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Hartmut Reiners

Krank und pleite?

Das deutsche Gesundheitssystem

Suhrkamp

medizinHuman

Herausgegeben von Dr. Bernd Hontschik

Band 12

 

 

 

 

Suhrkamp eBook Berlin 2011

Originalausgabe

© Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-74740-7

www.suhrkamp.de

Inhalt

Vorbemerkung des Herausgebers

 

Einleitung
Das Gesundheitswesen – ein besonderer Wirtschaftszweig

 

Kapitel 1
Privat oder Kasse? Merkmale und Merkwürdigkeiten des deutschen Gesundheitssystems

 

Kapitel 2
Wird Gesundheit bald unbezahlbar? Das Märchen von der Kostenexplosion

 

Kapitel 3
Jammern auf hohem Niveau? Der Streit ums Geld für Ärzte, Krankenhäuser und die Arzneimittel

 

Kapitel 4
Kopfpauschale statt einkommensabhängiger Beiträge? Die Schäden der Privatisierung gesundheitlicher Risiken

 

Kapitel 5
Die Baustellen einer solidarischen Gesundheitspolitik

 

Anhang

Vorbemerkung des Herausgebers

Der Gesetzestext der neuesten, der achten Gesundheitsreform in den letzten zwanzig Jahren ist noch nicht ganz trocken, da wird schon über die nächste diskutiert. Und alle reden mit: Spitzenmedizin für jeden mache das Gesundheitswesen zunehmend unbezahlbar, die Menschen lebten immer länger und verursachten dadurch immer mehr Kosten im Gesundheitswesen, die hohen Lohnnebenkosten seien eine Gefahr für den Standort Deutschland und seine Arbeitsplätze, der wissenschaftliche Fortschritt werde zunehmend unbezahlbar, die Krankenkassenleistungen würden von wenigen skrupellosen Patienten ständig missbraucht, Doppeluntersuchungen, Doktorhopping und Anspruchsdenken trieben die Kosten immer weiter in die Höhe, die Wartezimmer seien voll mit gar nicht wirklich Kranken, und entweder die Ärzteschaft oder die Pharmaindustrie oder beide gegeneinander oder beide zusammen bedienten sich schamlos aus einem immer kleiner werdenden Topf. Kosten, Kosten, Kosten: Kostenexplosion. Und weil mächtige Lobbygruppen jede Veränderung torpedierten, würde alles immer schlimmer.

Vielleicht ist aber alles ganz anders. Vielleicht werden wir seit Jahrzehnten mit Informationen unter dem Stichwort ›Kostenexplosion‹ zugedröhnt, damit hinter dieser Nebelwand eine ganz andere Explosion stattfinden kann, unauffällig, geräuschlos und Zug um Zug. Da braucht es dringend ein Buch, das den Vorhang vor all den Mythen, Verdrehungen und Lügen zur Seite schiebt. Es stellt sich nämlich die Frage, was da eigentlich stattfindet, hinter den Kulissen. Und dabei kommt dann ein grundsätzlicher Bruch mit der bisherigen Grundvereinbarung in unserer Gesellschaft zum Vorschein, ein Paradigmenwechsel.

Während bislang das Gesundheitswesen zu den Bereichen unseres Gemeinwesens gehörte, in das wir einen Teil unseres Reichtums zum Vorteil für alle Bürger stecken – seit Jahrzehnten konstant und ohne jede Explosion circa zehn bis elf Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes –, so steuern wir seit wenigen Jahren mit zunehmender Geschwindigkeit auf eine Gesundheitswirtschaft zu. Da wird nichts mehr hineingesteckt zum Wohle aller, sondern da wird investiert, zum Wohle ganz weniger. Investiert wird nur dort, wo mehr herauskommen kann als hinein. Das nennt man Rendite. Aus Ärzten und Krankenhäusern werden Leistungsanbieter, aus Patienten werden Kunden, aus der medizinischen Tätigkeit wird eine Ware, und alles zusammen findet auf einem ›Gesundheitsmarkt‹ statt, dem neuen Goldenen Kalb, das 250 Milliarden Euro schwer ist. Investoren kaufen Krankenhäuser und Arztpraxen, deren Angebot wird nach der Bezahlung umstrukturiert und nicht an medizinischen Kriterien oder Bedürftigkeit orientiert; und am besten funktioniert dieses Prinzip, wenn ein Konzern sich von oben nach unten, sozusagen einmal vertikal, durchkauft: Krankenversicherung, Krankenhäuser, Arztpraxen und Medizinische Versorgungszentren, Medikamentenproduktion und Apotheken, Herstellung und Vertrieb von Hilfsmitteln, Rehabilitationseinrichtungen, alles in einer Hand. Da lässt sich ein Patient profitabel durchschleusen, die Fälle werden ›gemanagt‹, die Behandlungen finden in den Korridoren der Leitlinien statt, auch die Qualität wird ›gemanagt‹, wie in einer Fabrik. Und was der Rendite im Wege steht, wird nicht angeboten. Das liest sich wie eine Horrorvision. Ist es auch – und zunehmend die Realität in unserem Land.

