Hectór Salgado steckt in der Klemme. Als Argentinier fühlt er sich fremd in Barcelona, sein Privatleben ist eine einzige Katastrophe, gegen ihn laufen interne Ermittlungen, weil er einen afrikanischen Mädchenhändler krankenhausreif geprügelt hat. Umso erfreulicher, dass sein neuer Fall so einfach scheint. Er soll den mutmaßlichen Unfalltod eines Jugendlichen aus bestem Hause untersuchen. Doch je tiefer er in der Familiengeschichte des Verstorbenen gräbt, desto verstörender sind seine Entdeckungen, die bis weit in die Vergangenheit reichen. Als dann ein weiterer Unfall geschieht, gerät Salgado selbst unter Mordverdacht …

Antonio Hill, geboren 1966 in Barcelona, hat Psychologie studiert und arbeitet als Übersetzer. Der Sommer der toten Puppen ist sein erster Roman und der Auftakt einer Serie um den Inspektor Héctor Salgado.

Thomas Brovot lebt als Übersetzer (u. a. Mario Vargas Llosa, Juan Goytisolo, Federico García Lorca) in Berlin.

Antonio Hill

DER SOMMER DER
TOTEN PUPPEN

ROMAN

Aus dem Spanischen von
Thomas Brovot

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel

El verano de los juguetes muertos

bei Debolsillo, Barcelona.

Umschlagabbildung: Guy Moberly / Getty Images

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Toni Hill Gumbao, 2011

© Random House Mondadori S.A., 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: cornelia niere, münchen

eISBN 978-3-518-77940-8

www.suhrkamp.de

DER SOMMER DER
TOTEN PUPPEN

Für meine Mutter – für alles

GESTERN

Schon seit langem denke ich nicht mehr an Iris, nicht an den Sommer, in dem sie starb. Ich muss versucht haben, das alles zu vergessen. So wie ich auch die Albträume hinter mir gelassen habe. Und jetzt, wo ich mich erinnern will, kommt mir nur der letzte Tag in den Sinn, als hätten diese Bilder alle vorherigen gelöscht. Ich schließe die Augen und versetze mich in das große alte Haus, den Schlafsaal mit den leeren Betten, die auf die Ankunft der nächsten Kindergruppe warten. Ich bin sechs Jahre alt und im Ferienlager, und ich kann nicht schlafen, weil ich Angst habe. Nein, falsch. An dem Morgen war ich richtig tapfer. Ich habe die Regeln missachtet und mich in die Dunkelheit getraut, nur um Iris zu sehen. Aber sie war ertrunken, trieb im Schwimmbecken, umringt von einem Kranz toter Puppen.

MITTWOCH

1

Beim ersten Klingeln schaltete er den Wecker aus. Acht Uhr morgens. Er lag schon seit Stunden wach, trotzdem wurden seine Glieder plötzlich schwer, und er musste sich einen Ruck geben, um aus dem Bett zu kommen und unter die Dusche zu gehen. Das kalte Wasser verscheuchte die Benommenheit und spülte auch einen Teil der Zeitverschiebung fort. Am Nachmittag zuvor war er gelandet, nach einem endlosen Flug Buenos Aires-Barcelona, der sich an der Gepäckermittlung im Flughafen noch hinzog. Die Schalterdame hatte seinen letzten Rest Geduld aufgezehrt.

Er trocknete sich ab und bemerkte verärgert, dass der Schweiß ihm schon wieder über die Stirn rann. So war der Sommer in Barcelona: feucht und klebrig wie ein zerlaufenes Eis. Mit dem Handtuch um die Hüften blickte er in den Spiegel. Er sollte sich rasieren. Scheiß drauf. Er ging zurück ins Zimmer und wühlte in dem halb leeren Schrank nach einer Unterhose. Zum Glück waren in dem abhandengekommenen Koffer nur Wintersachen, so dass er ohne Schwierigkeiten ein kurzärmliges Hemd und eine leichte Hose fand. Barfuß setzte er sich aufs Bett. Er atmete tief durch und war versucht, sich wieder hinzulegen, die Augen zu schließen und seinen Termin, den er um Punkt zehn hatte, zu vergessen, auch wenn er genau wusste, dass er dazu nicht in der Lage wäre. Héctor Salgado versäumte nie einen Termin. Und sei’s mit meinem Henker, sagte er sich und musste grinsen. Er tastete nach dem Handy auf dem Nachttisch. Der Akku war fast leer, und ihm fiel ein, dass das Aufladegerät in dem verflixten Koffer steckte. Er suchte im Telefonbuch nach der Nummer von Ruth und sah ein paar Sekunden aufs Display, ehe er die grüne Taste drückte. Er rief sie immer auf dem Handy an, wohl weil er sich nicht eingestehen wollte, dass sie auch eine Festnetznummer hatte. Eine andere Wohnung. Einen anderen Partner. Ihre Stimme, etwas heiser, noch bettschwer, brummte ihm ins Ohr:

»Héctor …«

»Habe ich dich geweckt?«

»Nein … Na ja, ein bisschen.« Im Hintergrund hörte er gedämpftes Lachen. »Aber ich musste sowieso aufstehen. Seit wann bist du zurück?«

»Tut mir leid. Seit gestern Nachmittag, aber die Idioten haben mein Gepäck verschusselt, und ich durfte einen halben Tag auf dem Flughafen zubringen. Mein Handy macht gleich schlapp. Ich wollte euch nur Bescheid sagen, dass ich gut angekommen bin.«

Es kam ihm auf einmal absurd vor. Er fühlte sich wie ein plapperndes Kind.

»Wie war der Flug?«

»Ruhig«, log er. »Und Guillermo schläft noch?«

Ruth lachte.

»Immer wenn du aus Buenos Aires kommst, hört man das«, sagte sie. »Guischermo ist nicht da, hatte ich es dir nicht gesagt? Er ist ein paar Tage an den Strand gefahren, zu einem Freund.«

»Aha.« Pause. In letzter Zeit kam er beim Sprechen immer ins Stocken. »Und wie geht es ihm so?«

»Ihm gut, aber ich schwöre dir, wenn die Pubertät noch lange andauert, schicke ich ihn dir zurück.« Ruth lachte leise. Er musste an ihre Art zu lachen denken, an diesen plötzlichen Glanz in ihren Augen. Ihr Ton schlug um: »Héctor? Sag mal, hat sich in deiner Sache etwas getan?«

»Um zehn muss ich zu Savall.«

»Na, erzähl’s mir später.«

Wieder Pause.

»Essen wir zusammen?« Héctors Stimme war nur ein Fädchen. Ruth brauchte etwas zu lange für die Antwort.

»Ich bin schon verabredet, tut mir leid.« Noch ehe er etwas sagen konnte, war das Handy ein Stück totes Plastik. Wie er dieses Ding hasste. Seine Augen wanderten zu seinen nackten Füßen. Und mit einem Satz, als hätte das kurze Gespräch ihm den nötigen Schwung gegeben, stand er auf und ging erneut zu dem halb leeren Schrank.

