Über Eric Ambler

Eric Ambler, geboren 1909 als Sohn eines Schauspieler- und Entertainerpaars in London, studierte Maschinenbau und arbeitete zunächst als Werbetexter. In den dreißiger Jahren schrieb er seine ersten Agentenromane. Im Zweiten Weltkrieg war er Artillerist, dann Produktionsleiter von Lehrfilmen in der britischen Armee; nach 1946 arbeitete er u.a. als Drehbuchautor und Produzent und gewann für drei seiner Bücher den Edgar-Allan-Poe-Preis. Er starb 1998 in London.

»Man wird sofort verstehen, dass ich mich in einer außerordentlich schwierigen Lage befand, nicht nur wegen der immensen Verantwortung, die einem dieser Fall an sich schon aufbürdete, sondern auch wegen der äußeren Komplikationen.«

SIR MORELL MACKENZIE

The Fatal Illness of Frederick The Noble

 

»Nichts wirkt dem Erfolg einer Verschwörung so sehr entgegen wie der Wunsch, das Unternehmen völlig abzusichern und alles für ein Gelingen zu tun. Das erfordert viele Leute, viel Zeit und sehr günstige Bedingungen. Und all dies erhöht wiederum das Risiko des Entdecktwerdens. Man sieht also, wie gefährlich Verschwörungen sind!«

FRANCESCO GUICCIARDINI

Ricordi (15281530)

 

»Du wolltest nie glauben, dass es dazu kommt. Du siehst, du hast dich geirrt.«

KAISER MAXIMILIAN VON MEXIKO

Letzte Worte vor seiner Hinrichtung durch

ein Erschießungskommando (Queretaro, 1867),

an seinen ungarischen Koch gerichtet.

Erster Teil Der Patient

Hôpital Civil
Fort Louis
Saint-Paul-les-Alizés
Französische Antillen

Donnerstag, 15. Mai

Die neue Nachtschwester aus Guadeloupe macht einen intelligenten und fähigen Eindruck. Bin beruhigt.

Für den Nachtdienst in der Klinik spricht immerhin eines. Das Essen mag schauderhaft sein, und die Ruheliege, auf der man sich ausstrecken kann, steht vielleicht zu nah beim Hauptgenerator der Klimaanlage, aber wenn sich nicht gerade ein besonders schlimmer Verkehrsunfall ereignet oder die Nachtschwester unfähig ist, hat man Ruhe und Zeit zum Nachdenken.

Der diensthabende Arzt hat auch einen Schreibtisch und einen Vorrat an Krankenhauspapier. In den kommenden zwei Nächten werde ich endlich einen Anlauf nehmen und meine Sicht der Affäre Villegas zu Papier bringen; so habe ich sie notfalls später parat, mit Datum und Unterschrift versehen, zum Beweis, dass ich gutgläubig gehandelt habe, wenn auch nicht mit viel gesundem Menschenverstand.

Natürlich hoffe ich, dass das nicht notwendig sein wird. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte ich jedoch Anlass zu der Vermutung, dass hier mehr vorgeht, als ich momentan überblicke. Also gehe ich lieber kein Risiko ein.

Zunächst einmal werde ich die Umstände des Mordanschlags auf meinen Vater rekapitulieren.

Erste unnötige Störung. Die neue Schwester wollte wissen, ob sie dem Herzpatienten auf Station B Phenobarb geben soll. Stellte fest, dass sie die Dienstanweisung nicht gelesen hat, in der ganz klar steht, dass sie in diesem Fall Medikamente nach eigenem Ermessen verabreichen kann. So viel zu ihrer angeblichen Kompetenz! Als ich sie zur Rede stellte, konterte sie, in Pointe-à-Pitre werde eben anders verfahren.

Eine absurde Lüge, und jeder der französischen Ärzte hier, ob weiß oder schwarz, Kreole oder aus Frankreich entsandt, hätte ihr das ins Gesicht gesagt. Ich konnte nur extrem höflich reagieren. Sie wehrte sich, indem sie Patois sprach. Als sie merkte, dass ich sehr wohl verstand, was sie sagte und ihr sogar auf Patois antworten konnte, verdrückte sie sich. Ihre Kolleginnen haben sie bestimmt gewarnt, dass der junge Dr. Castillo ein unsympathischer Béké-Spanier ist. Jetzt hat sie ihre Kostprobe bekommen. Gut so. Sie wird es sich zweimal überlegen, bevor sie wieder ankommt und Fragen stellt.

Zur Ermordung meines Vaters, Clemente Castillo Borja.

Wer sich schon einmal mit der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung Mittelamerikas beschäftigen musste, weiß, dass diesem Fall noch immer etwas Mysteriöses anhaftet. Von Zeit zu Zeit haben Journalisten, die sich als intime Kenner dieses Landes bezeichnen, aufgrund angeblicher Insider-Informationen Enthüllungsstorys geschrieben. Doch keiner von ihnen hat neue Fakten vorgelegt, und die »ganze Wahrheit«, die immer wieder aufgedeckt wurde, war nicht viel aufschlussreicher als die Spekulationen und Mutmaßungen, die niemand mehr hören will.

Die beiden Attentäter, die an jenem Abend den Anschlag auf den Stufen des Hotels Nuevo Mundo verübten, wurden natürlich sofort identifiziert. Der Tatort war hell erleuchtet, und es gab Dutzende von Augenzeugen. Und doch ist bis heute nicht klar, wer die Killer beauftragt und bezahlt hat. Wir wissen nur, dass irgendjemand vor der Aktion in weiser Voraussicht einen Sprengsatz im Fluchtauto versteckt hatte. Es war das Werk von Experten. Die Täter wurden von der Explosion in Stücke gerissen, ehe man sie erwischen und verhören konnte. Laut Steckbrief wurden die beiden »gesucht wegen bewaffneten Raubüberfalls. Politische Verbindungen nicht bekannt.«

Der weithin verbreiteten, gewissermaßen »offiziellen« Version zufolge war das Attentat von der Militärjunta unmittelbar nach dem Oktober-Putsch angeordnet und unter der Regie eines Spezialkommandos des Sicherheitsdienstes ausgeführt worden.

So könnte es tatsächlich gewesen sein.

Andererseits sind manche Leute noch immer felsenfest davon überzeugt, dass die Junta zwar allen Grund hatte, meinen Vater zu beseitigen, und dazu auch sehr wohl imstande war, sie aber nicht das geringste Interesse hatte, einen Märtyrer aus ihm zu machen. Nach Ansicht dieser Leute gingen das Attentat und die Autobombe auf das Konto einer extrem antiklerikalen Gruppierung innerhalb der Demokratisch-Sozialistischen Partei meines Vaters. Demnach wäre die Aktion unternommen worden, um die Junta zu diskreditieren, bevor sich die Situation nach dem Putsch stabilisieren konnte, aber auch deswegen, weil diese linke Gruppierung wusste, dass sich mein Vater mit den Christdemokraten insgeheim auf eine Koalition verständigt hatte.

So könnte es ebenfalls gewesen sein.

