Als Ulrich Beck Mitte der achtziger Jahre seine zeitdiagnostische Bestandsaufnahme mit dem Titel »Risikogesellschaft« versah, prägte er damit einen Begriff, in dem sich die Gesellschaft auf Anhieb wiedererkannte und der inzwischen im Wortschatz von Politik und Alltag fest etabliert ist. Auf die Frage, was er unter »Risikogesellschaft« versteht, antwortet Beck: »Der Begriff der ›Risikogesellschaft‹ bezeichnet einen System- und Epochenwandel in drei Bereichen: Es handelt sich erstens um das Verhältnis der Industriegesellschaft zu ihren Ressourcen, die sie aufbraucht. Zweitens um das Verhältnis der Gesellschaft zu den von ihr erzeugten Gefahren, die die Grundannahmen der bisherigen Gesellschaftsordnung erschüttern. Drittens um den Prozeß der Individualisierung, da alle kollektiven Sinnquellen erschöpft sind.« »Becks Studie gehört zu den wenigen originellen Studien, die die Sozialwissenschaft im vergangenen Jahrzehnt hervorgebracht haben. Daß sie überdies spannend und nicht selten amüsant geschrieben ist, überrascht bei einem kreativen Denker wie Beck nicht. Die Risikogesellschaft – ein Standardwerk der Nachkriegssoziologie.«

Frankfurter Rundschau

Ulrich Beck (1944-2015) lehrte u. a. in Bamberg, an der London School of Economics und von 1992 bis 2009 an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Bücher wie Risikogesellschaft und Was ist Globalisierung? sind Klassiker der soziologischen Zeitdiagnose. Zuletzt erschienen (zusammen mit Elisabeth Beck-Gernsheim) Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter (st 4412) und Das deutsche Europa (2012).

Ulrich Beck

Risikogesellschaft

Auf dem Weg in eine andere Moderne

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 23. Auflage der Ausgabe
der edition suhrkamp 1365.

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1986

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Umschlagentwurf: Willy Fleckhaus

eISBN 978-3-518-75065-0

www.suhrkamp.de

Inhalt

Aus gegebenem Anlaß

Vorwort

ERSTER TEIL
Auf dem zivilisatorischen Vulkan: Die Konturen der Risikogesellschaft

Kapitel I
Zur Logik der Reichtumsverteilung und der Risikoverteilung

Kapitel II
Politische Wissenstheorie der Risikogesellschaft

ZWEITER TEIL
Individualisierung sozialer Ungleichheit – Zur Enttraditionalisierung der industriegesellschaftlichen Lebensformen

Kapitel III
Jenseits von Klasse und Schicht

Kapitel IV
Ich bin Ich: Vom Ohne-, Mit- und Gegeneinander der Geschlechter innerhalb und außerhalb der Familie

Kapitel V
Individualisierung, Institutionalisierung und Standardisierung von Lebenslagen und Biographiemustern

Kapitel VI
Entstandardisierung der Erwerbsarbeit: Zur Zukunft von Ausbildung und Beschäftigung

DRITTER TEIL
Reflexive Modernisierung: Zur Generalisierung von Wissenschaft und Politik

Kapitel VII
Wissenschaft jenseits von Wahrheit und Aufklärung? Reflexivität und Kritik der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung

Kapitel VIII
Entgrenzung der Politik: Zum Verhältnis von politischer Steuerung und technisch-ökonomischem Wandel in der Risikogesellschaft

Literatur

Inhaltsverzeichnis

Aus gegebenem Anlaß

Arm an geschichtlichen Katastrophen war dieses Jahrhundert wahrlich nicht: zwei Weltkriege, Auschwitz, Nagasaki, dann Harrisburg und Bhopal, nun Tschernobyl. Das zwingt zur Behutsamkeit in der Wortwahl und schärft den Blick für die historischen Besonderheiten. Alles Leid, alle Not, alle Gewalt, die Menschen Menschen zugefügt haben, kannte bisher die Kategorie der »anderen« – Juden, Schwarze, Frauen, Asylanten, Dissidenten, Kommunisten usw. Es gab Zäune, Lager, Stadtteile, Militärblöcke einerseits, andererseits die eigenen vier Wände – reale und symbolische Grenzen, hinter die die scheinbar Nichtbetroffenen sich zurückziehen konnten. Dies alles gibt es weiter und gibt es seit Tschernobyl nicht mehr. Es ist das Ende der »anderen«, das Ende all unserer hochgezüchteten Distanzierungsmöglichkeiten, das mit der atomaren Verseuchung erfahrbar geworden ist. Not läßt sich ausgrenzen, die Gefahren des Atomzeitalters nicht mehr. Darin liegt ihre neuartige kulturelle und politische Kraft. Ihre Gewalt ist die Gewalt der Gefahr, die alle Schutzzonen und Differenzierungen der Moderne aufhebt.

Diese Grenzen aufhebende Dynamik der Gefahr ist nicht vom Grad der Verseuchung und dem Streit um ihre Folgen abhängig. Es ist vielmehr umgekehrt so, daß alles Messen immer unter dem Fallbeil der Allbetroffenheit erfolgt. Das Eingeständnis einer gefährlichen atomaren Verseuchung kommt dem Eingeständnis der Ausweglosigkeit für ganze Regionen, Länder, Erdteile gleich. Weiterleben und (An-)Erkennung der Gefahr widersprechen sich. Es ist dieses Fatum, das dem Streit um Meßwerte und Grenzwerte, um Kurz- und Langzeitfolgen erst seine existentielle Brisanz verleiht. Man muß sich nur einmal fragen, was sich eigentlich im Handeln hätte ändern können, wenn es auch nach amtlichen Maßstäben zu einer akut gefährlichen Verseuchung von Luft, Wasser, Tier und Mensch gekommen wäre. Wäre dann das Leben – Atmen, Essen, Trinken – von Amts wegen gestoppt, gedrosselt worden? Was geschieht mit der Bevölkerung eines ganzen Erdteils, die in unterschiedlichen Graden (nach »fatalistischen« Variablen wie Wind und Wetter, Entfernung zum Unglücksort usw.) unheilbar verseucht ist? Können ganze Länder(gruppen) in Quarantäne gehalten werden? Bricht intern das Chaos aus? Oder hätte sich auch in einem solchen Falle am Ende alles so vollziehen müssen, wie es sich nach Tschernobyl vollzogen hat? Allein diese Fragen verdeutlichen die Art einer objektiven Betroffenheit, in der die Diagnose der Gefahr mit der Einsicht in das unentrinnbare Ausgeliefertsein an sie zusammenfällt.