Héctor wohnte im oberen Stock eines Hauses mit drei Wohngeschossen in Poblenou. Nichts Besonderes, eins der vielen typischen Gebäude in diesem Viertel, nicht weit von der Metrostation und nur ein paar Straßen von jener anderen Rambla entfernt, die in keinem Touristenführer stand. Erwähnenswert an seiner Wohnung war allein die Miete, die nicht gestiegen war, als die Gegend sich etwas auf ihre bevorzugte Lage nahe dem Strand einzubilden begann, dazu eine Dachterrasse, die praktischerweise zu seiner Privatterrasse geworden war, weil der zweite Stock leer stand und im ersten die Vermieterin wohnte, eine fast siebzigjährige Frau, die keinerlei Interesse hatte, drei Treppen hochzusteigen. Er und Ruth hatten die alte Terrasse hergerichtet, einen Teil überdacht und ein paar Pflanzen aufgestellt, die jetzt vor sich hinwelkten, außerdem einen Tisch mit Stühlen, um im Sommer dort zu Abend zu essen. Er war kaum noch hinaufgegangen, seit Ruth ausgezogen war.

Die Tür im ersten Stock ging gerade auf, als er vorbeikam, und Carmen, die Hausbesitzerin, grüßte ihm lächelnd hinterher. Seit Héctor allein wohnte, schaute er manchmal morgens auf einen Kaffee bei ihr vorbei, aber heute hatte er weder Zeit noch Lust.

Aktenzeichen 1231-R

H. Salgado

Laufendes Verfahren

Drei kurze Zeilen, notiert mit schwarzem Filzstift auf einem gelben, an einer gleichfarbigen Mappe klebenden Post-it. Um sie nicht sehen zu müssen, schlug Kommissar Savall die Mappe auf und ging noch einmal die Akte durch. Als würde er sie nicht auswendig kennen. Aussagen. Vernehmungsprotokolle. Ärztliche Gutachten. Fotos der Wunden von diesem Dreckskerl. Fotos des armen nigerianischen Mädchens. Fotos der Wohnung im Raval, wo sie die jungen Frauen zusammengepfercht hatten. Sogar mehrere Zeitungsausschnitte, darunter ein paar – wenige, Gott sei Dank – ziemlich perfide, in denen man eine eigene Tatversion zum Besten gab und mit Begriffen wie Rassismus, Polizeibrutalität und Machtmissbrauch nicht sparte. Er schlug die Mappe wieder zu und sah nach der Uhr auf dem Schreibtisch. Zehn nach neun. Fünfzig Minuten. Er kippte gerade den Stuhl zurück, um die Beine auszustrecken, als jemand an die Tür klopfte und sie fast gleichzeitig öffnete.

»Ist er schon da?«, rief er.

Die Frau, die in sein Dienstzimmer trat, schüttelte den Kopf und stützte, ganz langsam, beide Hände auf die Lehne des Stuhls vor dem Tisch. Sie schaute ihm in die Augen und kam gleich zur Sache:

»Was willst du ihm sagen?« Die Frage klang wie ein Vorwurf, eine Salve aus fünf Wörtern.

Savall zuckte kaum merklich mit den Achseln.

»Wie die Dinge stehen. Was soll ich ihm schon sagen?«

»Genial.«

»Martina …« Er wollte harsch klingen, aber er schätzte sie zu sehr, als dass er ihr wirklich böse sein konnte. Und leiser: »Mir sind die Hände gebunden, verdammt noch mal.«

Sie gab nicht auf. Sie zog den Stuhl zurück, setzte sich und schob ihn wieder an den Tisch.

»Das könnte denen so passen. Der Kerl ist längst aus dem Krankenhaus, ist wieder zu Hause und macht ungerührt weiter mit seinen Geschäften, während …«

»Mach mich nicht fertig, Martina!« Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Noch am Morgen hatte er sich vorgenommen, ruhig zu bleiben. Er öffnete die gelbe Mappe, nahm die Fotos heraus und legte sie auf den Tisch wie vier Asse beim Poker. »Der Kiefer gebrochen. Zwei gebrochene Rippen. Prellungen an Schädel und Unterleib. Ein Gesicht wie aus dem Schlachthaus. Und alles nur, weil Héctor den Kopf verloren hat und bei diesem Arschloch auftauchen musste. Und er hat noch Glück gehabt, keine inneren Verletzungen. Er hat ihn nach allen Regeln der Kunst verdroschen.«

Das alles wusste sie. Sie wusste auch, dass sie genau dasselbe gesagt hätte, wenn sie auf dem Stuhl gegenüber säße. Aber wenn eins die Unterinspektorin Martina Andreu auszeichnete, dann die unbedingte Loyalität zu ihren Leuten: zu ihrer Familie, ihren Kollegen, ihren Freunden. Für sie teilte sich die Welt in zwei klar getrennte Seiten, ihre Leute und die anderen, und Héctor Salgado gehörte ohne Zweifel zur ersten Gruppe. Mit einer Stimme, die ihren Chef mehr verstörte als der Anblick der Fotos, konterte sie:

»Warum holst du nicht die anderen raus? Die von dem Mädchen. Warum sehen wir uns nicht an, was dieser schwarze Hexenmeister der Kleinen angetan hat?«

Savall seufzte.

»Vorsicht von wegen schwarz.«

Martina verdrehte die Augen, aber Savall ließ sich nicht beirren.

»Das fehlte uns gerade noch. Und das mit dem Mädchen rechtfertigt gar nichts. Du weißt es, ich weiß es, Héctor weiß es. Und was noch schlimmer ist, der Anwalt von diesem Arschloch auch. Vorgestern war er hier.«

Martina zog eine Augenbraue hoch.

»Ja, der Anwalt von … wie immer er heißt. Ich habe Klartext mit ihm gesprochen: Entweder er zieht die Anzeige gegen Salgado zurück, oder sein Mandant hat noch auf dem Weg zum Klo einen Polizisten an den Hacken.«

»Und?«

»Er hat gesagt, er müsse sich mit ihm beraten. Ich habe ihm eingeheizt, sosehr ich konnte. Off the record. Er wollte mich heute Morgen anrufen, vor zehn Uhr.«

»Und wenn er darauf eingeht? Was hast du ihm dafür versprochen?«

Savall blieb keine Zeit für eine Antwort. Das Telefon auf seinem Schreibtisch schrillte wie eine Alarmglocke. Er bedeutete der Unterinspektorin zu schweigen und nahm ab.

»Ja?« Erst machte er ein erwartungsvolles Gesicht, doch dann war seine Miene nur noch Ärger. »Nein. Nein! Ich bin im Gespräch. Ich rufe sie später zurück.« Statt aufzulegen, ließ er den Hörer einfach los, und mit einem Blick zu Martina fügte er hinzu: »Joana Vidal.«

Sie schnaubte genervt.

»Schon wieder?«

Der Kommissar zuckte die Achseln.

»In ihrer Sache gibt es nichts Neues, oder?«

»Nichts. Hast du den Bericht gesehen? Der Fall ist glasklar. Der Junge hat nicht aufgepasst und ist aus dem Fenster gefallen. Reines Pech.«

Savall nickte.

»Ein guter Bericht übrigens. Absolut vollständig. Er ist von der Neuen, nicht wahr?«

»Scheint ein kluges Mädchen zu sein.«

Wenn es von Andreu kam, durfte man ein Lob ernst nehmen.