Meine Mutter, die vor einem Jahr in Florida starb, glaubte bis zuletzt an diese Version, wenngleich mir die Gründe dafür nie eingeleuchtet haben. Diese außerordentlich gefühlsbetonte, überaus weibliche Frau – eigenwillig, aber doch hilflos ohne einen bestimmenden Mann an ihrer Seite – hatte einen kunterbunten Haufen hitzköpfiger, überkandidelter Emigranten um sich geschart. Als deren Chefin zog sie der landläufigen Ansicht gewiss die exotischere, üppig ausgeschmückte Theorie von Verschwörung und Verrat vor. Jedenfalls drängte sie mich immer, die Verräter aufzuspüren und Rache zu üben, wie es sich für den einzigen Sohn gehört – blutige Rache, Blutrache.

In dieser wie auch in anderer Hinsicht war ich eine Enttäuschung für sie. Zu meiner Verteidigung konnte ich nur vorbringen – und manchmal wurde ich darin von meinen Schwestern und deren Ehemännern unterstützt –, dass mir die Verratstheorie völlig unglaubwürdig erschien. Das erregte natürlich ihren Unmut, da diese unbekannten Verräter, von deren Existenz sie ausging, die einzigen möglichen Ziele meiner Rache sein konnten. Aber nicht einmal meine Mutter durfte von mir erwarten, dass ich auf eigene Faust eine Strafexpedition gegen die Junta und den Sicherheitsdienst auf deren eigenem Terrain unternahm. Nach dem Umsturz von 1968 wurde das mit der Rache noch komplizierter. Unter der Oligarchie, die von der sogenannten »patriotischen Miliz« gestützt wurde, kamen etliche der ehemaligen Juntaangehörigen zu Tode, und ein Jahr später waren die hohen Offiziere, die man nicht auf irgendwelche Abstellgleise abgeschoben hatte, entweder krank oder tot.

Und was dachte ich wirklich über die Verschwörung gegen meinen Vater?

Noch vor ein paar Tagen hätte ich geantwortet, dass ich mir längst nicht mehr den Kopf darüber zerbreche, wer (wenn überhaupt) hinter der Sache stand oder welche Clique dafür verantwortlich war.

Wenn das roh oder gefühllos klingt – meinetwegen. Zwölf Jahre sind seit dem Tod meines Vaters vergangen, und bei seiner Ermordung war ich ein unsicherer Bursche von neunzehn, der fern der Heimat, an einer französischen Universität, gerade sein Medizinstudium aufgenommen hatte. Von der damaligen Zeit habe ich weder den Schmerz noch die Verwirrung in besonders lebendiger Erinnerung, nicht einmal die Beerdigung bei strömendem Regen, die Soldaten, die die Trauernden umstellten, und die Polizisten, die am Grab standen und die Namen der Anwesenden notierten. Ich entsinne mich vor allem des Blitzlichtgewitters der Pressefotografen auf dem Flughafen Orly, als ich nach Hause fliegen wollte, und der Reporter, die mir dumme Fragen zuriefen. Ein Mann von unserer Pariser Botschaft sollte mich durchschleusen, doch er musste machtlos zusehen. Die Zeitungsleute stießen ihn beiseite, und einer baute sich direkt vor mir auf. Schwitzend und außer Atem brüllte er mir in all dem Lärm mit bemerkenswert feuchter Aussprache auf Spanisch zu: »Was haben Sie gefühlt, als Sie von der Ermordung Ihres Vaters erfuhren? Sie müssen doch gewusst haben, wie verhasst er war. Waren Sie überrascht?«

Ich holte aus, um ihm einen Kinnhaken zu verpassen, doch der Botschaftsmensch hielt meinen Arm fest. Dann erschienen Beamte der Flughafenpolizei, die mich umringten und rasch fortbrachten.

Heute bin ich klüger. Ich weiß jetzt, dass meine Empfindungen für meinen Vater gemischt waren und dass ich schon damals eine Ahnung hatte, was für ein Mensch er war. Behauptungen, die mir früher völlig unakzeptabel erschienen wären, kann ich heute ganz gelassen akzeptieren. Die offenkundige Tatsache etwa, dass Clemente Castillo, selbst wenn er schließlich doch an die Macht gekommen wäre, für mein Vaterland nicht viel mehr getan hätte als die unfähige Junta oder die zivile Oligarchie mit ihrem Marionettenpräsidenten. Eine Regierung Castillo hätte nach außen hin vielleicht ein besseres Bild abgegeben, ein liberaleres Image präsentiert, aber das wär’s dann schon gewesen. Die Probleme meines Landes, wie diejenigen anderer Kaffeerepubliken, die einst spanische Kolonien waren, sind historisch bedingt und nicht durch ein glänzendes Erscheinungsbild zu lösen, auch nicht durch bedeutungslose Opportunisten mit allzu simplen Reformvorschlägen.

Ich weiß, dass mich die meisten meiner Kollegen hier im Krankenhaus nicht leiden können. Mein Spitzname hier ist »Dr. Frigo«. »Frigo« ist französischer Jargon und bedeutet nicht nur »Kühlschrank« oder »Gefriertruhe«, sondern auch (etwas abfällig gemeint) »Tiefkühlfleisch«. Natürlich versuche ich die Sache von der humorvollen Seite zu nehmen, aber wenn ich den letzten Absatz noch einmal lese, begreife ich, warum dieser Name in der kleinen, überschaubaren Welt unserer Klinik überhaupt aufkommen konnte.

Bedeutungsloser Opportunist? Ist das das Beste, was der loyale Sohn über seinen ermordeten Vater sagen kann? Wenn er so bedeutungslos war, warum wurde er dann ermordet? Andere Politiker machen sich auch Feinde und leben trotzdem weiter. Und wenn den aufgeblasenen, jungen Dr. Frigo die Umstände der Ermordung seines Vaters tatsächlich nicht länger interessieren, warum will er dann verheilte Wunden wieder aufreißen?

Berechtigte Fragen. Ich muss versuchen, zumindest ein paar davon zu beantworten.

Als Kind habe ich meinen Vater geliebt und geachtet, gar keine Frage. Wir waren eine glückliche Familie. Als Heranwachsender habe ich ihn weiterhin geliebt, aber respektiert habe ich ihn nur noch bedingt.

Mein Vater war Anwalt, bevor er in die Politik ging, und es ist der Anwalt, an den ich mich besonders gut erinnere. Abends beim Essen und später erzählte er von seiner Arbeit. Meistens waren es natürlich triumphale Berichte von gefährlichen Gegnern, die er überlistet hatte, und von Niederlagen irgendwelcher Dummköpfe – alles höchst unterhaltsam. Und selbst wenn er eine Niederlage oder einen Rückschlag zu vermelden hatte, schilderte er die Gründe dafür mit so viel trockenem Humor und Understatement, dass wir für den Schurken des Stückes eher Mitleid als Hass oder Verachtung empfanden. Mein Vater, der unsere unkritische Bewunderung sichtlich genoss, übte und entwickelte gleichzeitig jene rhetorischen Fertigkeiten, die ihm später vor großen Zuhörermassen zugutekommen sollten.

