus Carlos Castaneda zu zitieren, stellte Witali zufrieden fest, daß er ihn richtig eingeschätzt hatte. Tjoma hatte auf einem Markt ein paar zugeschneite Bändchen des kalifornischen Schamanen ergattert, dessen Werk, nachdem man ihn im Westen als Pseudo-AnthropologenKunst des Träumens