Nächstes Jahr am selben Tag




Colleen Hoover

NÄCHSTES JAHR
AM SELBEN TAG

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Katarina Ganslandt

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Colleen Hoover

Colleen Hoover ist nichts so wichtig wie ihre Leser. Ihr Debüt ›Weil ich Layken liebe‹, das sie zunächst als eBook im Selfpublishing veröffentlichte, sprang sofort auf die Bestsellerliste der ›New York Times‹. Mittlerweile hat sie auch in Deutschland die Bestsellerliste erobert. Mit ›Nur noch ein einziges Mal‹ stand sie mehrere Wochen auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Weltweit verfügt sie über eine riesige Fangemeinde. Colleen Hoover lebt mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen in Texas.

 

 

Katarina Ganslandt spaziert mit dem Hund Elmo durch Berlin, surft im Netz durch die Welt und sammelt nützliches und unnützes Wissen, wenn sie nicht gerade Bücher aus dem Englischen übersetzt (mittlerweile sind es über 125).

Über das Buch

Ausgerechnet am Abend vor ihrem Umzug von Los Angeles nach New York begegnet Fallon Ben. Sie verlieben sich auf den ersten Blick ineinander und verbringen die Stunden vor dem Abflug zusammen. Doch wie soll es weitergehen? Wollen sie sich wirklich auf eine Fernbeziehung einlassen? Sie beschließen, sich die nächsten fünf Jahre immer am selben Tag im November zu treffen. Doch fünf Jahre sind eine lange Zeit – und so kommt ihnen trotz ihrer Gefühle das Leben dazwischen …

Impressum

Ungekürzte Ausgabe

2019 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© Colleen Hoover 2015

Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›November 9‹,

2015 erschienen bei Atria Paperback, an imprint of

Simon & Schuster, Inc., New York

All rights reserved including the right of reproduction

in whole or in part in any form.

This edition published by arrangement with the original publisher,

Atria Books, a division of Simon & Schuster, Inc., New York.

© der deutschsprachigen Ausgabe:

2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Frauke Schneider unter Verwendung eines Fotos von Getty Images/BraunS

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook 978-3-423-43132-3 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71845-5

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423431323

 

Du hast einen großartigen Musikgeschmack

und deine Umarmungen sind immer ein bisschen unbeholfen.

Bleib bloß, wie du bist.

Durchsichtig bin ich, ein Wasserwesen.

Ziellos umhertreibend.

Sie ist ein Anker, der in mein Meer sinkt.

Benton James Kessler

Was es wohl für ein Geräusch machen würde, wenn ich ihm jetzt einfach mein Glas an den Kopf werfen würde?

Das Glas ist schwer. Sein Schädel ist hart. Das lässt auf ein sattes KLONK hoffen.

Würde er bluten? Auf dem Tisch steht ein Serviettenspender, aber es sind nur die billigen, die nicht dick genug sind, um viel Blut aufzusaugen.

»Tja, unglaublich, was? Ich stehe selbst noch ein bisschen unter Schock«, sagt er.

Ich umklammere mein Glas fester, um zu verhindern, dass es wirklich gleich an seinem Schädel landet.

»Fallon?« Er räuspert sich und setzt seinen sanftesten Blick auf, der aber nichts daran ändert, dass sich seine Worte wie Klingen in mein Herz gebohrt haben. »Möchtest du nichts dazu sagen?«

Ich ramme meinen Strohhalm in einen der hohlen Eiswürfel und stelle mir vor, es wäre sein Kopf.

»Was willst du denn hören?«, sage ich, was mehr nach einem trotzigen Kind klingt als nach der Achtzehnjährigen, die ich bin. »Soll ich dir etwa gratulieren

Ich verschränke die Arme, lehne mich ins Polster der Sitznische zurück und funkle ihn an. Er wirkt zerknirscht. Keine Ahnung, ob er spürt, wie sehr mich seine Ankündigung getroffen hat, oder ob seine Reue bloß gespielt ist. Obwohl wir uns

Er trommelt mit den Fingern auf sein Glas und sieht mich mehrere Takte hindurch schweigend an.

Tatapptatapp.

Tatapptatapp.

Tatapptatapp.

Natürlich rechnet er damit, dass ich wie üblich einlenke und ihm sage, was er hören möchte. Aber da wir uns in den letzten zwei Jahren nur noch selten gesehen haben, hat er nicht mitbekommen, dass ich nicht mehr das Mädchen bin, das ich früher mal war.

Als ich mich weigere, die gewünschte Reaktion zu zeigen, stützt er seufzend die Ellbogen auf den Tisch. »Ich hatte gehofft, du würdest dich vielleicht für mich freuen.«

»Mich für dich freuen?« Ich schüttle den Kopf.

Das kann nicht sein Ernst sein.

Er zuckt mit den Schultern und kann sich ein stolzes Grinsen nicht verkneifen. »Na ja. Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch mal Vater werden würde.«

Ich lache ungläubig. »Dass man in der Lage ist, sein Sperma in eine Vierundzwanzigjährige zu spritzen, macht einen noch lange nicht zu einem Vater«, sage ich bitter.

Sein Grinsen erstirbt. Jetzt lehnt er sich zurück, neigt den Kopf und zieht leicht die Brauen zusammen. Diesen Blick hat er entwickelt, um ihn immer dann einzusetzen, wenn er nicht weiß, wie er eine Szene spielen soll. »Er ist perfekt, weil man jede beliebige Gefühlsregung hineininterpretieren kann: Traurigkeit, Bedauern, Mitgefühl oder Betroffenheit.« Hat er schon vergessen, dass er mein halbes Leben lang mein Schauspiellehrer war und das einer der ersten Tricks, die er mir beigebracht hat?

Ich gehe nicht davon aus, dass er auf diese Frage ernsthaft eine Antwort erwartet, spieße einen weiteren Eiswürfel auf, lasse ihn mir in den Mund gleiten und zerbeiße ihn gnadenlos. In der Nacht, in der meiner Karriere mit gerade mal sechzehn ein jähes Ende gesetzt wurde, habe ich aufgehört, ihn als »Vater« zu betrachten. Wobei er wahrscheinlich auch vorher weniger ein Vater für mich war als vielmehr mein Schauspielcoach.

