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Renegald Gruwe

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Ein Künstlerroman

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sven Lang

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild

ISBN 978-3-8392-4388-6

Kapitel 1

Der Dienstag war leer, und ihre Schönheit hatte sich nicht gezeigt. Auch der Mittwoch floss träge an ihm und seiner Staffelei vorbei. Am Donnerstag fand er kein Feuer mehr in ihren Augen. Am Freitag überlegte er, ob er lieber sie oder die Malerei aufgeben sollte. Die schlichte Tatsache, dass ihr Gatte in zwei Tagen von einer Gesandtschaftsreise wieder zurück nach Venedig kam, nahm ihm die Entscheidung ab.

Unwirsch schmierte der Maler das Kadmiumgelb in das Delftblau über ihrem Kopf und den darüber verschränkten Armen. Die Haare unter ihren Achseln hatte er betont, und auch ihre Scham fiel üppiger aus als in Wirklichkeit. Ursprünglich wollte er ihre Augen zum Mittelpunkt des Bildes machen. Aber von Tag zu Tag gingen der Glanz und die Faszination ihrer Aura verloren. Wie konnte es nur geschehen, dass bereits nach einer Woche verflogen war, was auf Leinwand für die Ewigkeit Bestand haben sollte? Hatte er sich diesmal denn so getäuscht? Das Bild war gar nicht mal schlecht, doch blieb dessen Aussage weit hinter der ursprünglichen Absicht zurück.

Nein, Maria hatte sich nicht verändert. Sie liebte wie am ersten Abend mit großer Leidenschaft. Ihren Mund hätte er nicht sinnlicher malen können, und auch ihre Brüste hatten auf der Leinwand nichts von ihrer erotischen Anziehungskraft auf den Maler eingebüßt. Nur ihre Augen. Ihr Blick. Der Maler fand keine Erklärung für das fehlende Leben, für das erloschene Feuer in ihren Augen, das ihn noch vor einigen Tagen magisch angezogen hatte.

Maria kleidete sich an, und als spürte sie die Unzufriedenheit des Künstlers mit seinem Werk, beschränkte sie die Verabschiedung auf einen flüchtigen Kuss. In den wenigen Tagen, seit sie sich kannten, hatte sie seine unberechenbaren Stimmungsschwankungen mehr als einmal kennengelernt.

Gustave Garoches hochgewachsene Figur konnte man getrost als schlank bis hager bezeichnen. Seine Größe überschritt knapp eins achtzig. Die Gesichtshaut, bartlos und wie der Rest seines Körpers ohne jegliche Bräune, war straff und hatte die Elastizität eines Fünfundzwanzigjährigen, nicht die eines Mannes in den Dreißigern. Um die Augen unübersehbarer Ernst, in einigen Zügen ein Hauch Melancholie. Zur scharfen Beobachtung neigend, verstörte er seine Mitmenschen mitunter durch ein Herabziehen der Brauen, seinen durchdringenden Blick. Gemeinsam mit der fast schon grimmig wirkenden Mundpartie vermittelte er so zunächst den Eindruck eines eher mürrischen Zeitgenossen.

Auf seinem Selbstporträt von 1931, das die Westwand seines Ateliers zierte, sah er aus, als plage ihn die Schwindsucht. Nur mit einer Lumpenhose bekleidet, den Oberkörper, aus dem die Rippen hervorstachen, frei, stand er barfuß vor seiner Staffelei, Pinsel und Palette in Rembrandt’scher Manier vor sich. Das wilde Farbspektakel im Hintergrund zeigte die Bucht und den Hafen von Neapel. Die Haare hingen ungepflegt herunter, und die Augen fixierten aus ihren tiefen Höhlen heraus den unbekannten Betrachter. Eduard, der ihn damals für einige Wochen besucht hatte, erschrak über die krasse Selbstwahrnehmung des Freundes.

Jetzt, im milden Frühjahr des Jahres 1936, trug der Maler das Haar kurz geschnitten, und man sah seiner körperlichen Verfassung die regelmäßige Ernährung und die ausgedehnten Spaziergänge auf dem Festland vor der Lagunenstadt an. Nachdem die Geliebte gegangen war, ließ sich Garoche von Caruso ablenken, dessen Tenor trotz des störenden Kratzens der Nadel auf der Schallplatte wunderschöne Töne formte und sie aus dem Grammofon heraus durch das Atelier des Malers fliegen ließ, als seien es Federn. ›Che gelida manina‹ aus Giacomo Puccinis ›La Bohème‹ trug seine Gedanken fort von Maria.

Leise summte der Maler die Melodie des Sängers, und Traurigkeit über das Unmögliche überkam ihn bei seinem nächsten Gedanken. Könnte er diese Stimme nur in Farben fassen und auf der Leinwand festhalten! Er wäre ein gemachter Mann. Seine Bilder hingen neben van Gogh und Gauguin in den großen Museen dieser Welt. Unvermittelt sprang er aus seinem alten Leinenstuhl und versuchte wie wild, nach den Tönen zu greifen. Wie ein Besessener fuchtelte er mit den Armen und fiel beinahe aus dem weit geöffneten Fenster seines Balkons. Aber die Töne flogen ungebunden und frei aus dem Atelier über die Calle Volpi und weiter über die Laguna Veneta hinaus übers Meer. Wann würde er ihnen folgen? An welchen Ort würde es ihn verschlagen?

