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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2011

© Suhrkamp Verlag Berlin 2011

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eISBN 978–3–518–75450–4

www.suhrkamp.de

Inhalt

 

Vorwort

Einleitung

 

1. Charisma der Vernunft?
Die Entstehung der Menschenrechte

 

2. Strafe und Respekt
Die Sakralisierung der Person und ihre Gefährdungen

 

3. Gewalt und Menschenwürde
Wie aus Erfahrungen Rechte werden

 

4. Weder Kant noch Nietzsche
Was ist affirmative Genealogie?

 

5. Seele und Gabe
Gottebenbildlichkeit und Gotteskindschaft

 

6. Wertegeneralisierung
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Pluralität der Kulturen

 

Literatur

Namenregister

 

Für

Bettina Hollstein
Matthias Jung
Wolfgang Knöbl

in dankbarer Verbundenheit

Vorwort

Eine kurze Auskunft über die langwierige Entstehungsgeschichte dieses Buches ist vielleicht von Nutzen für sein Verständnis. Die Grundidee kam im unmittelbaren Anschluß an die beiden Bücher auf, die ich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre schrieb (Die Entstehung der Werte und Kriege und Werte). Die im ersten dieser Bücher vorgelegte Theorie von der Entstehung von Wertbindungen aller Art wollte ich an einem spezifischen Wertsystem erproben; dieses sollte ein Wertsystem sein, das in einem Wirkungszusammenhang mit der Gewaltgeschichte steht, der das zweite der genannten Bücher gewidmet ist. Die Geschichte der Menschenrechte schien ideal geeignet zu sein für die Durchführung dieses Plans.

Bei der Durchführung stieß ich allerdings auf ein Problem, das mir viel größere Schwierigkeiten bereitete, als ich erwartet hatte. Nicht nur erwies sich die Kenntnisnahme einer umfangreichen historischen Literatur und die Auseinandersetzung mit vielfältigen philosophischen und theologischen Beiträgen zur Begründung der Menschenrechte als unumgänglich, aber äußerst zeitaufwendig. Das war grundsätzlich vorauszusehen gewesen. Es wurde aber dabei immer unsicherer, wie ich meinen eigenen Beitrag – der weder Geschichtswissenschaft noch Philosophie oder Theologie sein sollte – positiv zu verstehen hätte. Gewiß knüpfen die einzelnen Kapitel des nun vorliegenden Buches sehr stark an große Soziologen und ihre Theorien an: Kapitel 1 an Max Weber, Kapitel 2 an Emile Durkheim, Kapitel 5 und 6 an Talcott Parsons. Aber der Kern meines Vorgehens besteht nicht einfach in sozialwissenschaftlicher Erklärung historischer Prozesse des Wertewandels, sondern in einer Verknüpfung von solcher Erklärung mit einem Beitrag zur Erörterung der Berechtigung dieser Werte selbst. Dieses Vorgehen ist aber so wenig selbstverständlich, daß es ausführlich begründet werden muß. Deshalb mußte ich den historisch-soziologischen Teilen ein methodisch gezieltes Kapitel hinzufügen. Für dieses erwies sich ein Autor als zentral, der wie kein anderer die Probleme am Schnittpunkt einer soziologisch aufgeklärten Geschichtswissenschaft und einer philosophisch-theologischen Wertediskussion tief und breit durchdacht hat: der protestantische Theologe Ernst Troeltsch, den man auch als den Pionier einer historischen Soziologie des Christentums bezeichnen könnte. Immer mehr hatte ich aber zwischendurch die Sorge, die hier betriebenen Studien nicht mehr handhaben und in ein Ganzes integrieren zu können.

Äußerst hilfreich erwiesen sich für den Fortschritt und schließlich erfolgreichen Abschluß dieses Arbeitsprogramms verschiedene Einladungen, meine Gedankengänge vorzutragen und zur Diskussion zu stellen. Ich bin für alle diese Gelegenheiten sehr dankbar, kann hier aber nur die wichtigsten nennen:

In einer frühen Phase half mir die Einladung von Dr. Susanna Schmidt, damalige Direktorin der Katholischen Akademie in Berlin, im Jahr 2002 die Guardini Lectures an der Berliner Humboldt-Universität zu halten und damit eine erste Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Ihr und den Diskutanten der vier Vorlesungen (Wolfgang Huber, Herfried Münkler, Michael Bongardt und Wilhelm Schmidt-Biggemann) bin ich deshalb sehr verpflichtet. Von großer Bedeutung war im Februar 2009 die Einladung des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover, einen sogenannten Philosophischen Meisterkurs zum Thema dieses Buches durchzuführen. Insbesondere seinem damaligen Direktor Professor Dr. Gerhard Kruip und den Teilnehmern dieses Kurses möchte ich für diese Gelegenheit zur Schärfung meiner Argumentation danken. Für die endgültige Gestalt des Buches war schließlich die Einladung des Berkley Center for Religion, Peace, and World Affairs an der Georgetown University, Washington, D.C. wichtig, im Herbst 2009 eine Reihe öffentlicher Vorträge zum Thema zu halten. Dies erlaubte mir die Verschlankung einer Konzeption, die aus den Fugen zu quellen drohte. Mein Dank gebührt hier den Leitern des Center, Professor Thomas Banchoff und José Casanova. In einzelnen Kapiteln des Buches greife ich auf Formulierungen zurück, die ich in Aufsatzveröffentlichungen bereits verwendet habe; dies ist dort jeweils vermerkt.

Ich hatte in den letzten Jahren das Privileg, als Fellow an das Swedish Collegium for Advanced Study, Uppsala, an das Wissenschaftskolleg Berlin und an das Stellenbosch Institute for Advanced Study (Südafrika) eingeladen zu werden. Außer zur Arbeit an anderen Buchprojekten habe ich diese Fellowships auch für dieses Buch genutzt. Den Leitungen dieser Einrichtungen und den Mit-Fellows danke ich für die ausgezeichnete Arbeitsatmosphäre von Herzen.

Das ganze Manuskript gelesen und hilfreich kommentiert haben Bettina Hollstein, Wolfgang Knöbl und Christian Polke. Es ist gut, solche Freunde und Kollegen zu haben. Dreien von ihnen, die meine Jahre als Leiter des Erfurter Max-Weber-Kollegs besonders intensiv begleitet haben, möchte ich dieses Buch widmen. Auch allen anderen Gesprächspartnern am Max-Weber-Kolleg danke ich für die gemeinsame Zeit. Eva Gilmer vom Suhrkamp Verlag hat mit großer Sorgfalt dieses Buch betreut; auch ihr herzlichen Dank. Und schließlich danke ich Alma Melchers und Jonas Wegerer, die nach meinem Wechsel ans Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) die nötigen Korrekturarbeiten zuverlässig durchgeführt und das Register erstellt haben.

