Meine Schuld 3 – Was Frauen Berichten: Schonungslos - Indiskret

Meine Schuld –3–

Was Frauen Berichten: Schonungslos - Indiskret

Roman von Diverse Autoren

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-380-9

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Geschichte 1

Verzweifelte Frauen

Roman von Ellen K.

»Ich weiß, ich bin nicht schuld an seinem Tod. Trotzdem machte ich mir Vorwürfe.«

Auch neun Monate nach der Selbsttötung meines Mannes kann ich es immer noch nicht begreifen. Hätte ich seinen Tod verhindern können?

Ich verstehe es immer noch nicht. Wir hatten es doch so gut! Unsere Kinder Manuel und Kim waren wohlgeraten. Beide hatten ihre Ausbildung beendet, und Manuel ist mit seiner Freundin in eine eigene Wohnung gezogen. Kim wollte sich ihr Geld sparen und fragte uns, ob wir etwas dagegen hätten, wenn sie noch eine Weile bei uns wohnte.

Natürlich konnte sie. Wenn das Haus plötzlich zu ruhig wurde, hätten wir auch ein Problem damit. Frank hing sowieso sehr an Kim und verwöhnte sie nach Strich und Faden. Sie war ein richtiges Papa-Kind.

Vor fast zwanzig Jahren sind wir in diese Kleinstadt gezogen, haben mit finanzieller Unterstützung von Franks Eltern unser Wunsch-Haus bauen können. Als dann noch die Kinder kamen, war unser Glück nahezu perfekt.

Franks Vater war Abteilungsleiter in der hiesigen Bank, und durch ihn bekam Frank auch seine Anstellung.

Mittlerweile war Frank schon seit vielen Jahren Teamleiter, verdiente gutes Geld, und uns ging es richtig gut. Zweimal im Jahr fuhren wir in den Urlaub, besuchten oft Konzerte und hatten einen wunderbaren Freundeskreis.

Meine Schwiegereltern, mit denen ich mich sehr gut verstand, sind innerhalb von nur zwei Jahren verstorben. Das liegt nun auch schon fast sieben Jahre zurück. Für Frank war das besonders schlimm, denn er hing sehr an seinen Eltern. Er war das einzige Kind, und sie haben stets alles für ihn getan. Umgekehrt war es ebenso.

Nur langsam fand Frank in den Alltag zurück. Schon damals merkte ich, dass Frank sich in Krisensituationen zurückzog, statt sie mit mir zu besprechen. Ich spürte, wie er litt, doch ich kam nicht an ihn heran. In meinem Kopf geisterte das Wort Depression, doch ich hütete mich, es in Gegenwart von Frank auszusprechen.

Irgendwann, nach nicht gezählten Monaten, fand Frank wieder zur Normalität zurück. Ich verdrängte natürlich sofort meine Sorgen, meine Gedanken, und bald hatte ich sie auch schon vergessen. Zu sehr nahm uns das Alltägliche in Anspruch: die Kinder, die Arbeit, die Schule.

Mein Frank war ein guter Ehemann und Vater. Er kümmerte sich sehr um die Kinder, war immer offen für ihre Nöte. Und wir zwei führten eine gute und harmonische Ehe. Wir genossen es, gemeinsam zu wandern, denn das war unsere große Leidenschaft. Fast jedes Wochenende waren wir unterwegs. Anfangs mit den Kindern, später weigerten sie sich jedoch mitzukommen.

»Das ist uns zu anstrengend«, maulten sie irgendwann, »wir wollen lieber abhängen bei dem ganzen Schul-stress.«

Und ehrlich gesagt, war uns das sehr recht. Denn nun brauchten wir auf die beiden keine Rücksicht mehr zu nehmen und genossen unsere neue kleine Freiheit.

Vor knapp zwei Jahren erfolgte in der Bank eine Umstrukturierung, die jedem Mitarbeiter enorm viel abverlangte. Zusätzliche Arbeiten mussten übernommen werden, Mitarbeiter, die ausschieden, wurden nicht mehr ersetzt. Der Service für die Kunden wurde ganz groß geschrieben, ohne dass die erforderlichen personellen Ressourcen dafür vorhanden waren. Frank kam immer später nach Hause.