In der entwickelten Moderne, die angetreten war, um die Beschränkungen durch Geburt aufzuheben und den Menschen über eigene Entscheidung und Leistung eine Stelle im gesellschaftlichen Gefüge zu eröffnen, entsteht ein neuartiges »askriptives« Gefährdungsschicksal, aus dem es bei aller Leistung kein Entrinnen gibt. Es ähnelt dem Ständeschicksal des Mittelalters eher als den Klassenlagen des 19. Jahrhunderts. Allerdings kennt es die Ungleichheit der Stände nicht mehr (auch keine Randgruppen, keine Unterschiede von Stadt und Land, der nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit usw.). Anders als Stände oder Klassenlagen steht es auch nicht unter dem Vorzeichen der Not, sondern unter dem Vorzeichen der Angst und ist gerade kein »traditionelles Relikt«, sondern ein Produkt der Moderne, und zwar in ihrem höchsten Entwicklungsstand. Kernkraftwerke – Gipfelpunkte menschlicher Produktiv- und Schöpferkräfte – sind seit Tschernobyl auch zu Vorzeichen eines modernen Mittelalters der Gefahr geworden. Sie weisen Bedrohungen zu, die den gleichzeitig auf die Spitze getriebenen Individualismus der Moderne in sein extremstes Gegenteil verkehren.

Noch sind die Reflexe eines anderen Zeitalters voll lebendig: Wie kann ich mich und die meinen schützen? Und Ratschläge für das Private, das es nicht mehr gibt, haben Hochkonjunktur. Doch leben alle auch noch in dem anthropologischen Schock einer in der Bedrohung erfahrenen »Natur«abhängigkeit der zivilisatorischen Lebensformen, die all unsere Begriffe von »Mündigkeit« und »eigenem Leben«, von Nationalität, Raum und Zeit aufgehoben hat. Weit weg, im Westen der Sowjetunion, also von nun an: in unserer näheren Umgebung, passiert ein Unfall – nichts Gewolltes, Aggressives, vielmehr ein allerdings vermeidenswertes Ereignis, das in seinem Ausnahmecharakter aber auch normal, mehr noch: menschlich ist. Nicht das Versagen bewirkt die Katastrophe, sondern die Systeme, die die Humanität des Irrtums in unbegreifliche Zerstörungskräfte verwandeln. Alle sind zur Einschätzung der Gefahren auf Meßinstrumente, Theorien und vor allem: ihr Nichtwissen angewiesen – einschließlich der Experten, die gerade noch das 10 000jährige Reich atomarer Wahrscheinlichkeitssicherheit verkündet hatten und nun in einer atemberaubenden Neusicherheit die akut nie bestehende Gefahr unterstreichen.

Bei alledem sticht das eigentümliche Mischverhältnis von Natur und Gesellschaft hervor, mit der die Gefahr sich über alles hinwegsetzt, was ihr Widerstand entgegensetzen könnte. Da ist zunächst der Zwitter der »Atom-Wolke« – jene zur Naturgewalt verkehrte und verwandelte Zivilisationsgewalt, in der Geschichte und Wetter eine ebenso paradoxe wie übermächtige Einheit eingegangen sind. Alle Welt starrt elektronisch vernetzt wie gebannt auf sie. Die »Resthoffnung« auf einen »günstigen« Wind (die Schweden, die armen!) offenbart dann mehr als viele Worte das ganze Ausmaß der Hilflosigkeit einer hochzivilisierten Welt, die Stacheldraht und Mauern, Militär und Polizei aufgeboten hat, um ihre Grenzen zu schützen. Eine »ungünstige« Drehung desselben, auch noch Regen – so ein Pech! – und die Vergeblichkeit nimmt ihren Lauf, die Gesellschaft vor der verseuchten Natur zu schützen, die atomare Gefahr auf das »andere« der »Um«-Welt auszugrenzen.

Diese Erfahrung, an der unsere bisherige Lebensform einen Augenblick lang zerschellte, spiegelt das Ausgeliefertsein des Weltindustriesystems an die industriell integrierte und verseuchte »Natur« wider. Die Gegenüberstellung von Natur und Gesellschaft ist eine Konstruktion des 19. Jahrhunderts, die dem Doppelzweck diente, die Natur zu beherrschen und zu ignorieren. Natur ist unterworfen und vernutzt am Ende des 20. Jahrhunderts und damit von einem Außen- zu einem Innen-, von einem vorgegebenen zu einem hergestellten Phänomen geworden. Im Zuge ihrer technisch-industriellen Verwandlung und weltweiten Vermarktung wurde Natur in das Industriesystem hereingeholt. Zugleich ist sie auf diese Weise zur unüberwindlichen Voraussetzung der Lebensführung im Industriesystem geworden. Konsum- und Marktabhängigkeit bedeutet nun auch wieder in neuer Weise »Natur«abhängigkeit, und diese immanente »Natur«abhängigkeit des Marktsystems wird in und mit dem Marktsystem zum Gesetz der Lebensführung in der industriellen Zivilisation.

Gegen die Bedrohungen der äußeren Natur haben wir gelernt, Hütten zu bauen und Erkenntnisse zu sammeln. Den industriellen Bedrohungen der in das Industriesystem hereingeholten Zweitnatur sind wir nahezu schutzlos ausgeliefert. Gefahren werden zu blinden Passagieren des Normalkonsums. Sie reisen mit dem Wind und mit dem Wasser, stecken in allem und in jedem und passieren mit dem Lebensnotwendigsten – der Atemluft, der Nahrung, der Kleidung, der Wohnungseinrichtung – alle sonst so streng kontrollierten Schutzzonen der Moderne. Wo nach dem Unfall Abwehr und Vermeidungshandeln so gut wie ausgeschlossen sind, bleibt als (scheinbar) einzige Aktivität: Leugnen, ein Beruhigen, das Angst macht und das mit dem Grad der zur Passivität verdammten Allbetroffenheit seine Aggressivität entwickelt. In der Unvorstellbarkeit und Nichtwahrnehmbarkeit der Gefahr hat diese Restaktivität angesichts des real existierenden Restrisikos ihre wirkungsvollsten Komplizen.

Die Kehrseite der vergesellschafteten Natur ist die Vergesellschaftung der Naturzerstörungen, ihre Verwandlung in soziale, ökonomische und politische Systembedrohungen der hochindustrialisierten Weltgesellschaft. In der Globalität der Verseuchung Und weltweiten Lebensmittel- und Produktketten durchlaufen die Bedrohungen des Lebens in der Industriekultur gesellschaftliche Metamorphosen der Gefahr: Alltägliche Lebensregeln werden auf den Kopf gestellt. Märkte brechen zusammen. Es herrscht Mangel im Überfluß. Anspruchsfluten werden ausgelöst. Rechtssysteme fassen die Tatbestände nicht. Naheliegendste Fragen ernten Achselzucken. Medizinische Betreuungen versagen. Wissenschaftliche Rationalitätsgebäude stürzen ein. Regierungen wackeln. Wechselwähler laufen weg. Und all dies, ohne daß die Betroffenheit der Menschen irgend etwas mit ihren Handlungen, ihre Schädigungen mit ihren Leistungen zu tun hätten und während für unsere Sinne die Wirklichkeit unverändert bleibt. Das ist das Ende des 19. Jahrhunderts, das Ende der klassischen Industriegesellschaft mit ihren Vorstellungen von nationalstaatlicher Souveränität, Fortschrittsautomatik, Klassen, Leistungsprinzip, Natur, Wirklichkeit, wissenschaftlicher Erkenntnis usw.