Freiburg, Juni 2011

Einleitung

Dieses Buch beschäftigt sich mit der Geschichte der Menschenrechte und der Frage ihrer Begründung. Es liefert aber weder eine umfassende Ideen- oder Rechtsgeschichte noch eine neue philosophische Begründung der Idee universaler Menschenwürde und der auf dieser Idee basierenden Menschenrechte. Beiden möglichen Erwartungen wird hier nicht entsprochen werden, und dies nicht aus eher trivialen Gründen wie denen, daß für eine umfassende Geschichte der Menschenrechte trotz aller imponierenden Vorarbeiten noch weitere umfangreiche Forschung nötig sei oder daß eine der vorliegenden philosophischen Begründungen, etwa von Kant oder Rawls oder Habermas, jeden neuen Versuch überflüssig gemacht habe. Charakteristisch für den hier eingeschlagenen Weg ist nämlich eine spezifische Weise der Verknüpfung von Begründungsargumenten und historischer Reflexion, die sich so in den Geschichten der Menschenrechte oder in den philosophischen Ansätzen nicht findet und dort in der Regel auch gar nicht angestrebt wird. Die ehrgeizigen philosophischen Begründungsversuche kommen ohne Geschichte aus. Sie konstruieren ihre Argumente aus dem (angeblichen) Charakter der praktischen Vernunft und des moralischen Sollens, den Bedingungen eines Gedankenexperiments über die Einrichtung von Gemeinwesen oder den Grundzügen eines idealisierten Diskurses heraus. Zur Geschichte stehen solche Konstruktionen notwendig in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis. Merkwürdig muß ja aus dieser Perspektive erscheinen, daß in der Geschichte der Menschheit zeitlos Gültiges nur so selten als solches erkannt wurde. Ideengeschichte wird damit zur bloßen Hinführung zur eigentlichen Entdeckung, zur Vorgeschichte tastender und unvollkommener Versuche; Realgeschichte wird zu einem bloßen Auf und Ab der Annäherungen und Entfernungen vom Ideal, sofern nicht ein Fortschrittsmodell eine schrittweise Annäherung in der Vergan genheit und eine weitere Verwirklichung in der Zukunft zu denken erlaubt.

Die Geschichtsschreibung wiederum wird zwar häufig, bewußt oder unbewußt, von Vorstellungen über philosophische Begründung durchsetzt sein; sie kann auch eine Geschichte all der verschiedenen philosophischen, politischen und religiösen Argumentationen und Debatten über Menschenrechte und Menschenwürde enthalten. Als Wissenschaft muß sie aber ihren Anspruch auf die empirische Ebene einer sachgemäßen Rekonstruktion historischer Prozesse begrenzen. In ihrer Arbeitsteilung bekräftigen Geschichtswissenschaft und Philosophie damit die Unterscheidung von Genesis und Geltung, die von vielen für eine Grundlage jeder redlichen Beschäftigung mit normativen Fragen gehalten wird. Entweder, so diese Denkweise, steht der Geltungsanspruch normativer Sätze zur Diskussion, oder wir interessieren uns für ihre geschichtliche Herkunft. Zur Entscheidung über den normativen Geltungsanspruch kann in dieser Perspektive geschichtliches Wissen nichts, jedenfalls nichts Ausschlaggebendes beitragen.

Ich versuche in diesem Buch eine prinzipiell hiervon verschiedene Vorgehensweise; vielleicht ist die historisch orientierte Soziologie, auf die ich dabei immer wieder zurückgreifen werde, ein geeignetes Mittel, die beschriebene Kluft zwischen Philosophie einerseits und Geschichte andererseits zu überwinden. Der Grund für diese andere Vorgehensweise läßt sich zunächst negativ bezeichnen: Ich glaube nicht an die Möglichkeit einer rein rationalen Begründung letzter Werte. Schon die Formulierung der Aufgabenstellung erscheint mir als selbstwidersprüchlich. Wenn es sich wirklich um letzte Werte handeln soll, worauf kann dann eine rationale Begründung noch zurückgreifen? Was soll tiefer liegen als diese letzten Werte und doch selbst werthaften Charakters sein? Oder sollen letzte Werte gar aus Tatsachen abgeleitet werden? Selbstverständlich kann mit diesen Fragen nur ganz grob meine Skepsis gegenüber den philosophischen Begründungsversuchen plausibilisiert werden; diese Formulierungen erheben nicht den Anspruch, an dieser Stelle den großartigen Denkgebäuden gerecht zu werden, die zum Zwecke der rationalen Begründung universalistischer Moral errichtet wurden. Doch werden auch diejenigen, denen die Skepsis einleuchtet, die ich hier eingestanden habe, vielleicht vor den Konsequenzen zurückschrecken, weil sie annehmen, daß der Verzicht auf rationale Letztbegründung einem historischen oder kulturellen Relativismus oder der (angeblich) postmodernen Beliebigkeit Tür und Tor öffnet. Bei den Menschenrechten und der universalen Menschenwürde handelt es sich aber um einen so sensiblen Punkt, daß ein achselzuckendes oder spielerisches Verhältnis dazu wohl kaum in Frage kommt. Zwingt uns der Abschied von der rationalen Letztbegründung aber wirklich zum Relativismus? Dieser Sorge liegt eben das Denkschema der klaren Trennbarkeit von Genesis und Geltung weiterhin zugrunde. Aber gerade um dessen tätige Infragestellung geht es hier. Wenn im Fall der Werte Fragen von Genesis und Geltung nicht so scharf zu trennen sind, dann läßt sich auch positiv formulieren, worum es hier geht. Dann kann nämlich die Geschichte der Entstehung und Ausbreitung von Werten selbst so angelegt werden, daß sich in ihr Erzählung und Begründung in spezifischer Weise verschränken. Als Erzählung macht uns eine solche Darstellung bewußt, daß unsere Bindung an Werte und unsere Vorstellung vom Wertvollen aus Erfahrungen und ihrer Verarbeitung hervorgehen; sie sind damit als kontingent, das heißt nicht notwendig, erkennbar. Nicht länger erscheinen Werte dann als etwas Vorgegebenes, das nur zu entdecken oder vielleicht wiederherzustellen ist. Aber eine solche Erzählung muß keineswegs, indem sie uns die Tatsache bewußtmacht, daß unsere Werte historische Individualitäten sind, unsere Bindung an diese Werte schwächen und zersetzen. Anders als Nietzsche nehme ich nicht an, daß die Aufdeckung der Entstehung der Werte es uns wie Schuppen von den Augen fallen läßt, an welche bloßen Götzen und Idole wir bisher geglaubt haben. Wenn wir mit Nietzsche der Verschränkung von Genesis und Geltung in einer »Genealogie« gerecht werden wollen, dann kann dies durchaus eine affirmative Genealogie und muß nicht eine auflösende Entstehungsgeschichte sein.

