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Erster Teil

1.

Eine Wohnung, in der man selbst nicht gelebt hat, aufzulösen, ist schon eine ziemliche Herausforderung, die Wohnung eines Messies auszuräumen, ein Albtraum, dachte Lilly Haas, während sie auf dem Boden der Zweizimmerwohnung hockte und ihren Blick verzweifelt umherschweifen ließ. Nicht dass Mutter wirklich ein Messie gewesen wäre, fügte sie in Gedanken beinahe entschuldigend hinzu, aber verglichen mit ihrem eigenen Ordnungssinn … Bella, wie Lilly ihre Mutter Isabell genannt hatte, pflegte es als »kreatives Chaos« zu bezeichnen, wenn sich in ihrem Wohnzimmer esoterische Lektüre, selbst gemalte Bilder, in der einen Ecke CDs und in der anderen die dazugehörigen leeren Hüllen stapelten. Sie hatte überdies alles gesammelt, was sich bei ihren Flohmarkt-Streifzügen finden ließ. Ob Engelfiguren, Gläser, Kristallleuchter, Jugendstillampen, Omas Geschirr, ja sogar Marmoreier umfassten ihre Sammelleidenschaft. Nicht nur in Regalen, Vitrinen und auf Schränken hortete sie den Nippes, nein, auch in den Schubladen. Und dann gab es noch ihr Atelier. Dort standen die nicht verkauften Statuen in Reih und Glied. Bella war Bildhauerin gewesen und hatte vorwiegend nackte Figuren geformt, am liebsten Männer mit perfekt proportionierten Phalli.

In das Atelier hatte Lilly allerdings bislang nur einen flüchtigen Blick geworfen. Der Gedanke, sie müsste auch das noch besenrein übergeben, trieb ihr Schweißperlen auf die Stirn. Sie hatte keinen Schimmer, wo und wie sie diese schweren Jungs, wie Bella ihre Kerle aus Stein bezeichnet hatte, entsorgen konnte. Doch das interessierte den Vermieter herzlich wenig. Er verlangte, dass sie bis Sonntag die Wohnung zu räumen hatte, wenn sie nicht drei weitere Monate Miete zahlen wollte.

Bei diesem Stress kam sie gar nicht richtig zum Trauern. Ihre Mutter war in dem rasanten Tempo gestorben, in dem sie gelebt hatte. Lilly wusste ja nicht einmal genau, an welchem Krebs sie gelitten hatte. Irgendwas mit Knochen hatte Bella ihr auf ihre vehemente Nachfrage hin ausweichend mitgeteilt. Ihre Mutter hasste es nämlich, wenn man über Krankheiten sprach. Selbst die Diagnose hatte sie ihrer Tochter verschwiegen, und wenn ihr behandelnder Arzt nicht Lillys Kunde in der Bank gewesen wäre … sie hätte wahrscheinlich erst nach Bellas Tod von deren Krankheit erfahren.

Es war eine absurde Situation gewesen, in der Lilly vom Zustand ihrer Mutter Kenntnis erlangt hatte. Während sie mit dem Hausarzt ihrer Mutter über seinen Kreditantrag gesprochen hatte, hatte Doktor Klemens plötzlich innegehalten und bewundernd gesagt: »Sie sind wirklich tapfer, aber kein Wunder, bei dem Vorbild.« Lilly musste ihn wohl ziemlich irritiert angesehen haben, denn er hatte rasch hinzugefügt: »Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten, aber ich bewundere die Haltung Ihrer Mutter. Ich habe selten jemanden erlebt, der mit so einer niederschmetternden Diagnose derart gefasst umgeht.«

Lilly hatte es viel Selbstbeherrschung abverlangt, zu verbergen, wie sehr seine Worte sie geschockt hatten. Sie konnte ihm ja schlecht offenbaren, dass sie völlig ahnungslos war und sich nicht einmal darüber gewundert hatte, dass ihre Mutter seit Wochen keine Zeit für sie hatte, denn das kannte sie schon von ihr. Wenn Bella einen bezahlten Auftrag oder eine neue Liebe hatte, bekam Lilly sie manchmal monatelang nicht zu Gesicht, obwohl die beiden nicht einmal fünfzehn Minuten voneinander entfernt lebten, und das war für eine Stadt wie Hamburg nicht gerade weit.

»Ja, sie ist großartig«, hatte Lilly gemurmelt, bevor sie dem Arzt in sachlichem Ton den Zinssatz erläutert hatte. Natürlich war sie noch an demselben Abend ohne Ankündigung bei Bella aufgekreuzt und hatte sie zur Rede gestellt. Allerdings konnte sie ihr nicht wirklich böse sein, denn ihre Mutter befand sich bereits in einem erbarmungswürdigen Zustand. Sie hatte binnen vier Wochen so viel an Gewicht verloren, dass sie nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Der Tod hatte bereits im Zimmer auf der Lauer gelegen. Lilly hatte ihr das Herz nicht unnötig mit ihren Vorwürfen schwer machen wollen, denn sie glaubte ihr von Herzen, als sie behauptete, das aus Rücksicht auf ihre Tochter getan zu haben und nicht, um sie zu ärgern. Wie sollte Bella in dieser traurigen Lage verstehen, was sie vorher schon nicht begriffen hatte? Dass Lilly und sie wie Feuer und Wasser waren. Dass Lilly solche »Überraschungen« hasste und dass sie stets ihre Zeit brauchte, um sich auf Veränderungen einzustellen. Größere charakterliche Gegensätze als uns beide konnte es kaum geben, dachte Lilly und stieß einen tiefen Seufzer aus. Ja, Bella war immer schon spontan, kreativ und sprunghaft gewesen. Eine ihrer Künstlerfreundinnen hatte einmal gesagt, sie wäre ein Mensch, der das Leben aus Eimern saufen würde. Besser hätte man nach Lillys Meinung ihr Wesen gar nicht beschreiben können. Dagegen war sie eine Frau, die stets mit einem Fuß auf der Bremse stand. Sie hatte sich jedenfalls schwer vorstellen können, dass ihre Mutter, dieses Energiebündel, einmal für immer schweigen würde.