Auf meine Frage: »Wie war dein Tag?«, bekam ich meist nur eine abwehrende Geste zur Antwort.

Still und schweigsam saß er am Abendbrottisch. Anschließend setzte er sich vor den Fernseher, um nach einer halben Stunde einzuschlafen.

»So geht es doch nicht weiter, Frank«, sagte ich eines Tages.

Müde, blass und abwesend saß er in seinem Sessel. »Wie?« Irritiert blickte er mich an.

»Ich sagte, dass es so nicht weitergeht. Geh zum Arzt, lass dich krankschreiben, nimm eine Auszeit!«, flehte ich ihn an.

»Wie soll das denn gehen? Sollen die Kollegen noch zusätzlich meine Arbeit mitmachen?«, fragte er zornig zurück.

»Aber du machst dich krank bei diesem Stress!«

»Hör auf, Ellen«, sagte er ärgerlich, »es ist mein Job, dafür werde ich bezahlt. Wenn die Umstrukturierung erst einmal in trockenen Tüchern ist, wird es vielleicht besser.«

Aber es wurde nicht besser. Im Gegenteil. Der Vorstand verlangte, dass Extra-Überstunden an Samstagen geleistet werden müssten, um Rückstände aufzuarbeiten. So blieb kaum noch Zeit, sich zu erholen.

*

Frank wurde immer verschlossener. Hatten wir sonst an den Sonntagen unsere Wanderungen und Ausflüge unternommen, lag er nun den ganzen Tag im Bett und holte seinen Schlaf nach. Er zog sich immer mehr zurück. Kein Zureden half. Ich machte mir große Sorgen um ihn und ging zu unserem Hausarzt.

»Das sieht ganz nach einer Depression aus«, sagte er. »Sie sollten Ihren Mann dazu bewegen, dass er sich behandeln lässt. Das sollte man nicht unterschätzen.«

Als ich Frank behutsam darauf ansprach, rastete er aus. »Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe?«, brüllte er und verließ wütend das Zimmer.

»Weil ich mir Sorgen mache!«, schrie ich zurück, doch da war die Tür schon längst ins Schloss geknallt.

Nachts wälzte er sich hin und her, sodass auch ich nicht schlafen konnte. Doch ich traute mich nicht, ihn anzusprechen. Ich war so verzweifelt, dass ich nicht mehr wusste, was ich machen sollte.

»Was ist denn nur mit Papa los?«, fragte Kim eines Tages, die das Verhalten ihres Vaters nicht mehr einordnen konnte. Sie, die in Frank jederzeit einen Ansprechpartner hatte, wurde jetzt einfach wortlos stehen gelassen.

»Ach, Kind«, sagte ich, und nur mit Mühe konnte ich die Tränen zurückhalten, »dein Vater hat enormen Stress bei der Arbeit, und er ist total überfordert. Aber anscheinend sind seine Vorgesetzten blind. Und er weigert sich, zum Arzt zu gehen.«

Es kam der Tag, an dem Frank in seinem Büro zusammenbrach. Mit Verdacht auf einen Infarkt wurde er mit dem Notarzt ins Krankenhaus gefahren. Es hört sich vielleicht schrecklich an, doch ich war froh, dass er nun, wenn auch unfreiwillig, eine Pause einlegen musste.

*

Im Krankenhaus wurde er auf den Kopf gestellt. Gott sei Dank hatte er keinen Herzinfarkt gehabt. Er bekam wegen seines hohen Blutdrucks Medikamente, und nachdem er den Ärzten nach intensivem Nachfragen von seinem Stress berichtet hatte, auch ein Antidepressivum, welches er zuerst verweigerte.

»Bitte, nimm es, Frank«, flehte ich, »wenigstens die erste Zeit, damit du wieder mal etwas Lebensfreude bekommst.«

Als auch unser Hausarzt ihm dazu dringend riet, nahm er es schließlich.