Es geht also in diesem Buch um eine affirmative Genealogie des Universalismus der Werte. Da gegen ein solches Projekt bei jedem Schritt Einwände in der Luft liegen, wird in der Mitte des Buches (Kapitel 4) in einer methodischen Zwischenbetrachtung mehr zur Rechtfertigung des gewählten Wegs gesagt werden. Es muß ja erklärt werden, daß es universalistische Werte gibt, was eine Genealogie im allgemeinen und eine affirmative Genealogie im besonderen ist, und vieles andere mehr. An dieser Stelle ist zunächst nur festzuhalten, daß der Begriff »Entstehung der Werte« aus einem früheren Buch, an das das vorliegende als historisch-konkretisierende »Anwendung« anknüpft, sich gleich weit entfernt hält von den Begriffen »Konstruktion« und »Entdeckung«. Während der Begriff der Entdeckung es nahelegt, von einem präexistenten Reich der Werte oder einem objektiv gegebenen Naturrecht auszugehen, klingt »Konstruktion« nach einer willentlichen Erzeugung, von der dann schwerlich Bindungswirkungen ausgehen können; es könnten jedenfalls nur Bindungen einer selbstgewählten Art sein. Der Begriff der Entstehung zielt dagegen darauf, die echte historische Innovation, die etwa die Menschenrechte darstellen, als Innovation kenntlich zu machen und dabei gleichzeitig den Evidenzcharakter zu bewahren, den eine solche Innovation für die Beteiligten auch aufweisen kann. Für die Menschen, die sich an Werte gebunden fühlen, stellen diese Werte ganz offensichtlich das Gute dar, und dies nicht, weil sie das so beschlossen oder sich darauf geeinigt haben. Auch die Metapher der Geburt könnte angemessen sein, um auszudrücken, wie ein historisch neu gesetzter Beginn Unbedingtheit annehmen kann. In diesem Sinne also geht es hier um die »Geburt«, die »Entstehung« eines zentralen Komplexes universalistischer Werte und seine rechtliche Kodifizierung.

Die Entstehung gerade dieses Wertkomplexes ist spätestens seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts immer wieder Gegenstand hitziger Meinungskämpfe geworden. Eine der häufigsten, aber auch unfruchtbarsten Debatten dreht sich dabei um die Frage, ob die Menschenrechte eher auf religiöse oder auf säkular-humanistische Ursprünge zurückzuführen sind. Eine konventionelle Ansicht nicht so sehr in der Forschung, aber in der breiteren Öffentlichkeit, nimmt an, daß die Menschenrechte aus dem Geiste der Französischen Revolution hervorgegangen seien, dieser wiederum der politische Ausdruck der französischen Aufklärung sei, welche zumindest antiklerikal, wenn nicht offen antichristlich oder religionsfeindlich war. In dieser Sichtweise sind die Menschenrechte eindeutig nicht die Frucht irgendeiner religiösen Tradition, sondern vielmehr die Manifestation eines Widerstands gegen das Machtbündnis von Staat und (katholischer) Kirche oder gegen das Christentum als Ganzes.

Zwischen dieser konventionellen Sicht und einem säkularen Humanismus gibt es eine Art Wahlverwandtschaft ebenso wie zwischen den Überzeugungen christlicher, vornehmlich katholischer Denker des zwanzigsten Jahrhunderts und einer alternativen Meistererzählung. Die Verfechter dieser Sichtweise konzentrieren sich auf langfristige religiöse und intellektuelle Traditionen. Für sie wurde den Menschenrechten der Weg gebahnt durch das Verständnis der menschlichen Person, wie es aus den Evangelien zu uns spricht, und von der philosophischen Ausarbeitung dieser religiösen Inspiration in Verbindung mit einem personalistischen Gottesbegriff seit den Tagen der mittelalterlichen Philosophie. Diese Erzählung entstand, als sich im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts die katholische Kirche von ihrer ursprünglichen Verdammung der Menschenrechte als einer Form von liberalistischem Individualismus ab- und einer geradezu demonstrativen Verteidigung der Menschenrechte zuwandte.

Selbstverständlich sind die beiden genannten Geschichtsbilder nicht die einzigen, ebenso wie sich nicht einfach säkularer Humanismus und ein selbstzufriedenes oder triumphalistisches Verständnis von katholischem Christentum gegenüberstehen. Es gibt auch eine Art Kompromißposition dort, wo behauptet wird, daß zwar die Aufklärung sich antichristlich verstanden haben möge, ihre tiefsten Motive aber nichts anderes seien als eine Folge der christlichen Betonung von Individualität, Aufrichtigkeit und Nächstenliebe (oder Mitleid). Aber es kommt an dieser Stelle nicht auf die Aufzählung weiterer national oder konfessionell getönter Varianten an. Es geht vielmehr darum, einen neuen Weg zu bahnen, der aus dieser als unfruchtbar zu bezeichnenden Debattenlage herausführt. Ein solcher ist nicht nur deshalb nötig, weil der Austausch der Meinungen auf diesem Feld bisher kaum zu wechselseitigen Modifikationen der ursprünglichen Argumentationen geführt hat. Wichtiger noch ist, daß beide genannten Positionen unhaltbar sind. Das konventionelle säkular-humanistische Narrativ ist aus empirischen Gründen unhaltbar. Das wird in diesem Buch in vielfältiger Weise deutlich werden. Allerdings hat es, obwohl es die historische Wirklichkeit vor allem des achtzehnten Jahrhunderts verzerrt, doch immerhin das Verdienst, eine kulturelle Innovation aus den Bedingungen eben der geschichtlichen Periode heraus erklären zu wollen, in der diese Innovation tatsächlich stattfand. Die alternative Geschichte kann dagegen nicht überzeugend erklären, warum ein bestimmtes Element christlicher Lehre, das sich jahrhundertelang mit verschiedensten politischen Regimes vertrug, die alle nicht auf der Menschenrechtsidee fundiert waren – warum dieses Element plötzlich zur dynamischen Kraft bei der Institutionalisierung der Menschenrechte hätte werden sollen. Reifung über Jahrhunderte ist keine soziologische Kategorie, und auch wenn wir von der Aufzählung geistesgeschichtlicher Vorläufer auf die Ebene institutioneller Traditionen umschalten, wo die These eher plausibel klingt, dürfen wir nicht vergessen, daß Traditionen sich nicht von selbst perpetuieren, sondern nur durch die Handlungen von Menschen. Selbst wenn wir wenigstens retrospektiv einräumen mögen, daß die Idee der Menschenrechte bis zu einem gewissen Maß als moderne Neu artikulation des christlichen Ethos aufgefaßt werden kann, müssen wir die Frage beantworten können, warum es dann 1700 Jahre gedauert hat, bis das Evangelium in dieser Hinsicht in eine juristisch kodifizierte Form übersetzt wurde. Außerdem bin ich sehr argwöhnisch gegenüber der erwähnten Kompromißposition. Es sieht ein bißchen nach einem Taschenspielertrick aus, wenn etwas als Errungenschaft der eigenen Tradition beansprucht wird, was von den Vertretern derselben Tradition verdammt wurde, als es entstand.

