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ISBN 978-3-940-77588-7
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Vorwort

Industrie 4.0 – die Idee der webbasiert vernetzten Fabrik – ist mehr als fünf Jahre alt. Das wird sicherlich Anlass für die Treiber von Industrie 4.0 sein, sich einmal mehr gegenseitig auf die Schultern zu klopfen. Völlig zu Unrecht, denn die Industrie muss auf verlorene Jahre zurückblicken. Dabei ist nicht die technische Umsetzung der Vernetzung das Problem, sondern der Mangel an Mut und Phantasie unserer Industrie.
Einst gestartet als Initiative für den produzierenden Mittelstand, wird Industrie 4.0 derzeit vornehmlich von Fabrikausrüstern und der Forschung getrieben. Kein Wunder, denn sie profitieren hiervon als erste. Sie beglückwünschen sich gegenseitig für technische Lösungen, die aber oftmals gar nicht so innovativ sind, wie behauptet wird.
Unhaltbare Heilsversprechen, zahlreiche Trittbrettfahrer und eine enorme mediale Aufmerksamkeit – Industrie 4.0 erfüllt alle Kriterien für einen Hype. Zudem basiert Industrie 4.0 auf dem Denkfehler, dass ein nicht lineares und soziales System wie eine Fabrik mit Algorithmen steuerbar ist. Das hat noch nie funktioniert und es wird auch dieses Mal so sein.
Das Narrenschiff ist auf dem Weg – ohne Ziel und ohne Kompass. Und alle wollen mit. Alle? Nein, denn ausgerechnet diejenigen, um die es eigentlich geht, wollen partout nicht mit an Bord. So erklärt eine wachsende Zahl mittelständischer Produzenten offen, dass sie sich an Industrie 4.0 nicht beteiligen will. Das liegt aber nicht an deren vermeintlicher Schläfrigkeit, wie von den Treibern von Industrie 4.0 gerne kolportiert wird, sondern an der fehlenden Qualität des Angebotenen.
Wie bei jeder großen Veränderung braucht auch Industrie 4.0 eine Vision und eine Antwort auf die Frage nach dem „Warum“. Auf beides warten wir seit mehr als fünf Jahren vergebens. Stattdessen hören wir die pauschale Aussage, dass dies nun einmal die nicht aufzuhaltende Zukunft sei. Man fügt noch eine Prise Angst hinzu und behauptet, dass unweigerlich derjenige ins Hintertreffen gerät, der hier nicht mitmacht.
Der eigentliche Sinn der webbasierten Vernetzung besteht aber in datenbasierten Geschäftsmodellen; ihre Potenziale liegen außerhalb der Fabriken. Diese Potenziale findet man aber nicht, wenn der Denkhorizont nur bis ans eigene Werkstor reicht.
Während die Deutschen hingebungsvoll an Schnittstellen tüfteln und sich in technischen Details vergehen, entwerfen die Amerikaner Geschäftsmodelle. Die Rollenverteilung ist klar. Die Amerikaner stecken die digitalen Claims ab und schaffen neue Märkte, während sich die Deutschen widerstandslos den Platz in der zweiten Reihe haben zuweisen lassen – als austauschbare Hardwarelieferanten von Internetunternehmen. Dabei haben unsere Fabrikausrüster, die Industrie 4.0 lediglich als Konjunkturprogramm begreifen und sich angesichts erwarteter Umsatzzuwächse derzeit freudig die Hände reiben, nicht verstanden, dass es genau diese Entwicklung ist, die sie selber hinwegfegen wird.
Ja, die Vernetzung des Digitalen wird die Welt verändern. Deshalb hat Industrie 4.0 endlich die Technikecke zu verlassen und ist von der Gesellschaft und vom Markt her zu denken. Es bedarf völlig neuer Geschäftsmodelle und der Bereitschaft, das Bestehende unsentimental zu zerstören, statt es linear fortzuschreiben. Industrie 4.0 hat nur dann eine Chance auf Erfolg, wenn sie sich die Frage stellt, wie wir alle zukünftig wirtschaften, arbeiten und leben wollen, und aus den Antworten die richtigen Schlüsse zieht.
Industrie 4.0 ist mit dem Anspruch angetreten, über die Vernetzung digitaler Systeme in der Fabrik die Produktion zu revolutionieren. Deshalb sprechen die Protagonisten, also die Treiber von Industrie 4.0, auch von einer industriellen Revolution. Doch weder sind die versprochenen Effekte eingetreten, noch gibt es bei den produzierenden Unternehmen nennenswertes Interesse, an dieser vermeintlichen Revolution mitzuwirken.
An eben dieser Stelle soll das vorliegende Buch ansetzen, eine Orientierungshilfe bieten, aus einer konstruktiv-kritischen Warte heraus Illusionen vorbeugen und damit vor überzogenen Erwartungshaltungen und Fehleinschätzungen bewahren.
Dass dies nur der erste Schritt sein kann, sollte klar sein. Doch es ist der notwendige, und wie so häufig schmerzhafte erste Schritt der Erkenntnis. Erst wenn die hierfür Verantwortlichen den gegenwärtig zu kurz greifenden Ansatz von Industrie 4.0 durchdrungen haben, kann diesem zu einem Vorzeichenwechsel verholfen werden.
Viel Gutes an Industrie 4.0 hätte genau diesen verdient.