»Ein tadelloser Lebenslauf«, sagte der Kommissar. »Jahrgangsbeste, vorzügliche Referenzen ihrer Vorgesetzten, Lehrgänge im Ausland … Selbst Roca hat einen lobenden Bericht geschrieben, und mit Neuen kennt der keine Gnade. Wenn ich mich recht erinnere, ist da die Rede von einem Naturtalent für die Ermittlungsarbeit.«

Martina wollte gerade eine ihrer bissigen feministischen Bemerkungen über das Talent und den mittleren Intelligenzquotienten von Männern und Frauen bei der Polizei anbringen, als erneut das Telefon klingelte.

Im selben Moment setzte die junge Ermittlerin Leire Castro in der Kaffeeküche des Kommissariats ihr Naturtalent ein, um einen der ausgeprägtesten Züge ihres Charakters zu befriedigen: die Neugier. Einem Kollegen, der sie seit Wochen so liebenswürdig wie diskret anlächelte, hatte sie vorgeschlagen, zusammen einen Kaffee zu trinken. Er schien ein anständiger Kerl zu sein, sagte sie sich, und ihm Hoffnungen zu machen, verursachte ihr ein kleines Schuldgefühl. Doch seit sie in der Hauptwache an der Plaza Espanya war, hatte das Rätsel um Héctor Salgado ihre Wissbegier angefacht.

Leire, den Espresso schon in der Hand, setzte nach ein paar höflichen Worten ihr schönstes Lächeln auf und kam zur Sache.

»Wie ist er? Ich meine Inspektor Salgado.«

»Du kennst ihn gar nicht? Ach ja, klar, du bist gekommen, als er in Urlaub ging.«

Sie nickte.

»Wie soll ich sagen«, fuhr er fort. »Ganz normal, sah zumindest so aus.« Er lächelte. »Bei Argentiniern weiß man nie. Ein paar Tage bevor alles passierte hätte ich dir gesagt, dass er ein ruhiger Mensch ist. Nie ein lautes Wort. Effizient. Stur, aber geduldig. Na ja, ein guter Polizist eben. Von der gewissenhaften Sorte, eine richtige Spürnase. Und plötzlich, zack, setzt sein Verstand aus und er dreht durch. Wir waren alle völlig baff. Wir haben schon genug schlechte Presse, und dann das.«

»Was ist eigentlich passiert? Ich habe etwas in der Zeitung gelesen, aber …«

»Er hat den Kopf verloren. Nicht mehr und nicht weniger. Keiner sagt es laut, weil er Inspektor ist und so weiter, und der Kommissar hat ihn immer sehr geschätzt, aber so ist es. Er hat den Kerl halb totgeprügelt. Es heißt, er hätte seine Entlassung beantragt, aber der Kommissar hätte das Schreiben zerrissen. Jedenfalls hat er ihn einen Monat in Urlaub geschickt, bis die Wogen sich glätten. Und die Presse hat sich auch nicht weiter auf das Thema gestürzt. Hätte schlimmer kommen können.«

Leire nippte an ihrem Kaffee. Er schmeckte seltsam. Was hätte sie für eine Zigarette gegeben, aber sie hatte beschlossen, mit der ersten bis nach dem Mittagessen zu warten, und das waren noch mindestens vier Stunden.

»Ich werde alles abstreiten, was ich dir gesagt habe«, sagte er lächelnd. »Du weißt ja, alle für einen und einer für alle, wie die Musketiere. Aber es gibt Dinge, die sind nicht gut. Ich muss jetzt gehen, die Pflicht ruft.«

»Klar«, sagte sie zerstreut. »Bis später.«

Sie blieb noch kurz in der Küche und dachte nach über das, was sie zu Inspektor Salgado gelesen hatte. Im März, vor knapp vier Monaten, hatte Héctor Salgado eine Operation gegen den Frauenhandel geleitet. Seine Leute waren schon mindestens ein Jahr hinter einer Mafia her, die junge afrikanische Frauen, hauptsächlich aus Nigeria, ins Land schleuste und mit ihnen mehrere Bordelle in Vallès und Garraf versorgte. Je jünger, desto besser, was sonst. Die aus Osteuropa und aus Südamerika waren aus der Mode gekommen, sie waren zu schlau und zu anspruchsvoll. Die Freier wollten blutjunge, verängstigte Schwarze, mit denen sie ihre niedersten Triebe befriedigen konnten, und die Händler hatten sie auch besser im Griff, diese analphabetischen, völlig verwirrten Mädchen, nachdem sie sie aus ihrer extremen Armut gelockt hatten mit dem vagen Versprechen auf eine Zukunft, die nicht schlimmer sein konnte als ihre Gegenwart. Aber sie war schlimmer. Manchmal fragte sich Leire, wie sie nur so blind sein konnten. Hatten sie jemals gesehen, dass eine ihrer Vorgängerinnen als reiche Frau zurückgekehrt war und ihre Familie aus dem Elend herausholte? Nein, es war eine Flucht nach vorn, eine Verzweiflungstat, zu der viele von ihren eigenen Eltern und Ehemännern gedrängt wurden und zu der sie keine Alternative hatten. Eine Reise, die in einem stinkenden Loch endete, wo die Mädchen begriffen, dass Hoffnung etwas war, was sie sich nicht leisten konnten. Es ging nicht mehr um ein besseres Leben, sondern ums Überleben. Und den Schweinen, die sie in der Hand hatten, war jedes Mittel recht, ihnen einzubläuen, warum sie da waren und was zu ihren neuen und widerlichen Verpflichtungen gehörte.

Sie spürte, wie es in ihrer Hosentasche vibrierte, und zog ihr Privathandy heraus. Als sie sah, von wem die SMS war, hellte sich ihr Gesicht auf. Javier. Einsachtzig, dunkle Augen, nicht zu viel und nicht zu wenig Haare auf dem gebräunten Oberkörper, ein schräg tätowierter Puma genau unter den Bauchmuskeln. Und obendrein sympathisch, sagte sich Leire, während sie den kleinen weißen Briefumschlag öffnete. »Hey, bin grad aufgewacht und du bist schon weg. Warum gehst du immer ohne was zu sagen? Sehn wir uns heute Abend wieder und du machst mir morgen das frühstück? Vermiss dich nähmlich. Küsse.«

Der Typ war reizend, keine Frage, wenn auch nicht gerade ein Rechtschreibexperte. Und kein Frühaufsteher, dachte sie mit einem Blick auf die Uhr. Außerdem hatte etwas an dieser Nachricht sie alarmiert, was mit Vertretern des männlichen Geschlechts zu tun hatte, die nach ein paar Nächten Erklärungen wollten und andeuteten, sie hätten es gern, dass man ihnen ihren Cola Cao ans Bett bringt. Zum Glück waren es nicht viele. Die meisten akzeptierten ihr Spiel ohne Probleme, Sex, umstandslos und ohne Fragen, was sie offen ansprach. Aber immer gab es einen wie Javier, der es nicht ganz kapierte. Sie tippte: »Heute Abend kann ich nicht. Ich rufe dich an. Übrigens, wer nämlich mit h schreibt, ist dämlich, denk dran. Bis bald!« Vorsichtshalber schaltete sie das Handy lautlos. Beim letzten Schluck Kaffee, er war schon fast kalt, begann sie zu zittern. Sie atmete tief ein, zum zweiten Mal jetzt, und dachte, dass sie es nicht weiter aufschieben konnte. Diese morgendliche Übelkeit musste eine Erklärung haben. Gleich heute gehst du in die Apotheke, verordnete sie sich, auch wenn sie im Grunde genau wusste, dass die Antwort auf ihre Fragen in einem wunderschönen Wochenende vor einem Monat lag.