Er war nun für eine Weile arbeitsunfähig geschrieben, und ich hoffte, dass er nun Gelegenheit hatte abzuschalten. Doch das Gegenteil war der Fall. Täglich telefonierte er mit seinen Kollegen oder wurde von ihnen angerufen, weil man wissen wollte, wo irgendwelche Akten zu finden waren.

All mein Zureden half nichts, sodass er bereits nach acht Tagen wieder arbeiten ging, obwohl er für drei Wochen krank geschrieben war.

In der Bank waren noch zwei weitere Kollegen ausgefallen, und Frank musste nun auch deren Arbeit übernehmen. Alle waren natürlich sehr froh, dass er wieder zur Arbeit kam.

*

Anfangs sah es so aus, als ob er besser mit der Situation klarkam, doch das dauerte nicht lange. Nach ein paar Tagen war er in dem gleichen Zustand wie vor seinem Zusammenbruch.

Heimlich kontrollierte ich, ob er auch sein Antidepressivum nahm. Dabei las ich die Gebrauchsanweisung, die fast einen halben Meter lang war. Ich war sicher, dass Frank sie nicht durchgelesen hatte. Erschrocken las ich, dass es in den ersten vier bis sechs Wochen zu einer Verschlimmerung der Symptome kommen könnte. Ja, sogar bis zu Selbstmordgedanken! Man sollte den Patienten verstärkt beobachten. Ich bekam einen Riesenschreck.

»Wie fühlst du dich, Frank?«, fragte ich vorsichtig am Abend, als er nach Hause kam. »Hast du das Gefühl, dass das Mittel dir hilft?«

Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Weiß nicht, ich glaube nicht.«

»Nimmst du es denn regelmäßig?«, wollte ich wissen.

»Mein Gott, Ellen, was soll das? Willst du mich kontrollieren? Ich weiß selbst, was ich tue! Und außerdem wird es nun langsam besser in der Bank. Ich glaube, das Schlimmste haben wir geschafft!«

Ich konnte meine Erleichterung kaum verbergen und sah endlich wieder unsere Zukunft ein bisschen rosiger. Auch hatte ich den Eindruck, dass Frank ausgeglichener war. Er hatte nicht mehr diesen verbissenen und gehetzten Gesichtsausdruck, wenn er abends von der Arbeit kam.

»Stell dir vor, man hat den Müller versetzt in eine Filiale. Jetzt muss er über vierzig Kilometer bis zur Arbeit fahren. Und das in seinem Alter!«

Erschrocken sah ich Frank an. »Du lieber Himmel, der Mann geht doch auf die sechzig zu!«

Frank nickte grimmig. »Das machen die extra. Entweder nimmt er den Job an oder er kündigt. Dann hat man ihn auf eine elegante Art entsorgt und gleichzeitig Personalkosten abgebaut. Wir müssen ja schließlich sparen, nicht wahr?«, fügte er sarkastisch hinzu.

Ich konnte dieses Vorgehen einfach nicht fassen. Ging man so mit Mitarbeitern um, die so viele Jahre dem Unternehmen gedient haben?

Und gleichzeitig konnte ich mich eines diffusen und dunklen Gefühls nicht erwehren. Es war auf einmal da, ohne dass ich es erklären konnte.

Doch ich sah nur, dass es Frank scheinbar besser ging. Wir unternahmen wieder unsere Wanderungen, wenn er auch nicht viel sagte, sondern sehr nachdenklich wirkte. Ich hielt mich jedoch zurück, weil mein ständiges Nachfragen ihn wütend machte, und ich wollte die Stimmung nicht wieder zerstören.

*

Ja, ich erinnere mich noch ganz genau, dass Frank an einem Dienstagabend sehr spät nach Hause kam, weiß wie die Wand und mit einem Gesichtsausdruck, wie ich es bei ihm noch nie gesehen hatte.