  
Mönchengladbach, im Juni 2016

Inhalt

1  Industrielle Revolutionen
1.1  Wertschöpfung mit Dampf – der Beginn der Industrialisierung
1.2  Fabriken unter Strom
1.3  Wie man Massenmärkte schafft und diese effizient bedient: das System Ford
1.4  Vielfältige Kundenwünsche schnell und effizient erfüllen: das Toyota Produktionssystem
1.5  Die digitale Fabrik: Kollege Computer erobert die Fabrikhallen und Büros
1.5.1  NC-gesteuerte Werkzeugmaschinen und Roboter
1.5.2  Steuerung, Sensoren, Aktoren und SPS
1.5.3  Konstruktion
1.5.4  Produktionsplanung und -steuerung
1.5.5  Computer Integrated Manufacturing (CIM)
2  Industrie 4.0: Eine starke Marke ist geboren!
3  Die Last der (falschen und widersprüchlichen) Erwartungen
3.1  Von der Illusion, dass Algorithmen Fabriken steuern können
3.2  Informationen in Echtzeit
3.3  Konglomerat par excellence
4  Vorhang auf für Industrie 4.0!
4.1  Die Ahnengalerie von Industrie 4.0
4.2  Plattform Industrie 4.0
4.3  Fabrikausrüster
4.4  Forschung
4.5  Allianzen²
4.6  Die Ahnungslosen
4.7  Trittbrettfahrer
4.7.1  Starter Kit
4.7.2  Der Schicht-Doodle
4.7.3  Pseudogeschäftsmodelle
4.8  Cloud-Anbieter
4.9  Unternehmensberater
4.10  Wissensdienstleister und Medien
4.11  Die Angst im Nacken
4.12  Industrie 4.0 und die scheuen Zaungäste
5  Hype, hype, hurra!
6  Falsch abgebogen
6.1  InBin
6.2  FTS
7  Mitarbeiter 4.0?
7.1  Jobmaschine oder Jobkiller?
7.2  Welcome back, Mr. Taylor
7.3  Der Mensch als Dirigent der Wertschöpfungskette?
7.4  Flucht vor den eigenen Mitarbeitern
7.5  Sorry Dave, I can’t let you do that!
8  Industrie 4.0 – der Frontalangriff auf unseren Wohlstand?
8.1  Gratiskultur meets Innovation
8.2  Cloud Computing: die Wolke, die zur Gewitterfront wurde
8.3  Geheim war gestern – wenn Rezepturen sprechen lernen
8.4  Das Dilemma
9  Fabrikfixierte Nabelschau
9.1  Deutschland sucht den Super-Standard
9.2  Deutschland vs. USA – der Platz in der zweiten Reihe
9.3  Wir könnten ja auch anders, wenn wir denn nur wollten – der horizontale Ansatz
9.3.1  Digitale Veredelung light
9.3.2  Systeme verbinden
9.3.3  Plattformen
9.3.4  TechShop – Yes We Can!
9.3.5  Wenn der Bauer zum Agrarmanager wird
9.3.6  Sensorik mit Zusatznutzen
9.3.7  Monetarisierung
10  Fazit und Ausblick
10.1  Industrie 4.0 – eine Bilanz
10.2  Was wir wirklich brauchen: das Manifest für die vernetzte Wertschöpfung
11  Literatur

1  Industrielle Revolutionen

Unter einer Revoluton versteht man eine tiefgreifende Wandlung, eine Wende, eine Neuordnung der Dinge.1 Im Kontext der industriellen Revolutionen ergeben sich die markanten Merkmale, dass zum einen menschliche und tierische Kraft durch mechanische Kraft ersetzt, und zum anderen menschliche Geschicklichkeit teilweise durch Maschinen ersetzt wird. Auch die Tatsache, dass Maschinen Geistestätigkeiten des Menschen übernehmen und in der Lage sind zu lernen, hat revolutionären Charakter.
1 Vgl. o.V.: Revolution, 2013, http://www.duden.de/rechtschreibung/Revolution, Zugriff am 04.09.2015.
Es findet im Grundsatz also eine sukzessive Substitution des Faktors Mensch durch Maschinen statt. Dies markiert in der allgemeinen Wahrnehmung die Meilensteine der industriellen Revolutionen. Damit wird die industrielle Revolution ausschließlich auf technologiebasierte Ereignisse reduziert. Das ist jedoch zu kurz gedacht und deshalb wird darüber noch zu reden sein. Aber alles der Reihe nach:

1.1  Wertschöpfung mit Dampf – der Beginn der Industrialisierung

Ein großes Problem bei der Mechanisierung der Industrie im 18. Jahrhundert lag vorrangig in der Bereitstellung ausreichender Energiemengen. Menschliche und tierische Arbeitskraft sowie Wasserkraft stellten bis dato die organische Grundlage der Energieerzeugung dar. Die Begrenztheit dieser Energiequellen war offensichtlich. Die Leistung der Tiere konnte nicht unbegrenzt abgerufen werden, die Verfügbarkeit von Wasserkraft war abhängig von geographischen Bedingungen. Eine signifikante Erhöhung der Energieverfügbarkeit wurde durch die Erfindung der Dampfmaschine realisiert. James Watt verbesserte die von Thomas Newcomer 1705 entwickelte Dampfmaschine entscheidend und ließ diese im Jahr 1769 patentieren.2 Die sich anschließende Erste Industrielle Revolution war durch die anorganische Energieerzeugung mithilfe der Dampfmaschine überhaupt erst möglich.3 Dabei war technologischer Fortschritt, damals wie heute, kein Phänomen im luftleeren Raum. In letzter Instanz sind es die Menschen, die mit der schönen neuen Welt fortan interagieren müssen. Blicken wir vor die Tore der Städte des 18. Jahrhunderts, waren vier von fünf Personen in der Landwirtschaft tätig.4 Fortschritt in diesem Umfeld zeichnete sich dadurch aus, dass neue Fruchtpflanzen wie die Kartoffel und neue Anbaumethoden – von einer Dreifelder- zur Fruchtwechselwirtschaft – die Flächenproduktivität gesteigert haben. Das technologische Novum dieser Zeit war auch dort der Einsatz von Dampfmaschinen. Als Pionier in der Anwendung setzte der Engländer Richard Trevithick im Jahr 1811 erstmals eine ortsbewegliche Einheit von Dampfmaschine und Dampfkessel in der Landwirtschaft ein, die über einen Antriebsriemen eine Dreschmaschine antrieb.5 Das Dreschen des Getreides nach der Ernte musste fortan nicht mehr einzig durch mühselige Handarbeit mit dem Dreschflegel und Muskelkraft geschehen. Neue Technologien und Methoden veränderten die qualitativen und quantitativen Anforderungen an den Produktionsfaktor Arbeit. Eben dieser Faktor wuchs jedoch maßgeblich in der letzten Hälfte des vorherigen Jahrhunderts an. Ein rapides Bevölkerungswachstum von rund 35 Prozent zwischen den Jahren 1750 und 1800 ging nicht minder mit der Frage einher, wie und wo diese Menschen Beschäftigung finden sollten.6 Wer auf dem Land blieb und abseits oder parallel zur Landwirtschaft ein Einkommen mit der Tätigkeit des Webens oder Spinnens erzielte, sah sich plötzlich mit einer bedrohlichen Situation konfrontiert. Erste kostengünstigere Konkurrenzprodukte aus Übersee drängten auf den Markt. Der mechanische Webstuhl, der idealerweise durch Dampfkraft betrieben nie müde wurde, sollte die wohlstandssichernde Antwort sein. Zumindest für einige wenige. Fabrikanten, die in der Lage waren, diese kostspielige und noch exklusive Investition in Dampfkraft zu tätigen, senkten in Folge die Preise für alle in Heimarbeit produzierten Vorprodukte bis unter das Existenzminimum der Bevölkerung. Man saß auf einem sprichwörtlichen Pulverfass. Zunfthandwerker in den Städten gerieten zwischen die Fronten eines sich gegenseitig unterbietenden „Wer-kann-es-billiger-herstellen-Kampfes“ und wurden überrollt von einer ersten Urbanisierungswelle all derer, die Zuflucht und Arbeit in den Städten suchten.
