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Is(s) was!?

Die Autoren

Die Fachärzte Dr. med. Monika Gerlinghoff und Dr. med. Herbert Backmund haben das Therapie-Centrum für Essstörungen (TCE) am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München gegründet und das innovative tagklinische Verhaltenstherapie-Programm inklusive Essprogramm entwickelt. Seit 2008 betreiben sie das TCEforum zusammen mit ehemaligen Patientinnen mit den Schwerpunkten Öffentlichkeitsarbeit, Früherkennung sowie Nachsorge und Rückfallprophylaxe.

www.tceforum.de beratung@tceforum.de

Inhalt

Einführung

Teil 1
Essstörungen sind Krankheiten

Das schlanke Schönheitsideal

Eine Essstörung beginnt ohne Dramatik

Die verschiedenen Essstörungen

Symptome, Ursachen und Auslöser

Medizinische Komplikationen

Behandlungsmöglichkeiten

Teil 2
Hinter den Kulissen von Essstörungen

Wer ist gefährdet?

Essgestörte Patientinnen offenbaren ihre Ideologie

»Innenansichten« von Patientinnen mit einer Essstörung

Abschiedsbriefe an die Krankheit

Therapieverständnis und Therapieerleben

Wie Eltern am Therapieerfolg mitwirken können

Die Selbsthilfe-Initiative

Ratschläge für Betroffene und Angehörige

Weitere Informationsquellen

Materialien zum Download

Einführung

Es ist unser Anliegen, über Essstörungen als Krankheiten aufzuklären. Wir möchten aber auch um Verständnis werben für diese in ihrer Krankheit gefangenen jungen Menschen. Wir lassen einige unserer ehemaligen Patientinnen zu Wort kommen, weil nur sie darüber Auskunft geben können, was es bedeutet, an einer Essstörung zu leiden.

Wir hoffen, dass möglichst viele Leserinnen und Leser nachempfinden können, dass das Streben nach einer dünnen Figur vielleicht ganz zu Anfang wichtig war, aber in der Krankheit kaum von Bedeutung ist und dass die Probleme ganz woanders liegen.

Krankheiten treffen meist nicht nur einen einzelnen Menschen, sondern fast ebenso die Gemeinschaft, in der er lebt. So ist es auch bei den Essstörungen. Die Gemeinschaft sind in erster Linie Eltern und Geschwister. Es gehört zu den Besonderheiten der Essstörungen, dass die Kranken lange Zeit nicht als krank wahrgenommen werden. Eine magersüchtige Patientin zum Beispiel wird zunächst bewundert, weil ihr etwas gelingt, was viele in unserer Gesellschaft, vielleicht auch in der Familie, vergeblich versuchen, nämlich abzunehmen, schlanker zu werden. Aber dann, wenn es »genug« ist, wird daraus rasch eine autoritäre Herausforderung, die bald an ihre Grenze kommt. Das Familienklima ist nachhaltig beeinträchtigt, allmählich kommt Sorge auf: Was ist los mit der Tochter, der Schwester, die auf einmal ganz verändert erscheint, launisch, gereizt, unzugänglich, nicht mehr erreichbar ist, aber in der Schule nach wie vor gute oder sogar noch bessere Leistungen erbringt? Lässt sich das alles mit der Phase der Pubertät erklären?

Essstörungen sind besondere, ungewöhnliche Krankheiten. Dafür haben wir eine Reihe von Argumenten. Es beginnt damit, dass junge Menschen mit einer Essstörung lange Zeit nicht das geringste Krankheitsgefühl haben. Im Gegenteil: Sie können etwas, was andere nicht können, nämlich ihre ständigen Hungergefühle beherrschen, ihren Körper sozusagen kontrollieren. Und Hunger begleitet sie ständig – dass der Name »Anorexie« falsch ist, wurde schon 1888 von einem Londoner Arzt kritisch vermerkt! –, allerdings geben ihnen Hungergefühle die Bestätigung, dass sie auf dem vermeintlich richtigen Weg sind. Arztbesuche bringen lange Zeit keine auffälligen Befunde, beruhigen höchstens besorgte Mütter. Auch Patientinnen mit einer Bulimie fühlen sich durch ärztliche Untersuchungen bestätigt, wenn sie keinen krankhaften Befund ergeben. Ihr bulimisches Verhalten verschweigen sie natürlich. Der übliche Anlass für einen Arztbesuch, irgendwelche Beschwerden oder Störungen, entfällt bei Essstörungen also komplett. Ausnahmsweise lassen sich einige bulimische Patientinnen Abführmittel verschreiben, wenn sie daran nach gehäuften Essanfällen großen Bedarf haben.

