Buchcover

Louise Kringelbach


Der Sorgenzerstäuber


 

aus dem Dänischen von Janina Hoth

 

Lindhardt & Ringhof

Zwei Schreie durchschnitten den frühen Spätsommermorgen an zwei Enden der Stadt. Der eine kam vom einem der oberen Balkone eines roten Wohnhauses und war eine langgezogene, leidvolle Aufwallung eines älteren Mannes mit leerem Blick in den Augen und grauem Haar in den Ohren. Da die Nachbarn an das Geräusch gewöhnt waren, reagierte niemand. Für viele war dieser tägliche Ruf Teil der morgendlichen Begrüßung geworden, auch wenn dies nicht immer so gewesen war.

In der Zeit, nachdem der ältere Mann in das Pflegeheim eingezogen war, hatten die Nachbarn eine Unterschriftensammlung gestartet, um etwas gegen die Brüllerei zu unternehmen. Doch weder eine zugesperrte Balkontür noch stärkere Medizin hatten das Problem beseitigen können.

Nach der Beendigung des Guten-Morgen-Grußes blitzte kurz Leben in seinen Augen auf und ein Lächeln zog sich über seine Lippen. Vorsichtig schlich er wieder in die Wohnung zu seinem Guppy und schloss die Balkontür sanft hinter sich zu. Den Schrei vom anderen Ende der Stadt bemerkten die Nachbarn sehr wohl. Unerwartet hallte er wider und machte seine tiefe Verzweiflung noch weit entfernt spürbar. Darüber hinaus erklang er aus einem gelben Haus in einer Villengegend, die als abgeschieden bekannt, doch an jenem Morgen voll mit Menschen und Sirenen war. Der Himmel wurde erleuchtet von der blauen Farbe der Polizeisirenen. Der verzweifelte Ruf war von einer Frau mit lila gefärbtem Haar gekommen, die ein Polizist nun diskret in ein Polizeiauto wegführte.

Die Gartenpforte, die äußerst groß war und schwer demoliert aussah, wurde von zwei Polizisten untersucht. Schief an ihr hingen zwei kleine Schlösser, je vierzig Zentimeter breit. Die Türangeln waren ausgehebelt und die grüne Farbe abgeblättert. Im Allgemeinen sah der Schauplatz aus, als hätte sich irgendein großes Etwas wiederholt gegen die Pforte gepresst. Die Polizisten gingen durch die Pforte hindurch weiter zur Eingangstür des Hauses. Auch dort war versucht worden, etwas Großes hindurchzudrücken.

Neugierig sah der eine Polizist, ein großer Mann mit einem erfahrenen Blick, auf die Tür und fragte seinen Kollegen: »Ob ein kleiner Gartentraktor dieses Chaos hinterlassen hat?«

Der zweite Mann, mit weniger Streifen auf den Schultern seiner Uniform, antwortete mit einem »Hmmm - möglich, aber hier sind keine Fahrspuren«, und beide blickten auf den platt getrampelten Rasen, auf dem keine Blumen wuchsen, sondern nur ein paar Bäume, krumm und schief. Das Haus selbst war voll mit Menschen. Zwei Sanitäter trugen gerade eine Bahre hinaus, auf der eine zugedeckte Person lag, während die Polizisten dabei waren, Proben zu nehmen und akribisch das gesamte Erdgeschoss fotografierten. Mitten im Wohnzimmer stand ein großes, zerfleddertes Doppelbett. Über die Zeit war eine Seite des Bettes niedergedrückt worden, auf der wahrscheinlich eine beachtlich schwerere Person gelegen hatte als auf der anderen Seite. Eine Rechtsmedizinerin machte sich Notizen. »Was glauben Sie, was passiert ist?« fragte der jüngere Polizist.