2 Vgl. Reisinger, N.: Die Entwicklung der Dampfmaschine, in: Österreichische Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts (Hrsg.): Zur Ausweitung des Horizonts, Wien, 1999, S. 243.
3 Vgl. Bortis, H.: Die Industrielle Revolution – das Schlüsselereignis in der Wirtschaftsgeschichte, 2011, S. 33, http://www.unifr.ch/withe/assets/files/Bachelor/Wirtschaftsgeschichte/Wige_IndRev1234.pdf , Zugriff am 14.09.2015.
4 Vgl. Borchardt, K.: Grundriß der Wirtschaftsgeschichte, in: Ehrlicher, W. u.a. (Hrsg.): Kompendium der Volkswirtschaftslehre, 5. Aufl., Göttingen 1975, S. 512.
5 Vgl. Deutsches Museum: Dampflokomobil, http://www.deutsches-museum.de/sammlungen/maschinen/kraftmaschinen/dampfkraftmaschinen/dampflokomobile/, Zugriff am 23.11.2015.
6 Vgl. Duthel, H.: Kapitalismus – Ohne jede Bodenhaftung: Kapital, Gewählte und Hofnarren, Norderstedt 2013, S. 200.
Der Einsatz der Dampfmaschine zum Zweck der Erzeugung von Gütern markiert nach heutigem Verständnis den Beginn der Industrialisierung.

1.2  Fabriken unter Strom

Der Einsatz von Elektrizität in den Fabriken markierte die Zweite Industrielle Revolution. Dabei verhalf diese Phase im Zeitraum von 1870 bis 1914 insbesondere der deutschen Chemie- und Elektroindustrie zu volkswirtschaftlichem Gewicht und wahrer Größe. Die Antriebskraft durch Elektrizität anstelle von Dampfkraft zu erzeugen, bedeutete eine weitere Steigerung der Flexibilität in der Anwendung von Kraftmaschinen. Geschichtlich wird diese Innovation allzu gerne dem Amerikaner Thomas Davenport zugesprochen. Tatsächlich wurde der erste brauchbare Elektromotor jedoch von Hermann Jacobi, einem aus Potsdam stammenden Ingenieur, im Jahr 1834 entworfen. Zu dieser Zeit kämpfte Davenport auf einem anderen Kontinent noch mit dem Patentrecht und einem Konzept, das abseits von Miniaturanwendungen leistungsfähig genug war. Dies alles passierte im Schatten der zuvor kennengelernten Dampfmaschine. Vor allem dadurch belächelt, dass der Betrieb von Elektromotoren in diesem frühen Stadium ca. 25-mal so hohe Kosten aufwarf wie die Nutzung der Dampfmaschine. Der Durchbruch gelang schlussendlich mit der Erfindung der Dynamomaschine durch Ernst Werner von Siemens im Jahr 1866.7 Elektrischer Strom ließ sich zwar nicht so leicht wie Kohle und Wasser zur Dampfkrafterzeugung speichern, hatte jedoch entscheidende Vorteile, die auf der Hand lagen. Der Einsatz der Dampfmaschine machte es notwendig, diese in Betriebsbereitschaft zu versetzen und während des Betriebes auch dauerhaft zu befeuern. Der Produzent war also Betreiber der Dampfmaschinen und somit sein eigener Energieerzeuger.
7 Vgl. Joachim Herz Stiftung: Elektromotor von Jacobi, http://www.leifiphysik.de/themenbereiche/kraft-auf-stromleiter-e-motor/geschichte, Zugriff am 10.03.2016.
Mit dem Einsatz von zentral erzeugter elektrischer Energie änderte sich das Bild. Die Verantwortung für die Erzeugung und Bereitstellung der Energie ging auf den Energieerzeuger über. Heutzutage würden wir sagen, der Teilbereich wurde „outgesourced“. Dabei war der Abruf dieser Energie für den Produzenten jederzeit möglich und erfolgte durch einfaches Umlegen eines Schalters. Keine Investition in eine Dampfmaschine, kein nennenswerter Flächenbedarf, um diese aufzustellen, keine Mitarbeiter zur Energieerzeugung, keine Beschaffung und Bevorratung von Brennmaterial – elektrische Energie war nicht nur bequemer, sondern seit Ernst Werner von Siemens auch wirtschaftlicher.