Die meisten seiner Klienten waren kleine Gauner und Schuldner. Im Laufe der Jahre lernten wir Kinder, einfach weil wir so oft von all diesen Dingen hörten, einiges über Verteidigungstaktik, über die weniger erfreulichen Methoden der Ermittlungsbehörden und über die Regeln der Beweisführung. Ich bezweifle, dass meine Schwestern viel davon behielten (sie fanden die väterlichen Berichte über juristische Verfahrenstricks amüsant), doch bei mir war das anders. Tatsächlich waren es diese bruchstückhaften Kenntnisse, die mein (zweifellos unbegründetes) Vorurteil gegen den Juristenberuf nährten und mich zu der Ansicht brachten, dass die Medizin eine exakte Wissenschaft sei – eine nicht weniger irrige Auffassung, wie ich inzwischen festgestellt habe, aber mein damaliger Biologielehrer vertrat sie auch.

Mein Vater reagierte gelassen auf meine Entscheidung, und als er sich später bereit erklärte, mein Studium in Paris zu finanzieren, sagte er in seiner üblichen nüchternen Art: »Schön, dass es wenigstens nicht die Vereinigten Staaten sein müssen. Das wäre nämlich teuer geworden. Jedenfalls bin ich sicher, dass du fleißig arbeiten und das Beste aus deinen Möglichkeiten machen wirst.« Und dann fügte er nachdenklich hinzu: »Aus manchen Ärzten sind gute Politiker geworden. Anscheinend wirken sie vertrauenswürdig, weiß der Himmel warum.«

Wenn diese Lektionen, die ich gewissermaßen auf dem väterlichen Schoß lernte, mich auch gegen die Juristerei einnahmen, schärften sie doch mein Bewusstsein dafür, wie man gewisse juristische Fallen vermeidet.

Immer wieder kam er auf das Thema der schriftlichen Zeugenaussage zu sprechen.

»Nimm dich in Acht vor dem Polizisten mit abgegriffenem Notizbuch«, sagte er. »Vermutlich kann er gerade mal seinen eigenen Namen schreiben und mit Mühe und Not lesen. Aber im Gerichtssaal wird das, was in seiner Kladde steht, ganz egal, wer es wann dort hineingeschrieben hat, so sakrosankt behandelt wie die Heilige Schrift.«

»Also, Kinder, denkt dran«, ermahnte er uns mit erhobenem Zeigefinger, wenn er wieder einmal über einen haarsträubenden Fall von Pseudojustiz oder Rechtsbeugung berichtet hatte, »und vergesst es nicht. Solltet ihr jemals, was Gott verhindern möge, eine Straftat begehen oder Grund zu der Annahme haben, dass ihr fälschlicherweise einer Straftat oder einer Unbedachtheit beschuldigt werdet, dann müsst ihr eure Handlungen und Gedanken in den wesentlichen Phasen aufzeichnen. Handschriftlich, mit Datum und ohne nachträgliche Änderungen, wenn ihr keine einleuchtenden Gründe dafür habt.«

Dies ist eine seiner Ermahnungen, die ich nicht vergessen habe. Von Zeit zu Zeit habe ich schriftliche Notizen der besagten Art angefertigt und sie später als nützlich empfunden. Nicht dass ich je vor Gericht gestanden hätte oder damit zu rechnen gewesen wäre. Aber auf französischen Ämtern werden Ausländer nicht immer korrekt behandelt, und ein ausländischer Arzt, selbst wenn er eine französische Approbation vorweisen kann, hat einige Nachteile. Wenn er Dr. Frigo heißt und im staatlichen Krankenhaus eines französischen Überseedepartements arbeitet, ist er besonders angreifbar.

Erneute Störung, aber diesmal nicht ohne Grund. Finale Urämie auf Station C extrem unruhig, will entlassen werden und zu Hause sterben. Schwester hat sich an die Vorschriften gehalten. 5 ccm Paraldehyd, wie verordnet, aber ohne die gewünschte Wirkung.

Sah mir den Patienten an. Zuckerrohrschneider, in den Fünfzigern. Sprach mit ihm, munterte ihn auf, so gut es ging, aber einem Sterbenden zu erklären, dass die Behandlung fortgesetzt werden muss, ist jedes Mal deprimierend. Verordnete 0,5 g Chloralhydrat. Die Schwester sah mich stirnrunzelnd an, sagte aber keinen Ton.

Habe inzwischen eine andere Meinung von ihr. Sie kann sehr gut mit Patienten umgehen – einfühlsam, freundlich, bestimmt. Ist eigentlich ganz hübsch. Fast schwarz, aber mit den feinen Gesichtszügen der Chabine. Schöner Teint, allerdings Warze am Hals unterhalb des linken Ohrs. Könnte man leicht kauterisieren. Warum hat ihr das noch niemand gesagt?

Im Moment habe ich das Gefühl, dass ich plötzlich sehr viel angreifbarer geworden bin.

Deswegen diese schriftlichen Aufzeichnungen. Hätte schon vor drei Tagen damit anfangen sollen.

Muss mich beeilen, solange mir meine Handlungen und Gedanken in den nachgerade relevanten Phasen noch frisch im Gedächtnis sind.

Montag, 12. Mai, vormittags

Ist es erst drei Tage her? Kommt mir länger vor.

Ich war in der Pathologie und assistierte Dr. Brissac bei einer Autopsie, als der Anruf von der Präfektur kam.

Die Leiche, an der wir arbeiteten, gehörte einem älteren Belgier, der mit einer Touristengruppe im Hotel Ajoupa gewohnt hatte. Er war während der Darbietung einer Steelband zusammengebrochen und tot hier eingeliefert worden. Todesursache schien ein Aneurysma der Aorta zu sein, doch die Witwe des Mannes hatte der Polizei gegenüber beharrlich darauf bestanden, dass ihr Mann an einer Lebensmittelvergiftung gestorben sei, und schwere Vorwürfe gegen die Hotelleitung erhoben. Obwohl die anderen Gruppenmitglieder höchstens unter Verdauungsbeschwerden und Übellaunigkeit litten, den normalen Begleiterscheinungen eines Grillabends im Ajoupa – angekohlte Insel-Steaks sind quasi ungenießbar –, hatte der Untersuchungsrichter eine umfassende Autopsie angeordnet, und wir hielten uns strikt an die vorgeschriebene Prozedur.

Dr. Brissac ist der hiesige Direktor des Gesundheitsdienstes und zugleich Chefarzt, und falls es jemanden erstaunt, dass er eine so niedere Tätigkeit nicht delegierte, so kann ich nur sagen, dass Dr. Brissac mittlerweile darauf besteht, die Autopsien selber durchzuführen. Warum? Ich kann es nur vermuten. Einige meiner Kollegen sind der Ansicht, dass er als Arzt zu übertriebener Ängstlichkeit neigt und dass man viele interessante Fälle, die vorsichtshalber nach Fort de France ausgeflogen wurden, durchaus bei uns hätte behandeln können. Sie finden, dass er einem Jüngeren Platz machen solle. Mag sein, dass Brissac, gehemmt durch Erinnerungen an den einen oder anderen Fehler am lebenden Patienten, es inzwischen vorzieht, sein Handwerk an Toten zu praktizieren. Ich muss sagen, dass er am Seziertisch eine gewisse Leidenschaft erkennen lässt. Er arbeitet mit raschen, sicheren Handgriffen, und es ist ein Vergnügen, ihm bei der Arbeit zuzusehen.