Um das alles zu verstehen, braucht man Informationen und Faktenwissen. Es ist ein Glücksfall, dass mit Hartmut Reiners ein ökonomisch und politisch erfahrener Autor gewonnen werden konnte, der die Problemstellungen unseres Gesundheitswesens seit Jahrzehnten von innen her kennt. Hartmut Reiners wurde vor mehr als zehn Jahren durch seine Mitarbeit an dem längst vergriffenen Bestseller »Das Märchen von der Kostenexplosion« bekannt. Für den hier vorliegenden Band 12 der Reihe medizinHuman hat er seine Erfahrungen und sein Wissen zur Verfügung gestellt, sogar noch die tiefgreifenden Gesetzesänderungen vom November 2010 eingearbeitet. So ist ein brandaktueller Text entstanden, an dem keine seriöse gesundheitspolitische Debatte vorbeikommen kann.

Was steht einer Humanmedizin eigentlich im Wege, die den Menschen als Lebewesen in all seinen Wirklichkeiten und nicht als defekte Maschine behandelt? Was, außer den Partikularinteressen mächtiger Lobbygruppen, verhindert eine Gesundheitspolitik, die eine funktionierende Solidarität des Gemeinwesens den wirtschaftlichen Profitinteressen weniger voranstellt? Die Lösungen, die wissenschaftlichen, medizinischen und die ökonomischen, politischen Konzepte gibt es längst. Sie sind in der Reihe medizinHuman zu finden, die den Anspruch hat, mit jedem einzelnen ihrer Bücher und in ihrer Gesamtheit Theorie und Praxis der Humanmedizin und die politischen Rahmenbedingungen einer sozialen Gesundheitsökonomie miteinander zu verbinden.

 

Im Dezember 2010
Bernd Hontschik

Einleitung: Das Gesundheitswesen – ein besonderer Wirtschaftszweig

Einleitung

Das Gesundheitswesen –
ein besonderer Wirtschaftszweig

Die Probleme und Mängel unseres Gesundheitssystems sind seit jeher ein beliebtes Thema in den deutschen Medien. Berichte über »kranke Kassen« (Süddeutsche Zeitung, 14. 6. 2010) oder ein »krankes System« (Spiegel-Online, 9. 9. 2010) vermitteln den Eindruck, als hätten wir eine marode medizinische Versorgung. Sind ein paar Krankenkassen in eine wirtschaftliche Schieflage geraten, droht gleich eine »Pleitewelle« (Kölner Stadt-Anzeiger, 14. 6. 2010). Die in jeder Legislaturperiode des Bundestages anfallenden Reformen im Gesundheitswesen werden als politisches Krisensymptom interpretiert und die Akteure in der Gesundheitspolitik als »kollektiv verantwortungslos« (Der Spiegel 27/2006) an den Pranger gestellt. Glaubt man diesen leichtfertig in Druck gegebenen Schlagzeilen, dürfte man sich kaum noch zum Arzt trauen oder sich auf die Hilfe der Krankenkassen verlassen können. Für eine solche Verunsicherung gibt es aber keinen wirklichen Anlass. Unser Gesundheitswesen ist nicht schwer erkrankt, auch wenn es schwächelt und behandlungsbedürftig ist. Sicher hat die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) finanzielle Schwierigkeiten, aber die Krankenkassen sind kein Fall für den Insolvenzverwalter. Wir haben nach wie vor, trotz ihrer nicht zu leugnenden Defizite, eine leistungsfähige medizinische Versorgung, deren Qualität sich im internationalen Vergleich durchaus sehen lassen kann. Dennoch müssen ihre Finanzierungs- und Versorgungsstrukturen dringend modernisiert werden, um den Anforderungen, die sich aus den Entwicklungen in Medizin und Demographie ergeben, gerecht zu werden. Das sind jedoch keine dramatischen Probleme, sondern prinzipiell lösbare politische Aufgaben, die sich mit spezifischen Variationen auch in anderen modernen Volkswirtschaften stellen.

Seit über 30 Jahren werden wir regelmäßig mit neuen Gesetzen zu den Strukturen und Leistungen unseres Gesundheitswesens konfrontiert, die man fälschlich »Gesundheitsreformen« nennt. Bei diesen politischen Operationen geht es vor allem um die Gesetzliche Krankenversicherung, die sich um die medizinische Versorgung kümmert, also mit der Behandlung und Bewältigung von Krankheiten zu tun hat. Was wir allgemein als Gesundheitswesen bezeichnen – Krankenkassen, Arztpraxen, Krankenhäuser usw. – ist daher eigentlich ein »Krankheitswesen«. Die Strukturprobleme dieses Systems lassen sich nicht mit einem Schlag in einer »großen« Reform lösen, sondern haben eine im Prinzip endlose Kette von Gesetzen zur Folge, die das Gesundheitswesen in einzelnen Punkten neu regulieren. Dabei geht es weniger um Ideallösungen als um Kompromisse, deren Halbherzigkeiten und Zugeständnisse an Sonderinteressen die nächste Reform bereits in sich tragen. Dieser Inkrementalismus ist kein Politikversagen, sondern Konsequenz eines komplizierten Sektors mit einer Vielzahl widerstrebender Interessen. Wer also fordert, man müsse endlich mal eine »richtige Gesundheitsreform« machen, beweist nur, dass er oder sie keine Ahnung von der Komplexität der Gesundheitspolitik hat.