Garoche war müde und uninspiriert. Da er die Stimme des Meistertenors nicht an sich binden konnte, sah er sich vergebens nach einem Halt, einer Aufgabe um. Maria sollte zurück zu ihrem Mann gehen oder auf den Campo Morosini, wo sie sich kennengelernt hatten, sich in eine neue Affäre stürzen oder vom Balkon der Residenz ihres Mannes, des spanischen Botschafters in Italien, springen. Ihm war es gleichgültig.

»Was tust du, verrückter Franzose? Versuchst du jetzt schon Talent aus der Luft zu fangen?«, schallte es lachend von der Straße zu ihm herauf. »Glaub mir, es ist sinnlos. Es wäre wie der Esel, der versucht, die Mohrrübe vor seiner Nase zu erhaschen.«

»Ich bin Belgier!«, gab Garoche ungehalten zurück, während er sich über das Geländer seines Balkons beugte, »und verrückt soll ich werden, wenn ich noch einmal von deinem vermaledeiten Wein trinke. Mir singt heute noch der Schädel.«

Augustino war ebenfalls ein Maler aus der überschaubaren Künstlergemeinde auf der Insel Burano. Ab und zu saßen sie zusammen mit anderen vor ihren Häusern auf Holzbänken, tranken Rotwein und sprachen oder stritten über die Kunst. Doch ähnlich wie Marias Glanz war seit geraumer Zeit die Intensität ihrer Gespräche nicht mehr dieselbe. Es strengte den Maler an, seinen Kollegen die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie beanspruchten. Ja, die meisten Abende fingen ihn bereits nach ein, zwei Gläschen an zu langweilen.

Auch sonst gab es in Venedig kein Weiterkommen. Der kleine Mann mit der Hornbrille und dem Buckel aus der Galerie Colleoni hatte drei Bilder von Garoche verkauft und wurde langsam misstrauisch. Denn die gefälschten Verträge mit Galerien aus Paris, New York und zuletzt sogar aus Rom trugen nur bedingt zum Verkauf der Werke des Malers bei.

Als Garoche sich in der Galerie bei Signore Colleoni vorstellte und seine Biografie vorlegte, war dieser zunächst überrascht, dass ein so gefragter Künstler ausgerechnet in seiner Galerie eine Ausstellung plante. Dass der internationale Kunstbetrieb einem Maler die Konzentration und die Inspiration raubte und er deshalb eine kleinere Galerie bevorzugte, zerstreuten schließlich die Zweifel des leichtgläubigen Kunsthändlers. Signore Colleoni kannte viele Künstler, und deren Befindlichkeiten waren ihm nicht fremd. Zudem war dem Galeristen ein bekannter Name natürlich hochwillkommen, auch wenn dieser nur auf dem Papier unter den Verträgen der Galerie Julien-Levy in New York und der Galerie Marais in Paris stand. Signore Colleoni war ein unbedeutender Händler, und seine Käufer waren unwissende Kunstliebhaber, meist Touristen, die glaubten, ein Schnäppchen bei ihm zu machen. Wenn man diese Bilder und den Künstler in Paris und New York für wichtig genug erachtete, sie auszustellen und zu kaufen, so mussten sie den angegebenen Preis wert sein.

Dass Garoche neben dem Leben eines Künstlers dasjenige eines Betrügers führte, störte ihn nicht besonders. Er hatte eines Tages in seinem Atelier in Eupen, seiner Heimatstadt, beschlossen, nicht zu verhungern. So war er auf die Idee gekommen, sich Zertifikate und Verträge von berühmten Galerien zu besorgen und diese, nun ja, zu manipulieren. Fälschen wollte er das nicht unbedingt nennen. Er fälschte ja keine Bilder, sondern lediglich die Etiketten daran. Je weiter weg die Kunsttempel lagen, umso geringer war die Möglichkeit, dass einer der Galeristen, die Garoches Werke ausstellten und verkauften, nachprüfte, ob es mit den Papieren auch seine Richtigkeit hatte. Und einigen kleineren Kunsthändlern war es ohnehin egal. Hauptsache, die Geschäfte liefen.

Die Fähre von der Insel Burano tuckerte über die nächtliche Lagune. In der Ferne, im Osten, konnte Garoche die Leuchtfeuer des Porto di Lido sehen, und ein Abglanz der Sterne funkelte verheißungsvoll auf dem schwarzen Wasser unter ihm. Vor ihm lag der Abschied von Maria.

Sie trafen sich in einer Trattoria zum Abendessen. Es ging alles sehr schnell. Noch vor dem Hauptgericht hatte er ihr die Trennung vorgeschlagen. Sie hatte klaglos akzeptiert. Eine letzte Nacht mit ihm zu verbringen empfand sie indes als Beleidigung, und der so harmonisch begonnene letzte Abend endete in einem derart lautstarken Streit, dass sogar der Kellner zur Mäßigung mahnte. Nun lehnte Garoche über der Brüstung des Rio del Malpaga und sah seiner Spucke nach, die ins Wasser fiel und mit der Strömung fortgetragen wurde.

Maria hatte ihn vor dem Restaurant geohrfeigt und ihr beeindruckendes Temperament hatte sich in übelsten Beschimpfungen überschlagen. Wäre nicht ein Carabiniere hinzugekommen, sie wäre dem Maler glatt an den Hals gesprungen. So hatte sie einen Moment verharrt, und ein Blick tiefer Verachtung hatte die Auseinandersetzung beendet. Maria hatte sich auf dem Absatz umgedreht und Garoche stehen lassen.