Gerade hatte er die Bauchdecke geöffnet. Während ich am Colon ascendens zog, damit er die peritonealen Nervenstränge wegschneiden konnte, kam der Pathologiehelfer herein und teilte mit, dass ich am Telefon verlangt werde.

Ich bat ihn, den Anruf entgegenzunehmen. Er sagte, es sei jemand von der Präfektur, im Auftrag eines Kommissars Gillon, und dringend.

Dr. Brissac hielt inne und rief, ungeduldig mit der Schere herumfuchtelnd: »Bestellen Sie der Präfektur einen schönen Gruß von mir, aber Dr. Castillo kann im Moment nicht weg. Sagen Sie, dass er die Gedärme eines Toten in Händen hält und dass er zurückruft.«

Der Helfer entfernte sich grinsend, und wir arbeiteten weiter. Dr. Brissac ächzt und stöhnt sehr viel bei der Arbeit, spricht aber kaum ein Wort. Als wir zum Colon transversum kamen, blickte er zu mir herüber.

»Kennen Sie Kommissar Gillon?«

»Nur flüchtig. Vor ein paar Wochen kam er mit seinem jüngsten Sohn, der sich beim Baden an einem Felsriff ein Bein aufgeschnitten hatte. Der Kommissar wollte die Wunde versorgen lassen. Ich hatte gerade Dienst.«

Dr. Brissac spitzte die Lippen. »Davon hat er mir gar nichts erzählt.« Nach einer Weile fuhr er fort: »Neulich Abend war er bei uns zum Bridge, er hat sich nach Ihnen erkundigt. Nicht was Ihre beruflichen Fähigkeiten angeht – das steht ja alles in seinen Akten –, sondern Ihre privaten Interessen, Ihren Charakter.«

»Aha.«

»Was Sie in Ihrer Freizeit so alles machen, wenn Sie nicht gerade mit Ihrer Freundin ins Bett gehen, und abgesehen von Ihrer Hobbyknipserei. Welchen Eindruck ich von Ihnen hatte, als Sie letztes Jahr die mobile Ambulanz leiteten. Ob Sie allein zurechtkommen oder der Typ sind, den man an die Hand nehmen muss?«

»Interessante Fragen.« Ich tat so, als wäre mir egal, was er geantwortet hat.

Er sagte es mir ohnehin nicht. Er arbeitete sich zur Milz vor. Schließlich sagte er irgendwann: »Ich vermute, Sie wissen nicht, wer Kommissar Gillon ist oder was er hier macht.«

»Ich dachte, er ist Polizist. Ich wusste nicht, dass in der Präfektur Polizisten sitzen.«

»Er ist tatsächlich Polizist, aber kein gewöhnlicher. Er ist Chef der DST-Antenne in dieser Abteilung. Jedenfalls sagt er ›Antenne‹. Offiziell ist die Einheit vermutlich eine Brigade, aber vielleicht glaubt er, dass Antenne geheimnisvoller und wichtiger klingt. Diese politischen Typen …« Er unterbrach sich, als wäre ihm plötzlich bewusst, dass er sich auf heiklem Terrain bewegte. »Schon ganz sinnvoll, höflich zu ihnen zu sein«, fügte er hinzu.

Mehr bekam ich aus ihm nicht heraus. Es war klar, dass er mehr über den Telefonanruf und den Grund dafür wusste, als er mir sagen wollte.

Als wir mit der Autopsie fertig waren, tippte ich den vorläufigen Bericht, der dann von ihm unterschrieben werden musste, und schickte die entnommenen Proben ins Labor. Inzwischen war es zehn Uhr. Eigentlich hatte ich Dienst in der Ambulanz, aber dort war man selten ungestört, und ich wollte nicht belauscht werden, wenn ich mit der Präfektur über private Dinge sprach. Trotz Dr. Brissacs Andeutungen über Gillons Interesse an meiner Person konnte ich mir die Aufmerksamkeit des DST nur damit erklären, dass ich als Ausländer im Staatsdienst irgendwie verdächtig war.

Ich wurde zu einer Sekretärin durchgestellt. Sie war brüskiert. Dr. Brissacs kleiner Scherz über die Eingeweide war bei ihr offenbar nicht gut angekommen. Kommissar Gillon wolle um halb zwölf in seinem Büro mit mir sprechen. Nicht um zwölf, nicht um Viertel vor zwölf, um halb zwölf. Meine Verpflichtungen im Krankenhaus in Ehren, aber ich könne mich bestimmt von einem Kollegen vertreten lassen. Halb zwölf also, im Büro von Kommissar Gillon, im zweiten Stock des Anbaus. Auf Wiederhören.

In der Ambulanz waren an diesem Tag nur sehr wenige Patienten. Einer von ihnen war ein alter Fischer mit Diabetes, den ich kennengelernt hatte, als ich mit der mobilen Ambulanz die kleineren Inseln abgefahren hatte. Die örtliche Apotheke versorgte ihn inzwischen mit Insulin, aber alle drei Monate kam er, um sich von mir untersuchen zu lassen. Seine Frau begleitete ihn jedes Mal. Sie konnte seine Krankheit nicht verstehen – oder sich daran erinnern, was ich ihr das letzte Mal darüber gesagt hatte –, und da ich Mühe hatte, meine einfachen Erklärungen in Patois zu übersetzen, war auf beiden Seiten Geduld vonnöten. Um Viertel nach elf kam ich schließlich weg, doch mein Moped wollte nicht anspringen, sodass ich bis zur Hauptstraße in die Pedale treten musste. Ich schwitzte und war unruhig und empfand die Schussfahrt in die Stadt hinunter nicht so erfrischend wie sonst.

Die Insel Saint-Paul-les-Alizés wurde von Columbus auf seiner zweiten Westindienreise gesichtet und erhielt von ihm den Namen San Pablo de las Montañas. Die »Berge« waren die beiden Gipfel des Vulkans (er heißt heute Mont Velu), dessen Krater sich während der Ausbrüche von 1785 vereinigten. San Pablo stand nie unter spanischer Kolonialherrschaft. Die einheimischen Kariben waren ein wildes Völkchen, und die drei Dominikanermissionen, die sie zum rechten Glauben bekehren sollten, wurden am Ende allesamt massakriert. Anderthalb Jahrhunderte später, als eine französische Handelsgesellschaft die Insel in Besitz nahm, wurden die Kariben von Saint-Paul ihrerseits von besser bewaffneten europäischen Wilden massakriert. Abgesehen von einer zeitweiligen Besetzung durch die Engländer während der napoleonischen Kriege ist die Insel seit dieser Zeit bis heute französisch.