Lilly hatte sich sofort ihren Resturlaub genommen und Bella bis zum letzten Atemzug betreut. Zum Schluss hatte ihre Mutter nicht mehr richtig sprechen können. Eine Tragödie, denn Lilly wurde den Eindruck nicht los, dass Bella ihr unbedingt noch etwas hatte sagen wollen. Sie hatte in ihren letzten Stunden mehrfach wild mit den Armen gestikuliert, bevor das Morphium sie schachmatt gesetzt hatte. Bella war nie wieder aufgewacht.

Lilly spürte, wie ihr bei der Erinnerung an Bellas zuletzt knochiges Gesicht die Augen feucht wurden. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Bislang hatte sie unter einer Art Schock gestanden und sich mit dem Ausräumen der Wohnung betäubt. In diesem Augenblick empfand sie zum ersten Mal den schmerzhaften Verlust in aller Härte. Vielleicht begriff sie erst jetzt, dass sie nie wieder Bellas ansteckendes Lachen hören, mit ihr nie mehr ein Glas Wein zu viel trinken und nie mehr nächtelang mit ihr über ihren obligatorischen Liebeskummer reden würde.

Ihr Blick fiel auf ein Foto, das Bella in einem knallroten Wallegewand zeigte, mit einem dazu passenden Hut, den sie auf ihre blonde Lockenpracht gestülpt hatte.

Mit einem Mal kam sie sich sehr verloren ohne sie vor. In gewisser Weise hatte sie ihr Leben komplett bestimmt, obgleich Bella der größte Freigeist war, den Lilly jemals kennengelernt hatte. Aber ihre Männergeschichten, ihr Hang zum feuchtfröhlichen Feiern, ihre Kreativität und notorische Geldnot hatten ihre Tochter geprägt. In ihrer Kindheit und Jugend waren kleine Katastrophen stets an der Tagesordnung gewesen. Lilly hatte manches davon unendlich peinlich gefunden. Nein, es war beileibe nicht schön gewesen, als Kind dem Gerichtsvollzieher die Tür zu öffnen. Oder der Polizei, wenn die Nachbarn sie nachts wegen ruhestörenden Lärms gerufen hatten.

Wahrscheinlich war sie deshalb das genaue Gegenteil von ihrer Mutter geworden. Lilly war ordentlich, bei ihr musste alles penibel geplant sein und sie wäre im Traum nicht darauf gekommen, ihr künstlerisches Talent freiberuflich zu nutzen, gern aber als Kunstlehrerin. Das war ihr eigentlicher Berufswunsch gewesen. Doch als sie ihr Abitur gemacht hatte, war gerade einmal wieder völlige Ebbe in der Kasse ihrer Mutter gewesen. Geld für ihre Ausbildung hatte Bella keines zurückgelegt. Und als sie Bafög beantragen wollte, redete ihre Mutter ihr den Antrag aus mit dem Argument, dazu würde sie zu viel verdienen. Während Lilly noch versuchte, zu einer vernünftigen Entscheidung zu gelangen, ob sie trotzdem studieren sollte, fing ihre beste Freundin Merle eine Banklehre an. Sie hatte ein leichtes Spiel, Lilly in dieser Lage zu überreden, es ihr gleichzutun. Da ihr Notendurchschnitt hervorragend war, wurde sie sofort genommen. Eine Entscheidung, die sie insgeheim bald bereute, denn damit hatte sie ihre künstlerische Ader quasi begraben. Außer dass sie die Bilder aussuchen durfte, die ihre Filiale schmückten, gab es in der Sparkasse, in der sie arbeitete, keinerlei Bedarf, ihr Talent als Malerin zu fördern. Anfangs hatte sie sich damit mehr schlecht als recht abgefunden und sah ihr geordnetes Leben als wohltuendes Kontrastprogramm zu dem Chaos, in dem sie aufgewachsen war. Die Unzufriedenheit war dann mit den Jahren gewachsen. Sie hatte zunehmend das Gefühl gehabt, es würde ihr etwas im Leben fehlen, einmal abgesehen davon, dass sie in einer halbgaren Beziehung lebte, denn ihr Freund Alex konnte sich nicht einmal zu einer gemeinsamen Wohnung durchringen. Nach drei Jahren hätte sie sich durchaus ein bisschen mehr Verbindlichkeit gewünscht.