Er streicht sich vorsichtig durch die für viel Geld frisch in seine Kopfhaut gepflanzten Haare. »Warum sagst du so etwas?« Jetzt kann er seine wachsende Gereiztheit nicht mehr verbergen. »Nimmst du mir etwa immer noch übel, dass ich nicht zu deiner Abschlussfeier gekommen bin? Ich habe dir doch erklärt, dass ich einen wichtigen Termin hatte, der sich nicht verschieben ließ.«

»Nein«, antworte ich ungerührt. »Das nehme ich dir nicht übel. Du warst ja gar nicht eingeladen.«

Er beugt sich vor und sieht mich fassungslos an. »War ich nicht?«

»Nein. Ich hatte nur vier Karten.«

»Wie bitte? Ich bin dein Vater! Warum hast du mich nicht eingeladen?«

»Du wärst doch sowieso nicht gekommen.«

»Woher willst du das wissen?«

»Du bist nicht gekommen.«

Er verdreht die Augen. »Natürlich nicht, Fallon. Ich war ja auch nicht eingeladen

Ich seufze. »Du bist echt unmöglich. Jetzt verstehe ich, warum Mom dich verlassen hat.«

Er schüttelt den Kopf. »Deine Mutter hat mich verlassen, weil ich mit ihrer besten Freundin geschlafen habe. Mit meinem Charakter hatte das rein gar nichts zu tun.«

»Wer von Ihnen hatte das Lachsfilet?«, fragt der Kellner. Perfektes Timing.

»Ich, bitte.« Er stellt den Teller vor mich hin und ich greife nach meiner Gabel, schiebe dann aber doch nur den Reis von einer Seite zur anderen, weil mir inzwischen der Appetit vergangen ist.

»Moment!«

Ich hebe den Kopf, aber der Kellner redet gar nicht mit mir, sondern mit meinem Vater. »Sind Sie nicht …?« Das musste ja kommen. »Na klar!« Ich fahre zusammen, als er laut in die Hände klatscht. »Sie sind es! Sie sind Donovan O’Neil! Sie haben Max Epcott gespielt!«

Mein Vater zuckt mit den Schultern, als wäre das keine große Leistung, dabei ist Bescheidenheit etwas, das ihm völlig fremd ist. Obwohl die Serie, in der er Max Epcott gespielt hat, schon vor zehn Jahren abgesetzt wurde, bildet er sich immer noch ein, sie wäre eine der Sternstunden der Fernsehgeschichte gewesen. Und das wird er auch weiterhin glauben, solange es immer wieder Leute gibt, die ihn erkennen und reagieren, als hätten sie noch nie in ihrem Leben einen Schauspieler vor sich gesehen. Hallo? Wir sind in L.A.! Hier ist jeder Schauspieler!

Ich steche voller Mordlust meine Gabel in den Lachs und will mir einen Bissen in den Mund schieben, als der Kellner fragt, ob ich ein Foto von ihm und meinem Vater machen kann.

In dem Moment, in dem ich aus der Nische rutsche und aufstehe, hält er mir sein Handy hin, aber ich schüttle den Kopf und gehe um ihn herum. »Sorry, ich muss dringend auf die Toilette«, sage ich. »Machen Sie doch ein Selfie mit ihm. Da steht er total drauf.«

Sobald kurz darauf die Tür der Waschräume hinter mir zugefallen ist, atme ich erleichtert auf. Keine Ahnung, wieso ich auf die bescheuerte Idee gekommen bin, mich mit meinem Vater zum Mittagessen zu treffen. Okay, vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass ich aus L.A. wegziehe und ihn eine ganze Weile nicht mehr sehen werde. Aber selbst das rechtfertigt nicht, dass ich mir das hier freiwillig antue.

Zielstrebig steuere ich die erste Kabine in der Reihe an, schließe mich ein, ziehe eine Schutzfolie aus dem Spender und breite sie über den Sitz. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass in öffentlichen Toiletten die Sitzfläche in der ersten Kabine immer am wenigsten verkeimt ist, weil die meisten Leute fälschlicherweise davon ausgehen, dass sie am häufigsten benutzt wird, und sie deshalb meiden. Ich nicht. Ich gehe sogar grundsätzlich immer nur in die erste Kabine. Seit ich als Sechzehnjährige mehrere Monate im Krankenhaus verbringen musste, bin ich, was Bakterien angeht, ein bisschen paranoid.

Als ich fertig bin, wasche ich mir sehr lange und gründlich die Hände, wobei ich starr nach unten schaue. Normalerweise bin ich ziemlich geübt darin, meinem Spiegelbild auszuweichen, aber als ich ein Papiertuch aus dem Spender ziehe, erhasche ich aus dem Augenwinkel doch einen Blick auf mein Gesicht. Ich habe es noch immer nicht geschafft, mich an den Anblick zu gewöhnen.

Nachdenklich streiche ich über die vernarbte Haut, die sich über die linke Hälfte meines Gesichts zum Hals hinunterzieht und im Kragen meiner Bluse verschwindet. Unter der Kleidung

Nach dem Brand war der größte Teil meines Körpers erst einmal monatelang unter Verbänden verborgen. Jetzt, wo die Wunden zu Narben verheilt sind, ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich sie fast zwanghaft berühre. Die verbrannte Haut fühlt sich ganz weich an, wie Nappaleder oder Samt. Eigentlich sollte man erwarten, ihre Beschaffenheit würde mich genauso abstoßen wie ihr Anblick, aber ich streiche mir oft gedankenverloren über den Hals oder den Arm, als würde ich eine Art Brailleschrift auf meinem Körper entziffern. Sobald ich merke, was ich tue, höre ich schnell wieder auf. Ich sollte nichts schön finden, das so untrennbar mit der Nacht verknüpft ist, in der mein Leben in Flammen aufging.

Am Aussehen der Narben finde ich natürlich überhaupt nichts Schönes. Es ist, als hätten die Flammen meine Haut mit pinkfarbenem Leuchtstift markiert, damit alle sehen, was sie mir angetan haben. Ich kann noch so sehr versuchen, die Narben unter meinen Haaren und meiner Kleidung zu verstecken, sie sind da und werden es für immer sein. Eine unauslöschliche Erinnerung an die Nacht, in der so viel von dem, was an meinem Leben gut und an mir schön war, zerstört wurde.