Dieser Blick war das Geheimnis. Wie ein Blitz traf den Maler die Erkenntnis, welch ungeheuren Fehler er begangen hatte. Er hatte diesen Blick bei ihrer ersten Begegnung missdeutet. Es war nicht das Feuer der Leidenschaft, es war das Feuer der Verachtung, das er damals gesehen und das ihn fasziniert hatte. Es war auf dem Campo Morosini gewesen, kurz vor ihrer ersten Begegnung. Maria hatte sich nach ihm umgedreht, und sie hatten einander geradewegs in die Augen geblickt. Dabei streifte ihn für den Bruchteil einer Sekunde dieser Blick, der einem anderen galt. Bereits im nächsten Moment sprachen ihre Augen jedoch eine ganz andere Sprache. Die der Leidenschaft. Des Begehrens. Der Liebe. Gustave Garoche hatte sich täuschen lassen.

Er überlegte und versuchte sich der Situation auf dem Campo Morosini zu erinnern. Kurz zuvor lief ein Bursche vorüber und hatte den an den Tischen sitzenden Frauen und Mädchen anzügliche Bemerkungen zugeworfen. Auch Maria hatte er bedacht, doch sie hatte gut herauszugeben gewusst. Diese stolze Kampfansage war es wohl, die Gustave für Leidenschaft gehalten hatte. Sein Bildnis Marias in einem Meer von Sonne und Orientblau war also nichts weiter als ein törichter Irrtum gewesen. Nun war alles umsonst. Sinnlos verschwendete Energie. Der Unachtsamkeit seiner Beobachtungsgabe wegen stand ein Bild auf der Staffelei, das ihn bei seiner Rückkehr geradezu auslachen würde. Der Entschluss war schnell gefasst: Er würde einfach nicht zurückkehren. Nicht nach Burano, und nicht in sein Atelier.

Die Nacht verbrachte er in der Dachkammer seines Bekannten Emilio. Der war Etagenkellner im Hotel Leguso und nicht wenig erstaunt über den unangemeldeten Schlafgast. Am nächsten Tag schickte er Emilio nach Geld, seinen Papieren und einigen Kleidungsstücken in seine Wohnung. Die restlichen Sachen und das Malzeug sollten nachgeschickt werden. Dem erstaunten Signore Colleoni erklärte der Maler, ein überraschendes Angebot für einen Studienaufenthalt in Frankreich lasse ihn so Hals über Kopf abreisen. Er wolle sich melden und die neue Adresse mitteilen, sobald er eine Unterkunft gefunden habe.

Drei Wochen später, nach vertanen Tagen in Oberitalien und ein paar Ausflügen nach Österreich, wo er vergeblich eine neue Galerie gesucht hatte, saß Garoche auf der Bettkante einer kleinen Pension in einem Dorf namens Schindeln an der schweizerisch-deutschen Grenze bei Säckingen. Er betrachtete sein Sparbuch, das er bei seiner Bank in Eupen besaß. Es war nicht mehr viel übrig von den letzten Bildverkäufen, und die Aussicht auf künftige Einnahmen war zudem recht mager. Eine Nachricht aus Venedig von Signore Colleoni, dass von den vier Bildern, die noch in seiner Galerie hingen, keines verkauft worden sei, ließ die Perspektive für die nächsten Monate nicht gerade rosiger erscheinen. Außerdem verzichtete der Kunsthändler in Anbetracht der mangelnden Nachfrage auf weitere Gemälde des Künstlers. Ein PS versicherte dem Maler seiner Wertschätzung und der Tatsache, dass der schleppende Verkauf nicht an seinen Werken liege, vielmehr seien die Interessenten generell zurückhaltend und die Zeiten schlecht.

Zeitgleich mit der unerfreulichen Mitteilung des Signore lag ein Brief aus Berlin im Postfach seiner Pension. Sein Freund, sein vielleicht einziger Freund, Eduard Defries hatte ihn nach Berlin eingeladen. Dort wäre aus Anlass der Olympischen Spiele gerade viel Betrieb und außerdem hätten sie sich fast drei Jahre nicht mehr gesehen. Eduard freue sich. Auf ihn. Auch Garoche freute sich, Eduard wiederzusehen, und beschloss, sich umgehend in Bern ein Visum für Deutschland zu besorgen. Als Grund gab er den Besuch der Olympischen Spiele an und als Adresse die Anschrift seines Berliner Freundes. Beim Erteilen des Visums gab es keine Schwierigkeiten.

Kapitel 2

Am Morgen des 1. Juni 1936 überquerte Garoche gegen sieben Uhr den Rhein bei Säckingen. Die Zugfahrt von seiner Seite, der Schweizer Grenze, nach Deutschland hätte einen enormen Umweg bedeutet. Deshalb machte er sich zu Fuß auf den Weg, um vom deutschen Bahnhof in Säckingen die Reise nach Berlin anzutreten.

Nach der Passkontrolle, dem Vorzeigen seiner Visa und einer ausgiebigen skeptischen Musterung seiner Person ließ der uniformierte Beamte Gustave Garoche mit einem ›Heil Hitler‹ in das Deutsche Reich einreisen.

Am Schalter des kleinen Bahnhofs kaufte er eine Fahrkarte und beschloss, bis zur Abfahrt des Zuges in einer Stunde etwas zu frühstücken. Zweihundert Meter weiter, an einem rauschenden Bach, lag ein Gartenlokal. Da es schon recht warm und sonnig war, suchte sich der Künstler einen Platz an einem der grün-lackierten Holztische mit abgeplatztem Lack und bestellte Kaffee und Brötchen.