Ja, sie begehrte innerlich gegen den Trott auf, in dem alles nach einem Schema F ablief. Lilly hatte sich in den letzten Monaten regelrecht in dieses Gefühl hineingesteigert, dass sie am Leben vorbei existierte. Natürlich hatte sie auch Bella von ihren Anwandlungen berichtet. Für ihre Mutter war das Wasser auf ihre Mühlen, gab es in ihren Augen nichts Langweiligeres, als in einer Bank zu arbeiten. Und nichts Öderes, als mit einem Banker wie Alexander Lehmann zusammen zu sein. So extrem konnte Lilly das zwar nicht bestätigen, aber es fühlte sich irgendwann einfach nicht mehr richtig an. Doch sie war nicht der Typ, der alles hinwarf, um ins Ungewisse zu starten. Dennoch verspürte sie in regelmäßigen Abständen eine unbändige Lust, ins Ausland zu gehen, und zwar nach Italien. Das war schon seit der Kindheit ein Sehnsuchtsland für sie gewesen, aber so locker Bella in vielen Dingen war, in ihrer Abneigung gegen alles Italienische war sie regelrecht stur gewesen. Das verstanden weder ihre Freunde noch Lilly, weil la Dolce Vita, der italienische Lebensstil, sehr gut zu Bellas Temperament gepasst hätte. Bella aber behauptete steif und fest, dass Lillys Erzeuger ihr das Land vermiest hätte. Viel wusste Lilly nicht über ihn, nur dass er lediglich ein One-Night-Stand gewesen wäre, der nicht wusste, dass er Bella damals geschwängert hätte. Bella behauptete sogar, sie könne sich nicht einmal mehr an seinen Vornamen erinnern. Obwohl Bella ansonsten eine offenherzige Person war, bei Fragen zu Lillys Erzeuger wurde sie stets sehr schmallippig. Auch wenn Lilly manchmal provozierend bemerkte, es wäre kein Wunder, dass sie eine Affinität zu Italien besäße, da ihr Vater wohl Italiener wäre, wollte Bella partout nichts davon wissen. Sie hatte sämtliche Wünsche ihrer Tochter, mit ihr in Italien Urlaub zu machen, ignoriert. Sie waren gemeinsam auf Kreta gewesen, auf La Gomera und in Torremolinos, aber um Italien hatte Bella stets einen großen Bogen gemacht. Nur ein einziges Mal in ihrem Leben wäre sie fast wirklich nach Italien gereist, und zwar mit Alexander, wenn er nicht kurzfristig einen Rückzieher gemacht hätte.

Lilly holte seufzend mehrere Kisten aus dem Schrank. Obenauf lag ein Foto. Es zeigte ihre Mutter im Valle Gran Rey auf La Gomera, umgeben von vielen jungen Leuten, die ihre Mutter und sie dort kennengelernt hatten. Alle hatten Bella cool gefunden, auch weil sie ihrer Tochter nie Vorschriften gemacht hatte, wie lange sie nachts feiern durfte. Manchmal hatte sich Lilly insgeheim darüber gewundert, dass ihre Mutter nicht ein wenig strenger war bei den schlechten Erfahrungen, die sie angeblich einst mit Urlaubsbekanntschaften gemacht hatte.

In der Theorie hatte sich Lilly mit Italien so intensiv beschäftigt wie mit keinem anderen Land auf der Welt. Ja, sie hatte sämtliche Bücher über italienische Kultur und Kunstgeschichte regelrecht verschlungen. Sogar einen Sprachkurs im Istituto di Cultura hatte sie erfolgreich absolviert. Sie liebte die Klangmelodie der Sprache und hatte ihr Wissen auch nicht verlernt, weil sie bei ihrem Lieblingsitaliener stets italienisch sprach, obwohl es keinen vom Personal gab, der nicht perfekt Deutsch konnte. Der Wirt Lorenzo nannte sie gern: Mia ragazza italiana affascinante.

Lilly hockte sich nun neben die Kisten auf den Boden und ließ ihren Blick ratlos von einer zur anderen schweifen. Ihre beste Freundin Merle verstand überhaupt nicht, warum sie das Auflösen der Wohnung keinem Entrümpelungsprofi überließ. »Den Typen gibst du den Schlüssel und dann hinterlassen Sie dir die Bude besenrein«, hatte sie ihrer Freundin mitleidslos geraten. Das brachte Lilly nicht übers Herz. Alles, was sie in diesem Raum sah, waren wichtige Bestandteile von Bellas Leben gewesen. Die konnte sie doch nicht einfach lieblos fremden Leuten überlassen und ihnen erlauben, sie notfalls wegzuwerfen. Nein, Lilly wollte selbst entscheiden, was sie als Erinnerung an ihre Mutter behielt. Ihre Möbel und Kleider sollten an ein Sozialkaufhaus gehen, sobald sich Bellas Freundinnen ausgesucht hatten, was sie davon haben wollten. Zum Glück teilten die meisten Bellas Sammelleidenschaft, sodass die vielen Engel und ausgefallenen Gläser mit Sicherheit neue Liebhaberinnen finden würden. Das hoffte Lilly jedenfalls.

Eine Hundeschnauze, die sich vor ihr Gesicht schob, riss Lilly aus ihren Gedanken. Emma schien zu ahnen, dass es ihrem Frauchen nicht gut ging. Ansonsten würde sie nicht versuchen, ihr das Gesicht abzuschlecken. Sie wusste, dass Lilly das nicht mochte.