Eigentlich gebe ich nichts auf Jahrestage, aber als ich heute Morgen aufgewacht bin, wusste ich sofort, welches Datum ist. Das lag vermutlich daran, dass es das Letzte war, woran ich vor dem Einschlafen gedacht hatte. Heute vor zwei Jahren ist im Haus meines Vaters das Feuer ausgebrochen, in dem ich beinahe ums Leben gekommen wäre. Möglicherweise ist das der Grund, warum ich mich ausgerechnet heute mit ihm verabredet habe. Vielleicht habe ich ja insgeheim gehofft, er würde sich

Obwohl ich seit der Scheidung meiner Eltern bei meiner Mutter wohne, habe ich vor dem Brand immer auch ein-, zweimal pro Woche bei meinem Vater übernachtet. Am Morgen des Tages, an dem das Haus brannte, hatte ich ihm per SMS angekündigt, dass ich bei ihm schlafen würde. Hätte er in dem Moment, in dem er die Flammen bemerkte, nicht sofort nach oben in mein Zimmer stürzen müssen, um mich zu retten?

Das hat er nicht getan. Schlimmer noch. Er hatte völlig vergessen, dass ich da war. Niemand wusste, dass noch jemand im Haus war, bis die Feuerwehrleute meine Schreie hörten. Ich weiß, dass mein Vater sich deswegen schuldig fühlt. Er hat sich wochenlang jedes Mal bei mir entschuldigt, wenn er zu mir ins Krankenhaus kam. Mit der Zeit sind seine Besuche dann seltener geworden, genau wie seine Anrufe und auch die Entschuldigungen. Seitdem habe ich mich innerlich immer weiter von ihm entfernt, auch wenn ich wünschte, es wäre anders. Ich weiß, dass der Brand durch eine Verkettung unglücklicher Umstände entstanden ist, für die niemand etwas kann. Ich habe überlebt. Das sind die Tatsachen, auf die ich mich zu konzentrieren versuche. Trotzdem fällt es mir schwer, keine Verbitterung zu empfinden, wenn ich mich im Spiegel sehe.

Oder wenn jemand anderes mich ansieht.

Die Tür schwingt auf. Eine Frau kommt herein, bemerkt mich und wendet schnell den Blick ab, bevor sie die letzte Kabine in der Reihe ansteuert.

Tja, wäre sie mal lieber in die erste gegangen.

Früher hatte ich einen schulterlangen Bob mit kurzem Pony, aber seit zwei Jahren lasse ich mir die Haare lang wachsen. Jetzt streiche ich mir die dunklen Strähnen wieder so hin, dass sie

Früher fand ich mich hübsch, jetzt können Haare und Kleidung nur einen Teil meiner Hässlichkeit kaschieren.

Als ich die Spülung rauschen höre, trete ich schnell die Flucht an, bevor die Frau aus der Kabine kommt.

Ich gehe anderen Leuten möglichst aus dem Weg. Nicht etwa, weil ich Angst hätte, sie könnten mich anstarren, sondern weil sie mich eben gerade nicht anstarren. Mir ist aufgefallen, dass die meisten Menschen sofort wegschauen, sobald sie meine Narben sehen. Wahrscheinlich aus Höflichkeit, weil sie mir nicht das Gefühl geben wollen, entstellt zu sein. Ich fände es schön, wenn mir zur Abwechslung mal wieder jemand in die Augen schauen würde. Das habe ich schon lange nicht mehr erlebt. Auch wenn ich es mir ungern eingestehe: Ich vermisse die bewundernden Blicke, die mir früher oft zugeworfen wurden.

Als ich wieder ins Lokal komme, bin ich fast enttäuscht zu sehen, dass mein Vater immer noch an unserem Tisch sitzt. Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn er während meiner Abwesenheit einen Anruf bekommen und wegen irgendeiner dringenden Sache sofort hätte aufbrechen müssen.

Während ich darüber nachdenke, wie traurig es ist, dass ich lieber an einen leeren Tisch zurückgekehrt wäre, bemerke ich plötzlich jemanden in der benachbarten Nische.

Normalerweise achte ich nicht auf die Leute in meiner Umgebung, weil ich lieber gar nicht mitbekommen möchte, wie sie krampfhaft versuchen, jeglichen Augenkontakt mit mir zu vermeiden. Aber dieser Typ, der ungefähr in meinem Alter ist, sieht mich sehr eindringlich an. Neugierig. Offen.

Vor mir sitzt das genaue Gegenteil davon. Die Bartstoppeln auf seinen Wangen sind nicht zu einem exakt abgezirkelten Kunstwerk geschnitten, sondern sprießen so ungleichmäßig, als hätte er bis spätnachts gearbeitet und wäre nicht dazu gekommen, sich zu rasieren. Seine dunkelbraunen Haare sind nicht mit Gel in Form gezupft, um ihnen einen Ich-bin-gerade-aufgestanden-Look zu verpassen, sondern stehen zerzaust nach allen Seiten ab. So sieht man aus, wenn man tatsächlich verschlafen hat und keine Zeit hatte, in den Spiegel zu schauen.

Merkwürdigerweise finde ich seine abgerockte Erscheinung kein bisschen abschreckend, sondern im Gegenteil sogar ziemlich anziehend. Er wirkt, als wäre ihm sein Äußeres komplett egal, und ist dabei trotzdem einer der hübschesten Männer, denen ich je begegnet bin.

Glaube ich.

Vielleicht ist das ja auch nur eine paradoxe Nebenwirkung meines Hygienefimmels, und ich sehne mich insgeheim so sehr nach der Unbekümmertheit, die dieser Typ ausstrahlt, dass ich sie mit Attraktivität verwechsle.

Oder fühle ich mich vielleicht deshalb zu ihm hingezogen, weil er zu den wenigen Menschen gehört, die meinem Blick nicht ausweichen, sondern ihn erwidern?

Ich bin hin- und hergerissen, ob ich schneller gehen soll, um diesen Augen zu entgehen, oder extra langsam, um die Aufmerksamkeit zu genießen, die er mir schenkt.

Als ich an seinem Tisch vorbeikomme, wendet er sich mir zu, und jetzt wird mir sein Interesse doch zu viel. Ich spüre, wie ich

Als ich im letzten Moment noch einmal kurz in seine Richtung spähe, erhasche ich den Anflug eines Lächelns.

Offensichtlich hat er meine Narben nicht bemerkt, sonst hätte er garantiert nicht gelächelt.