Die Botschaft dieses Buches lautet, daß es eine fundamentale Alternative zu dieser ganzen Gemengelage von Narrativen gibt. Das Stichwort für diese Alternative ist das Wort Sakralität, Heiligkeit. Ich schlage vor, den Glauben an die Menschenrechte und die universale Menschenwürde als das Ergebnis eines spezifischen Sakralisierungsprozesses aufzufassen – eines Prozesses, in dem jedes einzelne menschliche Wesen mehr und mehr und in immer stärker motivierender und sensibilisierender Weise als heilig angesehen und dieses Verständnis im Recht institutionalisiert wurde. Der Terminus »Sakralisierung« darf nicht so aufgefaßt werden, als habe er ausschließlich eine religiöse Bedeutung. Auch säkulare Gehalte können die Qualitäten annehmen, die für die Sakralität charakteristisch sind: subjektive Evidenz und affektive Intensität. Sakralität kann neuen Gehalten zugeschrieben werden; sie kann wandern oder transferiert werden, ja, das ganze System der Sakralisierung, das in einer Kultur gilt, kann umgewälzt werden. Schlüsselgedanke dieses Buches ist also, daß die Geschichte der Menschenrechte eine solche Sakralisierungsgeschichte sei, und zwar eine Geschichte der Sakralisierung der Person.

Damit sind die beiden miteinander verwobenen Grundmotive des Buches (»Sakralisierung« und »affirmative Genealogie«) benannt. Sie sind miteinander verwoben, weil die spezifische genealogische Argumentation nötig wird, wenn Begründungen dem Phänomen Sakralität angemessen sein sollen. Wenn die Bindung an Werte nicht aus rationalen Erwägungen erwächst, können rein rationale Argumentationen zwar vielleicht Wertbindungen verunsichern oder zur Umdeutung existierender Selbst- und Weltbilder Anlaß geben, aber sie können eben nicht selbst die Kraft erzeugen, die in Wertbindungen steckt. Dafür bedarf es einer affirmativen Genealogie.

Das Buch beginnt mit drei historisch-soziologischen Kapiteln. Im ersten Kapitel geht es um die Frage nach der Entstehung der ersten Erklärung der Menschenrechte im späten achtzehnten Jahrhundert. Hier wird die konventionelle Ansicht von den »aufklärerischen« Ursprüngen auf den Prüfstand gestellt, insbesondere aber die These Max Webers, daß es sich bei den Menschenrechten um eine »Charismatisierung« (oder eben Sakralisierung) der Vernunft handle. Im zweiten Kapitel wird anhand der Abschaffung oder weitgehenden Zurückdrängung der Folter im Europa des achtzehnten Jahrhunderts eine zur typisch aufklärerischen, aber auch zur Foucaultschen Darstellung alternative Sicht begründet, nämlich die der Sakralisierung der Person. In diesem Kapitel wird entsprechend auch ausführlicher erläutert, was darunter genau zu verstehen ist.

Schon die Entstehung der Menschenrechte, erst recht aber ihre weitere Verbreitung und die Intensivierung der Bindung an sie ist nicht als Vorgang kultureller Diffusion zu begreifen. Die Menschenrechte hätten nach ihrer Entstehung wieder verschwinden können. Wir würden sie dann heute vielleicht als eine Kuriosität des achtzehnten Jahrhunderts – ähnlich dem »Mesmerismus« – belächeln. Im dritten Kapitel geht es um ein Segment dieser Geschichte, nämlich um die Bedeutung von Gewalterfahrungen für die Aufrechterhaltung und Verbreitung der Menschenrechte. Der historische Fall, der hier herangezogen wird, ist die (US-amerikanische) Antisklavereibewegung des neunzehnten Jahrhunderts. Sicher ist mit dieser Bewegung, anhand deren ein Modell zur Transformation von Gewalterfahrungen in eine Mobilisierung zugunsten universalistischer Werte vorgeschlagen wird, und überhaupt mit der Betonung von Gewalterfahrungen nur ein Strang ins Auge gefaßt. Aber im Zusammenhang mit der Theorie der Sakralisierung der Person muß besonders interessieren, wie nicht nur positive, wertkonstitutive Erfahrungen, sondern auch negative, erschütternde, traumatisierende Erfahrungen eigenen und fremden Leids zur Bindung an universalistische Werte führen können.

Auf die historisch-soziologischen Kapitel folgt eines methodischer Selbstreflexion. Hier wird ausführlich begründet, was in dieser Einleitung nur behauptet wird: daß es bei fundamentalen Werten zwar keine philosophische Begründung gibt, die unabhängig von aller Geschichte unbedingte universale Ansprüche erheben kann, daß uns dies aber auch nicht zu einer relativistischen Sichtweise zwingt, der zufolge eben alle Werte nichts als subjektive Setzungen von Individuen oder Kulturen seien. Hier wird in breiter Anknüpfung an den »existentiellen Historismus« von Ernst Troeltsch eine Alternative zu Kant und Nietzsche, wie man formelhaft verkürzt sagen könnte, aber auch zu Hegel, Marx und Max Weber verteidigt.

Mit dieser methodischen Zwischenbetrachtung ist ein Wendepunkt im Verlauf der Darstellung erreicht. Ging es bisher um die Grundzüge einer affirmativen Genealogie der Menschenrechte als einer Sakralisierung der Person, wendet sich jetzt der Blick auf Grundelemente der christlichen (großenteils jüdisch-christlichen) Tradition, von denen oft behauptet wird, sie hätten die Menschenrechte vorbereitet und seien zu ihrer Stützung unentbehrlich. Die beiden Grundelemente sind die Vorstellung von der unsterblichen Seele jedes Menschen als des sakralen Kerns jeder Person und vom Leben des einzelnen als einer Gabe, aus der Verpflichtungen resultieren, die das Recht auf Selbstbestimmung über unser Leben begrenzen. Beide Elemente werden hier allerdings nicht als die historischen »Erzeuger« der Menschenrechte eingeführt, da das Verhältnis von Christentum und Menschenrechten – wie die historisch-soziologischen Kapitel zeigen – wesentlich vieldeutiger ist, als es eine schönfärberische Retrospektive oft darstellt. Dieses Kapitel dient dazu, der Frage nachzugehen, wie im Zeichen der Menschenrechte und unter heutigen Denkvoraussetzungen überhaupt diese beiden Elemente des christlichen Menschenbilds neu plausibilisiert werden können. Ein solcher Versuch steht exemplarisch für die Aufgabe der Neuartikulierung einer religiösen Tradition im Angesicht dramatischen Wertewandels.