Die Rede von (industrieller) Risikogesellschaft auch und wesentlich in diesem Sinne – vor über einem Jahr gegen viel Widerstand innerer und äußerer Stimmen gewagt – hat einen bitteren Beigeschmack von Wahrheit erhalten. Vieles, das im Schreiben noch argumentativ erkämpft wurde – die Nichtwahrnehmbarkeit der Gefahren, ihre Wissensabhängigkeit, ihre Übernationalität, die »ökologische Enteignung«, der Umschlag von Normalität in Absurdität usw. –, liest sich nach Tschernobyl wie eine platte Beschreibung der Gegenwart.

Ach, wäre es die Beschwörung einer Zukunft geblieben, die es zu verhindern gilt!

Bamberg, Mai 1986

Ulrich Beck

Vorwort

Thema dieses Buches ist die unscheinbare Vorsilbe »post«. Sie ist das Schlüsselwort unserer Zeit. Alles ist »post«. An den »Postindustrialismus« haben wir uns schon eine Zeitlang gewöhnt. Mit ihm verbinden wir noch Inhalte. Bei der »Postmoderne« beginnt bereits alles zu verschwimmen. Im Begriffsdunkel der Nachaufklärung sagen sich alle Katzen gute Nacht. »Post« ist das Codewort für Ratlosigkeit, die sich im Modischen verfängt. Es deutet auf ein Darüberhinaus, das es nicht benennen kann, und verbleibt in den Inhalten, die es nennt und negiert, in der Erstarrung des Bekannten. Vergangenheit plus »post« – das ist das Grundrezept, mit dem wir in wortreicher, begriffsstutziger Verständnislosigkeit einer Wirklichkeit gegenüberstehen, die aus den Fugen zu geraten scheint.

Dieses Buch ist ein Versuch, dem Wörtchen »post« (ersatzweise: »nach-«, »spät-«, »jenseits«) auf die Spur zu kommen. Es ist von dem Bemühen getragen, die Inhalte, die die geschichtliche Entwicklung der Moderne in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten – insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland – diesem Wörtchen gegeben hat, zu begreifen. Dies kann nur in einem harten Ringen gegen die alten, mit »post« über sich selbst hinausverlängerten Theorien und Denkgewohnheiten gelingen. Da diese nicht nur in anderen, sondern auch in mir selbst nisten, erschallt in dem Buch manchmal ein Kampfeslärm, dessen Lautstärke auch darin ihren Grund hat, daß ich meine eigenen Selbsteinwände immer mit in die Flucht schlagen mußte. So mag manches etwas schrill, überironisch oder vorschnell geraten sein. Mit dem üblichen akademischen Abwägen ist der Schwerkraft des alten Denkens jedoch nicht zu widerstehen.

Repräsentativ, wie die Regeln der empirischen Sozialforschung dies fordern, sind die Ausführungen nicht. Sie verfolgen einen anderen Anspruch: gegen die noch vorherrschende Vergangenheit die sich heute schon abzeichnende Zukunft ins Blickfeld zu heben. Sie sind in der Einstellung geschrieben, mit der – im historischen Vergleich gesprochen – ein Beobachter der gesellschaftlichen Szene zu Beginn des 19. Jahrhunderts hinter den Fassaden des ausklingenden, feudalen Agrarzeitalters nach den bereits überall hervorblitzenden Konturen des noch unbekannten Industriezeitalters Ausschau hält. In Zeiten strukturellen Wandels geht Repräsentativität ein Bündnis mit der Vergangenheit ein und verstellt den Blick auf die Spitzen der Zukunft, die von allen Seiten in den Horizont der Gegenwart hineinragen. Insofern beinhaltet dieses Buch ein Stück empirisch orientierter, projektiver Gesellschaftstheorie – ohne alle methodischen Sicherungen.

Dem liegt die Einschätzung zugrunde, daß wir Augenzeugen – Subjekt und Objekt – eines Bruches innerhalb der Moderne sind, die sich aus den Konturen der klassischen Industriegesellschaft herauslöst und eine neue Gestalt – die hier so genannte (industrielle) »Risikogesellschaft« – ausprägt. Dies erfordert eine schwierige Balance zwischen den Widersprüchen von Kontinuität und Zäsur in der Moderne, die sich noch einmal in dem Gegensatz von Moderne und Industriegesellschaft, Industriegesellschaft und Risikogesellschaft spiegeln. Daß diese epochalen Unterscheidungen durch die Wirklichkeit selbst heute getroffen werden, beanspruche ich in diesem Buch zu zeigen. Wie sie im einzelnen zu differenzieren sind, dazu werden Vorschläge der gesellschaftlichen Entwicklung abgeschaut. Bevor hier Klarheit gewonnen werden kann, muß allerdings ein Stück mehr Zukunft sichtbar werden.

Dem theoretischen Zwischen-den-Stühlen-Sitzen entspricht ein praktisches. Denjenigen, die an der Aufklärung in den Prämissen des 19. Jahrhunderts gegen den Ansturm der »Irrationalität des Zeitgeistes« nun erst recht festhalten, wird ebenso entschieden widersprochen wie denjenigen, die heute mit den aufgestauten Anomalien gleich das ganze Projekt der Moderne den Bach der Geschichte hinuntergehen lassen wollen.

Dem in allen Teilen des Meinungsmarktes hinreichend entfalteten Schreckenspanorama einer sich selbst gefährdenden Zivilisation bleibt nichts hinzuzufügen; ebensowenig den Bekundungen einer Neuen Ratlosigkeit, der die ordnenden Dichotomien einer selbst noch in ihren Gegensätzen »heilen« Welt des Industrialismus abhanden gekommen sind. Das vorliegende Buch handelt von dem zweiten, darauf folgenden Schritt. Es erhebt diesen Zustand selbst zum Erklärungsgegenstand. Seine Frage ist, wie diese Verunsicherungen des Zeitgeistes, die ideologiekritisch zu leugnen zynisch, denen distanzlos nachzugeben gefährlich wäre, in einem soziologisch informierten und inspirierten Denken zu verstehen, zu begreifen sind. Die theoretische Leitidee, die zu diesem Zweck ausgearbeitet wird, läßt sich am ehesten wiederum in einer historischen Analogie erläutern: Ähnlich wie im 19. Jahrhundert Modernisierung die ständisch verknöcherte Agrargesellschaft aufgelöst und das Strukturbild der Industriegesellschaft herausgeschält hat, löst Modernisierung heute die Konturen der Industriegesellschaft auf, und in der Kontinuität der Moderne entsteht eine andere gesellschaftliche Gestalt.