Patientinnen mit einer Essstörung fühlen sich also nicht nur nicht krank, sie wehren sich heftig dagegen, dass ihnen zum Beispiel von Therapeuten etwas »weggenommen« werden soll, was für sie aktives Handeln, Kraft und Sicherheit bedeutet. Nach langjähriger Erfahrung mit Patientinnen sind wir der Überzeugung, dass essgestörtes Verhalten oft aus einer aus den unterschiedlichsten Gründen als ohnmächtig und hilflos erlebten Situation heraus ausgelöst (nicht verursacht!) wird, etwa Mobbing oder einer drohenden Trennung der Eltern. Aus einem Ausgeliefertsein wird aktives Handeln, aus Ohnmacht erwächst Kraft, aus einem Gefühlschaos wird Kontrolle. Vor allem sind die Patientinnen der festen Überzeugung, ihr essgestörtes Verhalten jederzeit beenden zu können, wenn sie es nur wollen. Doch das ist ein großer Irrtum! Zu diesem Zeitpunkt gibt es kein freiwilliges Handeln mehr, die Kranken werden längst von den Gesetzen der Krankheit beherrscht.

Das ist eine weitere Besonderheit dieser Krankheiten: Gedankeninhalte spielen eine entscheidende Rolle, wir sagen, Essstörungen spielen sich im Kopf ab. Damit meinen wir die eigenartige, für uns schwer nachvollziehbare Gedankenwelt essgestörter Patientinnen, die nach unserer Überzeugung zuerst allmählich und dann immer mehr von den jungen Menschen Besitz ergreift und schließlich ihr »Gehirn besetzt«, wie sie es selbst formulieren. Schließlich sind die Patientinnen ihrer kranken Ideologie ausgeliefert, die sie dazu zwingt, das anfänglich freiwillige Hungern fortzusetzen. Eine »innere Stimme« fordert Höchstleistungen und begleitet das Leben der Patientinnen mit selbstabwertenden, hämischen Kommentaren.

Ein Vergleich der abnormen, essstörungsspezifischen Gedankenwelt bei Patientinnen, die heute in Behandlung sind, und entsprechenden Auskünften von vor 30 Jahren ergibt eine erstaunliche Uniformität. Die Gleichförmigkeit der Gedanken finden wir nicht nur in den schriftlichen therapiebegleitenden Aufzeichnungen unserer Patientinnen über die Jahre, sondern ebenso in Beschreibungen einzelner amerikanischer Patientinnen und Patienten in vergleichbarer Lebenssituation in den 1970er-Jahren (Hilde Bruch: Der goldene Käfig. Das Rätsel der Magersucht. Frankfurt: Fischer 1990).

Die kranke Gedankenwelt kann etwa für Wochen in den Hintergrund rücken, wenn z. B. geistige Leistungen erbracht werden müssen, die nur durch einen erheblichen Aufwand an Lernen und Konzentration möglich sind, wie z. B. im Abitur oder in einem anderen wichtigen Examen. Ist dieses Ziel erreicht, spüren die Patientinnen eine Art Leere im Kopf und das kranke Denken beherrscht sie erneut. Bei einem günstigen Krankheitsverlauf mit Gewichtszunahme, Einstellung der Essanfälle und Teilnahme an einem altersentsprechenden Leben verliert sich das kranke Denken allmählich. Lebensereignisse mit negativer Bewertung können das volle kranke Gedankengut aber wieder in Gang setzen und erneut den Alltag einer magersüchtigen oder bulimischen Patientin diktieren.

Als Therapeuten müssen wir das kranke Denken als wichtiges Symptom akzeptieren und in unserem Behandlungskonzept berücksichtigen. Patientinnen mit einer Essstörung auf Gewicht, Kalorien oder Essanfälle zu reduzieren, wird diesen komplexen Krankheiten nicht gerecht und entspricht keineswegs dem Ausmaß ihrer krankheitsbedingten seelischen Belastung.