Langsam erholte sie sich, und nach ein paar Minuten fühlte sie sich wieder so weit bei Kräften, dass sie an ihren Schreibtisch zurückkehrte. Sie setzte sich an den Rechner und machte sich an die Arbeit; im selben Moment ging die Tür zum Büro von Kommissar Savall zu.

Der dritte Mann im Raum mochte denken, er verdiene sein Geld als Anwalt, aber wenn es nach Redegewandtheit ging, sah die Zukunft, die ihn erwartete, recht düster aus.

Zum vierten Mal in zehn Minuten wischte sich Damián Fernández mit demselben zerknitterten Papiertaschentuch den Schweiß ab, bevor er auf eine Frage antwortete.

»Ich habe es Ihnen schon gesagt. Ich habe Dr. Omar vorgestern Abend gesehen, gegen neun Uhr.«

»Und haben Sie ihm meinen Vorschlag mitgeteilt?«

Héctor wusste nicht, von welchem Vorschlag Savall sprach, aber er konnte es sich denken. Er warf seinem Chef einen respektvollen Blick zu, auch wenn in seinen Augen noch die Wut blitzte. Jeder Kuhhandel mit diesem Arschloch, und wenn es ihm selber den Hals rettete, perforierte ihm den Magen.

Fernández bejahte. Er lockerte den Knoten seiner Krawatte, als würde er ersticken.

»Wort für Wort.« Er räusperte sich. »Ich habe ihm ge-sagt … habe gesagt, dass es keinen Grund gibt, ihn anzunehmen. Dass Sie sowieso nicht viel gegen ihn in der Hand haben.« Er musste den aufsteigenden Zorn im Gesicht des Kommissars bemerkt haben, denn er rechtfertigte sich sofort. »So ist es doch. Jetzt, wo das Mädchen tot ist, gibt es keinen Zusammenhang mehr zwischen ihm und der Sache mit dem Frauenhandel … Sie könnten ihn nicht mal wegen Fehlbehandlung anklagen, er ist ja auch kein Arzt. Wenn sie ihn dafür einsperren, müssten sie alle Kartenleger, Wunderheiler und Gurus von Barcelona einsperren … Aber ich habe ihm klargemacht«, beeilte er sich hinzuzufügen, »dass die Polizei hartnäckig sein kann, und da er sich schon wieder erholt hätte von dem Überfall«, und bei dem Wort warf er einen raschen, nervösen Blick zu Inspektor Salgado, der ungerührt dasaß, »wäre es vielleicht besser, die Sache zu vergessen …«

Der Kommissar stöhnte.

»Und, haben Sie ihn überzeugt?«

»Ich denke, schon … Obwohl«, korrigierte er sich, »gesagt hat er nur, dass er darüber nachdenkt. Dass er mich am nächsten Tag anruft.«

»Und das hat er nicht.«

»Nein. Ich habe gestern in seiner Praxis angerufen, mehrmals, aber niemand hat abgenommen. Es hat mich nicht gewundert, der Doktor nimmt keine Anrufe entgegen, wenn er arbeitet.«

»Und deshalb sind Sie heute Morgen gleich zu ihm gegangen?«

»Ja. Ich hatte den Termin mit Ihnen, und na ja …«, er zögerte, »ich habe auch nicht gerade viel zu tun in diesen Tagen.«

Und in den nächsten auch nicht, dachten Savall und Salgado gleichzeitig.

»Und Sie sind hingegangen. Gegen neun.«

Fernández nickte. Er schluckte. Bleich wäre ein beschönigendes Wort gewesen, um die Farbe seines Gesichts zu beschreiben.

»Haben Sie einen Schluck Wasser?«

Der Kommissar seufzte.

»Hier drinnen nicht. Aber wir sind bald fertig. Fahren Sie fort, Herr Fernández, bitte.«

»Es war noch keine neun Uhr. Der Bus ist gleich gekommen und …«

»Zur Sache, bitte!«

»Ja, klar. Ich wollte nur sagen, dass es noch ein bisschen früh war, aber ich bin trotzdem hochgegangen, und als ich an der Tür klingeln wollte, habe ich gesehen, dass sie offen war.« Er hielt inne. »Na ja, ich habe gedacht, ich könnte hineingehen, vielleicht war ihm ja was passiert.« Er musste erneut schlucken, und als er sich den Schweiß abwischte, löste sich das Papiertaschentuch unter seinen Händen auf. »Es roch … es roch seltsam. Verfault. Ich habe nach ihm gerufen und bin zu seinem Sprechzimmer gegangen, am Ende des Flurs … Die Tür stand auch ein Stück offen, und da … habe ich sie aufgestoßen. Mein Gott!«

Den Rest hatte er schon am Anfang erzählt, noch bevor Héctor kam, mit völlig verstörter Miene. Der Schweinekopf auf dem Tisch. Blut überall. Und keine Spur von dem Doktor.

»Das hat uns gerade noch gefehlt«, grummelte der Kommissar, als der nervöse Anwalt das Zimmer verlassen hatte. »Die Presse wird wieder auf uns herumhacken wie die Geier.«

Savall nahm den Hörer ab und tippte eine Durchwahl. Eine halbe Minute später kam die Unterinspektorin Andreu herein.

Martina wusste nicht, was passiert war, aber die Miene ihres Chefs verhieß nichts Gutes. Nachdem sie Héctor zum Gruß zugezwinkert hatte, beschränkte sie sich aufs Zuhören. Die Neuigkeit, die Savall ihr mitteilte, mochte sie ebenso überrascht haben wie die beiden anderen, aber sie ließ sich nichts anmerken. Sie hörte nur aufmerksam zu, stellte ein paar Fragen und ging wieder, um die Anweisungen auszuführen. Héctor schaute ihr hinterher. Er zuckte fast zusammen, als er seinen Namen hörte.

»Héctor. Hör mir gut zu, denn ich werde es nur einmal sagen. Ich habe für dich den Hals riskiert. Ich habe dich vor der Presse verteidigt und vor meinen Vorgesetzten. Ich habe alle möglichen Strippen gezogen, um die Sache zu begraben. Und ich hätte es fast geschafft, dass der Kerl die Anzeige zurückzieht. Aber wenn du noch einmal einen Fuß in diese Praxis setzt, wenn du dich irgendwie in die Ermittlungen einmischst, werde ich nichts mehr für dich tun können. Ist das klar?«

Héctor schlug die Beine übereinander. Er wirkte hoch konzentriert.