Obwohl Saint-Paul, wie Martinique, Guadeloupe und die anderen Inseln der französischen Antillen, rasant »entwickelt« wird, sind nur wenige der jüngsten Errungenschaften von Saint-Paul – der Industriekomplex (»Plan Fünf«), das Handelszentrum, die billigen Sozialblocks, die neue Grundschule, der Supermarkt »Alizés« und das Hotel Ajoupa – bis zum alten Hafen von Fort Louis und zu den weiter oberhalb gelegenen Straßen vorgedrungen. Innerhalb des Talkessels, der von den Festungsmauern auf der Landspitze, der Hafenmole und den Hügeln des Grand Mamelon begrenzt wird, sieht es noch immer wie im neunzehnten Jahrhundert aus. Zwar gibt es auf dem Dach der Zitadelle neben dem Flaggenmast inzwischen auch große Fernmeldeschüsseln, Jumbojets heben donnernd von der verlängerten Startbahn ab, und draußen auf der anderen Seite der Bucht, auf den grünen Hängen von La Pointe de Christophe, schießen wie Giftpilze die Betonmasten des neuen Club Nautique aus dem Boden, aber Fort Louis selbst hat sich kaum verändert. Die Stadt ist noch immer hässlich, übervölkert, laut, heruntergekommen und ein einziges Dreckloch.

Die Präfektur befindet sich an der Place Lamartine, auf halber Höhe den Berg hinauf.

Wenn in der Informationsbroschüre des Bureau de Tourisme behauptet wird, die Altstadt sei eine »malerische Erinnerung an die koloniale Vergangenheit«, so ist das zwar nicht völlig falsch, aber doch irreführend. Vor wenigen Jahren wurden in einer Straße die alten Fassaden aus Kalkstein und Maçonne-du-bon-Dieu restauriert. Damit hatte es sich, aber uns, die wir dort wohnen, reichte das nicht. Am Zustand der Rohrleitungen änderte sich überhaupt nichts. Er erinnert an die koloniale Vergangenheit in einer Weise, dass selbst die abgebrühten Männer vom Service Sanitaire aus dem Staunen nicht herauskommen. Mit dem Geld, das eigentlich dafür bereitgestellt worden war, installierte man stattdessen eine Klimaanlage in der Präfektur. Die Entrüstung über die bürokratischen Tricks, mit deren Hilfe man diesem eklatanten Schwindel einen Anschein von Legalität verlieh, hat sich bis heute nicht gelegt.

Die Präfektur, gebaut im Jahre 1920, nachdem das alte Gebäude bei einem Brand zerstört worden war, sieht aus wie das Rathaus einer nordfranzösischen Industriestadt, das man hierhertransportiert und dann weiß getüncht hat. Frech starrt es das Standbild von Lamartine an, dem Dichter, der als Staatsmann die Menschen zu befreien suchte und so unbestechlich war, dass er am Ende keinen Pfennig mehr besaß.

Der schwarze Polizist unter der schlaff herabhängenden Trikolore beäugte mich misstrauisch, als ich mich nach dem Büro von Kommissar Gillon erkundigte, und wies dann auf den Anbau.

Das Hauptgebäude mit seinem knarrenden Parkett ist mir sehr vertraut – das Büro für Ausländer befindet sich im Zwischengeschoss –, aber bis zum Anbau war ich noch nie vorgedrungen. Man erreicht diesen Gebäudeteil (der nach der »Angliederung« von 1946 im Garten der Präfektur errichtet worden war) über eine schmale Seufzerbrücke vom zweiten Stock aus. Ein Schild mit einer Zeigehand wies darauf hin, dass dort unter anderem die Büros des Innenministeriums und der Direction de la Surveillance du Territoire untergebracht sind.

In nordamerikanischen Zeitschriften wird die DST gelegentlich als das französische FBI bezeichnet, was zwar ein griffiger, prägnanter Vergleich ist, aber nicht ganz zutrifft. Das FBI hat die Aufgabe, gewisse Verbrechen zu bekämpfen, die unter Bundesrecht fallen, unter anderem die Spionagetätigkeit ausländischer Mächte. Die DST befasst sich nur mit Gegenspionage auf französischem Boden und allen damit zusammenhängenden Fragen und beschränkt sich, obwohl eine Abteilung der Sûreté Nationale, mehr oder weniger auf den Schutz der inneren Sicherheit. Es gibt noch andere Unterschiede. Filme und Fernsehserien, in denen FBI-Agenten als Helden dargestellt werden, mögen nicht mehr besonders populär sein, aber immerhin gibt es sie. Sollte es auch nur einen einzigen Film geben, der einen DST-Agenten in sympathischem Licht zeigt, wäre ich sehr überrascht. Jedenfalls habe ich noch keinen gesehen. Während ein normaler Bürger der Vereinigten Staaten, der von FBI-Vertretern angesprochen wird, sich womöglich geschmeichelt fühlt, dürften die meisten Franzosen, die ohnehin allen Polizisten misstrauen, einer ähnlichen Einladung seitens der DST nur äußerst unwillig und mit stärksten Bedenken Folge leisten. Ich bin zwar kein gebürtiger Franzose, aber Frankreich ist meine Wahlheimat. Dem Gespräch mit Kommissar Gillon sah ich daher mit der allergrößten Skepsis entgegen.

Der Empfang im Vorzimmer beruhigte mich nicht gerade. Die Sekretärin, eine herrische, braunhäutige Frau mit reichlich Gold im Gebiss, tippte vorwurfsvoll auf das Ziffernblatt ihrer Armbanduhr, um mich daran zu erinnern, dass ich spät dran war, zeigte dann auf eine Sitzbank und sagte, dass ich nun warten müsse. Um ihr Missfallen zu unterstreichen, packte sie ein paar Akten, die auf ihrem Schreibtisch lagen, hierhin und dorthin und zündete sich dann eine Zigarette an. In der Ecke des Zimmers tickerte ein Fernschreiber ruhig vor sich hin. Ein junger Weißer, der das Gerät bediente, stöhnte hin und wieder auf – ob aus Langeweile oder aus Unmut, war schwer zu sagen. Es schien, als würde via Fernschreiber eine Art Auseinandersetzung geführt. Das Gestöhn des jungen Mannes begann die Sekretärin zu amüsieren. Auf ihren Lippen lag schon ein sorgfältig formulierter Scherz, als die Gegensprechanlage auf ihrem Schreibtisch loskrächzte. Mit einer ungeduldigen Handbewegung schickte sie mich hinein.

Der Kommissar Gillon, den ich im Krankenhaus erlebt hatte, war ein besorgter, schwitzender Vater im Strandhemd gewesen, der mit einem verletzten, quengeligen Jungen erschienen war. Der Gillon, dem ich jetzt gegenübertrat, war ein hochrangiger Beamter, der ruhig in einem klimatisierten Büro saß. Er war untersetzt, muskulös, in den Vierzigern. An diesem Tag trug er einen grauen Anzug. Er hatte eine Lesebrille mit halben Gläsern, eine helle, gesunde Hautfarbe, kurzes blondes Haar und ein blendend weißes Gebiss. Ein gut aussehender Mann mit einer Stupsnase und schweren Lidern über lebhaften Augen. Er sprach Pariser Französisch. Er brachte es fertig, mich mit einer knappen Armbewegung zu begrüßen und gleichzeitig zum Stuhl auf der anderen Seite seines Schreibtischs zu dirigieren.