In noch einem Punkt sehen wir eine Besonderheit der Essstörungen und das ist die Frage nach dem Ziel einer Behandlung. Der Verlauf einer Essstörung ist nicht geradlinig, schwer vorhersehbar, Rückfälle sind eher die Regel als die Ausnahme und Therapien müssen wiederholt werden. Deshalb halten wir es für notwendig, immer wieder Ziele für eine Wegstrecke der Behandlung zu benennen. Das geht selbstverständlich nur in Zusammenarbeit mit der Patientin.

Wir bemühen uns, während unserer therapeutischen Zusammenarbeit eine Art von Mündigkeit ihrer Krankheit gegenüber, d. h. ein Gefühl für Eigenverantwortung, zu locken, was notwendig ist, wenn Therapieziele definiert werden sollen. Will die Patientin wirklich zunehmen, auch über eine »magische Zahl« hinaus, d. h., schafft sie es z. B. über 50 kg oder bleibt sie bei 49,5 kg stehen? Oder ist sie bereit, Heißhungeranfälle allmählich zu reduzieren, vielleicht ganz aufzugeben, und wie kommt sie dann mit Frustrationen zurecht? Wie reagieren Patientinnen mit einer Essstörung, wenn eine Freundschaft, eine Partnerschaft in die Brüche geht?

Eines ist klar: Für uns ist es nicht das Ziel einer Behandlung von Essstörungen, sozusagen den Zustand vor Ausbruch der Krankheit wiederherzustellen oder anzustreben! Das aber ist das erklärte Ziel vieler Behandlungen in der Medizin, die »Restitutio ad integrum«, wie es früher hieß.

Auch aus noch so fundierten, detaillierten Beschreibungen einer Krankheit in der Fachliteratur geht nur ausnahmsweise hervor, was es bedeutet, an einer Krankheit zu leiden, und wie von einer Krankheit Betroffene diese Krankheit erleben. Über das Kranksein können nur Patientinnen und Patienten berichten. Das ist auch bei Essstörungen so. Aussagen von Patientinnen erlauben einen Blick hinter die Kulissen.

Schriftliche Schilderungen ihrer Störungen und Kommentare zu ihrer Krankheit haben in unserer Behandlung von jeher eine wesentliche Rolle gespielt. Sie sind auch ein wichtiger Bestandteil unseres ambulanten multimodalen Therapiekonzeptes. Auf der einen Seite fördern Aufzeichnungen die Selbsterkenntnis und Selbstverantwortung jeder einzelnen Patientin, sie dienen der raschen Verständigung innerhalb der Gruppengespräche und verschaffen auf der anderen Seite den Therapeuten wertvolle Einsichten in die individuellen Kernprobleme der Krankheit. Auch in diesem Buch sind Texte von Patientinnen zu den verschiedenen Aspekten ihrer jeweiligen Krankheit ein unverzichtbarer Bestandteil des Inhalts.

Unsere therapeutische Erfahrung beginnt in den 1980er-Jahren mit der Entwicklung eines verhaltenstherapeutisch orientierten, Dreiphasen-Gruppenkonzepts am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München (Motivationsphase / stationäre Phase / ambulante Phase), publiziert im Nervenarzt 1988. Im folgenden Jahr haben wir die erste Tagklinik für Essstörungen in Europa am MPIP eröffnet und 1994 ein neues Konzept begonnen, nämlich: teilstationäre Behandlung in Kombination mit therapeutischem Wohnen als Alternative zu einer vollstationären Behandlung.

Zu unseren therapeutischen Grundsätzen gehörten von Anfang an der Umgang des therapeutischen Teams mit den Patientinnen auf Augenhöhe, die Förderung der Eigenverantwortung und die Akzeptanz von Mündigkeit. Das setzt voraus, dass wir unsere Patientinnen und – wenn notwendig – auch die Angehörigen über unser Krankheits- und Therapieverständnis aufgeklärt haben, also etwas praktiziert haben, was heute als Psychoedukation bezeichnet wird.

Im Verlauf unserer langjährigen Tätigkeit mussten wir immer wieder zur Kenntnis nehmen, dass besonders jugendliche Patientinnen oft wochen- und monatelang stationär behandelt wurden, ohne dass irgendjemand ihnen erläutert hat, warum sie essen sollen, für was sie jetzt belohnt oder bestraft werden, warum sie für krank gehalten werden.