Die Grenzen dieser Analogie verweisen zugleich auf die Besonderheiten dieser Perspektive. Im 19. Jahrhundert vollzog sich Modernisierung vor dem Hintergrund ihres Gegenteils: einer traditionalen Welt der Überlieferung, einer Natur, die es zu erkennen und zu beherrschen galt. Heute, an der Wende ins 21. Jahrhundert, hat Modernisierung ihr Gegenteil aufgezehrt, verloren und trifft nun auf sich selbst in ihren industriegesellschaftlichen Prämissen und Funktionsprinzipien. Modernisierung im Erfahrungshorizont der Vormoderne wird verdrängt durch die Problemlagen von Modernisierung im Selbstbezug. Wurden im 19. Jahrhundert ständische Privilegien und religiöse Weltbilder, so werden heute das Wissenschafts- und Technikverständnis der klassischen Industriegesellschaft entzaubert, die Lebens- und Arbeitsformen in Kleinfamilie und Beruf, die Leitbilder von Männer- und Frauenrolle usw. Modernisierung in den Bahnen der Industriegesellschaft wird ersetzt durch eine Modernisierung der Prämissen der Industriegesellschaft, die in keinem der bis heute gebräuchlichen theoretischen Regie- und politischen Rezeptbücher des 19. Jahrhunderts vorgesehen war. Es ist dieser aufbrechende Gegensatz von Moderne und Industriegesellschaft (in all ihren Varianten), der uns, die wir bis ins Mark hinein gewöhnt sind, die Moderne in den Kategorien der Industriegesellschaft zu denken, heute das Koordinatensystem verschwimmen läßt.

Diese Unterscheidung zwischen Modernisierung der Tradition und Modernisierung der Industriegesellschaft oder, anders gesagt: zwischen einfacher und reflexiver Modernisierung, wird uns noch lange beschäftigen. Sie wird im folgenden im Durchgang durch konkrete Arbeitsfelder angedeutet. Auch wenn noch gar nicht absehbar ist, welche »Fixsterne« des industriegesellschaftlichen Denkens im Zuge dieser erst beginnenden Rationalisierung zweiter Stufe untergehen werden, so läßt sich schon heute begründet vermuten, daß dies selbst für scheinbar eherne »Gesetze« wie dem der funktionalen Differenzierung oder dem der betriebsgebundenen Massenproduktion gilt.

An zwei Konsequenzen sticht das Ungewohnte dieser Perspektive deutlich hervor. Sie behauptet, was bisher undenkbar schien: daß nämlich die Industriegesellschaft sich in ihrer Durchsetzung, also auf den leisen Sohlen der Normalität, über die Hintertreppe der Nebenfolge von der Bühne der Weltgeschichte verabschiedet – und nicht etwa, wie es bisher in den Bilderbüchern der Gesellschaftstheorie einzig vorgesehen war: mit einem politischen Knall (Revolution, demokratische Wahlen). Und sie besagt ferner, daß das »antimodernistische« Szenario, das augenblicklich die Welt beunruhigt – Wissenschafts-, Technik- und Fortschrittskritik, neue soziale Bewegungen –, nicht im Widerspruch zur Moderne steht, sondern Ausdruck ihrer konsequenten Weiterentwicklung über den Entwurf der Industriegesellschaft hinaus ist.

Der generelle Gehalt der Moderne tritt in Gegensatz zu seinen Verkrustungen und Halbierungen im Projekt der Industriegesellschaft. Der Zugang zu dieser Sicht wird blockiert durch einen ungebrochenen, bislang kaum erkannten Mythos, in dem das gesellschaftliche Denken im 19. Jahrhundert wesentlich befangen war und der seinen Schatten auch noch ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts wirft: dem Mythos nämlich, daß die entwickelte Industriegesellschaft mit ihrer Schematik von Arbeit und Leben, ihren Produktionssektoren, ihrem Denken in Kategorien des ökonomischen Wachstums, ihrem Wissenschafts- und Technikverständnis, ihren Demokratieformen eine durch und durch moderne Gesellschaft ist, ein Gipfelpunkt der Moderne, über den ein Hinaus sinnvollerweise gar nicht erst in Erwägung gezogen werden kann. Dieser Mythos hat viele Ausdrucksformen. Zu seinen wirkungsvollsten zählt der Irrwitz vom Ende der Gesellschaftsgeschichte. Dieser fasziniert in optimistischen und pessimistischen Varianten ausgerechnet das Denken der Epoche, in der das auf Dauer gestellte Neuerungssystem sich in der in ihm freigesetzten Dynamik selbst zu revidieren beginnt. Wir können deswegen noch nicht einmal die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Gestaltwandels in der Moderne denken, weil die Theoretiker des industriegesellschaftlichen Kapitalismus diese historische Gestalt der Moderne, die in wesentlichen Bezügen ihrem Gegenteil im 19. Jahrhundert verhaftet bleibt, ins Apriorische gewendet haben. In der an Kant geschulten Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von modernen Gesellschaften wurden die historisch bedingten Konturen, Konfliktlinien und Funktionsprinzipien des industriellen Kapitalismus zu Notwendigkeiten der Moderne überhaupt überhöht. Die Kuriosität, mit der in der sozialwissenschaftlichen Forschung bis heute unterstellt wird, daß sich in der Industriegesellschaft alles verändert: Familie, Beruf, Betrieb, Klasse, Lohnarbeit, Wissenschaft und zugleich alles Wesentliche nicht: Familie, Beruf, Betrieb, Klasse, Lohnarbeit, Wissenschaft – ist nur ein weiterer Beleg dafür.

Dringender denn je brauchen wir Begrifflichkeiten, die – ohne falsch verstandene Hinwendung zu dem ewig alten Neuen, voller Abschiedsschmerzen und mit guten Beziehungen zu den ungehobenen Schatzkammern der Tradition – das uns überrollende Neue neu denken und uns mit ihm leben und handeln lassen. Neuen Begriffen auf die Spur zu kommen, die sich unter dem Zerfall der alten bereits heute zeigen, ist ein schwieriges Unterfangen. Den einen riecht es nach »Systemveränderung« und fällt in die Grauzonenzuständigkeit des Verfassungsschutzes. Andere haben sich in Kernüberzeugungen eingeigelt und beginnen nun angesichts einer sich selbst gegen den innersten Strich abgetrotzten Linientreue – und das kann vieles heißen: Marxismus, Feminismus, quantitatives Denken, Spezialisierung – auf alles einzuschlagen, das die Duftmarken des streunenden Abweichlertums aussendet.