Wo einst die Dampfmaschine des Fabrikanten über unzählige Wellen und Riemen ihre Leistung umständlich bis in die letzte Ecke der Fertigung verteilen musste, erlaubte die Erfindung des Elektromotors völlig neue Freiheitsgerade. Mechanische Energie, bereitgestellt durch den Elektromotor, war dezentral dort verfügbar, wo man sie brauchte.
Nicht zu kurz kommen darf dabei die Tatsache, dass es mittels Elektrizität auch möglich war, Nachrichten besonders schnell zu übermitteln. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit war die Geschwindigkeit der Informationsübertragung nicht mehr an die Reisegeschwindigkeit von Menschen oder Tieren gekoppelt, sieht man einmal von zueinander in Sichtweite aufgebauten Signaltürmen oder der Verwendung von Rauchzeichen ab. Der Morseapparat und später das Telefon waren sichtbare Zeichen dieser informationstechnischen Revolution.
Nachrichten konnten schnell über größere Distanzen übertragen werden. Die Umrisse dessen, was wir heute Globalisierung nennen, waren zu erkennen. Die Elektrifizierung bedeutete einen weiteren Schub in der Anwendung von Maschinen in der Produktion und zielte genau wie die Dampfmaschine auf die Erhöhung der Arbeitsproduktivität.

1.3  Wie man Massenmärkte schafft und diese effizient bedient: das System Ford

Betrachtet man den angloamerikanischen Raum, so wurde diese Phase maßgeblich durch das von Henry Ford (1863 bis 1947) im Jahr 1908 für die Produktion des „Model T“ entwickelte Ford Produktionssystem geprägt. Henry Ford hatte eine Vision: das Automobil als Massenprodukt. Man muss sich vorstellen, dass zu jener Zeit unzählige Fahrzeugmanufakturen existierten, die in einer Mischung aus Handwerksbetrieb und Entwicklungsbüro einer zahlungskräftigen Kundschaft nur zu gerne exklusive, also ausschließlich auf Kundenwunsch gefertigte Produkte auslieferten. Dies wollte Ford ändern. Er wollte aus dem elitären Produkt „Auto“ ein Massenprodukt machen, das erschwinglich war – wenn auch wenig individualisiert. Die notwendige Rezeptur für Fords Traum eines Volksautos war dabei nicht neu. Tatsächlich neu und revolutionär war hingegen sein Weg von der Theorie in die Praxis. Lassen Sie uns genauer hinschauen, was eben diesen auszeichnete.
Grundlegend nutzte Ford vier Elemente, die erst in ihrem Zusammenspiel seinen späteren Erfolg beschreiben können:
Skaleneffekte – ein Begriff aus der damals neuen Erkenntniswelt mit dem Namen „Betriebswirtschaft“ – ermöglichten Ford sinkende Durchschnittskosten. Dieser Effekt ist auch unter dem Namen Fixkostendegression bekannt und meint, dass der Anteil der fixen Kosten – wie z.B. der Entwicklungskosten oder der Rüstkosten – pro produzierter Einheit bei höherer Stückzahl sinkt. Anstatt jedes Jahr ein neues Auto zu entwickeln, baute Ford über 17 Jahre hinweg im Grunde ein und dasselbe Model T. Anstatt dem Markt einen bunten Strauß an Varianten anzubieten, hat er sich auf eine einzige beschränkt. In der Folge waren die fixen Kosten für Entwicklung und Einrichten der Anlagen, die anteilig von jedem Auto getragen werden mussten, marginal. Ford erzielte somit Kostenvorteile, die er an den Markt weiterreichen konnte.
Auch die Arbeitsteilung war ein wesentlicher Schlüssel zu Fords Erfolg. Er folgte damit der Lehre der wissenschaftlichen Betriebsführung des US-amerikanischen Ingenieurs Frederic Winslow Taylor (1856 bis 1915). Drei Jahre nachdem Ford mit der Produktion seines Model T startete, veröffentlichte Taylor sein Buch „The Principles of Scientific Management“, z. Dt. „Die Prinzipien der wissenschaftlichen Betriebsführung“, dessen Methoden Ford auf seinen Produktionsprozess anwendete. Ähnlich wie bei der Erfindung des Elektromotors scheint es, als wäre es der eine Amerikaner Taylor gewesen, der dem anderen Amerikaner Ford mit in Gänze neuen Ideen auf den Weg der Erleuchtung führte. Dem war aber nicht so.
Die Blaupause für Taylors Ideen stammte aus einer früheren Zeit. Tatsächlich sollten wir beim Thema Arbeitsteilung und Spezialisierung auf einen schottischen Nationalökonom und aufmerksamen Beobachter zu sprechen kommen, auf Adam Smith (1723 bis 1790). Selbst vor Smith war Arbeitsteilung keineswegs ein Novum – um es vorweg zu nehmen. Ob in der Steinzeit und der Arbeitsteilung zwischen Jägern und Sammlern, der Herstellung von Sakralbauten bei den Maya, Ägyptern, oder aber im alten Griechenland bis hin zum Schiffbau in der Handelsmacht Venedig: Arbeitsteilung und Spezialisierung war immer schon ein Thema. Nur das, was man im Augenblick der Betrachtung mit ihr sinnvolles anstellen konnte, war unterschiedlich. Auch Smith erkannte, dass Arbeitsteilung augenscheinlich die ideale Lösung für die Bewältigung bestimmter Aufgaben war. Die wohl am häufigsten zitierte Erkenntnis erlangte Smith, als er eine kleine Stecknadelmanufaktur mit zehn Mitarbeitern besuchte. Um eine solche Stecknadel herzustellen, sind dabei etwa 18 verschiedene Arbeitsgänge notwendig. Dabei zieht der eine Arbeiter den Draht, der andere streckt ihn, ein dritter schneidet ihn, ein vierter spitzt ihn zu, ein fünfter schleift das obere Ende, damit der Kopf aufgesetzt werden kann, und so weiter. Führt ein einzelner Arbeiter alle Arbeitsgänge allein aus, hätte er nicht einmal 20 Stecknadeln pro Tag fertigen können. Teilte man die Arbeitsgänge jedoch auf, waren zehn Arbeiter imstande, täglich etwa 48000 Nadeln herzustellen, jeder also ungefähr 4800 Stück.8