Dort geht es primär um die Steuerung eines Wirtschaftszweiges, bei dem im Unterschied zu den meisten anderen Branchen Anpassungsprozesse an sich verändernde Bedingungen nicht vom Markt, sondern aus guten Gründen von der Politik bzw. dem Gesetzgeber geregelt werden. Das deutsche Gesundheitswesen erwirtschaftet mit 260 Mrd. Euro etwa 10,4% des Bruttoinlandsprodukts (BIP), der Messgröße für die erwirtschafteten Güter und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft. Mit je nach Schätzung zwischen 4,5 und 5 Millionen Arbeitsplätzen bildet es zudem die größte Dienstleistungsbranche mit einem sogar noch ausbaufähigen Jobpotenzial. Diese hohe volkswirtschaftliche Bedeutung des Gesundheitswesens ist allerdings keine deutsche Besonderheit. Ein umfassendes medizinisches Versorgungsangebot für alle Bürger gehört zu den Standards moderner Gesellschaften und wurde in der Sozialcharta der EU ausdrücklich als gemeinsames Merkmal seiner Mitgliedsstaaten festgeschrieben. In den EU-Kernländern bewegt sich der Anteil der Gesundheitsausgaben des Bruttoinlandsprodukts zwischen 8,2% (Finnland) und 11,0% (Frankreich). Ein ähnliches Niveau haben Australien, Kanada und Japan. Bei den mittel- und osteuropäischen EU-Ländern wie Polen, Tschechien oder Ungarn liegt diese Quote zwar niedriger (zwischen 6% und 7,5%), passt sich jedoch auch dort allmählich der EU-Norm an.

Es ist also nicht nur legitim, sondern absolut notwendig, das Gesundheitswesen als Erwerbszweig und nicht als Wohltätigkeitsveranstaltung zu betrachten. Mutter Teresa und Albert Schweitzer sind keine geeigneten Leitbilder für Pflegekräfte und Ärzte, die mit ihrer hohen Qualifikation gutes Geld verdienen wollen und sollen. Insofern geht die verbreitete Kritik, die Gesundheitspolitik der letzten 30 Jahre habe eine Ökonomisierung des Gesundheitswesens betrieben, an der Sache vorbei. Richtig ist aber, dass die öffentliche Diskussion über Reformen im Gesundheitswesen von einer ökonomistischen Ideologie überlagert wird, die auf die Besonderheiten dieses die Existenz und das Wohlbefinden der Menschen unmittelbar berührenden Wirtschaftszweiges keine Rücksicht nimmt. Mit der unter Ökonomen leider verbreiteten Attitüde »Wenn sich die Realität von unseren Modellen unterscheidet – Pech für die Realität!« werden Patentrezepte der Lehrbuchökonomie propagiert, die sich schon in »normalen« Märkten als nur bedingt tauglich erwiesen haben, im Medizinsystem aber völlig versagen.

So fordern manche Journalisten und Professoren mehr Wettbewerb und Eigenverantwortung im Gesundheitswesen, ohne einen Gedanken auf die erheblichen Risiken und Nebenwirkungen solcher Therapien zu verschwenden. Sie tun so, als gäbe es keinen wirklichen Unterschied zwischen einer Arztpraxis und einem Supermarkt, nur weil es sich in beiden Fällen um Erwerbsbetriebe handelt. Das Gesundheitswesen tickt jedoch ganz anders als die übrigen Wirtschaftszweige. In ihm herrscht das, was Ökonomen »Marktversagen« nennen. Das für effektive Märkte erforderliche mehr oder weniger gleichgewichtige Zusammenspiel von Angebot und zahlungsfähiger Nachfrage funktioniert hier aus verschiedenen, noch zu erläuternden Gründen nicht. Deshalb wird das Gesundheitswesen in allen modernen Gesellschaften vorwiegend mit öffentlichen Geldern finanziert und politisch reguliert. Ein gewisse Ausnahme bildet in dieser Hinsicht das US-Gesundheitswesen, das aber genau deswegen zu den teuersten und zugleich uneffektivsten der Welt gehört, wie noch zu zeigen sein wird.