Dennoch oder deswegen: Die Welt geht nicht unter, jedenfalls nicht deswegen, weil die Welt des 19. Jahrhunderts heute untergeht. Wobei das auch noch übertrieben ist. So stabil war die gesellschaftliche Welt des 19. Jahrhunderts bekanntlich nie. Sie ist bereits mehrfach zugrunde gegangen – im Denken. Dort war sie eigentlich schon begraben, bevor sie so recht geboren wurde. Wir erleben heute, daß die Visionen eines Nietzsche oder die auf der Bühne inszenierten Ehe- und Familiendramen der inzwischen ja »klassischen« (was heißt: alten) literarischen Moderne tatsächlich (mehr oder weniger) repräsentativ in Küche und Schlafzimmer stattfinden. Also längst Vorgedachtes geschieht. Und es geschieht immerhin mit einer Verzögerung von – über den Daumen gepeilt – einem halben bis ganzen Jahrhundert. Und es geschieht schon länger. Und es wird wohl auch noch länger geschehen. Und es geschieht noch gar nicht.

Wir erleben allerdings auch – und über das literarisch Vorgedachte hinaus –, daß man danach weiterleben muß. Wir erleben sozusagen, was geschieht, wenn in einem Drama von Ibsen der Vorhang gefallen ist. Wir erleben die Nichtbühnenwirklichkeit der nachbürgerlichen Epoche. Oder, im Hinblick auf Zivilisationsrisiken: wir sind die Erben einer real gewordenen Kulturkritik, die sich gerade deswegen mit der Diagnose der Kulturkritik, die ja immer eher als warnender Zukunftspessimismus gemeint war, nicht mehr zufriedengeben kann. Es kann nicht eine ganze Epoche in einen Raum jenseits der bisherigen Kategorien abrutschen, ohne daß dieses Jenseits einmal als das bemerkt und abgestreift wird, was es ist: ein über sich selbst hinaus verlängerter Ordnungsanspruch der Vergangenheit, dem die Gegenwart und die Zukunft entglitten ist.

In den folgenden Kapiteln wird versucht, in Auseinandersetzung mit Entwicklungstendenzen in zentralen Feldern gesellschaftlicher Praxis den gesellschaftsgeschichtlichen Denkfaden wiederaufzunehmen und über die Begrifflichkeit der Industriegesellschaft (in all ihren Varianten) hinaus zu verlängern. Die Leitidee einer reflexiven Modernisierung der Industriegesellschaft wird von zwei Seiten her entfaltet. Zunächst wird das Ineinander von Kontinuität und Zäsur am Beispiel von Reichtumsproduktion und Risikoproduktion erörtert. Die Einschätzung lautet: Während in der Industriegesellschaft die »Logik« der Reichtumsproduktion die »Logik« der Risikoproduktion dominiert, schlägt in der Risikogesellschaft dieses Verhältnis um (Teil I). Die Produktivkräfte haben in der Reflexivität von Modernisierungsprozessen ihre Unschuld verloren. Der Machtgewinn des technisch-ökonomischen »Fortschritts« wird immer mehr überschattet durch die Produktion von Risiken. Diese lassen sich nur in einem frühen Stadium als »latente Nebenwirkungen« legitimieren. Mit ihrer Universalisierung, öffentlichen Kritik und (anti-)wissenschaftlichen Erforschung legen sie die Schleier der Latenz ab und gewinnen in den sozialen und politischen Auseinandersetzungen eine neue und zentrale Bedeutung. Diese »Logik« der Risikoproduktion und -verteilung wird im Vergleich mit der (das gesellschaftstheoretische Denken bisher bestimmenden) »Logik« der Reichtumsverteilung entwickelt. Im Zentrum stehen Modernisierungsrisiken und -folgen, die sich in irreversiblen Gefährdungen des Lebens von Pflanze, Tier und Mensch niederschlagen. Diese können nicht mehr – wie betriebliche und berufliche Risiken im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – lokal und gruppenspezifisch begrenzt werden, sondern enthalten eine Globalisierungstendenz, die Produktion und Reproduktion ebenso übergreift wie nationalstaatliche Grenzen unterläuft und in diesem Sinne übernationale und klassenunspezifische Globalgefährdungen mit neuartiger sozialer und politischer Dynamik entstehen läßt (Kapitel I und II).

Diese »sozialen Gefährdungen« und ihr kulturelles und politisches Potential sind jedoch nur die eine Seite der Risikogesellschaft. Die andere Seite kommt dann in den Blick, wenn man die immanenten Widersprüche zwischen Moderne und Gegenmoderne im Grundriß der Industriegesellschaft ins Zentrum stellt (Teil II und Teil III): Einerseits wird die Industriegesellschaft als Großgruppengesellschaft im Sinne einer Klassen- oder Schichtgesellschaft entworfen, und zwar gestern, heute und für alle Zukunft. Andererseits bleiben Klassen auf die Geltung sozialer Klassenkulturen und -traditionen angewiesen, die im Zuge wohlfahrtsstaatlicher Modernisierung in der Nachkriegsentwicklung der Bundesrepublik gerade enttraditionalisiert werden (Kapitel III).

Einerseits wird mit der Industriegesellschaft das Zusammenleben nach dem Muster der Kleinfamilie normiert und standardisiert. Andererseits beruht die Kleinfamilie auf »ständischen« Zuweisungen zu Geschlechtslagen von Männern und Frauen, die in der Kontinuität von Modernisierungsprozessen (Einbeziehung der Frauen in Ausbildung und Arbeitsmarkt, zunehmende Scheidungshäufigkeit usw.) gerade brüchig werden. Damit gerät aber das Verhältnis von Produktion und Reproduktion ebenso in Bewegung wie alles, was in der industriellen »Tradition der Kleinfamilie« zusammengebunden ist: Ehe, Elternschaft, Sexualität, Liebe usw. (Kapitel IV).

Einerseits wird die Industriegesellschaft in den Kategorien der (Erwerbs-)Arbeitsgesellschaft gedacht. Andererseits zielen aktuelle Rationalisierungsmaßnahmen gerade auf die Grundlagen der damit verbundenen Ordnungsschematik: Flexibilisierungen von Arbeitszeit und Arbeitsort verwischen die Grenzen zwischen Arbeit und Nichtarbeit. Die Mikroelektronik erlaubt es, Abteilungen, Betriebe, Konsumenten über die Produktionssektoren hinweg neu zu vernetzen. Damit werden aber die bisherigen rechtlichen und sozialen Prämissen des Beschäftigungssystems »wegmodernisiert«: Massenarbeitslosigkeit wird in neuen Formen »pluraler Unterbeschäftigung« in das Beschäftigungssystem »integriert« – mit allen damit verbundenen Risiken und Chancen (Kapitel VI).