8  Smith, A.: “The Wealth of Nations“– Dt. Übersetzung „Der Wohlstand der Nation“, DTV, 10. Aufl. München 2003, S. 9 f.
Taylor griff, und das muss man ihm zusprechen, diese Erkenntnis in seinem Werk auf und formulierte aus ihr Schlussfolgerungen, die Ford anwendete. Dabei war Taylor der Auffassung, dass u.a. eine Zergliederung der Arbeit – so feingranular wie eben nötig und möglich – dazu führt, die Produktivität steigern zu können. Ford gestaltete die Fertigung derart, dass ein jeder Mitarbeiter nur einen absolut limitierten Aufgabenbereich zugewiesen bekam. Mit Scheuklappen ausgestattet fokussierten sich die Mitarbeiter auf einen genau definierten Arbeitsschritt ohne großen intellektuellen Anspruch. Begleitet von Lernkurveneffekten war der einzelne Mitarbeiter dazu in der Lage, bspw. das Lenkrad in kürzester Zeit zu montieren. Aber eben nur das Lenkrad. Dies war in höchstem Maße produktivitätssteigernd und ließ Ford weitere erhebliche Kostenvorteile heben.
Andererseits ist diese Form der physischen wie auch psychischen Monotonie der Ausgangspunkt für eine bis heute anhaltende Diskussion über die menschengerechte Gestaltung, die Humanisierung der Arbeit. Im weiteren Verlauf dieses Buchs werden wir erkennen, dass bei allen Szenarien, in denen Technik den Menschen ablösen könnte, sog. Automatisierungslücken entstehen werden. Diese Lücken werden durch Menschen gefüllt, für die dann entweder die ganz komplizierten oder ganz einfachen Tätigkeiten übrig bleiben.
Aber dazu später mehr und zurück zu Ford: Dieser erkannte zudem, dass die von Taylor aufgezeigte Form der Produktionsprozessoptimierung nur dann funktioniert, wenn die Arbeitsinhalte ausgetaktet sind. Das Gesamtsystem beruht auf stabilen, formalisierten Prozessen des „one best way“, bei denen man sich darauf verlassen kann, dass eine Montagezeit für das Lenkrad von bspw. einer Minute verlässlich eingehalten wird, und nicht nur im Prinzip, im Mittel, oder aber wenn die Bedingungen gut sind. Der Engpass bestimmt den Gesamtdurchsatz. Jede zeitliche Abweichung würde unweigerlich zu einer Prozessstörung und folglich zu einem Stillstand der Linie führen. Aus diesem Grund ist auch eine hohe Qualität der Zulieferteile und Vorprodukte unverzichtbar.
Dabei sind die Spezifikationen eng und müssen unbedingt eingehalten werden. Konnten Lieferanten damals nicht die geforderte Qualität mit Bezug auf Toleranzen und Passgenauigkeit bereitstellen, setzte Ford zunehmend mehr auf eine Eigenfertigung dieser Vorprodukte. Die Lehre von Ford – erst Organisation, dann Automation – gilt bis heute hin. Die Folgen des Ignorierens dieser Lehre sind schmerzhaft, weil teuer. Eben diese Erfahrung mussten jedoch später viele Unternehmen machen, die einseitig auf Automation (Dritte Industrielle Revolution) bauten und künftig auf webbasierte Anwendungen ohne die notwendigen organisatorischen Strukturen setzten (Vierte Industrielle Revolution). Die Mühlsteine mangelnder organisatorischer Strukturen hängen auch heute noch in vielen Fabriken ertragsmindernd um den Hals des Produzenten.
Massenproduktion mittels der einsetzenden Skaleneffekte war also in der Lage, die Herstellkosten und die benötigte Produktionszeit für ein Produkt zu reduzieren. Konnte man das noch steigern?
Ja, man konnte: durch Automation. An letzter Stelle zum Ford Produktionssystem fehlte ein entscheidender Punkt, den er ebenfalls Taylors Prinzipien entnehmen konnte. Neben standardisierten Prozessen und einem hohen Maß an Prozesssicherheit durch Formulierung von Qualitätsvorgaben sowie deren strikter Einhaltung forderte Taylor zur exakten Fixierung des Leistungsortes und Leistungszeitpunktes auf.9 Doch wie konnte man den Mitarbeiter an einem Ort fixiert wissen, musste er doch die Bauteile heranschaffen und zum Automobil bringen, in das diese eingebaut werden sollten? Eine technische Einrichtung musste die Raum- und Zeitüberbrückung derart realisieren, dass die einzelnen Komponenten – ebenso wie das sukzessiv-wachsende Automobil – von einem Leistungsort zum nächsten transportiert wurden. Dies war die Stunde des Fließbandes.
9 Vgl. Franke, S.: Gemeinsam erfolgreich, in: Krügl, S./ Murschall, D./ Richter, D.M. (Hrsg.): HR Innovation: Gemeinsam Unternehmenskultur umdenken, Regensburg 2014, S. 98.
Dabei hat Ford das Fließband gar nicht erfunden. Noch vor seinem Produktionssystem wurde auf einem Schlachthof in Cincinnati im US-Bundesstaat Ohio im Jahr 1870 ein automatisches Fließband industriell eingesetzt und dessen Potenzial für die Arbeitsteilung und Massenfertigung erkannt. Fünf Jahre nach dem Fertigungsbeginn des Model T implementierte Ford diese Technologie. Durch das Zusammenspiel vorhandener Errungenschaften – und nun gekrönt durch das Fließband – war es ihm möglich, die Produktionszeit für ein Automobil von zwölf Stunden auf 93 Minuten zu verringern10 und über dies den einstigen Preis vom 800 US-Dollar auf 300 US-Dollar zu senken.11
10 Vgl. Nickel, W.: Autos am laufenden Band, http://www.zeit.de/auto/2013-04/ford-fliessband-massenproduktion, Zugriff am 12.03.2016.