Im Unterschied zur Marktsteuerung mit ihren anonymen Mechanismen einer »unsichtbaren Hand« (Adam Smith) bestimmen im Gesundheitswesen politische und damit konkreten Akteuren zuzuordnende Entscheidungen über die Ressourcenverteilung. Natürlich möchten zahlreiche Interessengruppen diesen Prozess in ihrem Sinne lenken und versuchen daher, politische Entscheidungen gezielt zu beeinflussen und die öffentliche Debatte in den Medien zu steuern. Von den knapp 2000 beim Bundestagspräsidenten akkreditierten Lobbyisten kümmern sich nach Recherchen des »Spiegel« (30/2006) weit über 400 allein um die Gesundheitspolitik. Hinzu kommen finanziell bestens ausgestattete Stiftungen und Institute, die mit mediengerecht aufgearbeiteten Meldungen und Berichten die politische Agenda zu bestimmen versuchen. Der ehemalige Sozialminister Norbert Blüm (CDU) hat dieses Phänomen schon vor über 20 Jahren mit dem Bonmot beschrieben, Gesundheitspolitik sei »Schwimmgymnastik im Haifischbecken«. Im Job aller Gesundheitsminister(-innen) ist Ärger garantiert, und der liefert dann zuverlässig und reichlich Stoff für Journalisten und Kabarettisten. Die Gesundheitsminister werden für alle möglichen Unzulänglichkeiten im Gesundheitswesen verantwortlich gemacht, selbst wenn sie im konkreten Fall keine Schuld tragen. Wenn z.B. ganze Arztgruppen sich bei der Honorarverteilung durch die Kassenärztliche Vereinigung (KV) benachteiligt fühlen, wälzen sie ihren Ärger nicht auf die dafür zuständigen, von ihnen selbst gewählten KV-Funktionäre ab, sondern stellen Horst Seehofer, Ulla Schmidt oder wer auch immer das Bundesgesundheitsministerium gerade anführt, an den Pranger. Und wenn in einer ländlichen Region Hausärzte ihre Praxis aus Altersgründen schließen und keine Nachfolger bereitstehen, dann beschweren sich die betroffenen Bürger bei der Landesregierung, obwohl diese über keine wirksamen Instrumente zur Behebung dieses Problems verfügt, weil die Sicherstellung der ambulanten Versorgung Sache der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Krankenkassen ist. Regierungsparteien können mit gesundheitspolitischen Themen Wahlen verlieren, aber nicht gewinnen, während ihre Gesundheitspolitik den Oppositionsparteien in der Regel eine Steilvorlage nach der anderen gibt. Die Gesundheitspolitiker der jeweiligen Regierungskoalition haben sogar innerhalb ihrer Parteien meist wenig Rückhalt, schon weil es bei Reformen im Gesundheitswesen um komplizierte Sachverhalte geht, die in den Wahlkreisen oft nur schwer zu vermitteln sind.

 

Für die Medien sind die Wirrnisse der Gesundheitspolitik ein gefundenes Fressen, weil sie eine gute Gelegenheit bieten, Politiker als unfähig und sich selbst als Hüter der Bürgerinteressen zu präsentieren. Talkshow-Moderatoren können sicher sein, mit diesem Thema gute Quoten zu erzielen, auch wenn dort stets dieselben als Experten vorgestellten Leute ihre ebenso beständig wiederholten Thesen verkünden: Das deutsche Gesundheitswesen sei marode, dabei könnten die Politiker doch so einfach für Ordnung sorgen, wenn sie nur auf den Rat ebendieser Fachleute hörten. Dass sich hinter scheinbaren Sachargumenten handfeste wirtschaftliche Interessen verbergen, bleibt den meisten Zuschauern verborgen. Wer weiß schon, dass z.B. Professoren, die als Anwälte von Generationengerechtigkeit auftreten und die Umlagefinanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung schrittweise durch ein Kapitaldeckungsverfahren ersetzen möchten, Institute leiten, die von Aufträgen der von einem solchen Ansparsystem profitierenden Finanzwirtschaft leben? Oder dass Pharma- und Medizingerätefirmen als Patientenverbände firmierende Organisationen sponsern, um ihre Produkte in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung zu drängen? Interessenvertreter präsentieren sich immer als Vollstrecker des Allgemeinwohls. Ärzteverbände und Krankenhausträger fordern natürlich nur deshalb mehr Geld, weil sie sonst die Versorgung der Patienten in Gefahr sehen. Die Pharmakonzerne denken bei ihrer Preispolitik selbstverständlich nicht an ihren Aktienkurs, sondern benötigen ihre überhöhten Gewinnspannen einzig und allein für die Forschung im Dienste der Menschheit. Die Arbeitgeber wollen ihren Anteil an der Krankenversicherungsfinanzierung nicht reduzieren, um Lohnkosten zu sparen, sondern um den Standort Deutschland zu sichern. Politiker vertreten immer das Gemeinwohl und nicht ihre jeweilige Klientel oder parteipolitische Interessen. Und stets werden die Patienten mit hohlem Pathos in den Mittelpunkt gestellt, wo sie eigentlich nur im Weg stehen.