Damit ist auch der Boden bereitet für das abschließende Kapitel. Wenn nämlich die Menschenrechte zwar auf kulturelle Traditionen wie die christliche zurückgreifen, diese Traditionen aber auch unter neuartigen Artikulationsdruck setzen, dann sind Werte wie der der universalen Menschenwürde und Rechte wie die Menschenrechte nicht in eine bestimmte Tradition »eingesperrt«. Sie sind auch aus anderen Traditionen heraus und unter neuen Bedingungen zugänglich, sofern diesen eine ähnliche kreative Reinterpretation ihrer selbst gelingt, wie sie der christlichen unzweifelhaft weithin gelungen ist. Infolgedessen können solche religiösen oder kulturellen Traditionen auch, ohne mit sich selbst zu brechen, neue Gemeinsamkeiten miteinander finden. Darauf zielt das in diesem Kapitel zu erläuternde Konzept der Wertegeneralisierung, das aus der soziologischen Theorie sozialen Wandels hier auf eine eher philosophische Thematik übertragen wird. Abschließend wird mit Hilfe dieses Konzepts der Prozeß der Entstehung der UNO-Menschenrechtserklärung von 1948 als ein erfolgreicher Prozeß der Wertegeneralisierung geschildert.

Damit könnte die angestrebte affirmative Genealogie der Menschenrechte Gestalt angenommen haben. Zwei zeitlich kondensierte Prozesse der Entstehung von »Erklärungen« der Menschenrechte – Ende des achtzehnten Jahrhunderts und nach dem Zweiten Weltkrieg – und zwei langgezogene Prozesse der Abschaffung von etwas, das der Sakralität der Person widerspricht – Folter und Sklaverei – werden exemplarisch in den Blick genommen, um ein bestimmtes Vorgehen plausibel zu machen. In diesem Vorgehen und entsprechend im Aufbau dieses Buches verschränken sich Argumentation und Geschichtserzählung. Reine Narration oder pure Argumentation hätten es leichter. Die affirmative Genealogie aber erzwingt logisch und geradezu ästhetisch eine weder rein chronologische noch rein logische Form. Doch die wirkliche Überzeugungskraft des so skizzierten Programms kann nur aus der Durchführung selbst erwachsen.

1. Charisma der Vernunft? Die Entstehung der Menschenrechte

Blickt man auf die uferlose Literatur zur Vorgeschichte und Geschichte der Menschenrechte, dann läßt sich der bestimmende Eindruck am besten auf die Formel bringen: Der Erfolg hat viele Väter. Unzweifelhaft stellt der Siegeszug der Menschenrechte eine der großen Erfolgsgeschichten im Bereich der Werte und Normen dar, und selbst wer zu skeptischeren Einschätzungen neigt, weil der nur rhetorische Gebrauch oder gar ein zynischer, legitimatorischer Mißbrauch unübersehbar seien, wird – nach einem alten Diktum – in solcher Heuchelei zugleich ein Kompliment an die Moral und ihre starke Stellung erkennen können. Der Siegeszug der Menschenrechte straft alle Lügen, die die Gegenwart oder Modernisierungsprozesse überhaupt nur im Zeichen des Werteverfalls und des Verlusts gemeinsamer Werte deuten wollen. Von ebendiesem Triumph aber fällt dann Licht auf ältere »Visionen«, auf Keime oder Wurzeln der Menschenrechte in einzelnen oder allen religiösen und kulturellen Traditionen. So gibt es Versuche, in allen großen Religionen – Hinduismus, Judentum, Buddhismus, Konfuzianismus, Christentum und Islam – emphatische Stellungnahmen zur Würde des Menschen, aller Menschen, und zur Pflicht, Leidenden, wer immer sie seien, zu helfen, zusammenzutragen und diese zum Ursprung der Menschenrechte zu erklären.1) Zumindest alle diese sogenannten Weltreligionen enthalten in der Tat Aussagen zur Heiligkeit des menschlichen Lebens, ein Ethos der Liebe und der universellen Achtung. Aus jeder dieser Traditionen – man denke nur an Mahatma Gandhi und den Dalai Lama – erwachsen auch in unserer Zeit Denker und Aktivisten, die von diesem Ethos motiviert in die Kämpfe der Gegenwart eingreifen und eine zeitgemäße Artikulation der Sinngehalte ihrer religiösen Überzeugung anstreben.

Aber es ist leicht, solchen wohlmeinenden Versuchen, die die Menschenrechte wie das historische Ziel erscheinen lassen, auf das die Religionsgeschichte immer schon zugelaufen sei, eine ebenso plausible Zusammenstellung der ständigen Eingrenzung der Moral und der Vorstellungen von Menschenwürde auf das Binnenleben religiöser oder politischer Gemeinschaften entgegenzusetzen. Denn es mangelt nicht an Äußerungen aus allen oder einzelnen Religionstraditionen, die darauf hinauslaufen, daß die hehren Grundsätze »gegen Fremde, Barbaren, Feinde, Ungläubige, Sklaven und Werkleute«2) nicht anzuwenden seien, grundsätzlich nicht oder zumindest im gegenwärtigen Falle nicht. Auch die christliche Religion, der ja besonders häufig die Rolle der langfristigen Vorbereitung der Menschenrechte zugesprochen wird, ist bis heute gegen eine solche Einschränkung ihres universalistischen Potentials und gegen ihre Instrumentalisierung zu machtpolitischen Zwecken wahrlich nicht gefeit.