»Nun, das ist eine gute Frage. Auf den ersten Blick kann ich keine eindeutige Erklärung geben. Erst die Proben werden eine bessere Antwort liefern können. Was wir wissen ist, dass der Hausbesitzer, ein Mann in den Vierzigern, tot in seinem Bett aufgefunden wurde. Die Todesursache ist Erdrosseln, der Todeszeitpunkt circa 7:30 Uhr vorgestern. Scheinbar ist etwas Schweres über ihn herübergerollt. Noch habe ich keine Ahnung, was ihn erdrosselt hat, möglicherweise eine sehr schwere Person. Vielleicht ein Liebhaber? Haben Sie die ältere Frau gesehen, die vorhin weggeführt wurde?«

Beide Polizisten nickten. Sowohl die Frau als auch ihre Verwirrung waren nur schwer zu ignorieren gewesen. Wie ein angeschossenes Tier mit schweren Schmerzen hatte sie geschrien. Sie war es auch gewesen, die am Morgen die Polizei gerufen hatte.

»Die Mutter des Verstorbenen«, sagte die Rechtsmedizinerin weiter, »ihr zufolge hatte er keinen Partner und nur wenige Freunde. Andererseits weiß sie vielleicht nicht alles über sein Tun und Lassen. Da bleibt uns nur, Ruhe zu bewahren und abzuwarten, was die Proben zeigen werden.«

2

»Ich komme wegen...«, mit einer diskreten Kopfbewegung wies die ältere Dame auf einen ergrauten Wolf, der mit hungrigem Blick neben ihr auf dem Boden saß. Der Mann, der ihr gegenüber auf einem gepolsterten Lehnstuhl saß, war ruhig und entspannt und nickte nur freundlich und verständnisvoll. »Immer ist er so furchtbar hungrig - er zehrt an mir und ich weiß weder ein noch aus.« Die Frau saß auf der äußersten Kante ihres Stuhles. Ihre Stimme, die von Anfang an dünn war, wurde immer schwächer, während sie ihre Lage schilderte. Das letzte Wort war nur mehr ein Flüstern, kaum hörbar. Ruhig und aufmerksam betrachtete Dr. Thor Moslav, der Mann im Lehnstuhl, seine Patientin. Die Dame war ungefähr siebzig Jahre alt, 165 Zentimeter groß und wog nicht mehr als fünfzig Kilogramm. Auf dem Kopf trug sie einen braunen Filzhut, unter dem einige glatte und schneeweiße Haare hervorlugten. Ihr Gesicht und ihre Hände hatten dieselbe Farbe. Gekleidet war sie in ein beiges Kostüm, das maßgeschneidert aussah, jedoch für eine größere Person als sie. An ihrer Seite saß ein mittelgroßer Wolf mit blutunterlaufenen Augen. Wachsam und wütend blickte er Dr. Moslav an. Nach langer Stille übernahm Thor das Wort:

»Frau Violet Vedl, ich kann gut verstehen, dass das für Sie nicht einfach ist«, er pausierte kurz, »versuchen Sie mir von dem Moment zu erzählen, als der Wolf das erste Mal in Ihr Leben kam«. Bei dem Wort Wolf zuckte Frau Vedl kurz zusammen. Zum ersten Mal betrachtete sie den jüngeren Mann gründlich, der vor ihr saß. Sie schätzte, dass er dasselbe Alter wie ihr ältester Sohn haben müsste, also Mitte Vierzig. In ihrem Umgangskreis beschriebe man ihn als einen adretten Mann, mit seiner feinen Kleidung und der sorgfältigen Frisur. Aber augenfällig an ihm war seine Wachsamkeit. Die alte Dame hatte so etwas noch nie erlebt. Sein gesamtes Wesen war vollkommen auf sie gerichtet, als hielte er sie für den einnehmendsten Menschen auf der Welt. Gleichzeitig war er nicht anmaßend. Viele zeigten ihr Mitleid oder ignorierten sie, sobald sie das Tier an ihrer Seite bemerkten. Doch nicht Dr. Thor Moslav. Sein Interesse schien aufrichtig zu sein. Auf der anderen Seite musste es das auch sein, da er einer der berühmtesten, um nicht zu sagen bestbezahlten Sorgenzerstäuber in Dänemark war. Frau Vedl schloss die Augen, holte tief Luft und begann zu erzählen:

»Verstehen Sie, vor etwas weniger als einem halben Jahr verstarb mein Mann völlig unerwartet. Für mich war es zumindest so. Siebenundvierzig Jahre waren wir verheiratet gewesen und ich mit meiner schwachen Gesundheit hatte immer geglaubt, dass ich zuerst ins Grab gehen würde. Mein Begräbnis hatten wir schon viele Jahre geplant - mitsamt der Grabstätte, Psalmen, möglichen Sargträgern, französischen Lilien und mehr. Über die Bestattung meines Mannes hatten wir noch nicht einmal nachgedacht. Wo er doch so vieles hatte, das er noch erreichen wollte. Aber letztes Jahr wurde bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert - dem Oberarzt Erik Vedl, der er nie geraucht hat. Ganz wahr ist das nicht. Eine Zigarre rauchte er zu Neujahr und zur Geburt unserer Kinder und Enkel, ansonsten nie. Die Proben der Ärzte zeigten, dass der Krebs sich in die inneren Organe ausgebreitet hatte und dass seine Tage gezählt waren. Wie viel Zeit ihm noch blieb, wollten oder konnten die Ärzte nicht sagen, aber das war im Grunde genommen eins. Als Oberarzt konnte mein Mann die Resultate selbst überprüfen.

Als wir nach den letzten Untersuchungen vom Krankenhaus nach Hause kamen, schoss mein Mann sich noch in derselben Nacht eine Kugel in den Kopf. Erik war ein bestrebter Anhänger des Heimatschutzes und besaß ein ganzes Waffenarsenal. Die meisten waren ausgesuchte, zum Teil antike Stücke mit schönen Ornamenten. Es wundert mich nicht, dass er ein doppelläufiges Gewehr wählte, wo Erik einer der wenigen war, die eine spezielle Zulassung für eine solche Waffe hatten. Alle Umstände miteinbezogen hat er sehr umsichtig gehandelt. Ich meine damit, dass er eine furchtbare Unordnung angerichtet hätte, wenn er eine normale Flinte genommen hätte. Tage hätten wir gebraucht, um alles zu entfernen und das wäre ein Alptraum gewesen.«

Einen Moment lang verlor Frau Vedl sich in Gedanken, bevor sie weiter redete: »Der Tag, den er als seinen letzten wählte, war der sechste April. Bei dem Knall des Schusses bin ich in unserem Schlafzimmer im ersten Stock aufgewacht. Wie im Schock blieb ich kurze Zeit liegen, bevor ich raus in den Garten ging und Erik, bekleidet mit seinem hübschen grauen Anzug, unter unserem Kirschbaum liegen sah, der gerade erst anfing zu blühen. In seinem Arbeitszimmer lag seine Krankenakte aus dem Krankenhaus. Auf die Vorderseite hatte er geschrieben:

'Entschuldigt, aber das Leben eines unheilbaren Krebspatienten ist meiner nicht würdig'. Ich las die Worte, doch ich konnte sie nicht verstehen. Gedanken schossen mir durch den Kopf: Was ist mit mir? Was dachte Erik, sollte mit mir passieren? Wie konnte er als Oberarzt diese Wahl treffen? Welches Leben erwartete mich als Witwe eines Krebspatienten, der Selbstmord begangen hat? Diese Behauptung ist wahnsinnig, dass Selbstmord würdiger sei als das Leben als Patient. Ich verstand nichts, und dann entdeckte ich das Tier an meiner Seite.« Mit einer diskreten Kopfbewegung wies Frau Vedl auf den Wolf an ihrer Seite, der nun zu knurren begonnen hatte und die Augen zusammenkniff. Ihre Stimme wurde schwächer:

»Nun sind einige Monate seit Eriks Tod vergangen, aber ich konnte mich bisher um nichts kümmern - weder mein Heim, noch meine Kinder, Familie, Bekannte oder den Gartenverein. Das Tier zapft mir alle Kräfte ab. Immer ist es so furchtbar hungrig. Sie müssen verstehen... Ich weiß weder ein noch aus. Ein Oberarztkollege meines Mannes empfahl mir, Sie aufzusuchen, da sie der renommierteste Sorgenzerstäuber sind und Ihr ist Ruf einwandfrei.« Das letzte Wort flüsterte sie eindringlich:

»Dr. Moslav, können Sie mir überhaupt helfen?« Thor lehnte sich zu ihr. Ruhig sah er ihr in die Augen und sagte: «Es wird vielleicht einige Zeit in Anspruch nehmen, weil das Tier so groß ist, aber ich verspreche Ihnen, dass ich mein Bestes tun werde. Das Leben ist zu kurz, um ein Sorgentier für längere Zeit an der Seite haben zu müssen. Danach lehnte er sich zurück in seinen Stuhl, faltete die Hände zusammen und sagte: »Lassen Sie uns anfangen.«

Violet Vedl war eine typische Sorgenpatientin in der Praxis von Sorgenzerstäuber Thor Moslav. Ihre Sorgen waren so groß und kompliziert geworden, dass sie sich als Sorgentier an ihrer Seite materialisiert hatten. Dies war völlig normal. Vielen Menschen widerfuhr es zu einem oder mehreren Zeitpunkten in ihrem Leben, dass sie ein Sorgentier bekamen.

Während manche empfänglich dafür waren, offen darüber mit anderen Menschen redeten oder eine Behandlung aufsuchten, um ihre Sorgen zu lindern, versuchten andere Menschen ihre Tiere zu verstecken. Oft hatten sie die meisten Schwierigkeiten, sich mit ihren Sorgen zu befassen.

Ein Sorgentier gab es in allen Ausformungen, von Wurm oder Schwein bis zu Tiger oder Spinne. Meistens konnten andere Menschen das Sorgentier des Betroffenen sehen, doch zuweilen war es schwer zu erkennen, ob es sich um ein Haustier oder doch ein Sorgentier handelte. Außerdem war das Verhalten der Tiere selten gleich und hing von den Betroffenen und deren Sorgen ab. Sogar Sorgentiere wie zwei Wespen, die ansonsten identisch waren, konnten sich äußerst unterschiedlich verhalten. Die eine stach vielleicht den Betroffenen die ganze Zeit, während die andere summend Nektar von den Blumen des Sorgengeplagten sammelte.

Auch die Betroffenen selbst verhielten sich zu ihren Sorgentieren so unterschiedlich, wie sie mit ihren jeweiligen Sorgen umgingen. Für viele war ein Sorgentier ein hartes und beinahe unerträgliches Erlebnis, während das Tier für andere zum Lebensinhalt werden konnte. Für manche bedeutete es einen Neubeginn. Ein Sorgentier zu haben stellte demnach nicht notwendigerweise etwas Unbehagliches oder Negatives dar. Einzelne sahen in ihrem Sorgentier sogar ein gutes Zeichen. Sorgen zu haben brachte nicht unweigerlich ein Sorgentier hervor. Ein Mensch kann ein traumatisches Erlebnis verarbeiten, wie ein Kind oder einen Angehörigen zu verlieren, und dabei eine schwere Trauerperiode durchleben, aber am Ende durchkommen, ohne dass sich dieses Erlebnis als Sorgentier manifestiert hätte. Gleichzeitig konnte ein Mensch ein Sorgentier bekommen, ohne dass der Betroffene sich notwendigerweise traurig fühlte. Die Sorgenzerstäubung war die häufigste, wenn auch nicht einzige Methode, sich eines Sorgentiers zu entledigen. Manche Sorgengeplagten bevorzugten es, mit Ärzten, Psychologen oder Sorgengruppen zu reden. Dann gab es natürlich auch mehr alternative Methoden wie Kristallheilung oder Tanztherapie. Solche Methoden waren nicht wissenschaftlich fundiert, aber gaben den Patienten ein gutes Gefühl.