»Schön, dass Sie sofort gekommen sind.« Er saß schon wieder und lehnte sich zurück. »Dr. Brissac hat keine Schwierigkeiten gemacht?«

»Nein. Ich hoffe, das Bein Ihres Jungen ist gut verheilt.«

»Absolut. Dr. Massot hat den Verband gewechselt. Er ist unser Hausarzt, wissen Sie. Ich wollte Sie nicht unnötig ein zweites Mal beanspruchen. Kennen Sie Massot?«

Er sprach von dem Arzt, der die meisten Weißen von Fort Louis betreut und Besitzer der teuren Clinique Massot ist.

»Flüchtig. Manchmal nimmt er die Einrichtungen unseres Hauses in Anspruch.«

Gillons feines Lächeln ließ erkennen, dass meine Antwort, obschon vorsichtig formuliert, meine wahre Einstellung gegenüber Dr. M. nur unzureichend verborgen hatte. Dr. M. war dank eines krassen Fehlurteils seitens der Krankenhausverwaltung zum ehrenamtlichen Berater der orthopädischen Abteilung berufen worden, und die Tatsache, dass diese Position unbezahlt war, hatte er so interpretiert, dass er unsere Röntgen- und Laboreinrichtungen für seine Privatpatienten oder seine Privatklinik stets mit Vorrang benutzen dürfe. Er macht uns oft Stress.

Die nächste Frage verwirrte mich jedoch. »Hat Massot mit Ihnen jemals in einer anderen Sprache als Französisch gesprochen?«

»Ein, zwei Mal, ja.« Dr. M. zeigt gern, dass er rudimentäre Kenntnisse in mehreren Sprachen hat. Im Hotel Ajoupa soll er während der Touristensaison ziemlich absahnen.

»Wie ist sein Spanisch?«

Kollegiale Rücksichtnahme war in diesem Fall nicht nötig. »Sein Deutsch erschien mir verständlicher. Ich selbst kann allerdings kein Deutsch.«

Der Kommissar grinste, nahm ein grünes Dossier und hielt es mir so hin, dass ich meinen Namen sah, der darauf stand – Castillo Reye, Ernesto. Das unverbindliche Geplauder (oder was ich dafür gehalten hatte) war zu Ende. Jetzt würde sich herausstellen, warum ich herbeordert worden war.

Er setzte ein offizielles Gesicht auf. »Herr Doktor, Sie verstehen gewiss, dass wir uns für den Status und die Aktivitäten von Ausländern in unserer Mitte interessieren, selbst wenn es sich bei diesen Personen um angesehene Ärzte handelt.«

»Ja.«

»Aber natürlich kann man nicht immer über alles Bescheid wissen. Wir können observieren, was der Betreffende tut, wie er sich verhält, wer seine Freunde und Bekannten sind und so weiter und so fort. Und aus diesen Erkenntnissen können wir gewisse Schlüsse ziehen. Wenn wir es aber nicht mit Personen zu tun haben, die sich erfahrungsgemäß leicht einschätzen lassen – Betrüger, Prostituierte, kleine Abenteurer –, können wir nicht immer wissen, was der Betreffende denkt, welche Ansichten er vertritt. In manchen Bereichen können solche Informationen sehr wichtig sein. Ärzte, denke ich, haben manchmal ähnliche Schwierigkeiten bei der Diagnose. Symptome sagen nicht immer die Wahrheit.«

»Patienten auch nicht.«

Er sah mich überrascht an. »Die Leute erzählen Ihnen tatsächlich Lügen?«

»Manchmal, aber selten ganz bewusst. Meistens belügen sie sich selbst. Der Arzt soll bei der Verschwörung bloß Hilfestellung leisten. Was wollten Sie denn über mich wissen, Herr Kommissar?«

Er warf mir einen spöttischen Blick zu. »Na schön. Laien sollten die Finger von medizinischen Vergleichen lassen. Also, ein paar Fragen. Vor zwei Jahren hätten Sie einen Antrag auf Verleihung der französischen Staatsangehörigkeit stellen können. Das war Ihnen offensichtlich bekannt, denn Sie haben Maître Bussy in dieser Sache konsultiert. Sie sind sogar noch einen Schritt weitergegangen. Sie haben ihm den erforderlichen Lebenslauf vorgelegt. Dann, nur einen Monat später, teilen Sie ihm mit, dass Sie den Antrag zurückziehen wollen. Wieso?«

»Meine Mutter war dagegen.«

»Ihre Mutter? Mit welchem Argument?«

»Vielleicht ist ›sie war dagegen‹ nicht ganz richtig. Sie hat an mich appelliert, als guter Sohn nicht das Land aufzugeben, für das mein Vater den Märtyrertod gestorben war.«

»Und Sie haben diese Auffassung akzeptiert?«

»Nein. Aber es ging meiner Mutter nicht besonders gut, sie hatte Schmerzen. Ich wollte nicht, dass sie zu den anderen Sorgen noch psychischen Stress hatte.«

»Aber Ihre drei Schwestern hatten doch schon eine andere Staatsangehörigkeit angenommen.« Er zeigte auf das Dossier. »Zwei sind Amerikanerinnen, die dritte Mexikanerin, jedes Mal durch Eheschließung. Hat Ihre Mutter da ähnliche Einwände vorgebracht?«

»Bei Frauen aus der Generation und der Schicht meiner Mutter waren es immer die Söhne, die in die Pflicht genommen wurden. Und wenn man der einzige Sohn ist …«

»In welche Pflicht genommen? Dass er eines Tages in die Heimat zurückkehrt und den Märtyrertod seines Vaters rächt?«

Ich dachte eine Weile nach, bevor ich antwortete. Bei manchen Themen ist es ratsam, nicht allzu offen zu sein, nicht einmal gegenüber einem intelligenten und unsentimentalen Menschen wie Gillon.

Die Wahrheit ist, dass mein Vater nie ein Märtyrer im eigentlichen Sinne des Wortes war, außer für meine Mutter und vielleicht einige seiner gläubigeren Genossen. Er war kein Martin Luther King, kein Kennedy und schon gar kein Lumumba. Mit seiner Rednergabe konnte er die Massen packen, sogar zu Tränen rühren, aber in der Achtung der Leute lag nichts Romantisches, keine Liebe. Sie glaubten wohl, dass er ihr Los verbessern würde, dass er sich für sie engagierte und wirklich ihr Freund war. Sie applaudierten ihm und äußerten lautstark ihre Begeisterung, aber wenn er sich unter sie mischte, drängte niemand vor, ihn zu berühren. In einer Menschenmenge war er derjenige, dem man respektvoll Platz machte. Die wesentliche Fähigkeit des wahren Demagogen, zu vergessen und damit andere vergessen zu machen, dass er im Grunde seines Herzens ein Politiker ist – diese Fähigkeit besaß er nicht. Die Ermordung eines solchen Menschen mag ein aufsehenerregendes Ereignis sein, Anlass zur Entstehung einer Märtyrerlegende ist sie selten.