Das alles kann keine vertrauensvolle Zusammenarbeit fördern und entspricht nicht unserem Krankheitsverständnis und unserem therapeutischen Konzept, in dem Belohnungs- und Bestrafungsrituale keinen Platz haben.

Um ein angemessenes Krankheitsverständnis zu fördern, haben wir fünf »Is(s) was?!«-Broschüren verfasst. Eine nähere Beschreibung der Broschüren finden Sie ab Seite 178. Drei dieser Broschüren können Sie sich als PDF-Datei kostenlos herunterladen. Den Download finden Sie auf der Produktseite zum Buch auf www.beltz.de. Passwort: Ger_86F. Ausführlicher, als in den kurzen Informationsschriften möglich, möchten wir mit dem vorliegenden Buch unsere Überzeugung zum Ausdruck bringen, dass Psychoedukation am Anfang einer Psychotherapie unumgänglich ist. Wir stützen unsere Überzeugung durch ausführliche Berichte und Aussagen unserer Patientinnen und wünschen uns, dass wir auf diese Weise einen Beitrag zur Verbesserung der Prognose leisten können.

Den Titel »Is(s) was?!« hat eine Patientin mit Magersucht vor vielen Jahren kreiert. Er symbolisiert mit der Doppeldeutigkeit seiner Aussage die Situation von Patientinnen mit einer Essstörung in einer so eindrucksvollen Prägnanz, dass wir ihn für unsere Schriften und Bücher übernommen haben.

Teil 1

Essstörungen sind Krankheiten

Das schlanke Schönheitsideal

Schönheitsideale gehören zur Kultur von Epochen. Unser gegenwärtiges Schönheitsideal ist etwa seit der Mitte des 20. Jahrhunderts schlank und hauptsächlich in der Werbeindustrie präsent.

Die Betonung muss allerdings auf »Ideal« gelegt werden: Aus den unzähligen Angeboten verschiedenster Diäten zur Gewichtsreduktion und der Anzahl der verfügbaren Light-Produkte in Lebensmittelabteilungen kann geschlossen werden, dass das Streben nach einer persönlichen Annäherung an das schlanke Schönheitsideal beachtlich ist. Statistisch gesehen ist der Erfolg nicht ermutigend. In der 2013 publizierten Studie des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) ist zu lesen, dass unter den 18- bis 79-Jährigen 67,1 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen übergewichtig sind, also einen BMI von 25 kg/m² und höher haben. Untergewichtig mit einem BMI von weniger als 18,5 kg/m² waren in dieser Studie im Schnitt nur 2,3 Prozent der Frauen und 0,7 Prozent der Männer!

Und wie halten es die Jugendlichen? Im Faktenblatt des HBSC-Studienverbunds Deutschland zur Studie »Health Behaviour in School-aged Children 2013/14« vom November 2015 heißt es: 42,3 Prozent der Mädchen und 25,6 Prozent der Jungen im Alter von 11 bis 15 Jahren finden sich ein wenig oder viel zu dick, und zwar bei den Mädchen deutlich zunehmend im Alter von 11 bis 15 Jahren.

Eine Diät, um abzunehmen, machten, wiederum mit dem Alter zunehmend, im Durchschnitt 21,8 Prozent der Mädchen gegenüber 11,9 Prozent der Jungen. Das schlanke Schönheitsideal scheint also besonders für die Jugend attraktiv zu sein, wie auch die lebhaften Diskussionen um die TV-Sendung Germany’s Next Topmodel zeigen, die manche Mütter am liebsten verbieten würden.

Der Bericht einer Patientin mit Magersucht beleuchtet viele Aspekte des schlanken Ideals:

Eva, 19 Jahre:

Warum habe ich gerade diese Krankheit übernommen, oder eher, warum hat sie mich so mitgenommen? Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass die Gründe dafür in meiner Kindheit liegen. Ich behaupte, dass das grundlegende Ideal, das ich in der Anorexie vergeblichst versucht habe zu erreichen, sich schon ganz früh in mir geformt hat. Bevor ich überhaupt wusste, was eine Essstörung ist, was Kalorien sind, was eine Diät ist, wurde mir beigebracht, wie die perfekte Frau aussieht und sich gibt.