 

Selbst für den gut informierten Leser von »FAZ« oder »Süddeutscher Zeitung« ist das die Gesundheitspolitik bestimmende Geflecht von Rechtsnormen, ordnungspolitischen Grundsätzen, politischer Verantwortung, wirtschaftlichen Interessen und Ideologien kaum zu durchschauen. Die meisten Bürger haben keine Ahnung, wofür ihre Krankenkassenbeiträge genau verwendet werden. Diese Unkenntnis spiegelt sich in Umfragen wieder, in denen Meinungen zur Gesundheitspolitik erkundet werden. Im ZDF-Politikbarometer vom 16. 7. 2010 sahen 82% der Befragten das größte Einsparpotenzial bei den Verwaltungskosten der Krankenkassen, die aber nur 5 bis 6% ihrer Ausgaben ausmachen und bereits einer Begrenzung unterliegen. Weitere 68% der Befragten machten das Verhalten der Versicherten verantwortlich, von denen tatsächlich aber nur 20% über 80% der Ausgaben auf sich ziehen, allesamt schwer oder chronisch Kranke, die selbst kaum Einfluss auf die Behandlungsabläufe nehmen können. Bei den zentralen Versorgungsinstanzen hingegen, den Ärzten und Krankenhäusern, sehen nur 24 bzw. 26% der Befragten ein relevantes Einsparpotenzial. Der Gesundheitsmonitor der Bertelsmann Stiftung förderte – ebenfalls im Juli 2010 – zutage, dass auch Bürger, die sich für gut informiert halten, diesen Fehleinschätzungen unterliegen.

 

In diesen Erhebungen spiegelt sich die eigentlich erfreuliche Tatsache wieder, dass die meisten Deutschen nur über ihre Krankenkasse und den Hausarzt regelmäßigen Kontakt mit dem Gesundheitswesen haben. Die Kassen machen sich durch steigende Beiträge auf dem Gehaltsstreifen bemerkbar, und die Wartezimmer scheinen mit Rentnern gefüllt zu sein, die eher einen Seelsorger oder Sozialarbeiter als einen Arzt benötigen. Diese Alltagserfahrungen erwecken den Eindruck, dass man genau an diesen Stellen auch am meisten sparen könnte. Das aber ist ein großer Irrtum.

 

Mit dem vorliegenden Buch möchte ich politisch interessierten Lesern einen Einblick in die Grundzusammenhänge der deutschen Gesundheitspolitik geben, damit sie in Zukunft besser verstehen können, worüber sich Politiker, Publizisten und Funktionäre des Gesundheitswesens bei Anne Will, Maybrit Illner oder Frank Plasberg eigentlich streiten. Das ist ein anspruchsvolles Unterfangen, weil wir eines der kompliziertesten Gesundheitssysteme der Welt haben, in dem auch Fachleute leicht den Überblick verlieren können. Die Gesetzessammlungen zum Gesundheitswesen enthalten Bestimmungen aus acht verschiedenen Sozialgesetzbüchern sowie zahlreiche weitere Gesetze und Rechtsverordnungen wie etwa das Krankenhausfinanzierungsgesetz oder die Arzneimittelpreisverordnung. Einen solchen Reichtum an Rechtsvorschriften kennt kein anderes Gesundheitswesen. Die Trennung in Private und Gesetzliche Krankenversicherung, das System von 160 miteinander konkurrierenden, gleichwohl dem Gemeinwohl verpflichteten Krankenkassen, die strikte Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung sowie das ordnungspolitische Prinzip der Selbstverwaltung erfordern zahlreiche Rechtsnormen für Angelegenheiten, die in anderen Gesundheitssystemen per Regierungsdekret erledigt werden, wenn es dort überhaupt entsprechenden Regelungsbedarf gibt. So kennt man auch nur in Deutschland eine eigenständige Sozialgerichtsbarkeit.

Das deutsche Gesundheitswesen hat drei ordnungspolitische Merkmale, die es in dieser Zusammenstellung sonst nirgendwo gibt und die die Gesundheitspolitik bei uns so kompliziert machen. Diese Besonderheiten werde ich im ersten Kapitel erläutern. Zum einen leistet Deutschland sich als einziges europäisches Land ein duales System von Privater und Gesetzlicher Krankenversicherung, das aus sozialer wie aus ökonomischer Sicht keinen Sinn macht. Daraus ergeben sich ebenso spezielle Probleme wie aus der zweiten Besonderheit unseres GKV-Systems, seiner Gliederung in konkurrierende Kassen, die es sonst nur noch in den Niederlanden und der Schweiz gibt. Ein solcher Kassenwettbewerb bedarf besonderer Regulierungen, um keine selbstzerstörerischen Kräfte zu entwickeln. Eine dritte Spezialität ist die Delegation von Aufgaben an die gemeinsame Selbstverwaltung der Institutionen des Gesundheitswesens, die in anderen Gesundheitssystemen von Regierungsbehörden wahrgenommen werden. Dazu gehören die Konkretisierung des im Gesetz nur allgemein festgelegten Leistungsrahmens der Gesetzlichen Krankenversicherung, die Sicherstellung der ambulanten Versorgung sowie die vertragliche Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben für die Vergütungen der Ärzte, Krankenhäuser und Apotheken bzw. Arzneimittelhersteller.