»Es ist mein Kopf, der unter der Guillotine liegt«, sagte er schließlich. »Meinst du nicht, ich habe das Recht zu entscheiden, wofür sie ihn mir abschneiden?«

»Du hast Scheiße gebaut, und du weißt es. Jetzt hast du die Folgen zu tragen.«

Das Gute war, dass Héctor es wusste, aber in dem Moment war es ihm egal. Die Schläge, die er dem Kerl verpasst hatte, schienen ihm gerechtfertigt. Es war, als wäre der ernsthafte Inspektor Salgado in der Zeit zurückgegangen in seine Jugend in einem Viertel von Buenos Aires, wo die Streitereien nach Schulschluss mit Gewalt geklärt wurden. Wo man mit aufgeplatzter Lippe nach Hause kam und versicherte, man habe einen Fußball ins Gesicht bekommen. Etwas Rebellisches saß ihm noch immer wie ein Stachel in der Brust; unreif für einen Polizisten, der gerade dreiundvierzig geworden war.

»Und an das Mädchen denkt keiner mehr?«, fragte Héctor bitter. Eine ärmliche Verteidigung, aber es war die einzige, die ihm blieb.

»Ich weiß nicht, ob es in deinen Kopf geht, Salgado.« Savall hob unwillkürlich die Stimme. »Wir hatten mit dem Ganzen nichts zu tun. Soweit wir wissen, gab es keinerlei Kontakt zwischen diesem Dr. Omar und dem Mädchen, nachdem die Wohnung mit den eingesperrten Frauen geräumt war. Ohne das Wort des Mädchens können wir nicht einmal beweisen, dass es vorher einen Kontakt gab. Sie war in der Jugendstrafanstalt. Irgendwie hat sie es angestellt, sich … das anzutun.«

Héctor nickte.

»Der Sachverhalt ist mir bekannt.«

Aber der Sachverhalt vermochte das Grauen nicht zu fassen. Das Gesicht eines Mädchens, aus dem noch im Tod die panische Angst sprach. Kira war noch keine fünfzehn gewesen, konnte kein Wort Spanisch und auch sonst keins aus einer mehr oder weniger bekannten Sprache, und dennoch hatte sie es geschafft, sich mitzuteilen. Sie war klein, sehr dünn, in ihrem glatten Puppengesicht leuchteten die Augen, Augen von einer Farbe zwischen Bernstein und Kastanie. Wie die anderen Mädchen hatte Kira, bevor sie auf der Suche nach einer besseren Zukunft ihr Land verließ, an einer Zeremonie teilgenommen. Es waren die sogenannten Juju-Riten, und nachdem sie das Wasser getrunken hatten, das man zum Waschen eines Toten benutzte, überreichten die jungen Mädchen Schamhaar oder Menstruationsblut, worauf man es vor einem Altar ausbreitete. Auf diese Weise verpflichteten sie sich, ihre Schlepper nicht anzuzeigen, die angeblichen Schulden für die Reisekosten abzubezahlen und überhaupt ohne Widerspruch zu gehorchen. Wer sich an das Versprechen nicht hielt, wurde mit einem schrecklichen Tod bestraft, dem eigenen oder dem der zurückgelassenen Verwandten. Kira hatte es am eigenen Leib erfahren; niemand hätte gedacht, dass ein so zarter Körper so viel Blut enthalten könnte.

Héctor versuchte das Bild aus seinem Kopf zu verscheuchen, ebenjenen Anblick, weshalb er sich damals auf den Weg zu Dr. Omar gemacht hatte, um ihm sämtliche Knochen zu brechen. Der Name des Mannes war bei den Ermittlungen zur Sprache gekommen, seine Aufgabe war es angeblich gewesen, sich um die Gesundheit der Mädchen zu kümmern. Doch die Angst, die sie durchblicken ließen, als sie seinen Namen hörten, deutete darauf hin, dass die Tätigkeit des Doktors über eine rein medizinische Betreuung hinausging. Keine von ihnen traute sich, über ihn zu sprechen. Der Kerl hatte vorgebeugt und die Mädchen einzeln oder zu zweit in seine Praxis bringen lassen. Was man ihm allenfalls vorwerfen konnte, war, dass er während der Behandlung keine Fragen gestellt hatte, eine recht dürftige Anschuldigung gegenüber einem Heilkünstler, der sich in seiner schmierigen Praxis um Einwanderer ohne Papiere kümmerte.

Doch Héctor hatte sich nicht damit zufriedengegeben, und er hatte die Jüngste gewählt, die am verschüchtertsten war, und sie mit Hilfe eines Dolmetschers unter Druck gesetzt. Allerdings ohne Erfolg. Am nächsten Tag nahm ihre Kinderhand eine Schere und verwandelte den eigenen Körper in einen blutspeienden Brunnen. In den achtzehn Jahren, die Héctor bei der Polizei war, hatte er dergleichen nicht gesehen, und er hatte Junkies vor sich gehabt, die kein einziges heiles Stück Haut mehr besaßen, wo sie sich spritzen konnten, Menschen, die Opfer jeder Art von Gewalt geworden waren. Aber das nicht. Von Kiras verstümmeltem Körper ging etwas Perverses und Makabres aus, etwas Unwirkliches, was sich mit Worten weder beschreiben noch erklären ließ, was ins Reich der Albträume gehörte.

»Noch etwas.« Savall fuhr fort, als herrschte über den vorhergehenden Punkt Einigkeit. »Bevor du wieder antrittst, wirst du ein paar Sitzungen bei einem unserer Psychologen absolvieren. Es ist unvermeidlich. Dein erster Termin ist morgen um elf. Also tu dein Mögliches, um vernünftig zu erscheinen. Angefangen beim Rasieren.«

»Kann ich gehen?«

»Einen Augenblick. Ich will keine Erklärungen gegenüber der Presse, kein Wort. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen, und du hast nichts zu sagen. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«

Als er sah, dass Héctor nickte, stieß Savall einen Seufzer aus und lächelte. Salgado stand auf und wollte sich verabschieden.

»Wie war’s eigentlich in Buenos Aires?«

»Wie soll ich sagen … Es ist wie mit dem Perito Moreno, ab und zu sieht es so aus, als würde das Eis in Stücke krachen, aber der Gletscher hält sich.«

Das Telefon auf Savalls Tisch klingelte erneut, und Héctor wollte die Gelegenheit nutzen und endlich verschwinden.

»Warte, geh noch nicht. Ja …? Scheiße …! Sag ihr, ich rufe gleich zurück … Dann sag es ihr halt noch mal!« Savall legte wütend auf.

»Schwierigkeiten?«, fragte Héctor.