Gott. Es kotzt mich selbst an, dass ich solche Gedanken habe. Das ist einfach nur erbärmlich. Früher war ich ganz anders. Aber meine Selbstsicherheit von damals ist in den Flammen verschmort. Ich habe zwar daran gearbeitet, mir ein kleines bisschen davon zurückzuholen, doch es fällt mir trotzdem wahnsinnig schwer zu glauben, ich könnte jemand anderem gefallen, wenn ich meinen eigenen Anblick schon selbst nicht ertrage.

»Davon kriegt man einfach nie genug«, sagt mein Vater, als ich ihm gegenüber wieder in die Bank rutsche. Ich sehe ihn überrascht an, weil ich fast vergessen hatte, dass er ja auch noch da ist.

»Wovon?«

Mit der Gabel zeigt er in Richtung des Kellners, der jetzt an der Kasse steht. »Davon«, sagt er. »Fans.« Er schiebt sich einen Bissen in den Mund. »Also. Was willst du mit mir besprechen?«

»Warum glaubst du, dass ich etwas besprechen will?«

Er zuckt mit den Schultern. »Wir treffen uns zum Mittagessen. Offensichtlich hast du mir irgendwas zu sagen.«

Es macht mich traurig, dass unsere Beziehung mittlerweile einen solchen Tiefpunkt erreicht hat. Dass hinter einer simplen Essensverabredung nicht einfach der Wunsch einer Tochter stecken kann, mal wieder ihren Vater zu sehen.

»Ich ziehe morgen nach New York. Na ja, eigentlich schon

Mein Vater greift nach seiner Serviette, presst sie sich an die Lippen und unterdrückt ein Husten. Jedenfalls bin ich mir ziemlich sicher, dass es eins ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich vor Schreck über meine Ankündigung verschluckt hat.

»New York?«, wiederholt er ungläubig.

Und dann lacht er.

Lacht. Als fände er die Vorstellung, dass ich in New York leben könnte, unfassbar lustig. Ganz ruhig, Fallon. Dein Vater ist ein arroganter Arsch. Das ist nichts Neues.

»Was um alles in der Welt willst du dort? Und warum? Wie kommst du ausgerechnet auf New York?«, fragt er. »Und sag jetzt bitte nicht, du hättest jemanden auf einer Dating-Website kennengelernt.«

Mein Puls rast. Kann er nicht wenigstens so tun, als würde er mich ernst nehmen?

»Na ja, ich finde, es wird langsam Zeit für mich, wieder Tritt zu fassen, und ich dachte … ich könnte es am Broadway versuchen.«

Als Siebenjährige hat er mich mal nach New York mitgenommen und ist mit mir in eines der großen Musical-Theater am Broadway gegangen, wo wir Cats gesehen haben. Der Abend gehört zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen. Mein Vater hat sich immer gewünscht, dass ich Schauspielerin werde, aber erst in dem Moment, in dem ich zum ersten Mal richtige, echte Menschen auf einer Bühne erlebt habe, wusste ich, dass ich Schauspielerin werden muss. Seitdem schlägt mein Herz fürs Theater. Aber obwohl ich immer davon geträumt habe, eines Tages selbst auf der Bühne zu stehen, habe ich dieses Ziel nie verfolgt, weil mein Vater jeden Schritt meiner Karriere für mich geplant hat. Und für ihn stand von Anfang an fest, dass

Mein Vater nimmt einen Schluck von seinem Wasser. »Ach, Fallon«, seufzt er und stellt das Glas ab. »Ich weiß, dass du die Schauspielerei vermisst, aber meinst du nicht, dass es an der Zeit wäre, Alternativen auszuloten?«

Wie bitte? Wenn ich nicht so vor den Kopf gestoßen wäre, würde ich ihn jetzt darauf hinweisen, wie unglaublich inkonsequent es ist, so etwas zu sagen. Schließlich war er es, der mich mein gesamtes Leben lang gedrängt hat, in seine Fußstapfen zu treten. Allerdings war nach dem Brand nie mehr die Rede davon, dass ich weiterhin als Schauspielerin arbeiten kann.

Ich bin nicht naiv. Natürlich weiß ich, dass er denkt, ich würde nicht mehr die nötigen Voraussetzungen mitbringen. Und vermutlich hat er damit sogar recht. Aussehen spielt in Hollywood nun mal eine wahnsinnig wichtige Rolle.

Aber genau aus diesem Grund will ich nach New York. Wenn ich jemals wieder als Schauspielerin arbeiten möchte, habe ich am Theater vermutlich noch am ehesten eine Chance.

Es verletzt mich, dass er mir so offen zeigt, wie wenig er von meinem Plan hält. Im Gegensatz zu ihm fand meine Mutter die Idee sofort toll. Sie hat sich schon Sorgen um mich gemacht, weil ich kaum noch vor die Tür gegangen bin, seit ich nach dem Schulabschluss mit meiner Freundin Amber zusammengezogen bin. Natürlich ist sie traurig, dass ich so weit wegziehe, aber ich spüre auch, wie stolz und glücklich es sie macht, dass ich mich aus der Sicherheit meines Zuhauses hinauswage.

Warum kann nicht auch mein Vater sehen, was für ein großer und wichtiger Schritt das für mich ist?

»Ich arbeite weiter als Sprecherin. Stell dir vor, in New York gibt es auch Tonstudios, in denen Hörbücher eingelesen werden.«

Er verdreht nur die Augen.

»Was hast du gegen Hörbücher?«

Er wirft mir einen ungläubigen Blick zu. »Ich bitte dich. Du weißt selbst, dass Sprecherjobs unterste Schublade sind. Warum suchst du dir nicht was Besseres, Fallon? Du könntest studieren.«

Mir wird richtig schlecht. Wie gefühllos kann ein Mensch sein?

Ein kleiner Funke Mitgefühl scheint ihm geblieben zu sein, denn er hört auf zu kauen und wischt sich mit der Serviette über den Mund. »Zieh nicht so ein Gesicht. Du weißt, dass ich das nicht so gemeint habe. Ich wollte damit nicht sagen, dass Hörbücher unter deiner Würde sind, sondern nur, dass du dir einen Beruf suchen solltest, in dem du angemessen bezahlt wirst … Jetzt, wo du nicht mehr schauspielern kannst, meine ich. Als Sprecherin verdienst du doch nichts. Am Broadway übrigens auch nicht.« Das Wort Broadway spuckt er verächtlich aus.

