INHALT
* * * (daß die Gegenwart ...)
Bleiben wir
Gegen mich selbst
Weder Ewigkeit noch Nichts
Wie kommt man
Das also
Ungewissheit
Widmung
Stawisko
Besuch
Lubliner Elegie
Vergessen
Gleichzeitig
Kommuniqué
Vision
Weit
Verwaist
Erinnerung an einen Verlust
Bellagio
Ich bin wieder dort
Stadtrand
Manuskript
Im Abendlicht
Allee
Ich bin der Allgegenwart der Rose müde
* * * (Es ist frostig ...)
Coda
Rückkehr
Rechnung
Ermattung
Fragen
Ich sah sie
Früher später
Victoria
Apollinaire zu Ehren
Medium
Ich erinnere mich
Jener Abend
Marsch
Dennoch lese ich weiter ihre Gedichte
Unterwegs
Schulfreundinnen
Rückschau
Unzutreffendes streichen
Spitze
Langes Wachen
Dank
Monteverdi zu Ehren
Vor Tagesanbruch
Fuge
Lied
Brille
Tastend
Abschied von einem Vogel
Zeitlos
Ich sah
Das alles
Existenzbeweis
Keats’ Grab
Daimonion
Größe
Vincent
Tiger im Haus
Warum finden wir uns ab
Nachts in Bellagio
Neon
Unerreicht
Trost
Gerechtigkeit
Bagatelle
Rostropowitsch
Woanders
Jetzt
So wird es sein
Klar unklar
An William Carlos Williams
Tintoretto zu Ehren
Das Wort
Science fiction
Anspruch
Via Condotti
Schöne Tränen
Nicht fragen
So viel
Oder
Preis
Hier und jetzt
Gabe
Nachwort
Julia Hartwig
UND ALLES WIRD ERINNERT
Gedichte 2001-2011
Herausgegeben und aus dem Polnischen
übertragen von Bernhard Hartmann
Verlag Neue Kritik
Die Auswahl des Bandes stammt aus den folgenden Gedichtbänden von Julia Hartwig: Nie ma odpowiedzi, Sic!, Warschau 2001 / Bez pożegnania, Sic!, Warschau 2004 / To wróci, Sic!, Warschau 2007 / Jasne niejasne, a5, Krakau 2009 / Gorzkie żale, a5, Krakau 2011.
Der Verlag dankt dem »Book Institut –
the ©POLAND Translation Program«
für die Förderung der Publikation.
© by Julia Hartwig 2013
Alle deutschsprachigen Rechte Verlag Neue Kritik
Die Originalausgabe erschien 2013 im Verlag Neue Kritik
© für die E-Book-Ausgaben Verlag Neue Kritik 2014
Umschlag Barski & Hüneke
E-Book Erstellung: Madeleine Schmorré
ISBN 978-3-8015-0500-4 (epub)
ISBN 978-3-8015-0501-1 (mobipocket)
ISBN 978-3-8015-0502-8 (pdf)
www.neuekritik.de
ES GIBT KEINE ANTWORT
(Nie ma odpowiedzi, 2001)
* * *
daß die Gegenwart so sich mit Abwesenheit füllt
daß die Kälte so in einstiger Wärme taut
daß die Tage so von vergangenen Tagen zehren
daß jedes Grün immer an jenes Grün erinnert
BLEIBEN WIR
Bleiben wir noch wach
solange die Musik so schön spielt
Bleiben wir noch wach
solange der Morgen nicht graut
Solange wir mit der Nacht Schritt halten können
im Dunkel mit dem wir uns verbrüdern möchten
Bleiben wir noch wach
solange die Klänge die Zeit verlieren
Bleiben wir noch wach
Bleiben wir wach
GEGEN MICH SELBST
Alle Dichter der Welt schreiben dasselbe Gedicht
beschreiben denselben Fels in der Meeresbrandung
denselben Verlust der keinem von ihnen erspart blieb
verspüren im selben Moment die Ekstase des Daseins
legen sich in derselben Nacht ins Bett der Finsternis
Sie kennen den allumfassenden Zweifel der so stark ist
daß die Welt für sie zu existieren aufhört
und beim Versuch sie wiederaufzubauen
bersten sie vor ihrer Überfülle
In der großen Symphonie die sie aufführen
schüttelt der Dirigent nur den ersten Geigern die Hand
und obwohl alle demselben harmonischen Gesetz unterliegen
möchte jeder von ihnen einzeln geliebt werden
WEDER EWIGKEIT NOCH NICHTS
Die Zeit ist in uns und um uns
obwohl sie nicht wir ist
dabei ist unser Herzschlag
auch ihr Maß
Unsere Schritte messen sie
doch wie eine mythische Götterbotin
eine leichtfüßige Iris mit unbekannter Botschaft
entfernt sie sich immer weiter von uns
Andere würden vielleicht sagen
sie bleibt bei uns wie ein penibler Buchhalter
der das Schwinden unseres Kapitals notiert
das wir wohl oder übel
aufbrauchen müssen
Wohl nichts auf der Welt
wird so verschwendet
oder so sparsam verwendet
wie sie
Doch die Fürsten
die sich ihr nicht untertan fühlen
heißen sie beiseite treten
Hat nicht Baudelaire gesagt:
Was mich groß gemacht hat war auch der Müßiggang
WIE KOMMT MAN
Wie kommt man – muß man das denn? – in die Unterwelt
die wie ein Labyrinth ist und in der man dem Faden
folgen kann den die müde Ariadne spann
(Du bist Ariadne du stirbst verlassen am Ufer)
Wie kommt man – muß man das denn? – in die Unterwelt
der Erinnerung die schläft und darauf wartet geweckt zu werden
auf die Gnade des Einverständnisses mit allem was war
oder aber auf die demütigende Erkenntnis ohnmächtig zu sein
gegenüber der Vergangenheit Was ein Ganzes sein sollte
liegt da wie ein umgestürzter Wolkenkratzer
voll vom Nachhall der Beschwörungen und Abschiede
von Spiegeln mit den Gesichtern derer die gingen
Wo soll man Bilanz ziehen? Wem Rechenschaft ablegen?