»Was wäre das Leben ohne.« Savall blieb ein paar Sekunden still, wie immer, wenn eine Idee ihn ansprang. »Hör zu«, sagte er langsam, »ich glaube, du könntest etwas für mich tun. Inoffiziell.«

»Soll ich jemanden verprügeln? Dafür habe ich ein Händchen.«

»Setz dich. Die Frau, die mich eben sprechen wollte, war Joana Vidal.«

»Keine Ahnung, wer das ist.«

»Klar, du warst schon weg, als es passiert ist. In der Johannisnacht.« Savall nahm ein paar Mappen vom Tisch, bis er die gesuchte fand. »Marc Castells Vidal, neunzehn Jahre alt. Er hatte zu Hause eine kleine Party gefeiert, nur ein paar Freunde und er. Irgendwann in der Nacht ist der Junge aus dem Fenster gefallen. Er war sofort tot.«

»Supermannkomplex auf Koks?«

»Im Blut waren keine Drogen. Alkohol ja, aber nicht übermäßig. Offenbar hatte er die Angewohnheit, sich ins Dachfenster zu setzen und eine Zigarette zu rauchen. Vielleicht hat er das Gleichgewicht verloren und ist gestürzt, vielleicht ist er gesprungen … Er war ein seltsamer Junge.«

»Mit neunzehn sind alle seltsam.«

»Aber nicht alle fallen aus dem Fenster«, widersprach Savall. »Die Sache ist, dass Marc Castells der Sohn von Enric Castells war. Der Name sagt dir was, ja?«

Héctor überlegte kurz, ehe er antwortete.

»Vage … Wirtschaft, Politik?«

»Beides. Er hatte ein Unternehmen mit mehr als hundert Angestellten. Dann hat er in Immobilien investiert und war einer der wenigen, die rechtzeitig ausgestiegen sind, bevor die Blase platzte. Und in letzter Zeit ist sein Name immer wieder als mögliche Nummer zwei bei irgendeiner Partei genannt worden. Es gibt ziemlich viel Bewegung auf den Listen für die nächsten Regionalwahlen, und es heißt, man brauche neue Gesichter. Bisher ist noch nichts bestätigt, aber es ist klar, dass ein paar rechte Parteien ihn gerne in ihren Reihen sähen. Wie auch immer, der Junge ist jedenfalls aus dem Fenster gestürzt oder gesprungen. So sieht’s aus. Mehr haben wir nicht.«

»Aber?«

»Aber seine Mutter akzeptiert es nicht. Sie ist die Exfrau von Castells … Eine etwas undurchsichtige Geschichte. Joana hat ihren Mann und den Jungen verlassen, als der ein oder zwei Jahre alt war. Sie hat ihn erst bei der Beerdigung wiedergesehen.«

»Schöne Scheiße.«

»Wohl wahr. Ich kannte sie. Joana, meine ich. Bevor sie gegangen ist. Wir waren Freunde.«

»Sieh an. Die alte Garde aus Barcelona. Polokameraden? Ich vergesse immer wieder, wie sehr man sich hier gegenseitig unterstützt.«

Savall machte eine abfällige Handbewegung.

»Wie überall. Aber wie ich schon sagte, offiziell haben wir nichts. Ich kann niemanden auf den Fall ansetzen, und die anderen Inspektoren haben schon genug zu tun. Aber …«

»Aber ich bin frei.«

»Genau. Wirf einfach mal einen Blick auf den Fall. Sprich mit den Eltern, mit den jungen Leuten, die auf der Party waren. Schließ die Sache für Joana endgültig ab.« Savall senkte die Augen. »Du hast doch auch einen Sohn. Sie möchte nur, dass sich jemand mit dem Tod ihres Jungen befasst. Bitte.«

Héctor wusste nicht, ob sein Chef ihn wirklich um einen Gefallen bat oder ihn lieber beschäftigen wollte, um Schlimmeres zu verhindern.

Savall gab ihm den Bericht mit einem zweifelhaften Lächeln.

»Morgen setzen wir uns mit Andreu zusammen. Sie hatte den Fall übernommen, zusammen mit der Neuen.«

»Wir haben eine neue Kollegin?«

»Ja, ich habe sie zu Andreu geschickt. Sie ist ein bisschen grün hinter den Ohren, aber in der Theorie ist sie fit. Die Beste bei allen Prüfungen, eine kometenhafte Laufbahn. Du weißt ja, wie die Jugend drängt.«

Héctor nahm die Mappe und stand auf.

»Freut mich sehr, dass du wieder bei uns bist.« Es kam der feierliche Moment. Savalls mimisches Repertoire war vielfältig. Ebenjetzt erinnerte ihn sein Gesicht an Robert Duvall. Väterlich, streng, zugewandt und ein wenig zu glatt. »Und halt mich auf dem Laufenden, wie es dir mit dem Seelenklempner ergeht.«

Sie verabschiedeten sich.

»Und denk dran«, Savall drückte seinem Untergebenen die Hand. »Das mit Castells ist inoffiziell.«

Héctor löste sich aus dem Griff, aber der Satz schwirrte noch als Echo durch seine Gedanken, wie diese Schmeißfliegen, die immer wieder mit dem Kopf gegen die Scheibe knallen.

2

Zum ersten Mal seit vielen Tagen verspürte Joana Vidal so etwas wie Ruhe. Jemand hatte sie zurückgerufen, hatte ihr gesagt, dass man weiter ermitteln werde, bis der Fall endgültig abgeschlossen sei. »Wir werden der Sache auf den Grund gehen, Joana, das verspreche ich dir«, hatte Savall versichert. Und das war das Einzige, was sie wollte, nur deshalb war sie in Barcelona geblieben, einer Stadt, aus der sie geflohen und in die sie nur zurückgekehrt war, um der Beerdigung eines Sohnes beizuwohnen, den sie so gut wie gar nicht kannte.

Jetzt musste sie einfach warten, sagte sie sich, während sie in der Wohnung mit den hohen Decken, die ihrer Großmutter gehört hatte, zwischen den Möbeln auf und ab ging, alten Möbeln unter Laken, die einmal weiß gewesen waren und eine gespenstische Atmosphäre schufen. Ihre Schritte führten sie auf den Balkon, wo eine grüne, schon lädierte Außenjalousie über dem Geländer hing und eine Reihe von Blumentöpfen vor der Sonne schützte, in denen nur noch trockene Erde war. Sie trat hinaus, und in der Mittagssonne musste sie die Augen zukneifen. Der Balkon war die Grenze zwischen zwei Welten: auf der einen Seite die Calle Astúries, das Herz des Viertels Gràcia und mittlerweile eine Fußgängerzone, durch die lärmende Menschen in leuchtend bunter Kleidung zogen; auf der anderen die mit den Jahren ergraute Wohnung, deren Wände einmal elfenbeinfarben gewesen waren. Sie musste bloß die Jalousie hochziehen, das Licht hereinfluten lassen, die Lebenden mit den Toten vermengen. Aber es war nicht der Zeitpunkt. Noch nicht. Erst musste sie entscheiden, wohin sie gehörte.

Wegen der Hitze ging sie wieder hinein und trat in die Küche. In der Wohnung der Großmutter spürte sie Frieden. Trotz ihrer fünfzig Jahre war sie tatsächlich das Einzige, was sie als ihren Besitz bezeichnen konnte. Als die Großmutter starb, hatte sie ihr die Wohnung vererbt, gegen den Willen aller, wahrscheinlich weil sie nicht mehr bei Verstand war und schon vergessen hatte, dass Joana die schlimmste Sünde begangen hatte, eine Sünde, die ihr die einhellige Verurteilung der ganzen Familie eintrug. Sie nahm die Plastikkanne aus dem Kühlschrank und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Vielleicht hatten die anderen recht, dachte sie, als sie auf dem Resopalstuhl saß, das Glas in beiden Händen, vielleicht hatte sie etwas Grausames oder zumindest Widernatürliches an sich. »Nicht mal die Tiere verlassen ihre Jungen«, war es ihrer Mutter entfahren. »Verlass deinen Mann, wenn du willst. Aber das Kind?«

Das Kind. Marc. Als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, schlief er in einer Wiege, und als sie ihn wiedersah, lag er in einem Eichensarg. Und beide Male hatte sie nichts anderes gefühlt als eine fürchterliche Angst vor der eigenen Gefühllosigkeit. Das Kind, das sie gezeugt und geboren hatte, bedeutete ihr so wenig wie der Junge mit dem stoppelkurzen Haar und dem lächerlichen schwarzen Anzug, der hinter der Scheibe in der Leichenhalle lag.