11 Vgl. Bender, S.: Vom Underdog zum Selfmademan, Die Biografie von Henry Ford, http://www.henry-ford.net/deutsch/biografie.html, Zugriff am 02.10.2015.
Man möchte meinen, damit wären die revolutionären Punkte abgehandelt, die man über Ford erzählen kann. Dieser dachte jedoch den entscheidenden Punkt weiter. Neben diesen notwendigen Bedingungen sorgte er dafür, dass auch eine hinreichende Bedingung erfüllt war: die Schaffung eines Marktes.
Dies war für Ford kein diffuser Gedanke oder gar ein Bauchgefühl. Ford wusste sehr konkret, wie die Welt um ihn herum funktionierte. So sagte er einst: „Die Menschen, welche den Großteil der Waren verbrauchen, sind diejenigen [sic!] die diese Waren herstellen. Diese Tatsache sollte nicht vergessen werden. – Sie ist das Geheimnis unseres Wohlstandes.“12 Ford erkannte, dass es für das Vorhandensein eines Marktes zweierlei Dinge bedarf: Angebot und Nachfrage. Die Hürde auf der Angebotsseite hatte Ford bereits erfolgreich gemeistert. Nachfrage nach einem eigenen Automobil konnte jedoch nur dann entstehen, wenn die Menschen entsprechend ihrer Bedürfnishierarchisierung alle Grundbedürfnisse befriedigt wussten und – darüber hinaus – verfügbares Einkommen für ein Automobil hatten. Zudem mussten sie ausreichend Zeit haben, um dieses Geld ausgeben zu können. Eine 6-Tage-Woche mit einer täglichen Arbeitszeit von neun Stunden und geringe Löhne waren hierfür wohl kaum die ideale Grundvoraussetzung.
12 Bender, S.: Zitate und Weisheiten von Henry Ford, http://www.henry-ford.net/deutsch/zitate.html, Zugriff am 22.03.2016.
Daher galt es, die eigenen Mitarbeiter mit der notwendigen Kaufkraft auszustatten und das Arbeitspensum zu reduzieren. Die Idee, dass monetäre Anreize überdies Einfluss auf die Leistungsbereitschaft haben, konnte Ford ebenfalls Taylors Ansatz der wissenschaftlichen Betriebsführung entnehmen. Anstatt die enormen Einsparungen durch Fixkostendegression, Arbeitsteilung und Automation abzuschöpfen, erhöhte Ford die Löhne seiner Mitarbeiter drastisch, was zum damals höchsten Stundenlohn in der Automobilbranche führte: 5 US-Dollar pro Tag.13
13 Vgl. Bender, S.: Vom Underdog zum Selfmademan, Die Biografie von Henry Ford, a.a.O.
Machen wir uns deutlich, über was wir hier gerade sprechen: Ein fleißiger Mitarbeiter von Henry Ford war in der Lage, sich nach theoretisch 60 Arbeitstagen ein Auto für 300 US-Dollar der Ford Motor Company zu kaufen. Freilich unterstellt dies fehlende Ausgaben wie Lebenshaltungskosten. Aber selbst mit diesen in unserem Rechenkalkül können wir mit Fug und Recht behaupten, dass sich Fords Mitarbeiter von ihrem Lohn problemlos zwei fabrikneue Autos pro Jahr hätten kaufen können. Utopisch für die heutigen Mitarbeiter am Fließband der großen deutschen OEM.14
14 Original Equipment Manufacturer: Erstausrüster. In diesem Zusammenhang die deutschen Automobilproduzenten.
Ford baute preisgünstige, funktionale Autos. Projizieren wir diese Zahlenwerte auf die Gegenwart, ergibt sich folgende Rechnung: Der Fahrzeugpreis eines heute, im Jahr 2016 erwerbbaren, preisgünstigen wie funktionalen Neuwagens von 18000 Euro müsste ein Fließbandmitarbeiter in 60 Werktagen mit seinem Lohn erwirtschaften können. Dies führt uns unter der Annahme von 252 Arbeitstagen zu einem Jahreseinkommen von rund 123000 Euro brutto, unterstellen wir Steuerklasse 3 und ein Kind. Dieses Lohnniveau gibt uns einen Eindruck dafür, was Ford u.a. – und vor allem bewusst – erreichte.
Er erschuf ein Produkt und stattete gleichzeitig genügend Menschen mit der notwendigen Kaufkraft aus, dieses erwerben zu können. Damit nicht genug. Ford kürzte weiterhin die Arbeitszeiten von der 48-Stunden-Woche auf fünf Tage à acht Stunden.15 In Summe formte er durch seine Interpretation von Arbeitsteilung mithilfe neuer Technologien wie dem Fließband den Automobilmarkt seiner Zeit maßgeblich. Zufriedene Mitarbeiter bei höchstem Lohnniveau, für die das eigene Produkt problemlos erschwinglich war. Dass Henry Ford auf diese Weise die besten Mitarbeiter hatte, war unausweichlich.
15 Vgl. Bender, S.: Vom Underdog zum Selfmademan, Die Biografie von Henry Ford, a.a.O.
Um dies alles richtig zu verstehen, muss man den Hintergrund beleuchten. Die USA waren zu dem Zeitpunkt – noch stärker als heute – ein Einwanderungsland. Viele Menschen – vorzugsweise aus Europa – sind in der Hoffnung auf ein besseres Leben oder aufgrund schierer Verzweiflung dorthin emigriert. Aus Sicht der Industrieunternehmen handelte es sich bei diesen Immigranten um Arbeitskräfte, die zwar hochwillkommen waren, deren fachliche Qualifikation aber völlig unklar war und die der Sprache in der Regel nicht mächtig waren. Gab es da eine bessere Lösung, als Industriearbeit nach dem Taylor‘schen Prinzip zu organisieren? Mit einer Gruppe systemgestaltender, also denkender Menschen – dem Management – und einer Gruppe Ausführender, die nach Vorgaben des Managements arbeiten sollten und deren Beiträge zur Verbesserung von Abläufen nicht gefragt waren – ganz einfach, weil man ihnen keine substanziellen Beiträge zugetraut hat. Das hohe Maß an Standardisierung in Verbindung mit hoher Arbeitsteilung, also geringen Arbeitsinhalten für den Einzelnen, ermöglichte die schnelle Einarbeitung dieser Arbeitskräfte. Wer sich in diesem System bewährte, konnte ja noch immer zum Supervisor und möglicherweise Manager aufsteigen. Dies war in einer auf Wachstum ausgerichteten Organisation wie der von Ford eine durchaus realistische Perspektive. Schnelle Integration in die Arbeitswelt, hohe Löhne und Aufstiegschancen: Mit diesen Zutaten bediente Ford perfekt den Traum jener Menschen von einem besseren Leben in der neuen Welt.