Im zweiten Kapitel werde ich den Fragen nachgehen, weshalb die Krankenkassen immer höhere Beitragssätze erheben und ob wir damit rechnen müssen, dass unser GKV-System wegen der demographischen Entwicklung und des medizinischen Fortschritts in absehbarer Zeit nicht mehr finanzierbar sein wird. Dazu gibt es zahlreiche düstere Szenarien, die eines gemeinsam haben: Sie beruhen eher auf Spekulationen als auf wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen. Keine Frage, hier gibt es Probleme. Für deren Lösung stehen dem deutschen Gesundheitswesen aber mittlerweile Instrumente zur Verfügung, die nur noch effektiv genutzt werden müssen. Die so hart gescholtenen GKV-Reformen von 2003 und 2007 haben in Fragen der Qualitätssicherung und der Umsetzung des medizinischen Fortschritts Verbesserungen gebracht, auch wenn es in der Praxis noch viele Umsetzungsprobleme gibt.

Das wohl schwierigste und konfliktreichste Thema der Gesundheitspolitik ist die Vergütung der Ärzte, Krankenhäuser und Arzneimittelhersteller, um die es im dritten Kapitel gehen soll. Hier bewegen sich die Reformen in einer Endlosschleife, die sich vor allem um das Spannungsverhältnis von Mengen und Preisen dreht. Unsere Ärztinnen und Ärzte verdienen gutes Geld und haben ein Durchschnittseinkommen, von dem die meisten Akademiker nur träumen können. Aber das Honorierungssystem ist völlig intransparent und wird nur noch von wenigen Fachleuten wirklich verstanden. Dennoch werde ich versuchen, zumindest die wesentlichen Abläufe bei der Verteilung der für die Kassenärzte, Krankenhäuser und die Arzneimittelversorgung vorgesehenen Budgets der Krankenkassen darzustellen.

Kapitel 4 beschäftigt sich mit den Finanzierungsproblemen der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Streitfrage, ob ihre solidarische Umlagefinanzierung überhaupt noch funktionieren kann. Zu diesem System werden in der Öffentlichkeit eine Reihe von Alternativen diskutiert, wie z.B. die Einführung einer Kopfpauschale, die Umstellung der GKV-Finanzierung auf ein Kapitaldeckungssystem oder die Erhöhung von Zuzahlungen der Patienten. Diese Privatisierungen gesundheitlicher Risiken sind jedoch nicht nur unsozial, sie bieten auch keine nachhaltige ökonomische Perspektive, weil sie die Ausgabenzuwächse der Krankenkassen einer wirksamen Kontrolle entziehen und auf die Versicherten abwälzen. Außerdem basieren sie auf der falschen Behauptung, steigende Arbeitgeberbeiträge seien eine Wachstumsbremse und gefährdeten die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Dieses substanzlose Dogma prägt auch die Politik der gegenwärtigen Bundesregierung. Ihr GKV-Finanzierungsgesetz (GKV-FinG) höhlt die Finanzgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung schrittweise aus, anstatt sie nachhaltig zu sichern.

Im fünften Kapitel beschäftige ich mich mit Alternativen zur Gesundheitspolitik der gegenwärtigen schwarz-gelben Koalition. Dazu werde ich drei Reformprojekte skizzieren, die angepackt werden müssen, um auch in Zukunft für alle Bürger eine bezahlbare und gute medizinische Versorgung sicherstellen zu können. Zum einen kann dies nur ein einheitliches und solidarisches Krankenversicherungssystem für die gesamte Bevölkerung gewährleisten. Ferner müssen die medizinischen Versorgungsstrukturen modernisiert werden. Ohne eine gezielte Förderung der hausärztlichen Versorgung, der Integration ambulanter und stationärer Einrichtungen sowie der Kooperation von Ärzten mit nichtärztlichen Berufen des Gesundheits- und Sozialwesens werden wir weder die Versorgungslücken in ländlichen Regionen schließen noch die sich aus der demographischen Entwicklung ergebenden Anforderungen bewältigen können. Diese Aufgabe steht in direktem Zusammenhang mit einer Neuordnung der Zuständigkeiten für die Bedarfsplanung und Sicherstellung der Versorgung. Diese Projekte stoßen jedes für sich auf ein komplexes politisches Entscheidungssystem mit vielen Fallstricken, die man kennen muss, um Reformen durchsetzen zu können. Dazu bedarf es eines langen Atems und einer hohen Frustrationstoleranz, da es nur selten gelingt, auch allgemein als sinnvoll anerkannte Reformprojekte im ersten Anlauf durchzusetzen. Es gilt der Grundsatz »Nach der Reform ist vor der Reform«.

Kapitel 1

Privat oder Kasse?