»Eva, du bist ein Mädchen, irgendwann wirst du eine Frau. Du bist anders als Jungs und hier sind deine Vorbilder.« So stelle ich mir die Stimme des allgemein akzeptierten Ideals der Frau vor. Es ist allerdings nur eine Stimme, denn es gibt keine bestimmte Person, der ich die Vorgaben und Gesetze vorwerfen kann, die mich so in Verzweiflung gebracht haben. Ich habe mir mit der Zeit ein Bild davon zusammengesellt, wie ich sein musste, um als Frau zu funktionieren und akzeptiert zu werden. Ich habe verstanden, dass ich nur so ein sinnvolles und glückliches Leben führen kann. Wo dieses Lernen anfing, kann ich gar nicht genau definieren. Ich weiß allerdings, dass ich mich schon, seit ich denken kann, seit ich Spielkameradinnen hab, im Nachteil gefühlt habe, weil im Gegensatz zu anderen niemand meine zarte Figur bewundert hat. Ich war verunsichert, weil man mir nicht noch ein paar Kekse aufzwang, weil ich doch sonst eingehen würde. Die Freundinnen von mir, die so zerbrechlich und mädchenhaft zart waren, bekamen Aufmerksamkeit, ohne auch irgendwas leisten zu müssen. Das hat ja auch so viel Sinn gemacht, schließlich waren es immer die zarten, hilflosen und immer wieder in Ohnmacht fallenden Prinzessinnen, die am Ende des Märchens ihren Traumprinzen fanden. Genau darum ging es auch in meiner kleinen verkorksten Welt. Ein Mädchen hatte ganz klare Aufgaben im Leben. Sie waren klar und doch, wie ich später herausfand, so unmöglich zu vereinen. Ein Mädchen musste hübsch sein, nicht zu laut, immer niedlich, immer zärtlich und durfte auf keinen Fall übermütig werden. Endlos haben wir Prinzessinnen oder Barbie gespielt und jede stritt sich darum wer denn heute in Ohnmacht fallen dürfte. Natürlich ist der Diät-Wahn selbst vor Zeiten des Internets nicht an mir vorbeigegangen. Kindergärtnerinnen, Mütter oder Babysitter erklärten, sie seien auf Diät. Dafür bekamen sie dann von den anderen Erwachsenen Respekt und Aufmerksamkeit. Mir wurde klar, dass »Weniger ist mehr« das Mantra jeder Frau sein sollte. Mir wurde auch klar, dass das Aussehen unglaublich wichtig ist. Überall im Fernsehen, in Zeitschriften, in Gesprächen, in Büchern, ging es darum, wie man aussieht. Aber noch wichtiger war es, wie Frau aussieht. Ich erwartete von meinem Körper, dass er direkt aus seiner Kindheitsfigur in die einer voll entwickelten Frau umschlug. Niemand sprach davon, wie elend man sich im Zwischenstadium fühlt, wie unterschiedlich sich Mädchen entwickeln. Ich bekam Panik, weil ich nicht mehr genauso wie alle anderen war. Ich konnte mich nirgendwo mehr einfügen. War ich denn jetzt noch ein kleines, hilfloses Mädchen? Oder musste ich mit Deo und Rasierer gewappnet gegen meine Natur ankämpfen? Was waren denn überhaupt diese komischen Anschwellungen auf meiner Brust? Brüste sehen doch viel größer, runder und geformter aus. Dann kam auch noch jeden Monat diese Blutung, warum denn plötzlich diese Unreinheit? Es schien mir, als wollte die Natur mir das Leben immer schwerer machen, indem sie mir immer mehr Hindernisse in den Weg zu meinem Ideal stellte. Als ich in diesem Alter auch noch entdeckte, dass ich einen recht sportlichen Körper hatte, der es schaffte, die schnellste Läuferin in meiner Schulklasse zu sein, schämte ich mich noch mehr für mich selbst. Warum ich? Muskeln, das war doch klar, sind einfach nichts für Mädchen. Ich fühlte mich wie das Gegenteil einer Prinzessin, ich fühlte mich wie ein Trampel. Irgendwann fing ich an, so zu tun, als wäre ich unsportlich, tat so, als wäre ich unglaublich erschöpft, wenn wir Liegestützen machen mussten im Schulsport, um nicht als zu stark dazustehen. Ich wollte schwach sein. Später half mir da die Magersucht, indem ich tatsächlich einmal zitternd im Sportunterricht zusammenbrach. Das war dann doch nicht so zart und damenhaft, wie ich es mir vorstellte. Da ich allerdings immer noch Muskeln hatte und mehrmals die Woche verschiedene Sportarten, die nicht im Ballettstudio stattfanden, betrieb, galt ich als die Starke. Man musste auf mich keine Rücksicht nehmen, ich würde das alles schon packen, die Eva hat doch nie schwache Tage. Ich übernahm diese Rolle dann vollkommen, ich wurde kalt und gefühlslos. Tat so, wie wenn ich tatsächlich niemanden bräuchte, und trat liebend gern in den Pausen gegen die Jungs im Armdrücken an. Als ich allerdings sah, dass das nicht gut ankam und man mich lieber allein ließ, da ich ja eh keinen brauchte, änderte ich mich radikal. Es war eine fast bewusste Entscheidung, in die andere Richtung zu gehen. Alles an mir wurde genau analysiert und versucht zu »verbessern«, ich musste anders werden. Meine Stimme wurde piepsig und leise, ich versuchte, so lieb wie möglich zu sein, bloß nicht in Streit zu geraten. Dann ging es auch an das Essen. Desto weniger, desto besser, desto weiblicher, desto besser. Das hieß also, wenn meine Freundinnen einen Burger bestellten, gab es für mich einen hübschen Salat. Statt Leichtathletik und Volleyball ging ich jetzt nur noch einmal die Woche zum Tanzen. Ganz die Schwache durfte ich allerdings trotzdem nicht sein. Schließlich war das Prinzessin sein nur die Hälfte davon, was in meinen Augen Frau bedeutet. Eine Frau muss auch erfolgreich sein, ich musste also doch irgendwo stark sein. Ich musste gute Noten schreiben, fleißig sein und wenn möglich einen klaren Plan für meine Zukunft haben. Schließlich wollte ich nicht als Hausfrau am Herd landen, das wäre so altertümlich. Mir wird mittlerweile klar, wie unmöglich es ist, diese zwei krassen Gegensätze in einer Person zu vereinen. Als ich immer dünner wurde und so immer näher an die Barbie-Puppen-Ästhetik gelangte, konnte ich einfach nicht mehr rational denken. Ich fluche über die verschwendeten Gehirnzellen, die mir ausblieben, weil eine »weibliche« Frau nun mal in Größe 32 passen muss. Wenn ich weniger wiege als vor einem Jahr, dann läuft alles wie geschmiert, doch wenn ich zugenommen habe, dann läuft was aus dem Ruder. Man muss sich ja schließlich unter Kontrolle haben und keiner, der die Kontrolle hat, würde absichtlich zunehmen – oder?