»Nur zu deiner Information, Dad: Es gibt sehr viele sehr erfolgreiche und angesehene Kollegen, die Hörbücher einlesen. Und wenn du noch ein paar Stunden Zeit hast, kann ich dir gern auch die Namen sämtlicher Top-Schauspieler aufzählen, die gerade am Broadway spielen.«

Mein Vater tut, als würde er sich achselzuckend geschlagen geben, aber ich sehe ihm an, dass ich ihn nicht überzeugt habe. Er hat nur ein schlechtes Gewissen, weil er die einzige Sparte schlechtgemacht hat, die mir als Schauspielerin noch offensteht.

Obwohl sein Glas leer ist, greift er danach, legt den Kopf

Ich probiere von meinem Lachs, der inzwischen kalt geworden ist. Hoffentlich hat Dad bald aufgegessen, damit ich von hier wegkomme. Ich weiß nicht, wie lange ich ihn noch ertragen kann. Mein einziger Trost ist, dass ich morgen um diese Zeit schon am anderen Ende des Kontinents lebe, selbst wenn das bedeutet, dass ich Sonnenschein gegen Schnee eintauschen muss.

»Ach so, halt dir Mitte Januar bitte frei«, wechselt er unvermittelt das Thema. »Da bräuchte ich dich nämlich in L.A.«

»Warum? Was passiert im Januar?«

»Dein alter Herr kommt noch mal unter die Haube.«

Ich sinke in mich zusammen. »Erschieß mich bitte, ja?«

»Fallon. Du kannst gar nicht beurteilen, ob du sie magst oder nicht, bevor du sie nicht kennengelernt hast.«

»Ich muss sie nicht kennenlernen, um zu wissen, dass ich sie nicht mag«, widerspreche ich. »Es genügt mir zu wissen, dass sie dich heiratet.« Ich lächle, als wäre das ein Witz, bin mir aber sicher, er weiß, dass ich jedes Wort genau so meine.

»Darf ich dich daran erinnern, dass deine Mutter mich auch mal geheiratet hat? Und soweit ich weiß, hast du sie ganz gern«, antwortet er.

»Punkt für dich. Zu meiner Verteidigung möchte ich allerdings anführen, dass das schon die fünfte Frau ist, der du einen Antrag machst, seit ich zehn bin.«

»Aber erst die dritte, die ich auch wirklich heirate.«

Ich nehme noch einen Bissen von dem eiskalten Lachs. »Wenn ich mir dich so ansehe, vergeht mir die Lust, überhaupt jemals zu heiraten«, sage ich mit vollem Mund.

Er lacht. »Das dürfte für dich kein so großes Opfer werden. Meines Wissens hast du dich nur ein einziges Mal mit

Mir bleibt der Bissen im Hals stecken.

Wo war ich, als die netten Väter verteilt wurden? Warum habe ich dieses katastrophale Exemplar abbekommen?

Jedenfalls ist jetzt klar, dass er wirklich keine Ahnung hat, was heute für ein Tag ist. Wenn er es wüsste, hätte er so etwas Gefühlloses nicht gesagt.

Er legt die Stirn in tiefe Falten, woran ich erkenne, dass er sich mies fühlt und gerade dabei ist, eine Entschuldigung zu formulieren. Mag ja sein, dass ihm das nur als gedankenloser Witz herausgerutscht ist, aber so leicht lasse ich ihn nicht davonkommen.

Ich nehme meine Haare im Nacken zusammen, sehe ihm fest in die Augen und setze mich so hin, dass er meine linke Gesichtshälfte sieht. »Tja, weißt du, Dad. Es gibt nicht mehr so viele Jungs, die sich mit mir treffen wollen, seit das da passiert ist.« Noch bevor der Satz ganz raus ist, bereue ich ihn auch schon.

Warum lasse ich mich immer wieder auf sein Niveau herab? Das habe ich nicht nötig.

Sein Blick huscht kurz über meine Wange. Er guckt betreten und sieht tatsächlich aus, als würde es ihm leidtun.

Ich beschließe, meine Verbitterung herunterzuschlucken und Milde walten zu lassen. Aber bevor ich etwas Versöhnliches sagen kann, steht der Typ, der in der Nische hinter Dad saß, plötzlich auf, und ich kann nicht mehr klar denken. Ich lasse den Haarvorhang schnell wieder vors Gesicht fallen, damit er mich nicht sieht, wenn er sich umdreht. Zu spät. Er lächelt wieder, und diesmal wende ich den Blick nicht ab, sondern starre ihn mit großen Augen an, weil er nämlich zu uns rüberkommt. Noch bevor ich reagieren kann, ist er auch schon neben mich in die Bank gerutscht.

»Sorry, dass ich zu spät bin, Süße«, sagt er und legt mir einen Arm um die Schulter.

Er hat mich gerade »Süße« genannt. Dieser wildfremde Typ hat mich »Süße« genannt. Dieser wildfremde Typ hat gerade den Arm um mich gelegt und mich »Süße« genannt.

Was passiert hier?

Hat mein Vater irgendetwas damit zu tun? Aber der sieht noch verwirrter aus, als ich es bin.

Ich zucke zusammen, als der Typ mir einen Kuss auf die Schläfe drückt. »Du weißt ja, um diese Zeit ist immer ein Höllenverkehr.«

Der wildfremde Typ hat mich eben geküsst.

Hilfe!

Jetzt streckt er meinem Vater die Hand hin. »Hallo. Ich bin Ben«, stellt er sich vor. »Benton James Kessler. Der Freund Ihrer Tochter.«

Der WAS?

Die beiden geben sich die Hand. Als ich merke, dass mein Mund offen steht, schließe ich ihn schnell wieder. Mein Vater soll auf keinen Fall merken, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, was hier vor sich geht. Aber ich will auch nicht, dass dieser Ben womöglich auf die Idee kommt, mein Mund würde offen stehen, weil ich ihn so umwerfend finde. Ich sehe ihn nur deswegen so an, weil er … na ja … weil er ganz offensichtlich wahnsinnig ist.

Er lässt die Hand meines Vaters los, lehnt sich zurück und zwinkert mir fast unmerklich zu. Dann beugt er sich so dicht zu meinem Ohr, dass ich ihm eigentlich eine knallen müsste, und flüstert: »Spiel einfach mit.«

Immer noch lächelnd, richtet er sich wieder auf.

Spiel einfach mit?

Ist das hier eine Impro-Übung, oder was?