Doch mir ist klar, dass gute Söhne nicht in dieser Weise über ihre toten Väter sprechen sollten. Gillon mochte ein hochrangiger DST-Beamter sein, aber er war auch, wie ich sehr wohl wusste, ein liebevoller Vater und Familienmensch. Da es keinen Sinn hatte, ihn unnötig vor den Kopf zu stoßen, wich ich seiner Frage aus.

»Meine Mutter hat sich jahrelang damit getröstet, dass der Tod meines Vaters gerächt werden muss und irgendwann auch gerächt werden wird. Dieser Ansicht war ich nie.«

»Haben Sie ihr das gesagt?«

»Ich habe dieses Thema wenn irgend möglich vermieden. Sie könnten sagen, dass ich ihr etwas vorgemacht habe. Als ich mich vor zwei Jahren bereit erklärte, meine Staatsangehörigkeit zu behalten, hat meine Mutter gewiss angenommen, dass ich mich nicht nur ihren Wünschen beuge, sondern auch ihre politische Vision teile. Und ich bin sicher, dass ihre engsten Vertrauten sie darin bestärkt haben.«

»Mit engsten Vertrauten meinen Sie vermutlich die Mitglieder der Partei Ihres Vaters, die im Exil sind?«

»Ich meine diejenigen Parteimitglieder, überwiegend Spinner, Betrüger und Postenjäger, die sich in Florida eingenistet haben.«

»Haben Sie noch Kontakt zu diesen Leuten?«

»So wenig wie möglich, eigentlich gar nicht.«

»Briefkontakt?«

»Hin und wieder schicken sie mir ihr schwachsinniges Mitteilungsblatt, das dort erscheint. Hin und wieder werde ich um Geldspenden gebeten. Auch darauf reagiere ich nicht.«

»Ihre Mutter hat Mitglieder dieses Kreises mit beträchtlichen Summen unterstützt.«

»In der Tat. Wie Sie vielleicht wissen, erschien es der Junta opportun, in Bezug auf das Vermögen meines Vaters eine großzügige Regelung zu treffen. Als meine Mutter nach Florida ausreiste, wurden die Devisenvorschriften eigens für sie gelockert. Die Emigranten dort haben sich jahrelang auf ihre Kosten ein schönes Leben gemacht. Für ihre hohen Arztkosten mussten dann mein Schwager und ich aufkommen. Ihr ganzes Geld war verjubelt oder einfach gestohlen. Nach ihrem Tod erklärte sich der Schatzmeister eines Vereins von Exilkubanern freundlicherweise bereit, kostenlos die Bücher zu prüfen. Er empfahl uns, zur Polizei zu gehen und in bestimmten Fällen Anzeige zu erstatten.«

»Was Sie aber nicht getan haben.«

»Nein, wir haben nur damit gedroht. Leider, bei den hohen Arztrechnungen konnten wir uns nicht auch noch Prozesskosten leisten.«

»Wir tauschen ja regelmäßig mit dem FBI Informationen auf inoffizieller Basis aus. Wären Sie überrascht, wenn ich Ihnen sage, dass Sie, laut einem Bericht, den wir kürzlich erhielten, von der Gruppe in Florida als künftiger Parteichef und möglicher Chef einer Übergangsregierung genannt werden?«

»Meine Schwester Isabella hat mir davon geschrieben. Gleichzeitig erhielt ich übrigens eine Reihe jener Spendengesuche, von denen ich vorhin sprach. Nein, überrascht war ich nicht. Nichts von dem Quatsch, den die Florida-Fraktion veröffentlicht, kann mich noch erschüttern. Ich war aber betrübt, weil ich annehmen musste, dass meine Mutter die Verwendung des Namens Castillo genehmigt hatte. Aber da lag sie schon im Sterben, und unser Name war das Einzige, was sie noch hergeben konnte.«

»Sie glauben also nicht an eine Zukunft der Demokratisch-Sozialistischen Partei Ihres Vaters? Sehen Sie nicht die Chance, dass die gegenwärtige Regierung eines Tages gestürzt wird?«

»Nicht, wenn man es der Florida-Gruppe überlässt. Ob sie für die gesamte Opposition repräsentativ ist, ist eine andere Frage.«

»Wie ist Ihre Meinung dazu?«

»Ich weiß nicht genug, um dazu etwas sagen zu können. Ich lese dieselben Zeitungsmeldungen über die verschiedenen Fraktionen wie alle anderen Leute auch. Die kubanische Gruppe dürfte mehr oder weniger marxistisch orientiert sein, kein Wunder. Und die Villegas-Gruppe …«

Ich zögerte. Der Kommissar drängte mich weiter: »Ja? Was halten Sie von der Villegas-Gruppe?«

»Die sitzt ja bekanntlich in Mexiko. Nach Informationen meiner Schwester Isabella – und ich versichere Ihnen, ich habe dort keine anderen Quellen – hat die Gruppe um Villegas enge Kontakte zur Stadtguerilla in unserem Land, diesen militanten Jugendlichen, die der Oligarchie so enorm zusetzen. Von diesen Kontakten weiß ich natürlich nur vom Hörensagen. Die Florida-Fraktion kann die Mexiko-Fraktion nicht ausstehen, weil die anscheinend keine Geldsorgen hat. Es heißt immer wieder, dass Villegas von der CIA unterstützt wird. Auch das reines Gerede. Aber das ist ja mehr oder weniger üblich. Jede politische Gruppe in Lateinamerika, die nicht bettelarm ist, muss einfach von der CIA finanziert werden. Was die politische Richtung angeht, so dürfte die Villegas-Gruppe – und auch das habe ich von meiner Schwester – links von der Mitte stehen.«

»Nicht zu weit von der Position entfernt, die Ihr Vater eingenommen hätte.«

»Vermutlich. Allerdings kann ich mir meinen Vater nicht als Chef einer Gruppe treuer Emigranten vorstellen, welcher Position auch immer.«

»Nein? Er war doch Politiker.«

»Meinem Vater gefiel es, politische Macht zu haben. Und Geld wollte er auch haben. Über den Vorwurf, ein Opportunist zu sein, lachte er. Er fasste es als eine Art Kompliment auf. Wenn er ins Exil getrieben und nicht ermordet worden wäre, hätte er wieder als Anwalt gearbeitet oder, wenn das nicht gegangen wäre, sich an einem lukrativen Geschäft beteiligt. Er hatte nicht den Nerv für langwierige Kämpfe, auch wenn auf seinem Banner die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit stand. Die Ziele, für die er eintrat, mussten immer in absehbarer Zeit erreichbar sein.«

Der Kommissar sah mich einen Moment etwas merkwürdig an, so als wollte er seinen Ohren nicht recht trauen, und zuckte dann mit den Schultern. »Wie ich gehört habe, sollen Sie Ihren Vater sehr geliebt haben. Was Sie da sagen, klingt aber nicht danach.«

Da ich nun doch in die Falle gegangen war, die ich bislang erfolgreich vermieden hatte, musste ich nach Kräften versuchen, mich irgendwie herauszureden.

»Genau dieselben Worte hat meine Mutter auch verwendet, als sie mich zum soundsovielten Mal drängte, seinen Tod zu rächen.«

Es funktionierte. Gillon erstarrte. Der Vergleich mit meiner Mutter, wie entfernt auch immer, gefiel ihm nicht.