Eine Essstörung beginnt ohne Dramatik

Der Entschluss eines jungen Menschen, weniger zu essen, eine Diät zu machen, um aus den verschiedensten Gründen schlanker zu werden, kann plötzlich kommen, die Änderung der Essgewohnheiten fällt nicht besonders auf oder wird am häuslichen Esstisch sogar begrüßt. Oft gibt es eine Zielvorgabe von einigen Kilos, und wenn die erreicht ist, hört das mühsame Abnehmen auch wieder auf – in den allermeisten Fällen. Einige wenige beenden ihre Diät nicht, finden Gefallen an dem Gedanken, dass sie ihren Hunger bezwingen können, ihren Körper in der Hand haben. Oder eine Jugendliche erbricht nach einer zu reichlichen Mahlzeit und entdeckt für sich die gute Möglichkeit, immer so viel zu essen, wie sie Lust hat, ohne eine Gewichtszunahme befürchten zu müssen. Ob jemand bewusst zu wenig isst oder zu viel mit anschließendem Erbrechen, es besteht einige Zeit die feste Überzeugung: Wenn ich will, kann ich morgen damit aufhören.

Patientinnen über den Beginn ihrer Krankheit

Marie, 18 Jahre:

Es fing alles ganz harmlos an; ich weiß schon gar nicht mehr so genau, wie alles anfing. Es waren sicher mehrere Ereignisse, die mich auf die Idee brachten, abzunehmen. Ich probierte Jeans in einem Jeansladen und erschrak über meine fetten Oberschenkel. Etwa zu dieser Zeit sagte mein Bruder, als ich mir gerade ein Eis auf der Straße gekauft hatte, ich könnte es ihm ruhig geben, bei meinem fetten Hintern, und mein Vater machte keinen Hehl daraus, dass er nur dünne Frauen attraktiv findet.