»Emma, nicht!«, ermahnte sie ihre Retrieverhündin halbherzig, während sie ihr den Kopf kraulte. Emma war ihr eines Tages zugelaufen. Niemals hätte sie sich freiwillig einen Hund in eine Stadtwohnung geholt. Allein der viele Dreck und das Haaren hätten sie mit Sicherheit davon abgehalten. Doch dann starb die alte Dame aus der Parterrewohnung, das Frauchen von der noch jungen Hündin. Lilly war an dem schicksalshaften Tag vor drei Jahren zufällig an der Wohnung vorbeigegangen, gerade als der Mitarbeiter des Tierheims das hübsche Tier mitnehmen wollte. Als der Hund sie sah, flitzte er aus der Wohnung und lief ihr hinterher bis in den vierten Stock. Erst hatte sie Emma in sanftem Ton aufgefordert, zurückzugehen, dann etwas strenger, aber die Hundedame hockte sich schließlich demonstrativ vor ihre Wohnungstür und schmachtete sie einfach an. Wer einmal schutzlos in flehende Hundeaugen gesehen hatte, wusste, man musste schon hartgesotten sein, um bei diesem Anblick nicht butterweich zu werden. Lilly jedenfalls brachte es nicht übers Herz, sich an der Hündin vorbeizudrücken und ihr die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Seufzend war sie alle vier Stockwerke zu der Parterrewohnung zurückgegangen, aber Emma dachte nicht daran, ihr zu folgen. Sie war stur vor Lillys Wohnungstür sitzen geblieben.

Der Mitarbeiter des Tierheims begleitete sie daraufhin samt Halsband und Leine nach oben, doch kaum waren sie auf dem Treppenabsatz aufgetaucht, hatte sich der Hund hinter Lilly versteckt und sich eng an ihre Beine geschmiegt. Das war Lillys Verderben gewesen, zumal der Mitarbeiter dann das Geschehen ganz pragmatisch mit »Ich denke, der Hund hat sich bereits für ein neues Frauchen entschieden« kommentiert hatte. Er hatte ihr das Tier dann ohne bürokratische Umwege überlassen und ihr alles, was dem Hund gehörte – Körbchen, Futter, Spielzeug –, gleich mitgegeben. Der Sohn der alten Dame hatte nämlich den Auftrag erteilt, den Köter, wie er sich wörtlich ausgedrückt hatte, ins Tierheim zu bringen und dort war man heilfroh gewesen, dass der Hund bei Lilly in gute Hände gekommen war. Jedenfalls glaubten sie das, denn Lilly war mit diesem Familienzuwachs anfangs natürlich komplett überfordert gewesen. Nachdem Emma ihre besten Schuhe zernagt und den Inhalt der Mülleimer über ihre ganze Wohnung verteilt hatte, war sie mit ihr zur Hundeschule gegangen. Doch trotz Emmas Zerstörungswut hätte Lilly sie nicht mehr weggeben können. Sie erinnerte noch genau, wie Alex sie mit Engelszungen hatte überreden wollen, das »Vieh«, wie er Emma nannte, ins Heim abzuschieben. Ja, er empfand es geradezu als Frechheit, dass man ihr den Hund aufs Auge gedrückt hatte. Lilly war sich bis heute nicht ganz sicher: Entweder war Alex gegen bettelnde Hundeblicke völlig immun, oder aber Emma hatte ihn nie wirklich so angesehen wie sie.

Der Hund hatte sich nun genüsslich auf die Seite gelegt und ließ sich von Lilly den Bauch kraulen. Alex hatte sich nie wirklich mit ihrem Familienzuwachs angefreundet, aber Emma war ihm ein willkommenes Argument, warum er nun erst recht nicht mit Lilly zusammenziehen konnte. Ihre Freundin Merle fragte sie in regelmäßigen Abständen, was sie an diesem Schnösel bloß fände. Ihre ungefilterte Abneigung gegen ihren Freund beflügelte Lilly allerdings, ihn wie eine Löwenmutter zu verteidigen. Alexander wäre der zuverlässigste Partner, den sie sich vorstellen konnte, sagte sie dann und fügte stereotyp hinzu: »Er hält jede Vereinbarung ein, er ist immer pünktlich und korrekt. Außerdem sieht er wirklich blendend aus.«

Merle reagierte auf diese Lobeshymnen jedes Mal so, dass sie Lillys Worte in spöttischem Ton und mit einem kleinen Zusatz wiederholte. »Ja, ich weiß, er hält jede Vereinbarung ein, ist immer pünktlich und korrekt. Außerdem sieht er wirklich blendend aus. Amen.« Die Tatsache, dass Alexander Lehmann ihrer beider Chef war, hielt Merle nicht davon ab, kräftig über ihn zu lästern. Sie war die Einzige in der Bank, die offiziell von ihrer intimen Beziehung wusste. Auf der Arbeit hielten Lilly und Alex professionellen Abstand zueinander.

Das Klingeln an der Haustür ließ Lilly hochschrecken, Emma fing sofort an zu bellen. Das konnte Lilly ihr einfach nicht abgewöhnen. Mit dem Läuten einer Haustürglocke begann sie zu kläffen. Sie warf einen Blick auf ihre teure Armbanduhr, ein Geschenk Alexanders. Es war achtzehn Uhr an einem Freitagabend. Wer konnte das sein? Wahrscheinlich eine Freundin meiner Mutter, die gerade von einer Reise zurückkehrt und noch gar nichts von Bellas Tod weiß, vermutete sie. Oder eine von Bellas Freundinnen, die sich eines der Kleider aussuchen wollte, obwohl Lilly die Damen erst für morgen eingeladen hatte. Aber bei Bellas Freundinnen zählte so eine feste Vereinbarung nicht viel. Sie kamen und gingen, wie es gerade passte.