»Soweit ich Ihre Landsleute kenne, bräuchten nur wenige in einer solchen Angelegenheit gedrängt zu werden. Immerhin gibt es bei Ihnen den Machismo, dieses ausgeprägte Männlichkeitsgefühl.«

»Nicht nur in meiner Heimat. In ganz Lateinamerika. Aber ich stimme Ihnen zu. Viele sinnlose Morde werden von Leuten verübt, die es für einen Beweis von Männlichkeit halten, einen Menschen umzubringen, der sie beleidigt hat. Ich selbst sehe das anders. Vielleicht zeigt sich darin der verderbliche Einfluss meiner französischen Ausbildung.«

»Vielleicht.« Er hielt inne, um über diese ketzerische Bemerkung nachzudenken. »Oder hat es damit zu tun«, fuhr er fort, »dass Sie nie herausgefunden haben, wer für die Tat verantwortlich war? Ich meine, wer das Attentat geplant hat.«

»Werde ich in Ihrer Achtung noch tiefer sinken, wenn ich Ihnen erkläre, dass ich mich im Grunde nie darum bemüht habe?«

»Hat es Sie nicht interessiert?«

»Nein, nein. Was immer man Ihnen erzählt hat, ganz so gefühllos bin ich nicht. Aber ich lege einfach Wert auf Beweise. Was bislang zutage gefördert wurde, war keinen Pfifferling wert. Eigentlich müssten Sie das wissen. Vielleicht hätte ich mich intensiver darum kümmern sollen, aber ich bin kein Polizist, auch kein Amateurdetektiv, der jede Menge Zeit hat.«

»Glauben Sie denn, dass es irgendwo noch Beweise gibt?«

»Möglicherweise gibt es im Verteidigungsministerium, das sich in Sichtweite der Treppe befindet, auf der mein Vater ermordet wurde, Dokumente, aus denen die Namen der Verantwortlichen hervorgehen. Erst recht, wenn es sich um Mitglieder der Partei meines Vaters handelt. Und selbst wenn es Angehörige der Sicherheitskräfte waren, die auf Anweisung der Junta gehandelt haben, könnte es irgendwo noch Beweise geben. Bürokraten sind vorsichtige Leute, die vernichten nicht so schnell Unterlagen, selbst wenn man es ihnen befiehlt. Man kann schließlich nie wissen, ob sie nicht eines Tages doch nützlich sind.«

»Ich verstehe. Die Dokumente existieren vielleicht, aber niemand wird sie Ihnen einfach so zeigen. Und selbst wenn Sie wüssten, wo diese Dokumente aufbewahrt werden, müssten Sie feststellen, welcher Beamte dafür zuständig ist und welche Sorte Bestechungsgeld nötig ist. Hab ich recht?«

»Außerdem gibt es ja dieses alljährliche Ritual, das mich vor der Versuchung schützen soll, meiner Neugier nachzugeben. Wenn ich mir vom französischen Konsul in Fort de France meinen Pass verlängern lasse, werde ich immer wieder daran erinnert, dass dieses Dokument nur von begrenztem Nutzen ist. Es gilt für die ganze Welt, nur nicht für Reisen in mein Heimatland.«

»Ihre Mutter ist vor einem halben Jahr gestorben. Wollen Sie ihre sentimentalen Wünsche hinsichtlich Ihrer Staatsangehörigkeit ewig weiterbefolgen?«

»In ihrer Familie dauert die Trauerzeit mindestens ein Jahr. Daran werde ich mich halten. Ich bin aber sicher, dass das Konsulat in Fort de France einen Antrag auf Erteilung eines Einreisevisums ablehnt, wenn ich einen französischen Pass vorlege. Die Ablehnung würde nur etwas höflicher formuliert, das ist alles.«

»Ja, ich verstehe. Nur noch eine Frage. Das gegenwärtige Regime – die Oligarchie, wie sie genannt wird – ist ja bekanntlich alles andere als stabil. Sollte ein von der Armee getragener Staatsstreich zur Machtübernahme der Demokratischen Sozialisten oder zu einer Koalitionsregierung führen, die bereit wäre, das gegen Sie verhängte Einreiseverbot aufzuheben, wären Sie dann bereit zurückzukehren?«

»Für einen kurzen Besuch vielleicht. Nicht für immer. Ich habe hier meine Arbeit, und sie macht mir Spaß.«

»Als Sohn Ihres Vaters würde man Ihnen womöglich einen Posten in der neuen Regierung anbieten – das Gesundheitsministerium etwa.« Er lächelte, aber es war durchaus ernst gemeint.

»Ich würde ablehnen. Meine Kindheit hat mich gegen politischen Ehrgeiz immun gemacht. Ich bin Arzt, Karriere möchte ich nur in meinem Beruf machen.«

Apropos Beruf. Es ist jetzt 2 Uhr. Die Schwester brachte mir ein Glas Tee. Ein deutliches Friedensangebot. Dadurch ermutigt, beschloss ich, ihre Warze zu erwähnen. Ein schwerer Fehler meinerseits, in jeder Hinsicht. Es ist keine Warze, sondern ein pigmentierter Naevus. Schwester sehr gekränkt. Wortreiche Entschuldigungen. Sie akzeptierte sie nur pro forma, wie mir die aufeinandergepressten Lippen und der abgewandte Blick deutlich signalisierten. Muss mich in Zukunft um meine eigenen Dinge kümmern. Sollte nach dem Rundgang etwas schlafen, habe aber das Gefühl, dass ich zuerst den Bericht über Gillon zu Ende schreiben sollte. Zum Teufel mit pigmentierten Naevi. Zum Teufel mit Gillon.

Da er gesagt hatte, dass es seine letzte Frage sei, ging ich davon aus, dass unser Gespräch mit meiner Antwort beendet war. Ich hatte ihm erklärt, warum ich meinen Antrag auf Verleihung der französischen Staatsangehörigkeit zurückgezogen hatte. Seinen Verdacht, dass ich in Emigrantenkreisen engagiert bin, hatte ich wohl zerstreut. Also stand ich auf, um ihm die Mühe zu ersparen, mich zur Tür zu bringen.

Er reagierte gereizt. »Wir sind noch nicht fertig, Herr Doktor. Setzen Sie sich bitte wieder.«

Ich gehorchte. »Sie haben gesagt, Sie wollten mir ein paar Fragen stellen. Ich habe sie beantwortet.«

»Und Sie werden sich freundlicherweise anhören, warum ich sie Ihnen gestellt habe.«

Ich schwieg und machte wahrscheinlich ein arrogantes Gesicht. Ich habe mir sagen lassen, dass Dr. Frigo meistens so reagiert, wenn er klein beigeben muss.

Gillon beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. »Was den Antrag auf Verleihung der Staatsbürgerschaft angeht, so sollten Sie wissen, dass uns solche Anträge zur Beurteilung und Stellungnahme vorgelegt werden.« Er zeigte mit dem Finger auf mich. »Wir können ja oder nein sagen. Sie sollten darüber nachdenken, bevor Sie sich weigern, mit uns zusammenzuarbeiten.«

»Ich habe mich nicht geweigert.«