Das vom Kleiderständer geholte Blatt ›Der Angriff‹, in einer Holzschiene notdürftig zusammengehalten, gab Verhaltensempfehlungen für die Bevölkerung Deutschlands im Allgemeinen und Berlins im Besonderen. Im Gegensatz zu dem, was Garoche über das derzeitige Leben in Deutschland in anderen Zeitungen gelesen hatte, dass nämlich der Volksgenosse keineswegs zimperlich im Umgang mit Juden, Kommunisten und Andersdenkenden sei, predigte dieses Blatt seinen Lesern eine überraschend liberalere Einstellung. Seine Empfehlung lautete: Gegenüber den Gästen der Olympiade, die in zwei Monaten eröffnet werden sollte, müsse man charmanter als die Pariser sein, leichtlebiger als die Wiener, lebhafter als die Römer, kosmopolitischer als die Londoner und praktischer als die New Yorker.

Garoche sah sich unter dem Publikum des Lokals zu dieser frühen Stunde um und blickte in die Gesichter der Gäste, dabei konnte er nicht erkennen, was sie von den Schweizern auf der anderen Seite des Rheins unterschied. Auch die Menschen, die er in Österreich kennengelernt hatte, tranken ihr Bier oder ihren Wein, lachten, waren manchmal ein wenig unfreundlich und dann wieder von erfrischender Herzlichkeit. So wie die blasse, schwarzhaarige Bedienung, die soeben Garoches Bestellung vor ihm auf den Tisch stellte.

Die Italiener hatten vielleicht mehr Temperament als die Deutschen, und die Belgier, seine Landsleute, übten sich im Gegensatz dazu in äußerster Zurückhaltung. Er hatte die Berichte in ausländischen Zeitungen über Deutschland und seine Einwohner verfolgt. Stimmte das, was verbreitet wurde?

Der Schluck Kaffee, den Garoche nahm, war stark und erinnerte ihn an Venedig. Noch eine Gemeinsamkeit von Italienern und Deutschen – sah man von der Freundschaft zwischen Benito Mussolini und Adolf Hitler einmal ab.

Eine Frau mit auffallend blondem Haar blieb mit einem Koffer in der Hand im Eingang unter dem Schild ›Gartenwirtschaft‹ stehen und sah in die Runde der Gäste. Das Lokal war um diese Zeit bereits gut besucht. Sie war groß, hatte ein schlanke Figur und rot lackierte Fingernägel. Rot wie der Sonnenuntergang am Pass von Altare bei Genua, den Garoche auf seiner Reise über die Alpen gesehen und noch am gleichen Abend in einem Gasthof gemalt hatte. Dasselbe Rot umrahmte nun den weißen Kreis mit dem schwarzen Hakenkreuz auf der Fahne, die sich am Mast über dem Schild leicht im Wind wiegte.

Die Blonde, nach Garoches Schätzung Anfang dreißig, betrat den Garten der Gastwirtschaft, setzte sich halb absichtlich, halb unabsichtlich auf einen der wackligen grün gestrichenen Gartenstühle schräg gegenüber dem Maler und gab ihm so Gelegenheit, sie genauer zu betrachten. Neben ihren Stuhl hatte sie eine große Reisetasche und ihren Koffer auf den Kies abgestellt.

Das Sommerkleid mit dem tiefen, die Fantasie anregenden Ausschnitt fiel leicht und locker über ihre Schenkel und betonte das bloße übergeschlagene Knie. Der Fuß, in einem Hackenschuh mit freier Ferse, wippte in einem fort. Nervös spielte sie mit der Kordel an der Speisekarte aus geflochtenem Bast und sprach, als die Bedienung kam, um die Bestellung aufzunehmen, lauter, als es die Situation erforderte. Dem Dialekt nach kam sie aus Österreich. Vermutlich aus Wien.

Der Hut, trichterförmig gearbeitet, erinnerte Garoche an den Gipfel des Vesuvs. Nur dass kein Rauch aus dem Krater kam. Die Augen der jungen Frau wurden vom Schatten des Huts verdeckt, und er konnte nicht sehen, ob sie ihn fixierte. Genau so, mit der wehenden Hakenkreuzfahne, den Bergen und dem blauen Himmel im Hintergrund, musste er sie malen. Die blonden, schulterlangen Haare würde er dabei im Geiste verlängern und eventuell zu einem Knoten binden. Diese Art der Kunst schien in Deutschland sehr gefragt zu sein. Garoche erinnerte sich an eine große Ausstellung aktueller deutscher Kunst in Paris, die er vor einem Jahr besucht hatte. In der deutschen Botschaft hatten Maler wie Heinrich Knirr und Adolf Wissel Malerei und Plastiken ausgestellt. Gefallen hatte ihm nicht, was dort gezeigt wurde. Er war auch schon sehr gespannt gewesen, wie die Galeristen und Kunsthändler in Berlin auf seine Kunst reagieren würden, auf seinen Stil, der sich an dem anlehnte, was man unlängst als Expressionismus bezeichnete – der Gestaltungselemente deutscher Künstler mit Elementen des französischen Surrealismus kombinierte. Auch auf Begegnungen mit anderen Künstlern war er gespannt. Hoffentlich tranken sie nicht so viel wie sein Kollege Augustino.

Die Bedienung brachte der Blonden den bestellten Kaffee und entfernte sich, um bei einigen Einheimischen für Mäßigung zu sorgen, die am frühen Morgen lärmten, weil sie die Nacht bei einer Hochzeit durchgefeiert hatten und hier ihren letzten Bierdurst stillten.