»Du bist ja tatsächlich gekommen.« Die Stimme hatte sie gleich erkannt, aber sie brauchte ein paar Sekunden, ehe sie sich traute, den Kopf zu wenden.

»Fèlix hat mir Bescheid gesagt«, sagte sie, fast wie zur Entschuldigung.

Die Leichenhalle war in einer angespannten Stille versunken, aus der sich bald das Getuschel erheben sollte. Als sie hereinkam, hatte niemand sie sonderlich beachtet – eine Frau wie viele andere, mittleren Alters, in diskretem Dunkelgrau –, aber jetzt spürte sie, wie sich ihr die Blicke in den Rücken bohrten. Überraschung, Neugier, Vorwurf. Die plötzliche Hauptperson einer Beerdigung, die nicht die eigene war.

»Enric …« Eine weitere männliche Stimme, die von Fèlix, gab ihr die nötige Kraft, dem Mann in die Augen zu blicken, der vor ihr stand, einen Schritt zu nah.

»Ich wollte ihn sehen«, sagte sie nur. »Ich gehe gleich wieder.«

Enric blickte sie befremdet an, trat aber zur Seite, als wollte er sie auffordern, mit hinauszugehen. Es war der gleiche Gesichtsausdruck wie damals, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, als er nach Paris kam und sie bat, wieder nach Hause zu kommen. Er hatte mehr Fältchen um die Augen, aber die Mischung aus Ungläubigkeit und Verachtung war noch dieselbe. Und auch jetzt fragte sich Joana, wie er nur so adrett aussehen konnte: glatt rasiert, der Anzug wie angegossen, der Krawattenknoten tadellos und die Schuhe blitzend. Ein perfektes Bild, das in ihr gleich wieder Abneigung hervorrief.

»Komm, Joana«, schaltete Fèlix sich ein, »ich begleite dich.«

Im Vorbeigehen sah sie ein spöttisches Lächeln auf den Lippen ihres Exmanns, und unmerklich zuckte sie zusammen. Als wären die Jahre nicht vergangen. Enric wartete ein paar Sekunden, ehe er sprach, so lange, bis sie sich ein wenig entfernt hatten und er die Stimme heben musste.

»Die Beerdigung ist morgen um elf. Falls du Zeit hast und kommen möchtest. Fühl dich aber bloß nicht verpflichtet.«

Sie erriet den Blick, den Fèlix seinem Bruder sandte, aber sie ging weiter auf die Tür zu: ein halbes Dutzend Schritte, die ihr endlos vorkamen, umgeben von einer anschwellenden Flut abfälliger Kommentare. Auf der Schwelle blieb sie stehen, drehte sich zur Halle um und bemerkte mit Befriedigung, dass das Stimmengewirr abbrach.

Sie schlug auf den alten Kühlschrank, um das nervige Surren zu stoppen. Die Stille dauerte kaum ein paar Sekunden. Sie ging langsam zu ihrem Laptop und war heilfroh über den kabellosen Internetanschluss. Sie setzte sich an den Tisch und öffnete ihre Mailbox. Drei Nachrichten, zwei von Kollegen an der Universität, wo sie katalanische Literatur unterrichtete, und eine von einem unbekannten Absender: immeriris@gmail.com. Als sie die letzte gerade anklickte, hörte sie die Türklingel, eine Musik aus anderen Zeiten.

»Fèlix!« Er stand vor der Schwelle und stützte sich am Türrahmen ab, noch keuchend vom Treppensteigen. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie noch im Morgenrock war. »Was machst du hier?«

Er blieb weiter stehen und erholte sich von den fünf Treppenläufen.

»Entschuldige, komm doch rein. Ich bin es nicht gewohnt, Besuch zu empfangen«, sagte sie mit einem flüchtigen Lächeln. »Ich ziehe mich eben an, setz dich irgendwo hin … Die Wohnung war zugeschlossen, du weißt ja.«

Als sie zurückkam, stand er wartend vor dem Balkon und schaute hinaus. Er war immer ein großer, stattlicher Mann gewesen, aber die Jahre hatten ihm ein paar Kilos zu viel beschert, die sich nun um die Hüfte abzeichneten. Er nahm ein Taschentuch, um sich den Schweiß wegzuwischen, und Joana dachte, dass er wahrscheinlich der einzige Mensch war, der noch Stofftaschentücher benutzte.

»Möchtest du etwas trinken?«

Er drehte sich um, lächelte und folgte ihr in die Küche.

»Geht es dir gut hier?«, fragte er.

Sie nickte.

»Die Wohnung ist ein bisschen vernachlässigt, aber angenehm«, sagte sie und hielt ihm ein Glas Wasser hin. Er trank es in einem Zug.

»Weshalb bist du hier, Fèlix?« Die Frage kam unvermittelt, und diesmal machte sie sich nicht die Mühe, sie abzufedern.

»Ich wollte sehen, wie es dir geht.« Er lächelte erneut, wenig überzeugend. »Ich sorge mich nun mal um meine Mitmenschen.«

Sie lehnte sich an die Wand. Die Kacheln, klein und weiß, mehr Krankenhaus als Küche, waren kühl.

»Mir geht es gut.« Und sie konnte es sich nicht verbeißen, hinzufügen: »Du kannst es Enric ruhig sagen. Ich werde so lange bleiben, wie es sein muss.«

»Mein Bruder hat mich nicht geschickt. Ich mache mir Sorgen um dich.«

Das stimmte wohl, sie wusste es. Immer, selbst in den schlimmsten Momenten, hatte sie auf Fèlix zählen können. Schon seltsam, dass er trotz priesterlicher Berufung und Soutane der Einzige gewesen war, der sie zu verstehen schien.

»Und ich wollte dich auch etwas fragen. Hat Marc sich mit dir in Verbindung gesetzt? Im letzten Jahr?«

Sie schloss die Augen und nickte. Bevor sie antwortete, schnappte sie nach Luft und schaute zur Decke. Der Kühlschrank fing wieder an zu surren.

»Er hat mir mehrere E-Mails geschickt. Jetzt reicht’s aber!« Sie schlug mit der Hand fest gegen die weiße Tür. »Entschuldige, das macht mich wahnsinnig.«

Er setzte sich auf einen der Küchenstühle, und Joana fürchtete schon, das alte Ding könnte unter seinem Gewicht zusammenbrechen.