Wenn aber universalistisches Potential und partikularistische Einschränkung bei all diesen Traditionen zu konstatieren sind, wird eine allgemeine Debatte zum Vergleich dieser Traditionen schwerlich fruchtbar sein. Es ist dann nötig, den geschichtlichen Erklärungsgegenstand radikal einzugrenzen, weil sonst leicht alles und jedes mit klug ausgewählten Zitaten bewiesen werden kann. Beim Thema Menschenrechte erscheint es als zwingend, den Zeitpunkt, auf den sich die Entstehungsfrage richten muß, im späten achtzehnten Jahrhundert anzusetzen. Damals nämlich kam es zu den ersten feierlichen Erklärungen von Menschenrechten in Frankreich und, vorher schon, in Nordamerika. Mit dieser zeitlichen Eingrenzung auf die Entstehung der ersten kodifizierten Erklärungen der Menschenrechte ist eine räumliche und gewissermaßen kulturelle Eingrenzung verbunden. Es geht dann nämlich um die Frage, aus welchen Motiven und aus welchen kulturellen Traditionen heraus diese Fälle, das heißt die französischen und nordamerikanischen »Deklarationen«, zu erklären sind. Dafür kommen von den genannten Religionen dann nur wenige überhaupt in Frage, vielleicht sogar keine, wenn denn ein säkularer Humanismus leitend gewesen sein sollte, wie es der häufig zu hörende Verweis auf die »Aufklärung« oder auf langfristige philosophische oder rechtliche Vorläufer und Vorbereitungen meist besagen will. Nach dem bisher Gesagten – darauf sei ausdrücklich noch einmal hingewiesen – bedeutet dies aber in keiner Weise die grundsätzliche Privilegierung einer spezifischen Tradition oder gar eine Aussage über die prinzipiellen Grenzen des Potentials aller anderen Religionen und Weltanschauungen. Es ist nur so, daß die Innovation einer rechtlich folgenreichen Deklaration in einer ganz bestimmten historischen Konstellation zum ersten Mal erfolgte und sich die Entstehungsfrage deshalb auf diesen Fall richten muß. Damit werden alle späteren Fälle nicht abgewertet; sie haben aber vermutlich immer auch mit einer Rezeption dieses ersten Falls zu tun. Insofern kommen die jeweils eigenen kulturellen Bedingungen für die Aneignung der Ideen der Menschenrechte dabei kräftig ins Spiel.

Mit der Erwähnung Frankreichs und Nordamerikas ist nun allerdings schon eine Problematik angesprochen, die sich auch bei radikaler Eingrenzung der Entstehungsfrage als unumgänglich erweist. Wie erklären wir diese beiden Fälle? Welche Rolle spielten religiöse oder antireligiöse Motive in den jeweiligen Konstellationen? Das konventionelle Bild habe ich in der Einleitung zu diesem Buch vor allem deswegen zitiert, weil es eine Art Gegenbild darstellt zu der Sicht, die hier vertreten werden soll. Eine prägnante Charakterisierung meiner Thesen zur Entstehung der Menschenrechte lautet, daß die Menschenrechte keineswegs in Frankreich entstanden sind, sondern in Nordamerika; daß zwar der Geist der Aufklärung für diese Entstehung wesentlich war, aber keineswegs notwendig im Sinn einer reli gionsfeindlichen Aufklärung; und daß Kants Philosophie nicht die unumgängliche rationale Begründung der Menschenrechte darstellt, sondern die vielleicht imponierendste Ausdrucksform eines kulturellen Wandels ist, der sich in ihr aber auch durchaus problematisch niederschlägt. Um diese Gegenthesen zu begründen und damit ein Bild von der Entstehung der Menschenrechte zu zeichnen, soll hier wesentlich auf eine Debatte zurückgegriffen werden, die seit über 100 Jahren anhält. Dies ist nötig, um die Problematik einer Sichtweise auf die Geschichte der Menschenrechte aufzudecken, die sich vom Gedanken eines Charismas der Vernunft leiten läßt.3)

Es sind zwei starke empirische Gründe, die dagegen sprechen, die konventionelle Auffassung für ein angemessenes Bild der historischen Wirklichkeit des achtzehnten Jahrhunderts zu halten. Die erste Voraussetzung für eine Korrektur dieses Bildes liegt darin, daß wir uns vom Mythos des antireligiösen Charakters der Französischen Revolution befreien; die zweite liegt in der stärkeren Berücksichtigung des nordamerikanischen Falles und seiner besonderen Züge.

1. Die Menschenrechte und die Französische Revolution

Der Mythos des antireligiösen Charakters der Französischen Revolution ist zusammen mit der ihn stützenden Vorstellung, daß die Revolution von einer Philosophie inspiriert worden sei, die als modernes Heidentum aufgefaßt werden dürfe – wie im Untertitel von Peter Gays bekanntem Buch4) –, zum Bestandteil des säkular-humanistischen Weltbildes geworden. Dabei dürfte diese Sichtweise ihren Ursprung allerdings eher in der Polemik gegen die Revolution von seiten reaktionärer Kleriker, Aristokraten und ihnen verbundener Intellektueller gehabt haben.

In der Frühphase der Revolution – und aus dieser stammt ja die Menschenrechtserklärung – kann von einer antichristlichen Ausrichtung keine Rede sein. Sehr anschaulich ist der Verweis darauf, daß in der Frühphase der Revolution »kein Treffen stattfinden konnte ohne eine Anrufung des Himmels, daß auf jeden Erfolg ein Te Deum folgen mußte, daß jedes Symbol, das man annahm, gesegnet werden mußte«.5) Die allzu engen Bande von Thron und Altar waren durch die Revolution erst gelockert und dann zerrissen worden; aber daraus folgt eben nicht eine Abnahme der religiösen Intensität. Die Teilnahme an Gottesdiensten scheint während der ersten Jahre der Revolution zu- und nicht abgenommen zu haben, da sich ein neues Band zwischen der Revolution und dem Altar zu etablieren begann:

Das Fest, mit dem jedes Jahr des Falls der Bastille gedacht wurde, hatte einen religiös-rituellen Rahmen. Die traditionellen katholischen Festtage und Prozesse wurden mindestens bis zum Sommer 1793 sowohl in Paris wie in der Provinz mit großer Beteiligung gefeiert. Bis zu diesem Datum wurden in der Tat Versuche gewisser Radikaler in Paris, Prozessionen in Paris aufzuhalten, von der Bevölkerung selbst rundweg abgelehnt.6)

Aber mit diesen Hinweisen soll natürlich nicht in Abrede gestellt werden, daß die Französische Revolution in ihrem Verlauf zum ersten staatlich geförderten Angriff auf das Christentum in Europa seit der frühen römischen Kaiserzeit7)führte. Was konnte diese Eskalation herbeiführen, wenn die Diskrepanz zu den ursprünglichen Motiven der Revolutionäre viel größer ist, als es die konventionelle Ansicht vermuten läßt? Den entscheidenden Gedanken hat schon 1856 Alexis de Tocqueville formuliert, als er in seinem Rückblick auf das Ancien régime und die Revolution schrieb, daß das Christentum

nicht als religiöse Lehre, sondern vielmehr als politische Institution [. . .] diesen wütenden Haß entzündet hatte, nicht weil die Priester sich anmaßten, die Dinge der anderen Welt zu regeln, sondern weil sie Grundeigentümer, Lehnsherren, Zehntherren, Administratoren in dieser Welt waren; nicht weil die Kirche in der neuen Gesellschaft, die man gründen wollte, keinen Platz finden konnte, sondern weil sie damals die am meisten privilegierte und festeste Stelle in der alten Gesellschaft, die in Staub verwandelt werden sollte, einnahm.8)