Als Garoche seinen Blick von den Bauernburschen zurück auf die Frau lenkte, bemerkte er, dass sie weinte. Sie trocknete ihre Augen mit einem Taschentuch, darauf bedacht keine größere Aufmerksamkeit zu erregen.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte der Maler mit einer leichten Verbeugung und zog sich, nach einem kurzen, stummen Nicken, einen Stuhl heran. »Geht es Ihnen nicht gut, kann ich etwas für Sie tun?«

»Haben Sie zufälligerweise ein Visum für mich? Für die Schweiz?«, brachte sie mit einem leicht ironischen Lächeln heraus.

Garoche suchte zum Schein in seinen Taschen und sagte dann bedauernd: »Leider nein!«

Die Frau lachte über den Scherz und der Maler konnte schneeweiße Zähne sehen, die zwischen rot geschminkten Lippen zum Vorschein kamen. Es war das Rot der Fingernägel und der Fahne. Sie reichte ihm die Hand. »Ich heiße Leville.«

Garoche stellte sich vor und erzählte in knappen Sätzen von seinem Aufbruch und seiner Reise bis hierher nach Säckingen.

»Mein Visum für die Schweiz ist abgelaufen«, begann sie sich daraufhin ihm anzuvertrauen, »und ich habe gedacht, hier, an so einer kleinen Grenzstation, achten die Zöllner nicht so darauf. Aber ich habe die deutsche Gründlichkeit nicht einkalkuliert. Besonders gegenüber Deutschen. Jetzt heißt es erst einmal: Zurück nach Berlin! Vielleicht bekomme ich ein Visum für Frankreich.«

»Ihrem Dialekt nach hätte ich vermutet, Sie kämen aus Österreich. Dem Namen nach tippe ich auf Frankreich!«

»Das ist nur Theater«, gab sie lapidar zurück, »es klingt einfach interessanter als Berlinerisch. Und die Regisseure bevorzugen interessante Persönlichkeiten.« Auf ihren Namen ging sie nicht weiter ein.

»Sie sind Schauspielerin?«

»Unter anderem, ja.« Nach einer kurzen Pause, um die Bemerkung ›unter anderem‹ besser wirken zu lassen, erklärte sie: »Modell habe ich auch gestanden. Für Maler und Fotografen.« Und nach einer weiteren Kunstpause fragte sie direkt: »Möchten Sie einmal meine Mappe sehen?« Sie fasste neben sich in die Reisetasche und zog eine flache Mappe heraus, um sie vor sich auf den Tisch zulegen. Zum Frühstück bereitgestellte Tassen, Teller und Besteck wurden schnell beiseitegeschoben. Garoche rückte mit seinem Gartenstuhl ein wenig näher an die Frau heran und konnte nun den Duft ihres Parfüms wahrnehmen.

»Hier!« Sie blätterte die ersten Seiten um, die sorgfältig beklebt und mit einer Folie gegen Beschädigungen geschützt waren. »Das sind Fotografien von Else Neuländer, ihr Künstlername ist Yva. Derzeit wohl die meistbeschäftigte Modefotografin Berlins. Und nicht nur dort. Sehen Sie dies hier«, sie blätterte in ihrem Album, schlug eine Seite auf und lehnte sich demonstrativ zurück. Als sei es ein Gedicht, deklamierte sie leicht pathetisch die Bildunterschrift: »›Salon der Akt-Photographie. La beauté de la femme, Paris 1933!‹«

Bevor sie weiterblätterte, nahm sie einen Schluck Kaffee. »Igitt, kalter Kaffee, es gibt nichts Ekelhafteres … Fräulein!« Sie bestellte neu und fuhr bei der nächsten Seite ein wenig zusammen.

Garoche erkannte sofort, dass es sich um eine Zeichnung Egon Schieles handelte. Ein Akt. Ein Ausruf der Bewunderung entfuhr ihm.

»Sie kennen den Maler?«, fragte Fräulein Leville, und auf die Erwiderung, dass Garoche, selbst Maler, ihm zwar nicht in Person begegnet sei, aber sein Werk schätze wie kaum ein anderes, erläuterte sie: »Das war 1917, ein Jahr bevor er starb.« Dabei betrachtete sie wehmütig die fotografisch abgelichtete Zeichnung des Malers, und mit einem Seufzer gedachte sie der Vergangenheit. »Die Jugend ist doch das höchste Gut.«

Garoche machte ihr ein ernst gemeintes Kompliment und betrachtete anerkennend die weiteren Darstellungen. Bilder und Modefotografien mit Fräulein Leville vor dem Hintergrund der Budapester Altstadt.

Ohne von der Arbeitsmappe aufzusehen, fragte Garoche: »Sie wollen das Land verlassen, Fräulein Leville?«

»Nennen Sie mich Barbara.«

»Gerne.«

Sie zögerte einen Augenblick mit der Beantwortung, doch nach einem tiefen Seufzer gab sie sich einen Ruck: »Ich kann hier nicht mehr leben.« Auf diese doch recht kryptische Antwort und die entsprechende Bemerkung des Malers folgte eine noch mysteriösere Begründung: »Ich darf hier nicht mehr leben. Verzeihen Sie, aber ich möchte im Moment nicht weiter darauf eingehen«, beendete Fräulein Leville die Unterhaltung, und mit einem Hinweis auf die Uhrzeit und die bevorstehende Abfahrt des Zuges prophezeite sie Garoche: »Sie werden es bald verstehen, wenn Sie erst einige Zeit in Deutschland zugebracht haben.«