Erschrocken lief ich auf ihn zu. »Was ist passiert?«, fragte ich angstvoll.

Er schob mich beiseite und begann automatisch, seine Aktentasche auszupacken.

»Nichts ist passiert. Alles in Ordnung.«

»Du lügst mich an!«, rief ich und schüttelte ihn an den Armen.

»Alles gut, mach dir keine Sorgen. Bin einfach nur müde.«

Er ließ mich stehen, und ich hörte, wie er ins Schlafzimmer ging.

Ich schlief die ganze Nacht nicht. Ein Gespräch mit ihm war unmöglich, da er mir den Rücken zudrehte und so tat, als schliefe er.

Aber ich spürte, dass auch er kein Auge zumachte. Die Angst kroch kalt und unaufhörlich in mir hoch. Was war passiert? Warum war er plötzlich so verändert?

Es kam der Mittwoch. Der Tag, der mein Leben zerstörte.

*

Frank fuhr wie gewöhnlich zur Arbeit. Blass, übermüdet und mit leeren Augen drückte er mir einen Kuss auf die Stirn.

»Es kann sehr spät heute werden«, sagte er.

»Wäre es nicht besser, du bleibst heute zu Hause, Frank? Bitte!« Ich hielt ihn am Ärmel fest.

»Du verstehst es nicht, Ellen. Lass gut sein. Ich muss dahin.«

Lange sah ich seinem Auto hinterher. Ich setzte mich an den Küchentisch und dachte nach. Was war nur los mit Frank? Warum sagte er nichts? Ich war doch seine Frau! Mit mir konnte er doch reden!

Ich verspürte auf einmal auch Wut auf ihn. Und dann wieder diese diffuse Angst, die ich mir nicht erklären konnte.

*

Um fünfzehn Uhr nachmittags klingelte es an der Tür. Zwei Polizisten und ein Mann in Zivil standen mit ernsten Gesichtern vor mir. Sofort wusste ich, dass etwas Schreckliches passiert war.

»Frau Kühn, wir haben Ihren Mann gefunden. Er hat sich das Leben genommen. Es tut uns sehr leid.«

Ich spürte, dass alle Lebenskraft mich verließ und ich langsam zu Boden glitt. Sie halfen mir auf die Beine und setzten mich auf die Couch. Der Mann in Zivil, das erfuhr ich nun, war ein Notfall-Seelsorger.

»Er hat sich mit Abgasen in seinem Auto vergiftet. Wohl in seiner Mittagspause, damit ihn keiner suchen konnte. Es tut uns unendlich leid.«

Ich erfuhr, dass er alles vorbereitet hatte: Der Schlauch, der das tödliche Gift ins Auto leitete, die Information an seine Kollegen, dass er heute eine längere Mittagspause machen würde, da er noch etwas erledigen musste, seinen Abschiedsbrief an mich und die Kinder.

Ich fühlte mich wie in einer Schockstarre. Ich konnte nicht weinen, fühlte nichts. Nur dieser eine Gedanke: Hätte ich es verhindern können?

Der Notfall-Seelsorger gab mir den Brief, doch meine Hände zitterten so sehr, dass ich ihn gar nicht halten konnte.

»Soll ich ihn vorlesen?«, fragte er leise.

Ich nickte.

»Meine geliebte Ellen, meine geliebten Kinder, bitte verzeiht mir. Ich kann nicht mehr. Es tut mir unendlich leid, dass ich Euch das antun muss. Aber ich sehe keinen anderen Ausweg mehr. Man hat mir gestern gesagt, dass ich kein Teamleiter mehr bin, weil durch die Umstrukturierung diese Stelle wegfällt. Nun soll ich ebenfalls in einer anderen Filiale eingesetzt werden, die vierzig Kilometer weit entfernt ist. Das will und kann ich nicht. Ich spüre, dass ich keine Kraft mehr habe. Ich bin so leer, so entsetzlich leer, ich habe keine Lebensfreude mehr, spüre nur noch eine tiefe Traurigkeit in mir. Für mich ist der Tod die einzige Lösung, eine Erlösung. Bitte, Ellen, mach dir keine Vorwürfe. Du hättest es nicht verhindern können. Ich habe deine Angst gespürt, Ellen, doch mein Entschluss stand bereits fest. Ich habe keine andere Wahl. Es ist mein freier Wille, diese Welt auf diese Art zu verlassen. Bitte, bitte, verzeiht mir, vergebt mir diesen Schritt. Ich gehe in Liebe und Dankbarkeit von Euch.«