Er hat unser ganzes Gespräch mitangehört und tut jetzt aus irgendeinem unerklärlichen Grund so, als wäre er mein Freund, um meinem Vater eins auszuwischen.

Wow. Ich glaube, ich finde meinen neuen Fake-Freund ziemlich toll.

Nachdem ich jetzt weiß, dass er meinem Vater nur etwas vorspielt, lächle ich ihn verliebt an. »Cool. Ich hätte nicht gedacht, dass du es noch schaffst.« Ich kuschle mich an ihn und strahle meinen Vater an.

»Du weißt doch, dass ich deinen Dad unbedingt kennenlernen wollte, Schatz. Und so viele Gelegenheiten gibt es dazu ja nicht, weil ihr euch so selten seht. Mich hätte heute kein Stau der Welt davon abhalten können, herzukommen.«

Ich werfe meinem neuen Fake-Freund ein zufriedenes Lächeln zu. Dieser Ben hat anscheinend auch einen Arsch zum Vater, sonst wüsste er nicht so genau, was er sagen muss, um ihn auf die Palme zu bringen.

»Ach so, entschuldigen Sie bitte«, sagt Ben zu meinem Vater. »Fallon spricht von Ihnen immer nur als ›Dad‹, ich weiß gar nicht, wie Sie richtig heißen.«

Mein Vater runzelt leicht irritiert die Stirn. Es ist einfach zu schön!

»Donovan O’Neil«, sagt er. »Den Namen haben Sie vermutlich schon gehört. Ich habe die Hauptrolle in …«

»Nein«, unterbricht ihn Ben. »Der Name sagt mir leider gar nichts.« Wieder zwinkert er mir zu. »Aber Fallon hat mir schon viel über Sie erzählt.« Er zwickt mich liebevoll ins Kinn, bevor er sich wieder meinem Vater zuwendet. »Und was sagen Sie dazu, dass Ihre Tochter nach New York zieht?« Er sieht mich an. »Mich macht es natürlich todtraurig, dass sie so weit weggeht, aber wenn sie dadurch ihren Traum verwirklicht, bin ich der Letzte, der ihr Steine in den Weg legt. Im Gegenteil, ich

Mein kleiner Käfer? Dieser Ben kann froh sein, dass er nicht mein echter Freund ist, sonst würde ich ihm nämlich zum Dank für diesen bescheuerten Kosenamen in die Eier treten. Und das wäre dann garantiert echt.

Dad räuspert sich. Es ist offensichtlich, dass er schon jetzt nichts von Ben hält. »Ich kann mir eine ganze Reihe von Träumen vorstellen, die eine Achtzehnjährige verwirklichen sollte, Klinkenputzen am Broadway gehört ganz bestimmt nicht dazu. Besonders nicht nach der Karriere, die hinter ihr liegt. In meinen Augen ist das ein gigantischer Rückschritt. Fallon kann mehr aus ihrem Leben machen.«

Ich spüre, wie Ben sich neben mir aufrichtet und die Schultern strafft. Er riecht unheimlich gut. Glaube ich jedenfalls. Es ist lange her, dass ich einem Typen so nah war. Vielleicht riechen Männer ja einfach so.

»Dann ist es ja umso besser, dass sie volljährig ist«, sagt er. »Mit achtzehn interessiert es einen nicht mehr wirklich, wie Eltern ›was man aus seinem Leben machen sollte‹ definieren.«

Ich weiß natürlich, dass das alles nur Theater ist, aber es tut mir unglaublich gut, dass jemand so für mich eintritt. Mir wird innerlich ganz warm.

»In diesem Fall ist es aber nicht irgendeine elterliche Definition, sondern die Einschätzung von jemandem, der selbst aus der Branche kommt«, sagt mein Vater trocken. »Glauben Sie mir, ich bin lange genug im Showbusiness und weiß, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um auszusteigen.«

Ich drehe ihm ruckartig den Kopf zu, während sich Bens Griff um meine Schulter verfestigt.

»Aussteigen?«, fragt Ben. »Sie meinen, Ihre Tochter sollte ihren Beruf aufgeben

Mein Vater verschränkt die Arme vor der Brust und sieht Ben

Obwohl mir die angespannte Atmosphäre unangenehm ist, bin ich gleichzeitig hingerissen. Ich habe noch nie erlebt, dass jemand meinem Vater so die Stirn geboten hat.

»Hören Sie, Ben.« Dad sagt den Namen, als würde er faulig schmecken. »Fallon braucht niemanden, der ihren Kopf mit schwachsinnigen Ideen füllt, nur weil Sie die Vorstellung reizt, in Zukunft ein Betthäschen an der Ostküste zu haben.«

Hat mein Vater mich gerade als Betthäschen bezeichnet? Mein Mund steht wieder offen, während er weiterredet.

»Sie ist intelligent und selbstbewusst genug, um zu akzeptieren, dass sie in dem Beruf, auf den sie ein Leben lang hingearbeitet hat, keine Chance mehr hat, seit sie …« Er macht eine Handbewegung in meine Richtung. »Seit sie …«

Er beendet den Satz nicht, aber ich weiß natürlich ganz genau, was es ist, das er anscheinend nicht herausbringt.

Vor zwei Jahren war ich noch eine vielversprechende Nachwuchsschauspielerin, der eine große Karriere vorhergesagt wurde, aber nachdem mein Aussehen in Flammen aufgegangen war, hat mir der Sender den Vertrag gekündigt. Manchmal habe ich das Gefühl, mein Vater trauert mehr darum, dass er jetzt nicht mehr mit seiner erfolgreichen Tochter angeben kann, als dass ich durch seine Unachtsamkeit für immer entstellt bin.

Bisher haben wir nie darüber gesprochen, dass ich wieder mit der Schauspielerei anfangen könnte. Wir sprechen sowieso kaum noch über irgendetwas. Eineinhalb Jahre lang hat er praktisch jeden Tag mit mir am Set verbracht, jetzt sehe ich ihn maximal einmal im Monat.

Aber genau deswegen will ich, dass er seinen angefangenen Satz zu Ende bringt. Ich warte seit zwei Jahren darauf, dass er mir offen ins Gesicht sagt, die Brandnarben seien der Grund

Ich verenge die Augen. »Seit ich was …?«

Er schüttelt den Kopf, als würde er jetzt gern das Thema wechseln. Aber ich lasse nicht locker und sehe ihn auffordernd an.