Der Künstler begnügte sich mit der Erklärung, zahlte die Rechnung und war beim Tragen des schweren Koffers und der Reisetasche zum Bahnhof behilflich. Er selbst hatte seinen alten abgewetzten Koffer bei der Gepäckaufbewahrung abgegeben, sodass Fräulein Leville stutzte. »Sie reisen aber nicht mit großem Gepäck, wie ich sehe; ich dachte, Sie hätten die Absicht, länger in Berlin zu bleiben?«

»Das meiste lasse ich mir nachschicken, auch das Malzeug und einige Bilder, die passen einfach nicht in einen Schrankkoffer.« Der Maler schulterte die Tasche des Fräuleins und drehte sich noch einmal um, bevor er durch das Gartentor vorausging, über dem die Hakenkreuz-Fahne wehte. »Aber genau das hat mich der Zollbeamte an der deutschen Grenze auch gefragt.«

Fräulein Leville machte ein nachdenkliches Gesicht. »Sehen Sie, das wird man gefragt, wenn man in dieses Land einreist. Wenn man ausreist, machen sich die Beamten Gedanken, ob man nicht zu viel Gepäck hat und vielleicht nicht wiederkommt. Außer man ist …« Das Pfeifen einer Lokomotive vom Bahnhof unterbrach sie jäh.

Auf dem Bahnhof, wo Barbara Leville noch einmal vor der Fahrt die Toilette aufsuchen musste, blieb Garoche vor einem Plakat stehen, das an einem großen schwarzen Brett angeschlagen war. Es lud zum Besuch der Olympischen Spiele nach Berlin ein. Zentral waren der Kopf und ein Teil des Oberkörpers eines Sportlers in leuchtendem Goldgelb abgebildet. Der erhobene Arm zum Gruß war lediglich in den gespannten Muskeln der Armbeuge angedeutet. Auf dem Kopf des athletischen Kämpfers prunkten der Lorbeerkranz und dahinter, einem Heiligenschein gleich, die fünf Olympischen Ringe. Die untere Hälfte des ganz im gegenwärtigen deutschen Geschmack gemalten Bildes füllte schemenhaft das Brandenburger Tor mit der Quadriga aus. In einer düsteren Vorahnung des auf ihn zukommenden Kunstverständnisses der Hauptstadt raunte er leise: »Berlin, ich komme!«

Kapitel 3

Als der Zug über die Hochbahntrasse durch Berlin-Charlottenburg fuhr, erinnerte sich Garoche wieder an die einsame Hakenkreuzfahne über der Gartenwirtschaft in Säckingen. Hier, in der Hauptstadt des viel beschworenen Dritten Reiches, hatten sich die Fahnen verhundert-, vertausend-, verzehntausendfacht. Ein Meer aus schwarzen Kreuzen in weißen Kreisen auf rotem Grund hatte die Stadt eingefärbt. Vereinzelt wehten auch Fahnen mit dem Symbol der Olympischen Spiele. In ihrer Farbigkeit stachen die fünf Ringe aus dem Einheitsrot heraus.

Garoche wunderte es, dass die Menschen angesichts der immensen nationalen Begeisterung nicht gleich mit kleinen Fähnchen auf den Bahnsteigen standen und die Ankömmlinge begrüßten. Nach dem vollmundigen Artikel im ›Angriff‹ hatte er erwartet, vor allem freundliche, liebenswürdige Menschen zu sehen. Aber auf dem S-Bahnsteig Savignyplatz, an dem der Zug schon in verlangsamter Fahrt vorüberfuhr, konnte Garoche nur starre, geistesabwesend dreinblickende Gesichter ausmachen.

Fräulein Leville, die gerade aus einem kurzen Schlummer erwacht war und die Szene ebenfalls beobachtete hatte, zuckte auf die etwas naive Bemerkung Garoches hinsichtlich des ›Ansturm‹-Artikels nur mit den Schultern und erwiderte: »Denken Sie, in Paris, Rom oder New York laufen die Menschen nur fröhlich durch die Stadt?«

Am Fernbahnhof Zoologischer Garten stieg Garoche aus und verlor Fräulein Leville prompt im Gedränge und Geschiebe der Menschenmassen aus den Augen. Ein wendiger Gepäckträger hatte sich rasch eine Gasse durch die vielen Reisenden gebahnt, und während das Fräulein mit wehendem Mantel und den Hut festhaltend dem Mann und ihrer Habe folgte, schloss sich sofort hinter ihr die Menge wieder.

»Wie das Meer, das sich hinter Moses und seinem Volk schloss und die Verfolger elend ertrinken ließ«, schoss es dem Maler durch den Kopf, und er versuchte, dem Menschenmeer auf Bahnsteig B zu trotzen. Endlich hatte er sich aus dem Gedränge gelöst und nun stand er auf dem Vorplatz des Bahnhofs. Dort holte Garoche erst einmal tief Luft, und wie der Name des Fernbahnhofs vermuten ließ, sog er den Duft der Elefanten aus dem Tierpark gegenüber ein.

Nun war das Fräulein Leville in dieser quirligen Millionenmetropole verschwunden, ohne dass sie sich verabschiedet hatten. Zum Glück hatten sie vorsorglich eine Verabredung für den nächsten Freitag getroffen. Außerdem hatte Garoche dem Fräulein die Adresse seines Freundes Eduard Defries mitgeteilt. Der Maler hörte den Freund jetzt schon schimpfen, dass er gleich am ersten Wochenende ihres Wiedersehens außer Haus ging, und mit einem Lächeln auf den Lippen ließ er sich im Geiste die ›ständigen Weibsgeschichten‹ von ihm vorhalten.