Merkmale und Merkwürdigkeiten
des deutschen Gesundheitssystems

Das deutsche Gesundheitssystem im internationalen Vergleich

Unser Gesundheitswesen basiert auf einem dualen Krankenversicherungssystem. Zwar unterliegen erst seit 2008 alle Einwohner einer allgemeinen Krankenversicherungspflicht, doch auch vorher waren bereits so gut wie alle Bürger krankenversichert, 90% in einer gesetzlichen (GKV), die restlichen 10% in einer privaten Krankenversicherung (PKV). Diese ökonomisch wie sozial nicht begründbare Trennung der Bevölkerung in Kassen- und Privatpatienten ist in Europa ein Unikum. Überhaupt weist unser Gesundheitswesen im Vergleich zu denen anderer europäischer Länder eine Reihe von Besonderheiten auf. Nur in einem Punkt stimmt es mit ihnen überein: Es wird vorwiegend öffentlich finanziert. Dieser für so gut wie alle hochentwickelten Länder geltende Sachverhalt ist, obzwar das Ergebnis politischer Entscheidungen, alternativlos, wenn der für Zivilgesellschaften selbstverständliche Anspruch erfüllt werden soll, allen Bürgern den Zugang zu einer angemessenen medizinischen Versorgung zu garantieren. Das Gesundheitswesen ist nun einmal ein besonderer Wirtschaftszweig, der anders funktioniert als andere Branchen und für die Marktwirtschaft nicht taugt, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.

In Europa werden nach Angaben der internationalen Wirtschaftsorganisation OECD zwischen 70 und 80% der Gesundheitsausgaben aus öffentlichen Geldern (Steuern und Sozialabgaben) finanziert. Der Rest wird von privaten Haushalten in Form von Zuzahlungen zu den öffentlichen Leistungen, Versicherungsprämien oder Barzahlungen getragen. Auch Länder wie Australien, Kanada oder Japan liegen auf diesem Niveau, wie die nachstehende Tabelle zeigt. Allerdings ist es in den einzelnen Ländern nicht immer einfach, die privaten von den öffentlichen Ausgaben abzugrenzen. Die für internationale Vergleiche üblicherweise verwendeten Daten der OECD setzen die öffentliche Finanzierungsquote der Gesundheitsausgaben eher zu niedrig als zu hoch an, wie folgende Beispiele zeigen:

Gesundheitsausgaben im internationalen Vergleich (2007)

LandGesundheitsausgaben
in % des BIPpro Kopf in USD*Öffentl. Ausg. in %
USA16,0729045,4
Frankreich11,0360179,0
Schweiz10,8441759,3
Deutschland10,4358876,9
Kanada10,1389570,0
Niederlande9,83837N. N.**
Schweden9,1332381,7
Italien8,7268676,5
Australien8,7376376,4
Großbritannien8,4299281,7
Japan8,1258181,3
Polen6,4103570,8

* Nach Kaufkraftparität gewichtet

** Letzte Angaben für 2002: 62,5%

Quelle: OECD Health Data 2010, eigene Zusammenstellung

Die OECD-Daten zeigen, dass das deutsche Gesundheitswesen zwar eines der finanziell am besten ausgestatteten, aber keineswegs das teuerste Europas ist, wie man gelegentlich lesen kann. Zwar ist der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei uns relativ hoch, aber das ist eine nur bedingt geeignete Messlatte für internationale Vergleiche, weil in sie auch die allgemeine Wirtschaftskraft eines Landes einfließt. Australien z.B. hat höhere Gesundheitsausgaben pro Kopf als Deutschland, aber eine deutlich niedrigere BIP-Quote, weil es eine höhere Wertschöpfung pro Einwohner aufweist. Bei den Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit liegt Deutschland etwa auf gleichem Niveau mit Frankreich, den Niederlanden oder Schweden. Ebenso wenig ist die Höhe der Gesundheitsausgaben ein Indikator für die Qualität eines Gesundheitssystems, wie auch die OECD betont. Die USA z.B. geben pro Kopf doppelt so viel für ihr Gesundheitswesen aus wie Deutschland oder Frankreich, insgesamt 16% ihres BIP. Und dennoch ist dies kein Zeichen einer besonders guten medizinischen Versorgung, sondern Ausdruck einer bizarren Kombination von Mangel und Verschwendung.

In den USA kommen neben dem Militär nur die über 65-Jährigen in der staatlichen Krankenversicherung »Medicare« sowie Behinderte und Sozialhilfeempfänger über das ebenfalls staatliche Programm »Medicaid« in den Genuss einer öffentlich finanzierten Absicherung von Krankheitsrisiken. Etwa 50% der US-Bürger haben eine von ihren Arbeitgebern für die gesamte Belegschaft abgeschlossene Krankenversicherung von sehr unterschiedlichem Umfang, je nach Bundesstaat und Unternehmen. 15% der Bevölkerung hatten bis zu Obamas Gesundheitsreform überhaupt keinen Krankenversicherungsschutz. Weitere geschätzte 20% sind in riskanter Weise unterversichert, was sich insbesondere in den mittleren Einkommensgruppen zu einem schwerwiegenden Problem entwickelt hat. Immer mehr US-Bürger können sich wegen ihrer hohen gesundheitlichen Risiken keine Krankenversicherung mehr leisten oder müssen sich deshalb verschulden. Schwere Krankheitsfälle in der Familie sind in den USA der häufigste Grund für Privatinsolvenzen, die auch gut situierte Personen treffen können, wenn Behandlungskosten von 100000 US-Dollar und mehr anfallen. Da die Krankenhäuser die Rechnungen bei den entsprechenden Patienten oft gar nicht oder nur teilweise eintreiben können, fließen diese Fehlbeträge in die Gesamtkalkulation der Leistungsvergütungen ein, eine sehr irrationale Form der Umverteilungsfinanzierung.