Thor Moslav war ein vom Staat autorisierter Sorgenzerstäuber. Dies bedeutete, dass er mit Geduld und wiederholten Behandlungen ein Sorgentier zum Verschwinden oder zu einer Verwandlung bringen konnte. Zuweilen resultierten seine Behandlungen darin, dass das Tier seine Form änderte - und damit auch sein Verhalten. Ein bissiger Tiger konnte ein scheuer Luchs werden, der zu einem verschmusten Iltis wird, von dem der Sorgentragende sich nur ungern trennt. Oder ein großer, mürrischer Elefant wurde zu einem verspielten Elefantenjungen. Das Studium der Sorgenzerstäubung war in gleicher Weise anspruchsvoll wie vergleichbare Ausbildungen als Arzt oder Psychologe. Da Thor Moslav sein Studium in der Regelzeit abschloss, erhielt er die höchste Auszeichnung und als Begründung schrieb ein Professor: »Nicht nur war Thor Moslav ein vorbildlich hart arbeitender Student, der klug und enthusiastisch zur Freude von Dozenten und Kommilitonen vollen Herzens am Studium teilgenommen hat. Auch besitzt er eine bemerkenswerte Anteilnahme und Verständnis für die Patienten, was bedeutet, dass er mit Sicherheit die richtigen Vorgangsweisen anwendet. Persönlich erwarte ich mir viel von Thor Moslav.«

Als Frau Vedl ihre Geschichte zu Ende erzählt hatte, wusste Thor, weswegen sie gekommen war und was sie von ihm erwartete. Damit war er bereit, den Sorgenzerstäubungsprozess zu beginnen.

Frau Vedl beobachtete, wie Dr. Moslav die Augen schloss. Langsam entspannte sich sein Gesicht, bis es zuletzt vollkommene Ruhe ausstrahlte. Dann öffnete er die Augen. Sein Blick hatte sich verändert und war nun ungeheuer intensiv und dunkel. Der Blick saugte Frau Vedls Sorgen in den Raum zwischen ihnen. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Als hingen ihre Sorgen wie eine zitternde Wolke aus Luft zwischen ihnen, schien es ihr. Die eigenen Sorgen so außerhalb von sich zu sehen war seltsam. Danach legte Dr. Moslav seinen Kopf unter die Sorgen und blies sie vorsichtig nach oben. Die Sorgen stiegen langsam auf und der oberste Teil der Wolke zerstäubte. Dann schloss Dr. Moslav die Augen und mit einem Mal endete der Kontakt. Frau Vedl konnte merken, wie die Sorgen sich zurück in ihre Brust schlichen. Immer noch nahmen sie viel von ihr ein, doch sie fühlten sich anders an. Es schien nun leichter zu sein, Luft zu holen. Als sie den Kopf zum Tier wandte, sah sie überrascht, dass es erheblich in seiner Größe geschrumpft war. Das Fell war weicher geworden, die Augen nicht länger blutunterlaufen und der für gewöhnlich hungrige Ausdruck war verschwunden. Jetzt sah es bloß noch aufgebracht aus und glich mehr einem großen Hund denn einem gierigen Wolf.

Thor öffnete die Augen und betrachtete die Veränderungen an Frau Vedl und ihrem Sorgentier. Der Verlauf der Behandlung war äußerst unterschiedlich und es war schwer vorauszusehen, wie das Tier auf die Behandlung reagieren würde. Bei manchen konnten die Sorgen sofort zerstäubt werden, aber in den meisten Fällen bedurfte es mehrerer Behandlungen.

»Wie geht es Ihnen?« fragte Thor.

»Besser«, antwortete sie verwundert. Die Stimme der älteren Dame klang kraftvoller.

»Meiner Erfahrung nach ist es ein gutes Zeichen, dass das Tier sich bereits jetzt so stark verändert hat. Sie sollten sich bewusst sein darüber, dass die Sorgen in Schüben kommen. An manchen Tagen läuft es besser als an anderen. Also erschrecken Sie sich nicht, sollte der Wolf plötzlich wieder etwas größer werden. Wir werden ihn schon zerstäubt kriegen.«

Frau Vedl stand auf, blickte direkt herunter auf das Tier und sagte mit fester Stimme: »Das werden wir.«

Thor folgte ihr und dem Tier hinaus zu seiner Sekretärin Anna Hansen in das Vorzimmer, um einen neuen Termin zu vereinbaren. Sein Blick fiel auf einen kurzen Bericht auf der Vorderseite der Zeitung: »Sorgentier in Mordfall verdächtigt«. Doch er hatte keine Zeit mehr, den Artikel zu lesen, da die Sekretärin ihm im selben Moment eine neue Krankenakte in die Hand drückte und ihm erklärte, dass ein Patient wartete und er im Übrigen hinter dem Zeitplan lag. Mit der Schlagzeile im Hinterkopf ging er weiter ins Wartezimmer und wandte sich an Jane Bruun.