»Müssen wir das wirklich hier und jetzt im Detail besprechen?«, fragt er schließlich, schaut dabei aber nicht mich an, sondern meinen neuen Fake-Freund.

»Definitiv. Ja.«

Mein Vater schließt einen Moment die Augen und seufzt schwer, dann beugt er sich vor und presst die Handflächen auf die Tischplatte. »Du weißt, dass du für mich die Allerschönste bist, Fallon. Leg mir also bitte nichts in den Mund, was ich nicht gesagt habe. Es geht hier einzig und allein darum, dass die Branche andere Ansprüche an das Aussehen eines Mädchens stellt als ein Vater. Uns bleibt nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren. Offen gestanden dachte ich bis gerade eben, wir hätten das längst begriffen.« Während er spricht, heftet er seinen Blick die ganze Zeit auf Ben. Mich sieht er nicht an.

Ich beiße mir auf die Innenseite der Wangen, damit mir nicht irgendetwas herausrutscht, das ich bereuen würde. Ich habe es immer gewusst. Als ich mich im Krankenhaus zum ersten Mal im Spiegel gesehen habe, war mir klar, dass alles vorbei ist. Jetzt aber meinen Vater laut sagen zu hören, ich solle meinen Lebenstraum endgültig begraben, trifft mich bis ins Innerste.

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass die Empörung auf seinem Gesicht echt ist und nicht bloß gespielt.

»Ganz genau. Ich bin ihr Vater und nicht ihre Mutter, die ihr rosa Zuckerwatteträume in den Kopf setzt, weil sie hofft, dass sich ihr kleines Mädchen dann besser fühlt. In New York und Los Angeles laufen Tausende junger Frauen herum, die den gleichen Traum haben wie den, auf den Fallon ihr Leben lang hingearbeitet hat. Junge Frauen, die unfassbar talentiert sind und bildschön. Fallon weiß, dass ich davon überzeugt bin, dass sie mehr Talent hat als all diese Mädchen zusammen, aber sie ist auch Realistin. Jeder Mensch hat Träume – bedauerlicherweise stehen Fallon nicht mehr die nötigen Werkzeuge zur Verfügung, um ihren zu verwirklichen. Damit sollte sie sich abfinden, statt Zeit und Geld zu verschwenden und in eine Stadt zu ziehen, in der in beruflicher Hinsicht niemand auf sie wartet. Es wird nicht lange dauern, bis sie das selbst merkt.«

Ich schließe kurz die Augen. Wer auch immer gesagt hat, dass die Wahrheit wehtut, hat massiv untertrieben. Die Wahrheit ist ein mieses Dreckstück.

»Meine Güte«, murmelt Ben kopfschüttelnd. »Sie sind wirklich unmöglich.«

»Und Sie sind ein Träumer«, gibt mein Vater zurück.

»Ben?« Ich stupse ihn an, damit er mich rauslässt. Ich kann nicht mehr.

Statt aufzustehen, legt er unter der Tischplatte die Hand auf mein Knie und signalisiert mir, dass ich sitzen bleiben soll.

Ich erstarre unter seiner Berührung, weil mein Gehirn gerade die unterschiedlichsten Emotionen verarbeiten muss. Ich bin wütend auf meinen Vater. Wahnsinnig wütend. Gleichzeitig tröstet es mich unendlich, dass dieser wildfremde Mensch mir aus unerfindlichen Gründen beisteht. Ich würde am liebsten

Ich versuche, tief durchzuatmen und mich zu entspannen, damit Ben nicht merkt, was seine Berührung in mir auslöst. Ich bin schon lange nicht mehr so angefasst worden und einfach nicht mehr daran gewöhnt.

»Beantworten Sie mir bitte eine Frage, Mr O’Neil«, sagt Ben. »Hatte Johnny Cash eine Hasenscharte?«

Ich sehe ihn erstaunt an und hoffe, dass diese merkwürdige Frage irgendeinen Sinn hat, der sich mir nur noch nicht erschließt.

Mein Vater wirft ihm einen Blick zu, als würde er an seinem Verstand zweifeln. »Was zum Teufel hat ein Countrysänger mit unserem Gespräch über Fallons Zukunft zu tun?«

»Eine ganze Menge«, antwortet Ben. »Und um die Frage selbst zu beantworten: Nein, hatte er nicht. Dafür hat der Schauspieler, der ihn in Walk The Line spielt, eine deutlich sichtbare Narbe auf der Oberlippe. Joaquin Phoenix ist für die Rolle sogar für den Oscar nominiert worden.«

Mein Puls beschleunigt sich, als ich begreife.

»Was ist mit Idi Amin?«, fragt Ben. »Hatte der ein hängendes Augenlid?«

Mein Vater sieht entnervt zur Decke, um zu zeigen, wie sehr ihn die Fragen langweilen. »Keine Ahnung. Hatte er?«

»Nein. Ganz im Gegensatz zu dem Schauspieler, der ihn spielt – Forest Whitaker. Der übrigens zufälligerweise nicht nur für einen Oscar nominiert war. Sondern ihn auch bekommen hat.«

Wieder schafft er es, meinen Vater sprachlos zu machen. Und obwohl mir die ganze Situation ziemlich unangenehm ist, ist sie mir nicht so unangenehm, dass ich diesen seltenen und kostbaren Moment nicht auch genießen könnte.

Ich versuche, seinen Kommentar nicht persönlich zu nehmen, auch wenn es mir schwerfällt. Mir ist klar, dass die beiden hier einen Machtkampf ausfechten, der nichts mehr mit mir zu tun hat. Trotzdem ist es bitter, dass mein Vater keinerlei Hemmungen hat, meine Gefühle zu verletzen, um aus einem Streit mit einem ihm völlig Fremden als Sieger hervorzugehen.