Lilly war äußerst überrascht, ihre Freundin Merle vor der Tür zu sehen. »Kommst du zum Helfen?«, fragte sie erstaunt, denn ihre Freundin hatte ihr erst kürzlich versichert, dass sie ihr immer gern helfen würde, aber Bellas Wohnung zu entrümpeln wäre eine Sisyphusarbeit, bei der sie nur unnütz im Weg rumsitzen würde.

»Ich werde jedenfalls versuchen, mich nützlich zu machen.« Sie hielt Lilly lachend eine Rolle mit blauen Müllsäcken entgegen. »Wo soll ich anfangen?«

»Wenn du magst, kannst du die Küchenschränke übernehmen. Alles, was weit über das Haltbarkeitsdatum hinaus ist, kannst du in den Säcken entsorgen. Sie hat doch immer so gern kleine Spezialitäten aus dem Urlaub mitgebracht und dann vergessen, sie zu Hause zu servieren.«

»Oje, ich denke da nur an ihren hochgelobten Retsina, der in Hamburg nur gammelig geschmeckt hat und im Ausguss gelandet ist.«

»Sie fehlt mir!«, seufzte Lilly.

»Und ich erwarte, dass sie gleich um die Ecke kommt und sich kaputtlacht über ihre unsinnigen Mitbringsel aus aller Welt.« Merle umarmte ihre Freundin. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie tot ist.«

Gemeinsam heulten die beiden eine Weile um die Wette.

»Gut, dann mache ich den Küchenjob, aber erst mal ein kleines Päuschen.« Merle holte aus einer mitgebrachten Kühltasche eine Flasche Crémant. »Ich dachte, Gläser brauche ich nicht. Die hat Bella ja gehortet wie die Kerle mit Hackenschuss!«

Sie deutete auf eine der vielen Vitrinen. Wenn Lilly nicht wüsste, wie zugewandt Bella und Merle einander gewesen waren, sie hätte ihre Freundin in die Schranken gewiesen. »So eine Mutter hätte ich gern«, hatte Merle stets verkündet. Obwohl Lilly ihre Schwierigkeiten mit Bella gehabt hatte, konnte sie das gut verstehen. Merles Mutter war nämlich eine der Frauen, die zum Lachen in den Keller gingen. Frau Färber war immerzu am Jammern. Und wenn es bei Lilly zu Hause etwas im Überfluss gegeben hatte, dann feuchtfröhliche Feiern und Gelächter, das durch den halben Stadtteil tönte. Gut, am Morgen danach war selbst Bella so manches Mal ihr Lachen vergangen, wenn sie ein böser Kater gequält und der Lover der vergangenen Nacht klammheimlich entschwunden war.

Lilly schob die Kleidung, die sie auf dem Sofa für die Mitarbeiter des Sozialkaufhauses zurechtgelegt hatte, zur Seite, sodass Merle und sie nebeneinander Platz fanden.

»Auf dich, Bella«, seufzte Merle, als sie einander zuprosteten. Dann kreischte sie plötzlich begeistert auf. »Schau mal, das ist doch eine entzückende Tunika!« Sie zog ein bunt besticktes Teil aus dem Kleiderberg. Eines von jenen folkloristischen Kleidungsstücken, mit denen man Lilly jagen konnte.

»Nimm sie mit«, seufzte sie.

»Willst du denn gar nichts davon?«, fragte Merle, während sie in den Sachen wühlte, als wäre es ein Grabbeltisch. Triumphierend zog sie ein geblümtes Sommerkleid hervor. »Das ist voll in«, stieß sie begeistert hervor.

Das Kleid war schwarz und besaß ein Muster aus großen roten Rosen. Lilly rümpfte die Nase. »Super, das passt zu beige und grau«, bemerkte sie selbstironisch.

»Lilly, jetzt sei doch nicht so. Anziehen!«

Lilly weigerte sich, doch Merle ließ nicht locker. Schließlich zog Lilly das Kleid an, das im Nacken von einem Band gehalten wurde und ein sehr vorteilhaftes Dekolleté zauberte. Sie stand vom Sofa auf und drehte sich einmal um die eigene Achse.

»Traum!«, kreischte Merle. »Traum! Du darfst nie wieder beige hochgeschlossene Teile tragen. Du musst das mal im Spiegel sehen. Was für ein geiler Ausschnitt!«

Ehe sich Lilly versah, hatte Merle sie an der Hand gepackt und vor den Flurspiegel gezerrt. Was Lilly dort erblickte, war in der Tat sehr hübsch, wenngleich auch etwas ungewohnt. Sie kannte das Kleid gar nicht. Bella hatte es niemals getragen, jedenfalls nicht, dass sich Lilly daran erinnern könnte. Es war auch sehr schmal geschnitten, sodass es ihrer Mutter sicher schon lange zu eng geworden war. Warum sie das wohl aufbewahrt hatte? Sie hatte eigentlich alle Kleider, die sie an schlanke Jahre erinnert hatten, weggegeben. Lilly erinnerte das so genau, weil Bella in einer kleinen Zeremonie wehmütig von ihnen Abschied genommen hatte. Unter anderem mit den Worten: Noch eine Diät halte ich nicht durch. Lieber eine glückliche 44er als eine hungernde 40er!