Einerseits wird in der Industriegesellschaft Wissenschaft und damit: methodischer Zweifel institutionalisiert. Andererseits wird dieser Zweifel (zunächst) auf das Außen, die Forschungsobjekte eingegrenzt, während die Grundlagen und Folgen wissenschaftlicher Arbeit gegen den intern geschürten Skeptizismus abgeschirmt bleiben. Diese Teilung des Zweifels ist für Zwecke der Professionalisierung ebenso notwendig wie angesichts der Unteilbarkeit des Fehlbarkeitsverdachts labil: in ihrer Kontinuität durchläuft die wissenschaftlich-technische Entwicklung im Innen- und Außenverhältnis einen Bruch. Der Zweifel wird auf Grundlagen und Risiken der wissenschaftlichen Arbeit ausgedehnt – mit der Konsequenz: der Rückgriff auf Wissenschaft wird zugleich verallgemeinert und demystifiziert (Kapitel VII).

Einerseits werden mit der Industriegesellschaft der Anspruch und die Formen der parlamentarischen Demokratie durchgesetzt. Andererseits wird der Geltungsradius dieser Prinzipien halbiert. Der subpolitische Neuerungsprozeß des »Fortschritts« verbleibt in der Zuständigkeit von Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie, für die demokratische Selbstverständlichkeiten gerade außer Kraft gesetzt sind. Dies wird in der Kontinuität von Modernisierungsprozessen dort problematisch, wo – angesichts potentialisierter und riskanter Produktivkräfte – die Subpolitik der Politik die Führungsrolle der Gesellschaftsgestaltung abgenommen hat (Kapitel VIII).

Mit anderen Worten: in den Entwurf der Industriegesellschaft sind auf vielfältige Weise – etwa in die Schematik von »Klassen«, »Kleinfamilie«, »Berufsarbeit«, in dem Verständnis von »Wissenschaft«, »Fortschritt«, »Demokratie« – Bauelemente einer industriell-immanenten Traditionalität eingelassen, deren Grundlagen in der Reflexivität von Modernisierungen brüchig, aufgehoben werden. So seltsam es klingen mag: Die dadurch ausgelösten epochalen Irritationen sind durchweg Ergebnisse des Erfolges von Modernisierungen, die jetzt nicht mehr in den, sondern gegen die Bahnen und Kategorien der Industriegesellschaft verlaufen. Wir erleben einen Wandel der Grundlagen des Wandels. Dies denken zu können setzt allerdings voraus, daß das Bild der Industriegesellschaft revidiert wird. Sie ist ihrem Grundriß nach eine halbmoderne Gesellschaft, deren eingebaute Gegenmoderne nichts Altes, Überliefertes ist, sondern industriegesellschaftliches Konstrukt und Produkt. Das Strukturbild der Industriegesellschaft beruht auf einem Widerspruch zwischen dem universellen Gehalt der Moderne und dem Funktionsgefüge ihrer Institutionen, in denen dieser nur partikular-selektiv umgesetzt werden kann. Das aber heißt: die Industriegesellschaft labilisiert sich in ihrer Durchsetzung selbst. Die Kontinuität wird zur »Ursache« der Zäsur. Die Menschen werden freigesetzt aus den Lebensformen und Selbstverständlichkeiten der industriegesellschaftlichen Epoche der Moderne – ähnlich wie sie im Zeitalter der Reformation aus den weltlichen Armen der Kirche in die Gesellschaft »entlassen« wurden. Die dadurch ausgelösten Erschütterungen bilden die andere Seite der Risikogesellschaft. Das Koordinatensystem, in dem das Leben und Denken in der industriellen Moderne befestigt ist – die Achsen von Familie und Beruf, der Glaube an Wissenschaft und Fortschritt –, gerät ins Wanken, und es entsteht ein neues Zwielicht von Chancen und Risiken – eben die Konturen der Risikogesellschaft. Chancen? In ihr werden auch die Prinzipien der Moderne gegen ihre industriegesellschaftliche Halbierung eingeklagt.

In vielfältiger Weise spiegelt dieses Buch den Entdeckungs- und Lernprozeß seines Autors wider. Am Ende jedes Kapitels bin ich klüger als am Beginn. Die Versuchung war groß, es vom Schluß her neu zu durchdenken und umzuschreiben. Dafür fehlte nicht nur die Zeit. Es wäre auch wiederum nur ein neues Zwischenstadium herausgekommen. Dies unterstreicht noch einmal den Prozeßcharakter der Argumentation und soll keineswegs als Blankoscheck für Gegeneinwände verstanden werden. Für den Leser liegt darin der Vorteil, die Kapitel auch für sich oder in anderer Reihenfolge und in bewußter Aufforderung zur Mit-, Gegen- und Weiterarbeit durchdenken zu können.

Wohl alle, die mir nahestehen, sind zu irgendeinem Zeitpunkt mit umfänglichen Vorläufern zu diesem Text und der Bitte um Kommentar konfrontiert worden. Manch einer nicht immer zu seiner eigenen Freude mit immer wieder frisch sprudelnden Varianten. Alles ist eingeflossen. Diese Mitwirkung von meist jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Umkreis meines Arbeitszusammenhangs kann weder im Text noch hier im Vorwort angemessen gewürdigt werden. Für mich ist sie zu einer unerhört ermutigenden Erfahrung geworden. Manche Teile dieses Buches sind geradezu Plagiate persönlicher Gespräche und geteilten Lebens. Ohne Vollständigkeit – ich danke: Elisabeth Beck-Gernsheim für unseren Nichtalltag im Alltag, gemeinsam durchlebte Ideen, unbeeindruckbare Respektlosigkeit; Maria Rerrich für viele Denk-Anstöße, Gespräche, verzwickte Materialaufarbeitungen; Renate Schütz für ihre himmlisch-ansteckende philosophische Neugierde und beflügelnden Visionen; Wolfgang Bonß für erfolgreiche Suchgespräche zu fast allen Teilen des Textes; Peter Berger für die mir überlassene Niederschrift seines hilfreichen Ärgers; Christoph Lau für sein Mitdenken und Absichern querliegender Argumentationen; Hermann Stumpf und Peter Sopp für viele Hinweise und die findige Beschaffung von Literatur und Datenmaterialien; Angelika Schacht und Gerlinde Müller für ihre Verläßlichkeit und ihren mitdenkenden Eifer im Schreiben des Textes.

Auch habe ich großartig kollegiale Ermutigungen erfahren von Karl Martin Bolte, Heinz Hartmann und Leopold Rosenmayr. Was jetzt noch an Wiederholungen und falschen Bildern enthalten ist, erkläre ich hiermit zu Zeichen gewollter Imperfektion.

Wer zwischen den Zeilen hin und wieder das Glitzern eines Sees zu erkennen meint, irrt sich nicht. Breite Teile des Textes wurden auf einem Hügel im Freien oberhalb des Starnberger Sees unter dessen lebhafter Anteilnahme verfaßt. So mancher Kommentar von Licht, Wind und Wolken wurde gleich eingearbeitet. Diese ungewöhnliche Produktionsstätte – von einem meist strahlenden Himmelchen begünstigt – wurde durch die gastliche Sorge von Frau Ruhdorfer und ihrer ganzen Familie ermöglicht, die selbst Tiere und Kinder in gehörigem Abstand um mich herum weiden und spielen ließen.