Lea, 23 Jahre:

Ich nahm ziemlich schnell ab, vor allem, weil ich mir alles verbot, was dick machen konnte, sämtliche Süßigkeiten, alle fettigen Speisen. Ich genoss es, wie alle in meiner Familie immer größere Augen bekamen und eines Tages erklärten, jetzt sei es genug, jetzt solle ich aufhören zu hungern, jetzt hätte ich meine Traumfigur erreicht. Aber ich dachte gar nicht daran, ich wollte es allen beweisen, auch den superdünnen Coolen in meiner Klasse.

Miriam, 25 Jahre:

Als ich 15 war, hatte ich wieder einmal eine wochenlange, mühevolle Diät hinter mir und war stolz auf meine Figur mit 53 kg. Aber es kam, wie es kommen musste, ich war zu einer Geburtstagsparty eingeladen und es schmeckte mir so gut, dass ich hinterher das Gefühl hatte, zu platzen. Ich ärgerte mich über meine Gier und dachte an meine Figur, die ich mir so mühsam erkämpft hatte. Ich ging auf die Toilette und erbrach zum ersten Mal. Es war nicht leicht, eigentlich sogar eine entsetzliche Quälerei, das ganze Essen wieder herauszubekommen, aber das Glücksgefühl, am nächsten Tag trotz meiner maßlosen Esserei abgenommen zu haben, war überwältigend. Das war der Anfang der Bulimie, der Anfang eines grauenhaften Weges, den ich irgendwann nicht mehr verlassen konnte.

Simona, 17 Jahre:

Die Spannungen zu Hause wurden größer, entweder mein Vater tobte oder er versprach mir alles Mögliche, wenn ich nur wieder zunehmen würde, aber ich nahm weiter langsam ab. Dann musste ich zum Arzt. Er stellte mich auf die Waage – Untergewicht, aber immerhin noch 42 kg. Er sagte nur, ich solle mehr essen. Lauter dummes Gerede, das mir keinen Deut weiterhalf. Dann schleppte mich meine Mutter zu einem anderen Arzt. Der bemühte sich, das muss ich sagen, sehr um mich, aber geholfen hat er mir auch nicht. Ich nahm weiter ab. Was war nur geschehen? Eigentlich hatte ich mich doch früher gut mit meinen Eltern verstanden. Ich hatte sie auch heute noch unheimlich lieb, es war immer mein großer Wunsch gewesen, sie nie zu enttäuschen. Ich wollte von ihnen gelobt und geliebt werden und sie sollten stolz auf mich sein.

Karen, 20 Jahre:

Ich bemerkte, dass meine Eltern fast umkamen vor Sorgen um mich, und das gab mir ein gutes Gefühl. Das Verhältnis zu meinem Vater wurde erstmals etwas besser. Ich bemerkte an seiner Angst und Sorge um mich, dass er mich doch wohl ein bisschen gern haben musste. Bis dahin hatte ich immer das Gefühl, dass nur mein Bruder allein zählte, nicht aber ich. Aber diese Sorge und diese Angst, die ich erstmals bei meinen Eltern spürte, ihr Interesse an meiner Existenz, brachten mich dazu, immer weiter und immer fanatischer zu hungern. Es war ein so unendlich gutes Gefühl, endlich wahrgenommen zu werden. Ich gönnte mir nichts. Ich ging radikal mit mir um, jeden Tag weniger Kalorien und jeden Tag mehr Kalorienverbrauch durch exzessiven Sport. Ich joggte, ich schwamm eine Bahn nach der anderen, täglich mehr. Auch wenn mir schon schwarz vor Augen war, ich kämpfte weiter. Ich wollte meinen Körper bis an die letzte Grenze bringen.