3

Früher an diesem Tag hatte die Gerichtsmedizinerin endlich die letzten Proben von dem noch ungeordneten Haufen an Daten analysiert. Ihren Verdacht konnte sie bestätigen und hatte nun den lang erwartenden Durchbruch erreicht. Ein allerletztes Mal ging sie alles minutiös durch und räumte dann ihren Schreibtisch auf. Sie konnte sich ihrer Überzeugung nicht sicherer werden und rief die Polizei an, um sie an ihren Entdeckungen teilhaben zu lassen. Akkurat erklärte sie, was geschehen war und wie der Mann erdrosselt worden war.

Als der große Polizist, Kriminaloberkommissar Poul Andersen, den Hörer aufgelegt hatte, fiel er zurück in seinen Stuhl, faltete die Hände zusammen und wandte sich müde an seinen jungen Kollegen:

»Das wird eine schwierige Sache werden. Das ist immer so, wenn ein Sorgentier involviert ist. Die Aussage der Gerichtsmedizinerin lässt sich so zusammenfassen, dass ein Elefant am Tod des Mannes schuldig ist!«

Der jüngere Polizist, Kommissaranwärter Eskild Karlsen, stoppte mitten in seiner Bewegung und zog die Augenbrauen zusammen: »Hmm, aber alle vernommenen Personen haben ja erzählt, dass der Mann ein Sorgentier hatte - einen Elefanten?«

»Ja«, antwortete Andersen, »aber Sorgentiere zu untersuchen ist ein schwieriges Unterfangen. Zum einen kommen solche Fälle selten vor. Zum anderen bleibt es immer streitbar, ob der Sorgentragende das Tier dazu gebracht hat, ihn umzubringen. Das wäre folglich Selbstmord. Oder waren es andere Personen, die das Sorgentier zur Tat verleitet haben? Ist es also Mord? Oder war es in Wirklichkeit das Sorgentier, das auf eigene Initiative handelte? Unglück oder Selbstmord? Anders gesagt ist es immer unheimlich schwer nachzuweisen, ob ein Tod durch ein Sorgentier ein Verhängnis oder ein Mord war.«

Aufmerksam sah Eskild Karlsen seinen Kollegen an: »Na, dann gibt es keine andere Möglichkeit, als die Ärmel hochzukrempeln und konzentriert an die Arbeit zu gehen. Soll ich nochmal welche von den Zeugen hierher beordern? Was ist mit der Mutter des Verstorbenen?«

Einige Zeit später saß die ältere Dame, die ein paar Tage zuvor ihren Schmerz herausgebrüllt hatte, gegenüber von Eskild Karlsen in einem engen Verhörzimmer. Langsam und ruhig erklärte er ihr die Resultate der Gerichtsmedizinerin. Noch bevor er seine Ausführungen beendet hatte, stand die Mutter des Verstorbenen auf. Als sie sich aufrichtete, zeigte sich zur Überraschung des Polizisten, dass sie eine beeindruckend große Frau war. Mit ihrem geschwollenen Gesicht und den blutunterlaufenen Augen sah sie aus wie jemand, der tagelang geweint statt geschlafen hatte. Die Frau legte die linke Hand ans Ohr und begann, ziellos im Raum umherzugehen. Der Polizist redete weiter, während die Frau ihre achte Runde um den Tisch drehte, bis sie stehenblieb und sagte, als ob sie mit sich selbst diskutierte: »Mein Sohn hat sein ganzes Leben lang einen Elefanten an seiner Seite gehabt und es hat nie ein Problem gegeben. Sicher war er ein wenig groß - dem lässt sich nicht widersprechen - aber warten Sie... Der Elefant ist ja deutlich kleiner geworden, verspielter und vor allem: unberechenbar.« Dann wartete sie einen Augenblick, bis es aus ihr herausbrach:

»Ich fand heraus, dass er hinter meinem Rücken begonnen hatte, einen Sorgenzerstäuber zu besuchen und seitdem waren das Tier und er wie ausgewechselt. Warum hätte er mir das nicht einfach erzählen können? Als hätte er mich aus seinem Leben ausgeschlossen... Vorher waren wir oft zusammen gewesen... Aber auf einmal war er zu beschäftigt, um mich zu sehen.« Langsam rannen die Tränen in ihrem Gesicht herab zum Kinn. Sie wirkte wie ein Hüne, der kurz vor dem Zusammenbruch steht. Während sie den Polizisten schmerzvoll anstarrte, zitterte sie und sagte: »Vielleicht sollte man den Sorgenzerstäuber ausfindig machen und ihn fragen, welche Rolle er bei der Ermordung meines Sohnes spielte?«

4

Eine adrett gekleidete Frau in den Dreißigern erhob sich. Mit der linken Hand fuhr sie dreimal über ihr Kleid, während sie mit der rechten ihre Frisur richtete. Drei Wespen summten träge um ihren Kopf. Glücklich lächelnd begrüßte sie Thor mit einem festen Händedruck, während sie sein Büro mit der Panoramasicht auf den großen Park der Stadt betrat. Wie gewöhnlich nahm sie im rechten Sessel Platz und machte es sich bequem. Thor betrachtete sie mit einem interessierten Blick und setzte sich in den linken Sessel.

»Seit wie vielen Jahren kommst du schon zu mir?«

Heiter antwortete Jane: »Zu viele Jahre, als dass ich die Zahl laut aufsagen mag. Aber ich bin doch eine deiner ältesten und treuesten Patientinnen.«

Warm lächelten sie einander an, bis Jane Bruun ihre Neuigkeiten nicht länger geheim halten konnte:

»Es läuft gut. Es läuft richtig, richtig, richtig gut. Ich erwarte Zwillinge - zwei Mädchen!« Ihr Gesicht strahlte so wie die Spätsommersonne draußen.

»Was für großartige Neuigkeiten! Du hast erzählt, dass ihr seit längerer Zeit daran arbeitet.«

Eifrig nickte Jane, aber dann zuckte es in ihrem Mundwinkel. Sie lehnte sich vor und sagte: »Ich möchte dich bitten, dafür zu sorgen, dass die Wespen mich während der Schwangerschaft nicht stechen und vor allem, dass sie meinen Sohn und die Zwillinge, wenn sie da sind, in Ruhe lassen. Ich möchte, dass du die Wespen zerstäubst, damit sie nicht stechen können.«

»Jane, darüber haben wir bereits gesprochen.« Thor setzte sich auf dem Stuhl zurecht. »Du weißt genau, dass du mehr von mir erwartest, als ich in Wirklichkeit zu tun im Stande bin. Ich kann versuchen, sie zu zerstäuben oder ihre Form zu ändern, aber ich kann und darf nicht versuchen, sie zu kontrollieren.«

»Aber du bist der beste Sorgenzerstäuber, Thor. Jeder weiß das. Letzte Woche habe ich mit meiner Schwägerin geredet, die mehrere Monate auf der Warteliste stand, um von dir behandelt zu werden. Ein Bekannter legt Geld von seinem Haushaltsbudget auf die Seite, für nur eine einzige Sitzung bei dir. Wenn du das nicht kannst, dann schafft es niemand. Ich bin es doch, die dich um den Versuch bittet - eine alte und sehr treue Patientin - was könnte also falsch daran sein, es zu versuchen?!« Sie ließ den Kopf hängen.

Thor blieb still.

Sie faltete ihre Hände zusammen und sagte: »Von allen Menschen müsstest du am besten wissen, wie schwer mein Dasein gewesen ist. Die ganze Geschichte mit meiner Schwester fällt mir immer noch schwer... Mir gefiel es, ein Teil der Glücklichen Drei zu sein, aber das ist Vergangenheit.«

Jane Bruun war in einer gutbürgerlichen Familie mit zwei Geschwistern aufgewachsen. Die zwei Schwestern und ihr Bruder hatten sich gern die Glücklichen Drei genannt.