Jetzt erst liefen mir die Tränen unaufhaltsam über das Gesicht. Nur mit Mühe konnte ich ein verzweifeltes Schreien unterdrücken. Der Seelsorger nahm mich in den Arm und versuchte, mich zu beruhigen.

*

Meine Welt war zusammengebrochen, nichts war mehr, wie es war. Es war, als würde ich in bodenlose Tiefe reingezogen, alles schwarz, hoffnungslos.

Doch ich musste stark sein, musste meinen Kindern die schreckliche Nachricht vom Selbstmord ihres Vaters beibringen, musste sie trösten, beschwichtigen.

Das alles habe ich geschafft. Ich kam mir vor wie ein Roboter, der aufs Funktionieren programmiert ist. Ich habe mit Hilfe unserer Freunde die Beerdigung organisiert, habe die Behördengänge erledigt, habe meinen Tag strukturiert, um nicht ins Bodenlose abzustürzen.

Doch nachts gebe ich mich ganz meinem Schmerz hin. Ich weine und schreie meinen Schmerz hinaus. Ich mache Frank Vorwürfe, dass er uns allein gelassen hat, ich bin wütend auf ihn, habe sogar ein gerahmtes Foto von ihm an die Wand geworfen, um es dann schnell wieder aufzuheben. Am nächsten Tag habe ich sofort einen neuen Rahmen gekauft.

Ich spüre, dass es mit der Zeit besser wird. Aber ich weiß auch, dass die Zeit keine Wunden heilen kann. Sie bedeckt sie mit Narben, die jedoch jederzeit wieder aufreißen können. Eine Wunde, die wohl noch eine ganze Weile bleibt, ist die Frage, ob ich Franks Tod hätte verhindern können.

Mittlerweile habe ich mir Hilfe geholt. Einmal in der Woche gehe ich zur Psychotherapie, die mir hilft, das Ganze zu verstehen und zu verarbeiten. Und ich hoffe sehr, dass ich eines Tages weiß: Ich hätte seinen Tod nicht verhindern können. So wie er es mir in seinem Abschiedsbrief gesagt hat.

– ENDE –

Geschichte 2

Dramatische Stunden

Roman von Sylvia W.

»Mein Baby – verschwunden! Doch meine Mutter hatte nur vergessen, wo sie den Kinderwagen ließ.«

Uns war immer mal wieder aufgefallen, dass meine Mutter etwas vergaß. Wir haben ihre leichte Tüdeligkeit nie so richtig ernst genommen, und dass das alles Anzeichen von beginnender Demenz waren, war uns wirklich nicht bewusst. Aber dann vergaß sie ihr Enkelkind!

Eigentlich erscheint meine Mutter mit ihren siebzig Jahren sehr fit. Seit dem Tod meines Vaters wohnt sie bei uns im Haus, hat aber eine eigene Wohnung und geht weitgehend ihre eigenen Wege. Sie hat viele Freundinnen, unternimmt kleine Reisen, besucht das Theater, macht Gymnastik.

Als sich bei meinem Mann und mir jetzt noch einmal Nachwuchs einstellte, hat sie angeboten, sich öfter mal um die Kleine zu kümmern. Schließlich habe ich mit den zwei großen Kindern oft genug zu tun. Da ist es hilfreich, wenn die Oma einfach mal schnell zum Babysitten kommen kann. Und ich habe ihr immer vollkommen vertraut.