»Ich habe ihm deine Mailadresse gegeben«, erklärte er. »Er hatte mich aus Irland darum gebeten. Ich habe lange gezögert, aber am Ende konnte ich es ihm nicht abschlagen. Marc war kein Kind mehr und hatte ein Recht darauf, bestimmte Sachen zu erfahren.«

Sie sagte nichts. Sie wusste, dass Fèlix noch nicht fertig war.

»Eine Woche später hat er mir wieder geschrieben und gesagt, er hätte keine Antwort erhalten. Stimmt das?«

Joana spürte, wie ihr die Tränen kamen.

»Was sollte ich ihm schon schreiben?« Ihre Stimme war belegt. »Seine Mail kam aus dem Nichts … Zuerst wusste ich nicht, was ich antworten sollte.« Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und wischte eine Träne fort. »Ich habe lange nachgedacht. Habe mehrere Mails geschrieben, sie aber nicht abgeschickt. Er hat nicht lockergelassen. Schließlich habe ich ihm geantwortet, und wir haben uns eine Weile geschrieben, bis er die Möglichkeit andeutete, nach Paris zu kommen.«

»Aber gesehen hast du ihn nicht?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Du weißt, ich bin immer ein Feigling gewesen«, sagte sie mit bitterem Lächeln. »Ich habe ihn wohl wieder enttäuscht.«

Fèlix senkte den Kopf.

»Und deshalb bist du hiergeblieben? Du tust dir nur weh. Du musst dein Leben wiederfinden. Zurück nach Paris gehen.«

»Sag mir nicht, was ich tun soll.« Sie stand reglos da und schaute dem Priester zum ersten Mal unbeirrt in die Augen. »Ich werde so lange bleiben, bis ich weiß, was in dieser Nacht passiert ist. Vage Erklärungen helfen mir nicht weiter: Vielleicht ist er gestürzt, vielleicht gesprungen. Vielleicht wurde er gestoßen …«

»Es war ein Unfall, Joana. Quäl dich nicht.«

Sie hörte ihm nicht zu und sprach weiter, als könnte sie nichts dagegen tun.

»Außerdem verstehe ich nicht, wie Enric sich damit zufriedengibt. Will er gar nicht wissen, was passiert ist?«

»Er weiß es doch. Es ist eine Tragödie, aber man muss nach vorne schauen. Sich im Schmerz zu wälzen macht krank.«

»Die Wahrheit macht nicht krank, Fèlix! Sie ist notwen-dig … Ich zumindest brauche sie.«

»Wozu?« Er ahnte, dass sie der Sache auf den Grund kamen. Er stand auf und trat auf seine ehemalige Schwägerin zu. Ihr knickten die Knie ein, und Fèlix fing sie gerade noch auf.

»Um zu wissen, ob es meine Schuld ist«, flüsterte Joana. »Und welchen Preis ich bezahlen muss.«

»Das ist nicht der Weg, eine Schuld zu sühnen, Joana.«

»Eine Schuld zu sühnen!« Sie fasste sich an die Stirn, schwitzte wieder. »Ihr redet immer noch das gleiche Zeug, Fèlix. Schuld sühnt man nicht, man trägt sie!«

Das Echo ihres Satzes hallte in der gespannten Stille wider.

»Du wirst vielen Menschen, die es zu verwinden suchen, weh tun. Enric, seiner Frau, ihrer Tochter. Mir. Auch ich mochte Marc sehr, er war für mich mehr als ein Neffe. Ich habe ihn aufwachsen sehen.«

Mit einem Ruck richtete sie sich auf, nahm Fèlix’ Hand und schob sie beiseite.

»Manchmal ist der Schmerz unvermeidlich, Fèlix.« Sie schenkte ihm ein trauriges Lächeln, bevor sie ihm den Rücken zukehrte, auf die Wohnungstür zuging und sie öffnete. Als er vor ihr stand, sagte sie: »Man muss lernen, mit dem Schmerz zu leben.« Dann schlug sie einen anderen Ton an und sprach fast kühl: »Heute Morgen habe ich mit Savall gesprochen. Er hat einen Inspektor mit dem Fall betraut. Sag das Enric. Die Sache ist noch nicht beendet, Fèlix.«

Er nickte, gab ihr einen Kuss auf die Wange und trat hinaus. Auf dem Treppenabsatz drehte er sich noch einmal zu ihr um.

»Es gibt Dinge, die man besser nicht beendet.«

Joana tat, als hätte sie es nicht gehört, und schloss die Tür. Ihr fiel die ungelesene Mail wieder ein.

3

Es war halb eins, als ein Taxi Héctor vor dem Postamt absetzte, diesem massigen alten Klotz, der sich schützend vor einem labyrinthischen Geflecht von Gassen behauptete, auf dass sie der Designerwelle, wie sie über das Born und andere nahe Viertel hereingebrochen war, widerstanden. Hier hängten die Leute noch ihre Wäsche auf die Balkons, in so engen Straßen, dass man die des Nachbarn von gegenüber hätte klauen können; die Fassaden waren kaum zu sanieren, da es keinen Platz für Gerüste gab, und in den Erdgeschossen, die einmal leer standen, waren jetzt unzählige pakistanische Lebensmittelgeschäfte und die eine oder andere Bar mit Kachelbildern an den Wänden. Und ebendort, in der Calle Milans, im zweiten Stock eines schmalen, schmutzigen Hauses, hatte Dr. Omar seine Praxis. Als Héctor an die Ecke kam, griff er instinktiv nach seinem Handy, aber dann fiel ihm ein, dass er es am Morgen zuhause gelassen hatte und dass es ohnehin nicht funktionierte. Scheiße … Er hatte Andreu anrufen und sie fragen wollen, ob Vorsicht geboten war. Anders als er gedacht hatte, war die Straße menschenleer. Aber das war nicht verwunderlich. Viele Bewohner hier, die nach wie vor keine Papiere hatten, waren nach dem Besuch der Polizei lieber zuhause geblieben. Tatsächlich stand ein Polizist vor der Tür, ein noch recht junger, den Héctor vom Sehen kannte.

»Inspektor Salgado.« Der Junge schien nervös zu sein. »Die Unterinspektorin Andreu hat mir Bescheid gesagt, dass Sie vielleicht kommen.«

Héctor fragte ihn mit den Augen, und der Beamte nickte.

»Gehen Sie hinauf. Ich habe Sie nicht gesehen. Anweisung der Unterinspektorin.«

Im Treppenhaus roch es feucht. Er begegnete einer farbigen Frau, die den Blick nicht vom Boden wandte. Auf dem Absatz im zweiten Stock gab es zwei Türen, jeweils aus einem anderen Holz. Die dunklere war die, zu der er wollte. Er musste daran denken, was an jenem unheilvollen Abend geschehen war, und plötzlich schoss ihm alles wieder ins Bewusstsein: der blutig zugerichtete Körper des schwarzen Mädchens und eine dichte, herbe Wut, die er weder herunterschlucken noch ausspucken konnte; dann seine geballte Faust, wie sie auf einen Kerl einschlug, den er ein einziges Mal im Vernehmungsraum gesehen hatte. Nebelhafte Bilder, an die er sich am liebsten nicht erinnert hätte.

Héctor steht an der Ecke und wartet, bis die vierte Zigarette, die er sich in der letzten halben Stunde angezündet hat, aufgeraucht ist.