Wer also die Zweite Industrielle Revolution in einem Satz lediglich mit der arbeitsteiligen Massenproduktion durch das Fließband erklärt, verkennt die eigentliche Revolution. Die eigentliche Revolution hat in den Köpfen von Menschen wie jenem von Henry Ford stattgefunden. Ford hat sich den Markt, den er bedienen wollte, selber geschaffen. Dies war das eigentlich Revolutionäre.
Im Grunde können wir bei Ford daher von der ersten geistigen Revolution sprechen. Ausgestattet mit dem Handwerkszeug seiner Zeit erschuf er besagte, völlig neue und wahrlich revolutionäre – aber auch notwendige – unternehmerische Geisteshaltung. Was ein Kontrast zu der heutzutage in Wirtschaftsunternehmen üblichen Lohn- und Preisdrückerei!
Ford hatte sich wissenschaftlicher Erkenntnisse und der bestehenden technischen Möglichkeiten bedient, um seine Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Ihn dabei lediglich auf das Fließband zu reduzieren, hieße ihm nicht gerecht zu werden. Seit Ford ist klar: Automatisierung funktioniert nur auf Basis von Organisation und Standards. Eine Erkenntnis, die bei der Digitalisierung – Dritte Industrielle Revolution – oftmals ignoriert und bei der Vernetzung – Industrie 4.0 – von essenzieller Bedeutung ist. Das Ford Produktionssystem war perfekt im Verkäufermarkt und bei Wachstum vor dem Hintergrund unbegrenzter Ressourcen.
Ford war jedoch nicht allein. Parallel konnten wir eine gleichgerichtete Bewegung in Deutschland beobachten. Diese hatte ihren Ursprung im Jahr 1886 in der Rotebühlstraße 75 B in Stuttgart. Dort eröffnete Robert Bosch seine „Werkstätte für Feinmechanik und Elektrotechnik“, die später zu dem wurde, was uns unter dem Namen „Robert Bosch GmbH“ geläufig ist. In den Anfängen beschäftigte sich Bosch überwiegend mit elektrotechnischen Geräten, wie Telefonanlagen und elektrischen Wasserstandsfernmeldern. Der Durchbruch gelang Bosch mithilfe einer genialen Erfindung einer seiner Mitarbeiter. Dies war Gottlob Honold, ein früherer Lehrling Boschs, der im Jahr 1901 den ersten „Hochspannungszünder mit Zündkerze“ entwickelte.16 Der Erfolg dieser und anderer Innovationen veranlasste Bosch, recht früh nach der Gründung seines Unternehmens den unternehmerischen Weg auf internationale Märkte zu wagen. Von Großbritannien über weitere europäische Länder bis in die USA, wo er im Jahr 1906 seine erste Vertretung, gefolgt von seiner ersten Fabrik errichtete. Bereits kurz nach der Jahrhundertwende erwirtschaftete Bosch in Summe 88 Prozent seines Umsatzes außerhalb von Deutschland.17
16 Vgl. Bosch: Bosch Unternehmensgeschichte, 2011, S. 2, http://www.bosch.com/media/com/bosch_group/history/documents/firmenchronik/Bosch-Geschichte_im_Ueberblick.pdf, Zugriff am 03.12.2015.
17 Vgl. Robert Bosch Stiftung: Der Unternehmer, http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/8618.asp, Zugriff am 03.12.2015.
Viel wichtiger noch als die zu kurz greifende Reduktion Fords oder aber Boschs auf technologische Errungenschaften sowie internationale Erfolge ist eine andere revolutionäre Eigenschaft beider Herren. Bosch setzte ebenso wie Henry Ford in den USA als Sozialreformer hierzulande Standards. Anlässlich des 20. Firmenjubiläums im Jahr 1906 führte er den 8-Stunden-Tag ein. Folgt man Hans-Erhard Lessings Bosch-Biographie, so war dies das erste Unternehmen im damaligen Königreich Württemberg und drittes Unternehmen im ganzen Deutschen Reich mit derartiger Ausgestaltung der Arbeitszeiten. Bosch setzte in Folge den arbeitsfreien Samstagnachmittag um und etablierte weitere Sozialleistungen wie die „Angestellten-Hilfe“, die „Bosch-Hilfe“, die „Bosch-Jugendhilfe“ und die „Robert-Hilfe“ für Kriegswaisen. Relativ schnell bekam Bosch den Beinamen „der rote Bosch“. Kritiker aus den eigenen Reihen betrachteten seine soziale Betätigung als abwegig und geschäftsschädigend. Der Unternehmer war jedoch weder naiv noch leichtgläubig. So sagte er einst: „Ich zahle nicht gute Löhne, weil ich viel Geld habe, sondern ich habe viel Geld, weil ich gute Löhne bezahle“. Er war davon überzeugt, dass wenn er seinen Mitarbeitern ein solches Arbeitsumfeld schaffte, ihm dies schlussendlich zu mehr Erfolg verhilft.18
18 Vgl. Zimmermann, W.: Unternehmer sind Verrückte: Wie Unternehmer Grenzen überwinden und was Manager von ihnen lernen können, 2.Aufl., Wiesbaden 2014, S. 22.