Na ja, meine Mutter vergisst schon mal dies und das. Neulich sagte sie, es seien keine Windeln mehr da gewesen, und sie hätte die Kleine nicht wickeln können, dabei hatte ich ihr, als ich wegging, erklärt, dass das neue Windelpaket in der Vorratskammer stünde. Einmal war auch noch eine Herdplatte auf der Stufe eins eingeschaltet, als ich nach Hause kam. Meine Mutter hatte das Fläschchen erwärmt und vergessen, den Herd auszuschalten. Aber das war mir in der Eile auch schon mal passiert. Ich hatte es zum Glück rechtzeitig bemerkt. Immer häufiger musste meine Mutter auch in ihrem Gedächtnis nach Namen kramen.

Doch all das kam mir nicht so besonders dramatisch vor, bis zu jenem Mittwoch, als ich mit den Großen zu einem Jugend-Fußballturnier gehen wollte.

»Kein Problem«, sagte meine Mutter, »geht ihr nur. Ich mache mit Hannchen einen Spaziergang. Es ist so schönes Wetter.«

Ich legte meiner Mutter vorsichtshalber noch Jäckchen, Mützchen und frische Windeln zurecht, dann fuhr ich mit den Großen zum Fußballturnier. Der Nachmittag auf dem Fußballplatz war schon weit fortgeschritten, da klingelte mein Handy. Meine Mutter war am Apparat.

»Sylvia, Sylvia«, rief sie ganz aufgeregt ins Telefon. »Hannchen ist weg. Jemand muss sie entführt haben. Ich habe sie schon überall gesucht. Ein Baby kann doch nicht so einfach verschwinden!« Sie war völlig aufgelöst. »Ich hatte den Kinderwagen noch ein bisschen auf der Terrasse gestellt, weil so herrliches Wetter war und sie so schön geschlafen hat. Dann habe ich mir einen Kaffee gemacht. Und jetzt ist sie weg. O Gott, o Gott!«

»Ich komme sofort«, schrie ich ins Telefon. Ich packte meine zwei Großen, die ziemlich murrten, und verfrachtete sie ins Auto. Auf der Rückfahrt überlegte ich, ob ich nicht gleich die Polizei rufen sollte, schließlich ist jede Minute wertvoll, aber dann dachte ich wieder: Es gibt bestimmt eine einfache Erklärung für das alles. Es kann gar nicht anders sein.

Unsere Siedlung ist ein sehr friedlicher Ort. Außerdem ist unser Garten eingezäunt, das Gartentor abgeschlossen. Wie sollte denn jemand da so einfach hereingekommen sein, um Hannchen zu entführen?

Aber vielleicht war das Gartentor doch offen gewesen, und die Nachbarstochter fuhr jetzt mit Hannchen spazieren. Das machte sie manchmal. Vielleicht hatte sie vergessen, meiner Mutter etwas davon zu sagen. Die Nachbarstochter war doch selbst noch klein, gerade mal zwölf Jahre alt. Ja, genauso musste es passiert sein. Es war die einzige Möglichkeit. Da wäre es doch verrückt, gleich die Polizei zu rufen.

*

Schon als wir unserem Haus näher kamen, sah ich mich nach Hannchens Kinderwagen um. Aber nichts weit und breit.

Als ich die Tür aufschloss, hockte meine Mutter wie ein Häufchen Elend auf der Treppe. »Ich werde noch verrückt«, rief sie, »ich war doch nur fünf Minuten in der Küche, ich schwöre es.«

Ich ging erst einmal hinaus auf die Terrasse. Kein Hannchen. Ich lief durch den Garten, ob der Wagen vielleicht weggerollt sein könnte. Ich lief ums Haus. Ich sah schließlich im Kinderzimmer nach, hob die Decke in ihrem Kinderbettchen hoch. Hannchen war tatsächlich verschwunden.

Dann rief ich die Nachbarin an. Ihre Tochter sei bei einer Freundin zu Besuch. Nein, mit Hannchen könne sie nicht unterwegs sein. Die Freundin wohne ganz am anderen Ende der Stadt. Sie wolle sie eben dort abholen.