In der Tat war die enge Verbindung von Thron und Altar in der vorrevolutionären Ordnung entscheidend für den weiteren Verlauf. Diese Verbindung war nicht nur politischer und kultureller Art, insofern der Staat die Kirche auch gegen religiöse Konkurrenten schützte und umgekehrt durch sie Erziehungsleistungen erhielt. Sie war auch direkt ökonomischer Art. In einigen Teilen Frankreichs war die Kirche der größte Grundbesitzer. Aus den Einnahmen wurden dem chronisch unterfinanzierten Staat Kredite gewährt. Die Kirche bot dem aristokratischen Nachwuchs privilegierte Karrieremöglichkeiten und mühelose Einkünfte. Diese Verhältnisse, die gerade auch unter den Gesichtspunkten des christlichen Glaubens nur als Mißstände zu bezeichnen sind, hatten schon im achtzehnten Jahrhundert zu Spannungen zwischen dem niederen und dem höheren Klerus und zu vielfältigen Formen eines populären Antiklerikalismus geführt, der von einer Feindschaft gegen das Christentum selbstverständlich klar zu unterscheiden ist.

Die ersten Schritte der Revolution auf kirchenpolitischem Gebiet betrafen die völlige Unterdrückung der Abgabepflichten (»Zehnt«) gegenüber der Kirche – ohne Entschädigung – und die Beseitigung der grundherrlichen Rechte der Kirche. Diese Maßnahmen waren in der Bevölkerung äußerst populär und wurden auch von den zahlreichen Deputierten in der Nationalversammlung, die dem niederen Klerus angehörten, mitgetragen. Wenige Monate später wurde, hauptsächlich aus ökonomischen Motiven, die Konfiskation des kirchlichen Grundbesitzes beschlossen und mit einiger Verzögerung tatsächlich verwirklicht. Beim Verbot und der Auflösung religiöser Orden scheinen ebenfalls noch ökonomische Motive vorherrschend gewesen zu sein. Als erste Stufe einer in religiöse Unterdrückung ausartenden Kirchenpolitik nehmen sich im Rückblick die Einführung einer staatlichen Regelung klerikaler Belange und vor allem die Einführung eines politischen Loyalitätseids für Priester aus. Hintergrund dieser Eingriffe war zunächst, daß ohne Kirchenbesitz der Klerus anderweitig finanziert werden mußte. Die Revolutionäre nahmen dies, geleitet von der Vision einer Nationalisierung der katholischen Kirche, zum Anlaß, die staatliche Bezahlung von Priestern und Bischöfen mit Bestimmungen über deren Wahl durch die Gemeinden und der Ablehnung der Rolle Roms zu verknüpfen. Respekt vor kanonischem Recht und kirchlichen Traditionen fehlte dabei völlig; die Idee nationaler Souveränität überwog jede Vorstellung von institutioneller Autonomie. Damit aber wurde die Loyalität sowohl des Klerus wie der Gläubigen zur Revolution stark strapaziert. Mit der Forderung nach einem Loyalitätseid, der zudem im Anschluß an die heilige Messe öffentlich zu leisten war und dessen Korrektheit von den örtlichen Gemeinden zertifiziert werden sollte, wurde die Kirche gespalten. Der Klerus zerfiel in diejenigen, die den Loyalitätseid auf die Nation zu schwören bereit waren, und diejenigen, die ihn als einen Bruch mit ihrem priesterlichen Gelübde empfanden. Die jeweiligen Anteile waren regional extrem unterschiedlich, abhängig offenbar von der religiösen Lage vor der Revolution und den Haltungen der Bevölkerung zur Revolution im allgemeinen. Gegen die Eidverweigerer richtete sich eine zunehmende Feindseligkeit revolutionärer Aktivisten. Diese wurde noch verschärft, als die Eidverweigerer ihrerseits die Gültigkeit der von revolutionsloyalen Priestern gespendeten Sakramente bestritten. In diesen religionspolitischen Konflikten steckt eine wesentliche Ursache für die Eskalation der Revolution in Richtung ihrer terroristischen Phase; es ist also nicht so, daß diese Eskalation die Religion einfach nur in Mitleidenschaft gezogen hätte.9) In Kriegszeiten (von 1792 an) nahm die Feindseligkeit gegen die Eidverweigerer oft tödlichen Charakter an, da nun die Unterstellung ihrer Komplizenschaft mit dem äußeren Feind (Österreich) hinzukam und den Haß ins Hysterische steigerte. Jetzt wurden Eidverweigerer aus ihren Gemeinden deportiert, verhaftet und hingerichtet oder zur Emigration gezwungen. Kirchen wurden geschlossen, Kultgegenstände entweiht oder zerstört, durch eine Kalenderreform sollte jeder christliche Anklang in der Zeitrechnung beseitigt werden. Auch grundsätzlich loyale Priester wurden zur Eheschließung gezwungen und in vielfältiger Weise drangsaliert. Obwohl vor allem die katholische Kirche Gegenstand des Hasses dieser revolutionären Aktivisten war, blieben protestantische Pastoren und Kirchengebäude ebensowenig verschont wie Rabbiner und Synagogen.10)

Umstritten ist, wer genau die Akteure bei diesem in der Bevölkerung meist unpopulären gewaltsamen Vorgehen waren. Sicher spielten Militante vor Ort eine Rolle, aber es scheint doch vorwiegend das Werk reisender Revolutionäre und direkter Beauftragter der Regierung gewesen zu sein.11) Sicher ist, daß es der quasimillenaristischen Erhitzung der Kriegszeit bedurfte, damit es »bestimmten aggressiv antireligiösen oder atheistischen Positionen [gelingen konnte], Positionen, die nur von einer kleinen und randständigen Gruppe von Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts und in der Frühphase der Revolution nur von einer winzigen Minderheit Pariser Intellektueller vertreten wurden, vorübergehend eine substantiell größere Anhängerschaft zu gewinnen«.12) Von diesen Aktivisten sagte schon Tocqueville, daß ihr Furor und ihr Bekehrungsdrang sich nur verstehen läßt, wenn man ihre Überzeugung als eine Art neuer Religion wahrnimmt, »allerdings eine unvollkommene Religion, ohne Gott, ohne Kultus und ohne künftiges Leben, die aber trotzdem, gleich dem Islam, die ganze Erde mit ihren Soldaten, ihren Aposteln und ihren Märtyrern überschwemmt hat«.13)