»Du musst mir versprechen, dass du es im Sommer trägst«, sagte Merle.

»Okay, okay, aber jetzt sollten wir mal an die Arbeit gehen. Sonst schaffe ich das nie bis Sonntagabend.«

Lilly war immer noch ein wenig skeptisch, ob ihre Freundin tatsächlich zum Helfen gekommen war. Sie hatte eher den Eindruck, dass noch etwas ganz anderes hinter Merles Überraschungsbesuch steckte.

»Na, was hast du wirklich auf dem Herzen?«, fragte sie geradeheraus.

»Ich, äh, wie kommst du, nein, ist …«, stammelte Merle.

»Raus mit der Sprache! Was es auch immer ist, mich kann nichts mehr schrecken. Nichts kann schlimmer werden als der Albtraum der letzten Tage«, stöhnte Lilly.

Merle wand sich, dann räusperte sie sich ein paar Mal, bevor sie Lilly fragte, ob ihr der Name Christine Mertens etwas sagte.

Lilly stutzte. Wer kannte sie nicht, die Tochter des Vorstandsvorsitzenden? Jedenfalls vom Sehen. Sie war seit Jahren der Hingucker auf den alljährlichen Weihnachtsfeiern und wurde hinter vorgehaltener Hand von den Kolleginnen »Barbie« genannt.

»Klar, und was ist mit ihr?«

Merle stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Lilly, du musst jetzt ganz stark sein. Ich habe Alex und sie zusammen gesehen.«

Lilly zuckte die Schultern. »Das kann gut sein, ich glaube, ihre und seine Eltern kennen sich.«

Aus Merles Blick war unschwer zu erkennen, dass das nicht alles war. »Was hast du denn genau gesehen?«, hakte Lilly unwirsch nach.

»Sie haben sich geküsst …, und zwar nicht auf die Wange, weil sich ihre Eltern kennen«, stöhnte Merle.

Schlagartig wich Lilly das Blut aus dem Kopf in die Beine und sie war froh, dass sie saß. Merle rückte dicht an sie heran und nahm sie erneut in den Arm. »Ich weiß, du willst den Boten töten, aber was wäre ich für eine Freundin, wenn ich es dir verheimlichen würde?«

»Schon gut, und du bist sicher, du hast dich nicht geirrt?«

»Nein, du kannst ihn ja mal fragen, was er gestern Abend gemacht hat. Und ist er heute hier, um dich zu unterstützen?«

Lilly atmete tief durch. »Nein, er meinte, er hätte mir liebend gern geholfen, aber er hätte eine Fortbildung, die über das ganze Wochenende gehen würde … und ich sollte ihn lieber nicht anrufen, weil sie bis in die Nacht hinein arbeiten würden.«

Merle tippte sich an die Stirn. »Und das glaubst du ihm?«

»Jetzt nicht mehr«, entgegnete sie und griff nach ihrem Handy.

»Dann nämlich hätte er einen Doppelgänger, der gestern nach der Vorstellung von La Traviata vor der Oper mit der Tochter vom Boss rumgeknutscht hat«, fügte Merle hinzu.

»Ach, deshalb war er so sicher, dass er befördert wird«, sinnierte Lilly, nachdem das Blut wieder normal durch ihren Körper zirkulierte und sie nicht mehr befürchten musste, in Ohnmacht zu fallen. Energisch tippte sie seine Nummer ein. Wie nicht anders erwartet, war nur seine Mailbox dran. Lilly wiederholte das Ganze noch einmal, wieder vergebens. Beim dritten Versuch hatte sie Erfolg. Alexander Lehmann meldete sich und statt seine Freundin zu begrüßen, fauchte er sie gleich an, warum sie ihn denn mitten in der Fortbildung stören würde.

Lilly atmete ein paar Mal tief durch, weil sie nicht so recht wusste, wie sie auf diese dreiste Lüge reagieren sollte. Da half es auch nichts, dass Merle aufgeregt gestikulierte und Zeichen machte, aus denen unmissverständlich zu lesen war, dass sie ihm die Meinung geigen solle.

Doch das entsprach partout nicht ihrer Art. Sie verabscheute laute Pöbeleien und unkontrollierte Eifersuchtsszenen. Davon hatte sie in ihrer Jugend einige erleben müssen. Bella hatte bei dem geringsten Verdachtsmoment auf einen potenziellen Fremdgang ihrer Männer sämtliche Contenance verloren und ihre Lover lautstark zur Schnecke gemacht. Lilly aber neigte dazu, immer erst alles in Ruhe abzuwägen, bevor sie reagierte. Entsprach der Eindruck, der sich ihr zwangsläufig aufdrängte, wirklich den Tatsachen? Betrog Alex sie tatsächlich mit Christine Mertens? Und wenn, nützte es etwas, ihn deswegen jetzt zur Sau zu machen?

»Tut mir leid, hatte ich vergessen«, murmelte sie und drückte das Gespräch weg.