»Wissen Sie, was ich nicht verstehe, Mr O’Neil? Sie behaupten, an das Talent Ihrer Tochter zu glauben – warum ermutigen Sie sie dann nicht, ihren Traum weiterzuverfolgen? Warum wollen Sie, dass sie die Welt so sieht wie Sie?«

Mein Vater richtet sich auf. »Und wie sehe ich die Welt Ihrer Meinung nach, Mr Kessler?«

Ben lehnt sich zurück, ohne den Blickkontakt mit meinem Vater zu unterbrechen. »Mit den Augen eines vor Arroganz blinden Arschlochs.«

Das Schweigen, das jetzt folgt, scheint vor unterdrückter Wut beinahe elektrisch aufgeladen. Ich frage mich gerade, wer von den beiden als Erster aufspringen und dem anderen eine reinhauen wird, als mein Vater seinen Geldbeutel zückt und ein Bündel Dollarscheine auf den Tisch wirft. »Gut möglich, dass ich dich mit meiner Ehrlichkeit verletze, Fallon«, sagt er. »Wenn du dir lieber Lügen anhörst, dann ist dieser Schwachkopf genau der Richtige für dich.« Er rutscht aus der Nische und steht auf. »Ich wette, deine Mutter ist entzückt von ihm.«

Ich würde ihm gern etwas entgegenschleudern, das ihn genauso trifft. Irgendetwas, das so krass ist, dass sich sein Ego tagelang nicht davon erholt. Das Problem ist nur, dass es nichts gibt, womit man einen Mann verletzen könnte, der kein Herz hat.

Mit meinem Fake-Freund.

Das ist der beschämendste und furchtbarste Moment meines Lebens.

Als ich spüre, wie die erste Träne aus meinem Augenwinkel quillt, stoße ich Ben mit dem Ellbogen an. »Ich muss raus«, flüstere ich mit rauer Stimme. »Bitte.«

Er steht auf. Ohne ihn anzusehen, schiebe ich mich an ihm vorbei und stürze zur Toilette. Es ist schlimm genug, dass er sich genötigt gefühlt hat, meinen Freund zu spielen und mich zu verteidigen. Aber dass er mitbekommen hat, wie ich in aller Öffentlichkeit den bislang heftigsten Streit mit meinem Vater hatte, ist noch schlimmer.

Wäre ich Benton James Kessler, hätte ich längst mit mir Schluss gemacht.

Den Kopf in die Hände gestützt, warte ich darauf, dass sie zurückkommt.

Ich sollte aufstehen und gehen.

Aber ich will nicht gehen. Mit der Nummer, die ich hier gerade abgezogen habe, habe ich ihr garantiert den Tag verdorben. Ich habe mich in ihr Leben gedrängt – leider nicht mit der Geschmeidigkeit eines Fuchses, wie ich es vorgehabt hatte, sondern mit der Brutalität eines tonnenschweren Elefanten.

Warum habe ich überhaupt geglaubt, mich einmischen zu müssen? Warum unterstelle ich ihr, dass sie nicht selbst mit ihrem Vater fertiggeworden wäre? Jetzt ist sie garantiert stinksauer auf mich, dabei ist unsere Fake-Beziehung gerade mal eine halbe Stunde alt.

Tja. Genau das ist der Grund, weshalb ich keine echte Freundin habe. Ich kann noch nicht mal so tun, als wäre ich mit einem Mädchen zusammen, ohne Mist zu bauen.

Immerhin habe ich ihr gerade eine neue – warme – Portion Lachs bestellt, vielleicht besänftigt sie das etwas.

Fallon kommt aus der Toilette und bleibt stehen, als sie mich sieht. Ihr verwunderter Gesichtsausdruck zeigt deutlich, dass sie damit gerechnet hat, ich wäre gegangen.

Hätte ich ja auch tun sollen. Schon vor einer halben Stunde.

Es gibt so einiges, das ich anders hätte machen sollen, aber jetzt ist es zu spät.

Sie schaut auf den Tisch und fragt sich wahrscheinlich, wo ihr Essen geblieben ist.

»Dein Lachs ist kalt geworden«, erkläre ich. »Ich hab den Kellner gebeten, dir einen neuen zu bringen.«

Sie lächelt nicht und bedankt sich auch nicht. Sie sieht mich nur an.

Vielleicht sollte ich erst mal abwarten, was sie sagt. Um die Zeit zu überbrücken, beiße ich von meinem Burger ab.

Sie schweigt. Aber das kann nicht daran liegen, dass sie schüchtern wäre, sonst hätte sie vorhin ihrem Vater niemals so Kontra gegeben. Ich schlucke den Bissen herunter, trinke von meiner Cola und sehe ihr die ganze Zeit in die Augen, während sie weiter stumm bleibt. Ich wollte, ich könnte behaupten, ich würde innerlich schon mal eine charmante Entschuldigung für meinen ziemlich dreisten Auftritt formulieren, aber das wäre gelogen. Mein Geist kreist um etwas, woran ich jetzt gerade wirklich überhaupt nicht denken sollte.

Genauer gesagt, sind es zwei Dinge.

Ihre Brüste.

Ich weiß. Völlig daneben. Aber ich kann nicht anders. Und gerade die Tatsache, dass sie trotz der Hitze draußen eine bis zum Hals zugeknöpfte langärmlige Bluse anhat, in der sie aussieht wie eine Klosterschülerin, befeuert meine Fantasie umso mehr.

Ein Pärchen, das ein paar Tische weiter gesessen hat, steht auf und schlendert an uns vorbei zum Ausgang. Fallon dreht sofort den Kopf weg und lässt ihre Haare wie einen Vorhang

Es passiert mir nicht oft, dass ich jemanden so faszinierend finde, dass ich den Blick nicht abwenden kann. Eigentlich hat meine Mutter mir Manieren beigebracht und eingebläut, Mädchen nicht so ungeniert anzustarren. Allerdings hat sie mich nicht davor gewarnt, dass es Mädchen gibt, die meine guten Manieren durch ihre bloße Existenz pulverisieren.

Eine ganze Minute vergeht, vielleicht zwei. Ich esse den größten Teil meiner Fritten auf und sehe dabei Fallon an, wie sie mich ansieht. Sie wirkt nicht wütend. Auch nicht eingeschüchtert. Komischerweise versucht sie noch nicht mal, die Narben vor mir zu verstecken.

Irgendwann neigt sie den Kopf und lässt ihren Blick wandern. Zuerst zu meinem T-Shirt, dann über meine Arme und meine Schultern zum Gesicht hinauf, bis er schließlich kurz bei meinen Haaren verharrt, bevor sie mir wieder in die Augen sieht.

»Was war heute Morgen bei dir los?«

Die Frage ist so abwegig, dass ich mitten im Kauen innehalte. Ich hatte damit gerechnet, dass sie mich als Erstes fragen würde, was mir einfällt, mich so in ihr Leben einzumischen. Um meine Verwirrung zu überspielen, trinke ich einen Schluck Cola, wische mir mit der Serviette über den Mund und lehne mich zurück.

»Warum?«