DAS ALSO
Das also war nötig
damit die Zeit mit sich eins wurde
damit im tiefsten Zweifel das Sein
in der Niederlage sich offenbarte
wie ein noch immer von Wellen umspülter Stein
wie die Lücke einer amputierten Hand
die im Phantomschmerz daran erinnert
daß es sie gab
UNGEWISSHEIT
Wenn sie wußten was sie von der Kunst wollten
mieden sie die Trugbilder des Schönen
und wenn sie der Versuchung erlagen – bereuten sie ihre Schwäche
So verführerisch ist aber die Schönheit der Welt
so groß unsere Ungewißheit was Schein ist und was Wahrheit
daß wir immer wieder auf Gefühle und Empfindungen hereinfallen
und auf keine Freuden verzichten wollen
selbst wenn wir wissen wie billig und flüchtig sie sind
WIDMUNG
Courbet Ehre erweisen
der die Steinmetze malte, das Begräbnis in Ornans
und der niemandem zu gefallen versuchte
nicht einmal der Natur die er demütigen wollte
indem er sie nüchtern und ungeschönt zeigte
Nach dem Fall der Pariser Kommune 1871
verhaftete man ihn als Mittäter beim Sturz der Vendôme-Säule
Gewiß hatte er sie gestürzt
denn er besaß die Kraft Samsons der das Haus der Philister einriß
Was ihn nicht hinderte mit Vallès Bier zu trinken
und sich mit Corot und Daumier in der Brasserie Andler zu zeigen
Der Fourierist und Sozialist sagte von sich:
»Courbet hat keine Ideale und keine Religion«
Er gewährte Baudelaire Obdach
und porträtierte ihn
Das Schicksal weiß zuweilen genau wen es zusammenführt
und sei es damit uns diese Begegnung erleuchtet
Seine bescheidenen kleinen Brüder bewunderten ihn
die Barbizonisten die versuchten zu malen wie er
und gleichzeitig anders mit Demut vor der Natur
Auf der Flucht vor dem Gefängnis wo er einige Zeit verbrachte
und wo ihn Boudin und Monet besuchten
versteckte er sich in der Schweiz
Doch still zu altern paßte nicht zu seinem Leben
Er trank zuletzt dreizehn Liter Weißwein am Tag
und starb an Leberzirrhose und Wassersucht
Nach seinem Tod verkaufte man für drei Franken
alles was sich im Atelier befand
Bilder goldene Rahmen und Schachteln mit Farben
STAWISKO 1
Den Kopf auf den Bettrahmen gestützt
hört der alte Meister Mahlers Lieder und weint
Er weiß nicht mehr daß wir da sind
In diesem Jahr starb schon seine Lebensgefährtin
die dionysischen Feuer der Jugend sind lang erloschen
Die Freunde sind tot oder wandten sich ab
Vor ihm liegt noch die Zeit im Pariser Vorstadthotel
wo Einsamkeit und Krankheit wie Geister aus einem Malczewski-Bild2
ihn ans Bett fesseln werden
Er wird noch in die Räume zurückkehren in denen er sein Leben verbrachte
in den verwilderten Garten in dem er die Jahreszeiten begrüßte
und erregt flüsternd Urania3 die Fichte die Schwester anrief
die ihm mit dem Finger ihres Stammes den Himmel zeigte
Die Erinnerung an vergangene Tage begleitete ihn bis zuletzt
Er notierte den Moment als ein junger Dichter vor ihn trat
gezeichnet vom hellen Stern der Vorsehung
und ihn mit den Worten begrüßte: Ich verehre Sie
BESUCH
für Jan Lebenstein4 und Zbigniew Herbert5
Eintagsfeuerwerk, Ball der Toten!