Doch jetzt hieß es auf dem Weg zu ihm erst einmal wieder zurück in das Gedränge der Reisenden und fliegenden Händler. Ein großes blaues U wies ihm schließlich den Weg hinunter in den Untergrund. Hier drängelten die Fahrgäste, in schicke Abendgarderobe gekleidet, nicht minder, und um ein Haar wäre er mit den ersten Besuchern an der Station des Deutschen Opernhauses in die abendliche Aufführung hineingezogen worden.

Ein paar Stationen später hatte er sein Ziel erreicht. Garoche stellte seinen alten Koffer neben sich auf das Pflaster und sah an einem der imposanten Gebäude des Kaiserdamms hinauf. Große Fenster zeugten von weiträumigen Wohnungen. Dem Freund musste es offensichtlich gut gehen.

Vom U-Bahnhof Adolf-Hitler-Platz war er die etwas abschüssige, kurze Strecke, dann den breiten Damm hinunter bis zu dem vierstöckigen Haus gelaufen. In einigen Kilometern konnte er die Siegessäule auf der neu angelegten, aber noch nicht fertigen Nord-Süd-Achse erkennen. Und noch weiter in der Ferne strahlte das Rote Rathaus mit frisch geputzter Fassade aus Klinkersteinen.

Am ›Stillen Portier‹ wurde neben einer Zahnarztpraxis und der Pension Weide auch auf eine Agentur für darstellende Kunst aufmerksam gemacht.

›Eduard Defries‹ konnte Garoche neben dem Hinweis auf den vierten Stock lesen. Im Hochparterre setzte ein Fahrstuhl ein. Der Maler ignorierte diese Aufmerksamkeit und stieg die Treppen zu Fuß. Er wollte sich ein Bild von der Gesellschaft machen, in der er die nächsten Monate verbringen würde.

Die Pension Weide lag gleich im Hochparterre rechts. Gegenüber hatte der Zahnarzt Wandmann sein Domizil. Garoche tastete vorsichtig mit der Zunge seinen linken, hinteren Backenzahn ab. Vielleicht sollte er gleich läuten und einen Termin vereinbaren. Den Finger bereits auf dem Knopf, besann er sich und entschied, erst bei seinem Freund vorzusprechen. Den Doktor konnte er jederzeit aufsuchen. Langsam stieg er weiter über die Stufen hinauf, die mit rot eingefärbten Kokosläufern ausgelegt waren und so die Schritte angenehm dämmten.

In der dritten Etage wohnten eine Familie Schröder und eine ältere Dame, die Garoche, als sie sich zufällig auf der Treppe trafen, einen misstrauischen Blick zuwarf.

»Vielleicht hat sie mich ja für einen Bettler oder Dieb gehalten, der ihr das teure Tafelsilber stehlen will«, ärgerte sich der Maler.

»Mach dir nichts daraus«, grinste der Freund später, »sie ist zu jedermann gleich unfreundlich. Sie kennt da keine Klassenunterschiede.«

Die Kinder der Familie Schröder grüßten ihn laut mit »Heil Hitler« im Treppenhaus. Der Junge, Peter, trug die Uniform der Hitlerjugend. Herr Schröder war Lehrer von Beruf und seine Ehefrau, Irmgard, litt unter Migräne. Aus diesem Grund erschien ihr Mann, Walter, des Öfteren bei Garoche und bat, ob der ›Herr Sänger‹, gemeint war Enrico Caruso, seine Kunst nicht vielleicht in etwas leiseren Tönen präsentieren könne. Und, wenn möglich, bei geschlossenem Fenster, da es im Hinterhof so hellhörig sei. Letzteres war nun ein etwas schwer zu erfüllender Wunsch, da es in Garoches Atelierraum recht stark nach Terpentin und Leinölfirnis roch und eine ordentliche Lüftung unbedingt vonnöten war. Also beschränkte der »Herr Maler« die Gastspiele des großen Tenors auf die Stunden, in denen die Fenster ohnehin geschlossen waren, um Frau Schröder weitere Qualen zu ersparen.

Als die Tür zu Eduards Wohnung geöffnet wurde, erschrak Gustave Garoche aufs Heftigste. Er hatte seinen Freund in der braunen Uniform nicht erkannt und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Erst das bekannte Lachen und die wohltuende Umarmung ließen den Maler aufatmen und der Aufforderung folgend die Wohnung betreten.

»Die Mitgliedschaft in der SA ist nur ein Teil des Plans. So wie du damals in Eupen beschlossen hast, Erfolg zu haben, so habe ich beschlossen, zu überleben. Es tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich war bei einem wichtigen Termin und hatte keine Zeit, mich umzuziehen.«

»Ich habe beschlossen, nicht zu verhungern, um genau zu sein«, stellte Gustave richtig. »Dass ein gewisser Erfolg dazukam, war eine angenehme Nebenerscheinung. Im Übrigen steht dir Braun überhaupt nicht. Diese Farbe«, er nahm zögernd ein Stück Stoff von Eduards Uniformhemd zwischen die Finger und prüfte die Verarbeitung. »Könnte ich mir bestenfalls als Hintergrund eines Aquarells von der südspanischen Ebene in Andalusien vorstellen. Aber nicht, um sie am Leibe zu tragen.«