Worte für Mütter

Essstörungen gehören zu den Krankheiten, in die auch die Angehörigen, meist Eltern und Geschwister, einbezogen werden. Am meisten leiden die Mütter; Väter neigen dazu, den Müttern die Verantwortung für alles, was zu Hause passiert, zuzuschieben, und selbstverständlich auch die Essstörung der Tochter, mehr oder weniger sind Mütter somit auch vermeintlich schuld an der Essstörung. Das ist aber nicht das Schlimmste. Oft leiden Mütter viel mehr darunter, dass sie ihre Töchter nicht mehr erreichen. Alle Versuche, sie zu wenigstens ein klein bisschen mehr Essen zu bewegen, scheitern von vornherein. Wir kennen Mütter, die während dieser Zeit selbst mehrere Kilo zugenommen haben, weil gemeinsames Essen die kranke Tochter dazu bringen sollte, ein paar Bissen zu sich zu nehmen. Das zuvor immer liebenswürdige, fröhliche Kind ist plötzlich auch der Mutter gegenüber ganz ungewohnt schroff, abweisend, verletzend, es zieht sich zurück, lässt sich überhaupt nichts mehr sagen. Mütter sagen, diese Hilflosigkeit, die Ohnmacht, sei eigentlich das Schlimmste. Diese Hilflosigkeit ist deshalb so sehr belastend, weil das ganze Verhalten der Tochter – Krankheit hin oder her – so unverständlich ist und überhaupt nicht nachfühlbar. Wo ist die früher sehr harmonische, ganz besonders vertrauliche Beziehung zu ihrer Tochter geblieben?

Diese Entwicklung ist in der Tat unverständlich und die Hilflosigkeit von Müttern sehr gut zu verstehen. Wir können als Fachleute versuchen, unser Krankheitsverständnis zu vermitteln, erklären, dass wir gerade in der Verhaltensänderung der Tochter einen Beweis für eine Krankheit sehen. Manchmal ist es tröstlich, darauf hinzuweisen, dass in vielen uns bekannten Familien mit essgestörten Töchtern sehr ähnliche Situationen bestehen. Wirklich hilfreich empfinden Mütter Gespräche mit anderen Müttern und nicht zuletzt mit Patientinnen. Wir haben einzelne Mütter erlebt, die ein erstaunliches Verständnis für eine magersüchtige oder bulimische Patientin gezeigt haben – wenn es nicht die eigene Tochter war!

Die verschiedenen Essstörungen

Essstörungen sind aus ärztlich-therapeutischer Sicht schwerwiegende Krankheiten. Zu ihnen zählen die Magersucht (Anorexia nervosa), die Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa) einschließlich atypischer Formen sowie die Esssucht (Binge-Eating-Disorder).

Die jeweils kennzeichnenden Symptome dieser Krankheiten sind in diagnostischen Leitlinien und Klassifikationsverzeichnissen festgelegt. In der Bundesrepublik ist die Codierung von Krankheiten nach ICD (International Classification of Diseases) vorgeschrieben, gültig ist die 10. Version (ICD-10). Die 11. Revision wird für 2017 erwartet. Hauptsächlich an Universitäten und Forschungseinrichtungen wird daneben auch eine Codierung nach DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Diseases der American Psychiatric Association) benützt, gültig ist seit 2013 DSM-5.

Im Folgenden geben wir die offiziellen Diagnosekriterien der einzelnen Essstörungen in etwas vereinfachter Form wieder.

Magersucht, Anorexia nervosa (AN)

Symptome

Zu niedriges Körpergewicht, BMI 17,5 oder weniger

Der Gewichtsverlust wurde selbst herbeigeführt

  1. Große Angst, dick zu werden

  2. Verzerrte Wahrnehmung von Gewicht und Figur und übertriebener Einfluss des Gewichtes auf das Selbstwertgefühl

  3. Ausbleiben der Monatsblutung (Amenorrhö). Bei Krankheitsbeginn vor der Pubertät kommt der Zyklus nicht in Gang

Bemerkung

Im DSM-5 gibt es zwei wichtige Änderungen: Es heißt nicht mehr, »der Gewichtsverlust wurde selbst herbeigeführt«, sondern es besteht eine »in Relation zum Bedarf eingeschränkte Energiezufuhr«. Wir hoffen, dass diese Formulierung auch in der ICD-11 verwendet wird. Außerdem wurde das Merkmal »Amenorrhö« gestrichen.

Bei der Magersucht können zwei Formen unterschieden werden:

  1. eine restriktive (asketische, passive) Form; das bedeutet, die Verminderung des Gewichts erfolgt durch Hungern und übermäßige Bewegung;

  2. eine bulimische (Binge-purging oder aktive) Form; das bedeutet, die Gewichtsreduktion wird durch aktive Maßnahmen herbeigeführt wie Erbrechen, Missbrauch von abführenden oder entwässernden Medikamenten, etc.