Auch am Höhepunkt der Dechristianisierungsbemühungen fand das religiöse Leben, obschon in den Untergrund verdrängt, weiterhin statt. Es wurden Messen ohne Priester gefeiert, Taufen durch Gläubige vorgenommen, religiöses Schrifttum illegal gehandelt. Besonders Frauen verteidigten Kirchen und Kultgegenstände gegen die Zerstörer. Die Verteidigung der Religion gab immer mehr ein einigendes Band ab für alle, die sich von den Exzessen der Revolution bedroht fühlten. Dies galt erst recht in den Randgebieten Frankreichs und in den Nachbarstaaten, in die die Revolutionsarmeen einmarschierten. Einer der wichtigsten Gründe für den populären Widerstand gegen die Reformen, die die Franzosen brachten, lag auf diesem Gebiet. Vor allem in der französischen Gesellschaft wurde damit eine Polarisierung zwischen dem katholischen Christentum und den Werten der Revolution ausgelöst, die noch lange nach dem Zusammenbruch der extremsten Form revolutionärer Herrschaft Auswirkungen zeigt. Eines der tragischen Resultate dieser spiralförmigen Eskalation war, daß Papst Pius VI. nach langem zögerlichen Warten in den Konflikt eingriff. Ebensowenig wie die französischen Revolutionäre berief er sich aber auf den Wert der Religionsfreiheit. Er verdammte vielmehr in seinem Breve »Quod aliquantum« vom 10. März 1791 die Revolution in Bausch und Bogen und die von ihr proklamierten Prinzipien, einschließlich der Menschenrechte, als blasphemisch, häretisch und schismatisch. Die Polarisierung löste Versuche auf beiden Seiten aus, die eigene Legitimität durch Geschichtserzählungen zu steigern, die von einem prinzipiellen Gegensatz von Glauben und Revolution ausgehen, von dem in der wirklichen Geschichte der Revolution nicht die Rede sein kann. Die Eskalation und Polarisierung waren in hohem Maße kontingent. Die religionsfeindliche Kampagne der Jahre 1793/94 darf weder positiv noch negativ als repräsentativ für die Revolution und alle ihre Schritte, etwa die Erklärung der Menschenrechte, genommen werden.

Wenn diese Eskalation aber kontingent war und wenn die Dynamik der Revolution sich nicht aus einem geschlossenen Weltbild, sondern aus ökonomisch-politischen Motiven und Handlungsverkettungen erklärt, dann verliert die nächste Stufe in der Korrektur des hier als konventionelle Sichtweise bezeichneten Geschichtsbildes massiv an Bedeutung. Es genügt deshalb, ganz kurz auf die Frage einzugehen, ob denn die Aufklärung antireligiös gewesen sei und eine erbitterte Auseinandersetzung zwischen Aufklärung und Christentum die ideologische Vorbereitung für die Zuspitzung in den Religionskämpfen der Revolution gewesen sei. Je mehr die Aufklärung auch in anderen Ländern als Frankreich in der Forschung der letzten Jahrzehnte in den Blick genommen wurde, desto mehr löste sich das Bild von der konstitutiven Areligiosität oder Antireligiosität der Aufklärung auf.14) Es zeigte sich, daß in den meisten europäischen Ländern die Aufklärung besser als religiöse Reformbewegung denn als Versuch zur Überwindung oder Beseitigung von Religion aufzufassen ist. Wenn wir zentrale Motive der Denk- und Religionsgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts ohne die Unterstellung einer prinzipiellen Religionsfeindschaft wahrzunehmen lernen, dann erweisen sie sich vielmehr als Teile einer innerchristlichen oder innerjüdischen Lerngeschichte, aus der vereinzelte Denker Motive zur prinzipiellen Distanzierung von Christentum und Judentum gezogen haben.

Die Kontingenz der religionspolitischen Eskalationsgeschichte der Französischen Revolution ändert aber nicht nur den Blickwinkel, aus dem die Aufklärung wahrgenommen wird. Auch die Geschichte des Christentums im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts wird dadurch anders beleuchtet, als wenn sie im Sinne einer bloßen Vorbereitung der Revolution gedacht wird. Der französische Katholizismus vor der Revolution erscheint dann mehr als »die Ernte der Ziele und Ideale des Reformkatholizismus anstatt als ein Verfall, der eine Revolution ankündigt, die eine antikatholische Wende nehmen wird«.15) In vieler Hinsicht erweist sich das achtzehnte Jahrhundert dann eher als ein Zeitalter, in dem vor allem auf dem Lande das Glaubenswissen von Klerus und einfachen Gläubigen auf ein nie vorher erreichtes Niveau gelangte und religiöse Verinnerlichung und Individualisierung voranschritten. So wichtig das Bündnis von Thron und Altar für das politische Schicksal des Christentums in der Revolution war, so wenig erschöpft dieser politische Aspekt die religiöse Dynamik der Zeit vor, in und nach der Revolution.

Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 ist unverkennbar ein Produkt der frühesten Phase der Revolution. Der geschichtsmächtig gewordene Text wurde in den radikaleren Phasen sogar verworfen und mehrfach durch einen anderen ersetzt. Die uns vorliegende und immer mehr eine Aura übergeschichtlicher Geltung annehmende Version ist, nüchtern betrachtet, mit vielen Zufälligkeiten ihrer Entstehung behaftet. Die Debatten wurden nach wenigen Tagen, ohne wirklich abgeschlossen zu sein, abgebrochen. Dadurch sind den Spekulationen darüber, was bei einer vorgesehenen Fortsetzung der Debatten noch in den Katalog der Rechte aufgenommen worden wäre, soziale Rechte etwa, bis heute Tür und Tor geöffnet. Die Überhöhung dieses Textes zum »geistigen Zentrum, in dem sich all die mannigfaltigen Bestrebungen zu einer sittlichen Erneuerung und zu einer politischen und sozialen Reform begegnen und in dem sie ihre ideelle Einheit finden«,16) ist deshalb durchaus nicht völlig plausibel.

Schon ein oberflächliches Studium des Wortlauts zeigt, daß von einer antireligiösen Stoßrichtung – und das ist unsere Leitfrage hier – nicht die Rede sein kann. Nicht nur enthält die Präambel die Bekundung, daß die Nationalversammlung die im einzelnen aufzuführenden Menschen- und Bürgerrechte »in Gegenwart und unter dem Schutz des Höchsten Wesens« anerkennt und erklärt.17) Die Menschenrechte werden als solche als »heilig« bezeichnet; in Artikel XVIIX