Das ist einer der Gründe, wenngleich nicht der wichtigste, die das amerikanische Gesundheitswesen zum mit Abstand teuersten der Welt machen (siehe Tabelle). Die Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheitsleistungen sind dort doppelt so hoch wie in Deutschland und fast drei Mal so hoch wie in Japan. Eine Studie des Commonwealth Fund, eines der größten Sozialforschungseinrichtungen der USA, aus dem Jahr 2007 zeigt, dass in den USA die Krankenhausaufenthalte pro Tag vier Mal so teuer, die Krankenhaus-Fallkosten um 140% und die Arzneimittelausgaben pro Kopf um 67% höher sind als in Deutschland, und nach einer Untersuchung der OECD liegen auch die Ausgaben für ambulante Behandlungen in den USA drei Mal so hoch wie in Deutschland, Frankreich oder Japan. Außerdem betragen die Verwaltungskosten mehr als das Doppelte vom Durchschnitt der OECD-Länder.

Ein Grund für das hohe Kostenniveau des US-Gesundheitswesens liegt darin, dass die »overhead costs« mit zunehmender Deregulierung und Privatisierung erfahrungsgemäß eher steigen als fallen. Und die OECD nennt noch eine zweite, bedeutsamere Ursache: In den USA gibt es im Unterschied zu den öffentlich finanzierten und regulierten Gesundheitssystemen Europas, Kanadas, Australiens und Japans keine wirklich effektiven Preis- und Mengenkontrollen für medizinische Leistungen. Ohne solche Steuerungsinstrumente geraten die Ausgaben für Ärzte, Krankenhäuser und Arzneimittel jedoch aus den Fugen. Das gilt prinzipiell für jedes Gesundheitswesen dieser Welt, nur verfügen die öffentlichen Gesundheitssysteme über mehr oder weniger wirksame politische Eingriffsmöglichkeiten.

Marktversagen im Gesundheitswesen

Die Tatsache, dass das Gesundheitswesen in hochentwickelten Ländern überwiegend aus öffentlicher Hand finanziert wird, hat soziale, aber auch ökonomische Gründe. Die Absicherung finanzieller Risiken im Krankheitsfall gehört zu den Standards moderner Gesellschaften. Kein ernst zu nehmender Politiker oder Wissenschaftler wird das bestreiten. Selbst der bekennende Feind des Sozialstaats Friedrich A. von Hayek, ein Stammvater des Neoliberalismus und Hausheiliger Maggie Thatchers, hielt eine allgemeine Krankenversicherungspflicht schon deshalb für notwendig, weil sonst viele Menschen, wie er meinte, »der Allgemeinheit zur Last fielen«. Hayek schwebte dabei vermutlich keine soziale, sondern eher eine private Krankenversicherung vor. Das Problem ist nur, dass sich viele Menschen eine nach gesundheitlichen Risiken kalkulierte private Krankenversicherung gar nicht oder nur mit staatlichen Zuschüssen leisten könnten. Zudem herrscht im Gesundheitswesen ein Marktversagen, das ohne politische Eingriffe zu sozialen Verwerfungen und überhöhten Ausgaben führt. Dafür sind zwei grundlegende Sachverhalte verantwortlich: die ungleichen Gesundheitschancen in der Bevölkerung und die wirtschaftliche Dominanz der Anbieter medizinischer Leistungen.

Die Chancen, gesund zu bleiben und Krankheiten zu bewältigen, sind grundsätzlich von zwei Faktoren abhängig, die vom Individuum gar nicht oder nur in geringem Maß zu beeinflussen sind: den genetischen Anlagen und den sozialen Chancen. Nicht alle Raucher haben eine verkürzte Lebenserwartung, wie die Beispiele Helmut Schmidt und Winston Churchill zeigen. Das liegt nicht allein an den Genen. Bevölkerungsgruppen mit gehobenem Bildungs- bzw. Einkommensniveau haben in allen Lebensphasen einen deutlich besseren Gesundheitszustand und eine höhere durchschnittliche Lebenserwartung als Gruppen mit einem niedrigeren Sozialstatus. Kaum ein anderes sozialmedizinisches Problem ist empirisch so gut belegt. So stellt die Gesundheitsberichterstattung des Bundes fest: »Leiden wie Schlaganfall, chronische Bronchitis, Schwindel, Rückenschmerzen und Depressionen sind in den unteren sozialen Schichten sowohl bei Frauen wie Männern häufiger als in der oberen Schicht.« Länder wie die USA und Großbritannien mit einer stärker ausgeprägten sozialen Ungleichheit haben eine größere Spannbreite im Gesundheitszustand der Bevölkerung als Länder mit einer eher egalitären Bildungs- und Sozialstruktur wie Skandinavien, die Niederlande oder Australien.

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