Merle musterte sie entgeistert. »Das kann doch nicht wahr sein! Glaubst du, dass er ein mieses Arschloch ist, wirklich erst, wenn du die beiden in flagranti erwischst?«

Natürlich nicht!, dachte Lilly. So blöd war sie auch nicht. Nach dem, was Merle ihr da eben offenbart hatte, war sie sich sogar ziemlich sicher, dass ihr Freund sie nach Strich und Faden belogen hatte, aber die Frage war doch: Wie sollte sie damit umgehen, ohne sich lächerlich zu machen?

»Ich muss noch eine Nacht drüber schlafen«, seufzte Lilly.

Merle rollte genervt mit den Augen. »Du schon wieder! Kannst du nicht einfach mal richtig ausrasten wie eine rasend eifersüchtige Furie und dich total unvernünftig verhalten?«

Lilly stieß einen tiefen Seufzer aus. »Möchtest du mir jetzt helfen oder nicht?«, fragte sie und drückte Merle einen blauen Müllsack in die Hand. Ihre Freundin fluchte in sich hinein.

»Der gehört mal richtig rundgemacht, der Arsch!«, war das Letzte, was Lilly hörte, bevor Merle in der Küche verschwand.

2.

Mit einem pelzigen Gefühl auf der Zunge wachte Lilly auf. Die Freundinnen hatten sich zu später Stunde noch über einen Lieferservice indisches Essen und zwei Flaschen Wein besorgt. Danach waren sie in einen komatösen Schlaf auf Bellas Himmelbett gefallen. Immerhin hatten sie eine Menge geschafft. Merle war wie ein Derwisch durch die Küche gefegt und hatte sie bereits fast völlig ausgeräumt.

Lilly spürte etwas Schweres auf ihrer Brust und dachte zunächst, das wäre der Arm ihrer Freundin, aber als sie eine feuchte Hundezunge fühlte, wusste sie, dass Emma die Gunst der Stunde genutzt hatte und in ihr Bett gesprungen war.

»Milchkaffee«, zwitscherte eine muntere Stimme. Merle stand frisch wie ein junger Morgen mit einer von Bellas heiß geliebten französischen Kaffeeschalen vor ihrem Bett.

»Wieso siehst du so gut aus? Hast du den Wein in Bellas Zimmerpalme gegossen, während ich meinen getrunken habe?«, brummte Lilly.

»Nein, ich habe genauso viel gesoffen wie du, aber ich habe mich durch Bellas Naturkosmetik gecremt.«

Lilly setzte sich auf und verpasste Emma einen Schubs, sodass die Hundedame aus dem Bett sprang und das Schlafzimmer beleidigt verließ. Merle reichte Lilly den Kaffee, bevor sie sich auch einen holte und sich damit neben ihre Freundin unter die Decke legte.

»Pass auf! Ich habe mir überlegt, dass ich das Atelier ausräume«, schlug sie vor.

»Viel Vergnügen! Und was hast du mit den schweren Jungs vor?«

»Ich drapiere sie um mein Bett herum und verweise jeden miesen Lover auf die Bestückung der Prachtkerle.«

Lillys Antwort war ein liebevoller Stoß in Merles Seite.

»Nein, die werden von einer Malschule abgeholt. Die Leiterin steht auf Skulpturen deiner Mutter. Ich habe ihr eben am Telefon versprochen, sie kann sie alle bekommen, wenn sie den Transport organisiert.«

»Du bist ein Schatz!«, seufzte Lilly erleichtert.

»Hat er schon reagiert?«, fragte Merle und beugte sich neugierig über ihre Freundin, um einen Blick auf das Handy zu erhaschen.

»Wer auf was?«

»Na, Alexander auf deine Nachricht.«

»Welche, äh …«

»Das weißt du gar nicht mehr? Die war ja für deine Begriffe richtig spontan«, lachte sie.

Hektisch griff Lilly nach dem Telefon und suchte die Nachricht, die sie ihm angeblich geschrieben haben sollte.

Schatzi, habe heute Abend Karten für La Traviata. Freue mich, mit dir in die Oper zu gehen. Küsschen

Lilly war beinahe erleichtert über den harmlosen Text. Sie hatte sich bereits das Schlimmste ausgemalt, da sie davon ausgehen musste, dass Merle ihr im Rausch ihre passenden Worte diktiert hatte.

»Nein, er hat nicht geantwortet«, sagte sie betont cool. »Wie soll er auch, wenn die Tussi neben ihm im Bett liegt?«

»Und nun?«

»Nun plane ich meinen furiosen Abgang«, stöhnte Lilly. »Ich kämpfe noch, ob ich zur Pistole oder dem Messer greife.«

»Haha. Hauptsache, du erteilst ihm eine Lektion, die das arrogante Arschloch nie mehr vergessen wird. Ich habe schon befürchtet, Madame Übervernünftig könnte trotzdem bei ihm bleiben, weil sie sich doch so an ihn gewöhnt hat.«

»Ich bin zwar vernünftig, aber das heißt ja nicht, dass ich doof bin. Natürlich schieße ich ihn in den Wind! Wieso sollte ich ihm das verzeihen?«