»Du bist eben ein Künstler, ich bin nur ein Rechtsverdreher, und da gibt es außer der schwarzen Robe nicht viel Farbe. Apropos Gesetz: Stellst du immer noch in der Galerie in New York aus, wie war noch gleich der Name?«

Gustave sah seinem Freund fest in die Augen und erwiderte im gleichen spöttischen Ton: »Ich glaube, du willst gar nichts von dieser Galerie wissen, mein alter Freund. Womöglich müsstest du mich sonst noch anzeigen.«

»Ja, lassen wir das«, wurde Eduard Defries ernst. »Es ist besser, wenn ich nichts weiß, und du solltest dich vorsehen mit deinen kleinen Schummeleien, besonders in Berlin.«

»Ich werde mich bemühen«, versprach Gustave und kam auf den Anfang ihres Gesprächs zurück. »Seit wann bist du in der Organisation?«

»1934, als ich nach Berlin umgezogen bin.«

»Dann warst du ja schon ein Sturmmann, als du mich in Neapel besucht hast?!«

»Ja, aber ich möchte mich nicht als Sturmmann bezeichnen.« Eduard war es unangenehm, dass sein Freund ihn überhaupt in dieser Uniform zu Gesicht bekommen hatte. Am liebsten hätte er seine Mitgliedschaft in der SA verschwiegen.

»Mir macht es nichts aus«, vertrieb Gustave die Selbstvorwürfe Eduards. »Was macht es? Du bist noch derselbe wie früher. Wir sind Freunde, was soll da schon sein?«

»Ja, du hast recht. Komm, ich will dir jetzt dein Zimmer zeigen.«

Gustave schlug seinem Gastgeber freundschaftlich auf die Schulter und fügte mit ein wenig Spott an: »Hoffentlich verlangst du nicht, dass ich dich in deiner Uniform malen soll. Sonst müsste ich dir auf der Stelle die Freundschaft aufkündigen.«

»Keine Sorge, ich habe keineswegs die Absicht, mich in dieser Kluft für nachfolgende Generationen porträtieren zu lassen.«

Eduard führte seinen Freund durch die Wohnung. Auf der linken Seite des rechteckigen Flures im Eingangsbereich betrat man durch eine Flügeltür, die auf Schienen auseinandergezogen werden konnte und deren Milchglas kunstvoll mit ineinander verschlungenen weiblichen Körpern, Ranken und Blättern verziert war, ein großes Zimmer. Bevor er eintrat, prüfte Gustave Garoche mit kundigem Blick die Figuren auf der Glasscheibe und wirkte entzückt. Von diesem Raum gingen zwei weitere, etwas kleinere Zimmer rechts und links ab, von dem eines Garoche als Schlafzimmer dienen würde. Vom herrschaftlichen Flur mit der Eingangstür lag zur Rechten hin ein großzügiger Raum zum Hof hin. An den Flur schloss sich ein kleinerer Flur an, der sich teilte und zu zwei weiteren zur Nebenstraße hinaus gelegenen Räumen führte.

Am Ende des Flurs befand sich die Tür zum Dienstbotenaufgang, der, weil nicht mehr benutzt, mit einem Regal für Weinflaschen verstellt war.

»Von denen«, kündigte Eduard genüsslich an, »werden wir am Abend die ein oder andere leeren und«, er griff an die Seite des Regals und holte eine italienische Salami hervor, »die wird dir dabei besonders schmecken. Habe ich extra vom Feinkosthändler besorgen lassen.«

Gustave lächelte über die neapolitanische Erinnerung. Damals, als Eduard ihn besucht hatte, war der Maler ein wenig knapp bei Kasse, und die Salami war eher ein Verlegenheitsmahl. Aber es war schön, dass der Freund sich solche Mühe gab.

»Salami aus Italien ist leichter zu bekommen als Wein aus Frankreich – politisch gesehen«, zwinkerte ihm Eduard zu. Dann führte er seinen Besuch zurück in den Eingangsbereich und stieß die Tür zum Zimmer auf, das zum Hof hinaus lag.

Sie standen auf der Schwelle, und Gustave spürte die Unsicherheit Eduards bei der Vorstellung des Arbeitszimmers für seinen Freund. Eduard wollte unbedingt, dass sich der Maler wohl fühlte und recht lange blieb.

»Es geht zwar zum Hof hinaus, aber es ist der hellste Raum in der ganzen Wohnung. Maler mögen doch helle Räume, oder? Die Wände sind weiß getüncht, damit keine Farben, Ornamente oder Muster deine Malerei stören. Es ist dir doch recht so, oder? Außerdem habe ich alles herausräumen lassen, was ich für überflüssig halte. Du kannst dir alles so einrichten, wie es dir gefällt.« Ohne die Reaktion seines Freundes abzuwarten und seine Unsicherheit überspielend, sprach Eduard von einer Alternative: »Du kannst natürlich auch eines der Zimmer zur Straße haben, wenn es dir lieber ist? Wir können dein Schlafzimmer zum Atelier machen und umgekehrt. Nur dort an der Straße sind Bäume, und die nehmen das Licht im Sommer.«

»Du bist wirklich fürsorglich, Eduard!«, sagte Gustave und vertrieb die Unsicherheit seines Freundes. »Nein wirklich, Eduard, es ist schön, es gefällt mir. Es ähnelt dem Zimmer in Neapel. Du erinnerst dich? Es ging auch zum Hof hinaus und dort war ein Krach, bis spät in die Nacht. Es war eine ganz besondere Musik. Dagegen ist es hier richtig still.«

»Warte nur ab, bis die spielenden Kinder kommen und der Leierkastenmann.«