Ein weiterer Punkt war in seinem raschen Unternehmenswachstum zu sehen. Er benötigte eine große Anzahl an Mitarbeitern und stand – anders als im Zuwanderungsland USA – bei der Anwerbung und Mitarbeiterbindung im harten Wettbewerb zu anderen Betrieben im Umland. Bosch hatte im Jahr 1901 45 Mitarbeiter. Im Jahr 1904 waren es schon 283 und vier Jahre später, im Jahr 1908, zählte seine Belegschaft 1103 Personen. 1914 waren es 4726 Mitarbeiter.19 Im Stuttgarter Raum war es kein Geheimnis, dass die Arbeiter „beim Bosch“ mehr verdienen als anderswo. Wie viel genau ermittelte Prof. Dr. Werner Abelshauser, Wirtschaftshistoriker an der Universität Bielefeld. Bosch zahlte damals um 62 Prozent höhere Löhne als die Konkurrenz.20
19 Vgl. Lessing, H.-E.: Robert Bosch, 2. Aufl. Hamburg 2007, S. 102.
20 Vgl. Abelshauser, W.: Wieso Robert Bosch acht Stunden arbeiten ließ, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 28. März 2010, S. 46.
Final war Robert Bosch somit das deutsche Pendant zu Henry Ford, der – ebenfalls mitarbeiterzentriert – Arbeit überdurchschnittlich gut vergütete und Arbeitszeiten reduzierte. Dies geschah, mit im Nachgang wenig Aufmerksamkeit versehen, inmitten technologischer Revolutionen, wie dem Fließband, der Massenproduktion oder einer neuen Form der Zündanlage.
Ford sowie auch Bosch erkannten einen wesentlichen Unterschied gegenüber den Unternehmern der Ersten Industriellen Revolution. Mitarbeiter waren gleichermaßen Kunden. So befähigten sie jene Mitarbeiter auf Basis der notwendigen Freizeit, realisiert durch die 40-Stunden-Woche, sowie durch eine attraktive Bezahlung, aktiv am Wirtschaftsleben teilhaben zu können. Dabei möchten wir beiden Unternehmern keinen unreflektierten Altruismus zusprechen. Dies würde sich schon allein durch das oben genannte Zitat von Bosch verbieten, bei dem er sich dazu äußert, warum er hohe Löhne zahlt. Vielmehr bestand für sie die Möglichkeit, durch enorme Produktivitätssteigerungen günstige Massenprodukte zu fertigen. Wer aber ist in der Lage, sich diese Produkte zu kaufen? Menschen, die wöchentlich mehr als 50 Stunden harter körperlicher Arbeit nachgehen und zudem eine Entlohnung am Existenzminimum erhalten, wie im Falle der schlesischen Weber aus dem Jahr 1844? Ford und Bosch müssen eben dieses Missverhältnis erkannt haben.
Folglich – und das ist das Resultat ihres Handelns – leiteten sie zwei Dinge ab: zunächst, wie bereits erläutert, was arbeitsteilige Massenproduktion im Kontext ihrer Zeit und für ihr Geschäftsmodell bedeutete. Weiterhin: einen Perspektivenwechsel, vom einst rücksichtslos ausgebeuteten Arbeiter zum geschätzten, weil benötigten Mitarbeiter und Konsumenten industriell hergestellter Massenwaren.

1.4  Vielfältige Kundenwünsche schnell und effizient erfüllen: das Toyota Produktionssystem

Nachdem wir nun Ford und Bosch kennengelernt haben, führt uns die Reise an das andere Ende der Welt. Hier passierten – nahezu zeitgleich – Dinge, die erst viele Jahrzehnte später die Produktion revolutionieren sollten. Zu verdanken haben wir dies dem Sohn eines japanischen Zimmermanns, der auch als der „König der japanischen Erfinder“ oder aber ganz simpel als Sakichi Toyoda bekannt geworden ist.
In vorangegangener Erläuterung der Ersten Industriellen Revolution haben wir über den mechanischen Webstuhl gesprochen. An diesem Punkt knüpfte Toyoda im Jahr 1924 mit dem automatisch stoppenden Webstuhl nicht nur sinnbildlich an. Dieser stoppte bei einer Abweichung vom Normalprinzip, z.B. wenn ein Faden zerriss, automatisch. Ein Prinzip, das wir künftig aus dem Toyota Produktionssystems (TPS) als Jidoka-Prinzip kennen lernen sollten. Fünf Jahre nach der Erfindung des automatisch stoppenden Webstuhls verkaufte Toyodas Sohn, Kiichiro Toyoda, im Auftrag seines Vaters die Patentrechte an die englischen Brüder Platt zum Preis von 100000 englischen Pfund. Dieses Geld diente als Startkapital für die 1930 gegründete Toyota Motor Corporation.21
21 Vgl. Liker, J.K.: Der Toyota Weg, 9. Aufl., München 2014, S. 43.
Lassen Sie uns genauer betrachten, welch revolutionäre Geisteshaltung sich in Japan bei Toyoda entwickelte. Es war eine weitere geistige Revolution. Im Jahr 1854 nahm im Auftrag des Präsidenten der Vereinigten Staaten ein amerikanischer Flottenverband Kurs auf Japan, um die dortige Regierung aufzufordern, ihre mehr als zwei Jahrhunderte dauernde Abschottung aufzugeben und offenen Handel zu betreiben. In den hieraus folgenden Wirren in Japan konnte sich die Gruppe durchsetzen, die für eine Öffnung kämpfte. Die Folgen für Japan waren weitreichend. Innerhalb weniger Jahrzehnte machte das Land eine rasante Entwicklung – von einem isolierten Agrarland mit feudalistischen Strukturen hin zu einem modernen Industriestaat. Dies geschah auf eine für Japan typische Art und Weise: fokussiert, schnell und beharrlich – ohne dabei mit den Traditionen zu brechen. Denn das System gegenseitiger Loyalität zwischen Bauer und Lehnsherr, sprich: dem Samurai, blieb bestehen. Nur dass – in grober Vereinfachung – aus dem Bauern der Fabrikarbeiter und aus dem Samurai der Unternehmer wurde.