Die Stiftung Volkswagenwerk hat durch die Gewährung eines Akademie-Stipendiums die Voraussetzungen für die Muße geschaffen, ohne die das Abenteuer dieser Argumentation wohl nicht gewagt worden wäre. Die Bamberger Kollegen Peter Gross und Laszlo Vaskovics haben zu meinen Gunsten einer Verschiebung ihres Forschungsfreisemesters zugestimmt. Ihnen allen sei – ohne jede Zuweisung von Mitschuld an meinen Irrtümern und Übertreibungen – herzlich gedankt. Besonders eingeschlossen darin sind auch diejenigen, die meine Ruhe nicht gestört und mein Schweigen ertragen haben.

Bamberg/München, April 1986

Ulrich Beck

Erster Teil
Auf dem zivilisatorischen Vulkan: Die Konturen der Risikogesellschaft

Kapitel I
Zur Logik der Reichtumsverteilung und der Risikoverteilung

In der fortgeschrittenen Moderne geht die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einher mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken. Entsprechend werden die Verteilungsprobleme und -konflikte der Mangelgesellschaft überlagert durch die Probleme und Konflikte, die aus der Produktion, Definition und Verteilung wissenschaftlich-technisch produzierter Risiken entstehen.

Dieser Wechsel von der Logik der Reichtumsverteilung in der Mangelgesellschaft zur Logik der Risikoverteilung in der entwickelten Moderne ist historisch an (mindestens) zwei Bedingungen gebunden. Er vollzieht sich – wie heute erkennbar – erstens dort und in dem Maße, in dem durch das erreichte Niveau der menschlichen und technologischen Produktivkräfte sowie der rechtlichen und sozialstaatlichen Sicherungen und Regelungen echte materielle Not objektiv verringert und sozial ausgegrenzt werden kann. Zweitens ist dieser kategoriale Wechsel zugleich davon abhängig, daß im Zuge der exponentiell wachsenden Produktivkräfte im Modernisierungsprozeß Risiken und Selbstbedrohungspotentiale in einem bis dahin unbekannten Ausmaße freigesetzt werden.1

In dem Maße, in dem diese Bedingungen eintreten, wird ein historischer Typus des Denkens und Handelns durch einen anderen relativiert bzw. überlagert. Der Begriff der »Industrie- oder Klassengesellschaft« (im weitesten Sinne von Marx und Weber) kreiste um die Frage, wie der gesellschaftlich produzierte Reichtum sozial ungleich und zugleich »legitim« verteilt werden kann. Dies überschneidet sich mit dem neuen Paradigma der Risikogesellschaft, das in seinem Kern auf der Lösung eines ähnlichen und doch ganz andersartigen Problems beruht. Wie können die im fortgeschrittenen Modernisierungsprozeß systematisch mitproduzierten Risiken und Gefährdungen verhindert, verharmlost, dramatisiert, kanalisiert und dort, wo sie nun einmal in Gestalt »latenter Nebenwirkungen« das Licht der Welt erblickt haben, so eingegrenzt und wegverteilt werden, daß sie weder den Modernisierungsprozeß behindern noch die Grenzen des (ökologisch, medizinisch, psychologisch, sozial) »Zumutbaren« überschreiten?

Es geht also nicht mehr oder nicht mehr ausschließlich um die Nutzbarmachung der Natur, um die Herauslösung des Menschen aus traditionalen Zwängen, sondern es geht auch und wesentlich um Folgeprobleme der technisch-ökonomischen Entwicklung selbst. Der Modernisierungsprozeß wird »reflexiv«, sich selbst zum Thema und Problem. Fragen der Entwicklung und des Einsatzes von Technologien (im Bereich von Natur, Gesellschaft und Persönlichkeit) werden überlagert durch Fragen der politischen und wissenschaftlichen »Handhabung« – Verwaltung, Aufdeckung, Einbeziehung, Vermeidung, Verschleierung – der Risiken aktuell oder potentiell einzusetzender Technologien im Hinblick auf besonders zu definierende Relevanzhorizonte. Das Versprechen auf Sicherheit wächst mit den Risiken und muß gegen eine wachsame und kritische Öffentlichkeit durch kosmetische oder wirkliche Eingriffe in die technisch-ökonomische Entwicklung immer wieder bekräftigt werden.

Beide »Paradigmen« sozialer Ungleichheit sind systematisch auf bestimmte Epochen im Modernisierungsprozeß bezogen. Die Verteilung und Verteilungskonflikte um den gesellschaftlich produzierten Reichtum stehen solange im Vordergrund, wie in Ländern und Gesellschaften (heute in großen Teilen der sogenannten Dritten Welt) die Offensichtlichkeit materieller Not, die »Diktatur der Knappheit« das Denken und Handeln der Menschen beherrscht. Unter diesen Bedingungen der Mangelgesellschaft steht und vollzieht sich der Modernisierungsprozeß unter dem Anspruch, mit den Schlüsseln der wissenschaftlich-technischen Entwicklung die Tore zu den verborgenen Quellen des gesellschaftlichen Reichtums aufzuschließen. Diese Verheißungen der Befreiung von unverschuldeter Armut und Abhängigkeit liegen dem Handeln, Denken und Forschen in Kategorien sozialer Ungleichheit zugrunde, und zwar von der Klassen- über die Schichtungs- bis zur individualisierten Gesellschaft.

In den hochentwickelten, reichen Wohlfahrtsstaaten des Westens geschieht nun ein Doppeltes: Einerseits verliert der Kampf um das »tägliche Brot« – verglichen mit der materiellen Versorgung bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein und mit der vom Hunger bedrohten Dritten Welt – die Dringlichkeit eines alles in den Schatten stellenden Kardinalproblems. An die Stelle des Hungers treten für viele Menschen die »Probleme« der »dicken Bäuche« (zum Problem »neuer Armut« siehe S. 143 ff.). Dem Modernisierungsprozeß wird damit jedoch seine bisherige Legitimationsgrundlage entzogen: die Bekämpfung des evidenten Mangels, für die man auch so manche (nicht mehr ganz) ungesehene Nebenfolge in Kauf zu nehmen bereit war.

Parallel verbreitet sich das Wissen, daß die Quellen des Reichtums »verunreinigt« sind durch wachsende »Nebenfolgengefährdungen«. Dies ist keineswegs neu, blieb aber lange Zeit im Bemühen der Überwindung von Not unbemerkt. Diese Nachtseite gewinnt überdies durch die Überentwicklung der Produktivkräfte an Bedeutung. Im Modernisierungsprozeß werden mehr und mehr auch Destruktivkräfte in einem Ausmaß freigesetzt, vor denen das menschliche Vorstellungsvermögen fassungslos steht. Beide Quellen nähren eine wachsende Modernisierungskritik, die lautstark und konfliktvoll die öffentlichen Auseinandersetzungen bestimmt.