Thor antwortete: »Auf deinen Schultern lastet eine gewaltsame Geschichte. Trauer erfordert Zeit.«

»Denk daran, dass ein einziger Tag alles verändern kann. Denk daran, dass es mein Geburtstag sein sollte, der alles verändert hat.« Ihre Stimme war ausdruckslos.

An ihrem neunzehnten Geburtstag wollten ihr Bruder, ihre Schwester und sie in einem Naturschutzgebiet feiern. Die ganze Familie bestand aus begeisterten Naturmenschen. Sie bewegten sich wie selbstverständlich in Flora und Fauna und konnten sich ohne Probleme eine Woche lang nur von deren Gaben ernähren. In der Gegend, in der ihre Familie jahrelang ihr Lager aufgeschlagen hatte, hatten sie ein Zelt aufstellen wollen. Am Morgen hatte Jane sich ein Stück eines Zahnes abgebrochen und sollte daher zuerst zum Zahnarzt. Der Zahn wurde gerichtet und vier Stunden später machten Jane und ihr Bruder sich auf zum Lager.

Mit derselben tonlosen Stimme fuhr Jane fort: »Alle betonten, wie tapfer ich mit dem Schock umgegangen sei.«

Vor dem Zelt hatten sie ihre leblose Schwester gefunden, die mit einem Schläger zu Tode geprügelt worden war. Um ihren Kopf schwirrten Insekten. Die Ermittlungen der Polizei hatten ergeben, dass ein geistig verwirrter Mann einfach Amok gelaufen war. Der erste und bis dahin einzige Mord in der Gegend.

»Das bist du auch.« Anerkennend nickte Thor ihr zu.

»Wirklich? Warum verschwinden die drei Wespen dann nicht? Warum komme ich seit so vielen Jahren zu dir?« Eine Ader zeichnete sich an ihrem Hals ab.

Als Jane Bruun zum ersten Mal zu Thor gekommen war, hatte sie bereits zwei andere Sorgenzerstäuber besucht. Dass sie sich nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder dem Leben in die Arme geworfen hatte, war für alle beeindruckend gewesen. Mit dem Leben an der frischen Luft hatte sie abgeschlossen und stattdessen eine kaufmännische Büroausbildung begonnen, die sie vor der Regelzeit abschloss. Mit der Zahl Drei hatte sie jedoch eine Zwangsvorstellung entwickelt. So konnte sie nur in Häusern leben, deren Nummern durch drei teilbar waren. Als sie ihren fünften Partner heiratete, nahm Thor dies als Zeichen der Genesung. Wenig überraschend waren drei Wespen ihre Sorgentiere, die sich meistens ruhig verhielten, aber plötzlich, wie aus heiterem Himmel, sie zu stechen anfingen. Zudem waren sie äußerst resistent. Nie hatte Thor sie endgültig zerstäuben können. Stattdessen war es immer wie ein Schritt vor und zwei Schritte zurück.

»Vielleicht könntest du auch einen Psychologen aufsuchen?« schlug Thor vorsichtig vor.

Sie wandte sich im Stuhl: »Das will ich nicht und das weißt du auch. Möglicherweise habe ich Sorgen, aber kein psychisches Leiden. Meine Sorgentiere sind einfach unglaublich widerspenstig... Du bist der einzige, der mir zumindest ein wenig helfen konnte.« All die geballte Energie, die sie vorher von sich gegeben hatte, war verschwunden. Nun hingen ein paar Strähnen aus ihrem ansonsten so schön frisiertem Haar. Die Locken flogen in alle Richtungen und ihr Gesichtsausdruck war suchend. Diese Seite kannten nur die wenigsten Menschen an Jane Bruun, aber Thor hatte sie einige Male während der Behandlung gesehen.

Er lehnte sich zu ihr und sagte beruhigend: »Es wird schon werden. Ich werde dir immer gerne helfen. Aber denk daran, dass ich nur die Fähigkeit habe, dir beizustehen. Du musst dir bewusst sein, was du willst. Also frage ich dich nochmal: Was möchtest du erreichen?«