Systematisch argumentiert, beginnen sich gesellschaftsgeschichtlich früher oder später in der Kontinuität von Modernisierungsprozessen die sozialen Lagen und Konflikte einer »reichtumsverteilenden« mit denen einer »risikoverteilenden« Gesellschaft zu überschneiden. In der Bundesrepublik stehen wir – das ist meine These – spätestens seit den siebziger Jahren am Beginn dieses Übergangs. Das heißt: hier überlagern sich beide Arten von Themen und Konflikten. Wir leben noch nicht in einer Risikogesellschaft, aber auch nicht mehr nur in Verteilungskonflikten der Mangelgesellschaften. In dem Maße, in dem dieser Übergang vollzogen wird, kommt es dann wirklich zu einem Gesellschaftswandel, der aus den bisherigen Kategorien und Bahnen des Denkens und Handelns herausführt.

Trägt der Begriff des Risikos die gesellschaftsgeschichtliche Bedeutung, die ihm hier zugemutet wird? Handelt es sich nicht um ein Urphänomen menschlichen Handelns? Sind Risiken nicht gerade ein Kennzeichen der industriegesellschaftlichen Epoche, gegen die sie hier abgegrenzt werden sollen? Gewiß, Risiken sind keine Erfindung der Neuzeit. Wer – wie Kolumbus – auszog, um neue Länder und Erdteile zu entdecken, nahm »Risiken« in Kauf. Aber dies waren persönliche Risiken, keine globalen Gefährdungslagen, wie sie durch Kernspaltung oder die Lagerung von Atommüll für die ganze Menschheit entstehen. Das Wort »Risiko« hatte im Kontext dieser Epoche den Beiklang von Mut und Abenteuer, nicht den der möglichen Selbstvernichtung des Lebens auf der Erde.

Auch die Wälder sterben schon viele Jahrhunderte lang – zunächst durch ihre Verwandlung in Äcker, dann durch rücksichtslose Abholzungen. Aber das heutige Waldsterben erfolgt global, und zwar als implizite Konsequenz der Industrialisierung – mit völlig anderen sozialen und politischen Konsequenzen. Davon sind z. B. auch und gerade waldreiche Länder (wie Norwegen und Schweden) betroffen, die selbst kaum über schadstoffintensive Industrien verfügen, aber die Schadstoff-Bilanzen anderer hochindustrialisierter Länder mit sterbenden Wäldern, Pflanzen- und Tierarten bezahlen müssen.

Es wird berichtet, daß Seeleute, die im 19. Jahrhundert in die Themse fielen, nicht etwa ertrunken, sondern an den übelriechenden Ausdünstungen und Giftdämpfen dieser Londoner Kloake erstickt sind. Auch der Gang durch die engen Gassen einer mittelalterlichen Stadt muß einem Spießrutenlauf der Nase gleichgekommen sein. »Der Kot sammelt sich überall, in den Alleen, am Fuß der Schlagbäume, in den Droschken … Die Fassaden der Pariser Häuser sind vom Urin zersetzt … Die gesellschaftlich organisierte Verstopfung droht ganz Paris in den Prozeß der fauligen Auflösung hineinzuziehen.« (A. Corbin, Berlin 1984, S. 41 ff.) Dennoch fällt auf, daß die damaligen Gefährdungen im Unterschied zu den heutigen eben in die Nase bzw. die Augen stachen, also sinnlich wahrnehmbar waren, während Zivilisationsrisiken heute sich typischerweise der Wahrnehmung entziehen und eher in der Sphäre chemisch-physikalischer Formeln angesiedelt sind (z. B. Giftgehalte in Nahrungsmitteln, atomare Bedrohung). Damit ist auch gleich ein weiterer Unterschied verbunden. Damals konnten sie auf eine Unterversorgung mit Hygienetechnologie zurückgeführt werden. Heute haben sie in einer industriellen Überproduktion ihren Grund. Die heutigen Risiken und Gefährdungen unterscheiden sich also wesentlich von den äußerlich oft ähnlichen des Mittelalters durch die Globalität ihrer Bedrohung (Mensch, Tier, Pflanze) und ihre modernen Ursachen. Es sind Modernisierungsrisiken. Sie sind pauschales Produkt der industriellen Fortschrittsmaschinerie und werden systematisch mit deren Weiterentwicklung verschärft.

Nun sind Risiken industrieller Entwicklung sicherlich so alt wie diese selbst. Die Verelendung großer Teile der Bevölkerung – das »Armutsrisiko« – hat das 19. Jahrhundert in Atem gehalten. »Qualifikationsrisiken« und »Gesundheitsrisiken« sind seit langem Thema von Rationalisierungsprozessen und darauf bezogenen sozialen Konflikten, Sicherungen (und Forschungen). Dennoch kommt den Risiken, die im folgenden im Zentrum stehen und seit einigen Jahren die Öffentlichkeit beunruhigen, eine neue Qualität zu. Sie sind in den Betroffenheiten, die sie produzieren, nicht mehr an den Ort ihrer Entstehung – den Betrieb – zurückgebunden. Ihrem Zuschnitt nach gefährden sie das Leben auf dieser Erde, und zwar in all seinen Erscheinungsformen. Verglichen damit gehören die Berufsrisiken primärer Industrialisierung einem anderen Zeitalter an. Die Gefahren der chemisch und atomar hochentwickelten Produktivkräfte heben die Grundlagen und Kategorien auf, in denen wir bisher gedacht und gehandelt haben – Raum und Zeit, Arbeit und Freizeit, Betrieb und Nationalstaat, ja sogar die Grenzen zwischen Militärblöcken und Kontinenten.

Die soziale Architektur und politische Dynamik derartiger zivilisatorischer Selbstgefährdungspotentiale steht hier im Zentrum. Die Argumentation sei vorweg in fünf Thesen umrissen:

(1) Risiken, wie sie in der fortgeschrittensten Stufe der Produktivkraftentwicklung erzeugt werden – damit meine ich in erster Linie die sich dem unmittelbaren menschlichen Wahrnehmungsvermögen vollständig entziehende Radioaktivität, aber auch Schad- und Giftstoffe in Luft, Wasser, Nahrungsmitteln und damit einhergehende Kurz- und Langzeitfolgen bei Pflanze, Tier und Mensch –, unterscheiden sich wesentlich von Reichtümern. Sie setzen systematisch bedingte, oft irreversible Schädigungen frei, bleiben im Kern meist unsichtbar, basieren auf kausalen Interpretationen,Wissenoffen für soziale Definitionsprozesse.