»Liebst du ihn?«

Diese Frage kam ziemlich plötzlich, ein bisschen zu plötzlich für Lillys angeschlagenen Zustand. Dabei ahnte sie, worauf Merle hinauswollte: Ob ihre Freundin die üblichen Symptome von Verliebtheit spürte, die Merle in der Liebe so wichtig waren – Herzrasen, Schmetterlinge im Bauch und Wackelknie. Sollte Lilly ihr verraten, dass es sie in ihren dreiunddreißig Lebensjahren noch nie in dieser extremen Form erwischt hatte? Stattdessen leierte sie den Spruch runter, den sie stets von sich gab, wenn ihre Freundin auf die große Liebe zu sprechen kam. »Ich weiß nicht, ob diese Art von Verliebtheit, die du dir so vorstellst, für eine Partnerschaft wirklich notwendig ist. Kommt es nicht vielmehr darauf an, dass ich dem anderen vertrauen und mich auf ihn verlassen kann?«

»Bla, bla, bla. Ich glaube, du hast schlichtweg Angst vor der Liebe!«

Lilly spürte, wie ihr vor Zorn das Blut in die Wangen schoss.

»So ein Unsinn! Denk doch mal an alle deine Männer, in die du unsterblich verliebt warst! Keine dieser Beziehungen hat länger als ein Jahr gehalten, weil diese Kerle gar nicht zu dir gepasst haben. Was haben dir da die Schmetterlinge genützt?«

»Du willst doch bloß anders als Bella sein. Die hat geliebt und gelitten, aber sie hat gelebt.«

Lilly sprang mit einem Satz aus dem Bett. Dabei verschüttete sie vor lauter Wut den restlichen Kaffee über Bellas Lieblingsbettwäsche, dem mauvefarbenen Satin.

»Scheiße!«

»Lilly, warte, ich habe das nicht so gemeint«, rief Merle ihr hinterher, aber Lilly wollte nichts mehr hören und schloss sich im Bad ein. Was sie da im Spiegel sah, war nicht besonders erbaulich. Ihr Haar war völlig zerzaust und unter den Augen hatte sie unübersehbare Ringe, aber die schob sie auf ihr nächtliches Gelage und nicht auf möglichen Liebeskummer. Ist es nicht merkwürdig, dass ich um Alex noch keine Träne vergossen habe?, fragte sie sich. Müsste sie ihn nicht jetzt schon ganz schrecklich vermissen?

Lilly würde gern etwas fühlen, aber sie blieb innerlich völlig unberührt. Außer dass sie der Gedanke verletzte, einfach ausgetauscht zu werden, wollte keine tiefere Verzweiflung aufkommen. Lag es daran, dass sich in ihrer Beziehung seit Längerem ohnehin nichts mehr bewegt hatte, sie nur noch gelegentlichen und sehr routinierten Sex hatten und dass Alex so gar kein Herz für Emma hatte? Oder lag es womöglich daran, dass es zwischen ihnen von Anfang an nicht geprickelt hatte, wie es Bella genannt hatte? Ihre Mutter war nie besonders warm mit Alex geworden, sondern hatte lange Lillys allererstem Freund Ben, einem Musiker, nachgetrauert. Der hatte zwar auf jeder Tournee andere Frauen, aber Bella fand ihn einfach süß. Lilly selbst war der »Süße« etwas zu unzuverlässig gewesen, sodass sie, zugegebenermaßen schweren Herzens, mit ihm Schluss gemacht hatte. Wenn sie jetzt an ihn zurückdachte, musste sie ihre Erinnerung daran, niemals wirklich verliebt gewesen zu sein, etwas relativieren. In Ben war sie doch ziemlich verschossen gewesen und hatte wochenlang unter der Trennung gelitten. Bella, die, sobald sie nur Betrug witterte, bei ihren Lovern zur Furie geworden war, hatte damals die Meinung vertreten, diese Tour-Geschichten hätten doch nichts zu bedeuten. Lilly aber hatte sich seitdem strikt an etwas seriösere Männer gehalten. Jedenfalls Männer, die seriöser wirkten, fügte sie in Gedanken hinzu, denn auch ein geschniegelter Krawattenträger und Endreihenhausbewohner wie Alex konnte sich als äußerst unzuverlässig erweisen, wie sie jetzt am eigenen Leib erleben durfte.

Lilly griff nach einer Bürste und versuchte, ihr Haar zu entwirren. Es ziepte ganz fürchterlich, aber das Ergebnis ließ sich sehen. Von ihrem Kopf stand kein wildes Gestrüpp mehr nach allen Seiten ab, sondern ihr langes blondes Haar sah halbwegs nach einer Frisur aus. Nach dem Duschen bearbeitete sie ihre Augenringe so intensiv mit einem Concealer, dass sie fast wieder normal aussah. Sie wollte gerade wie gewohnt das Haar hochstecken, dann stutzte sie. Mit dem offenen Haar sah sie eigentlich viel jünger aus. Offenes Haar trug sie sonst nie. Das würde sich ab heute ändern! Lilly war gespannt, ob Merle es gleich bemerkte. Ihr tat es inzwischen leid, dass sie die Freundin so angeranzt hatte, aber die wahre Liebe war nun einmal ihr wunder Punkt. Und Merles Spruch, Lilly würde die Liebe fürchten, war ja auch nicht besonders nett gewesen.

Als Lilly aus dem Bad zurückkehrte, war weder etwas von Merle noch von Emma zu sehen oder zu hören. Sie rief nach ihrem Hund, aber er kam nicht wie gewohnt angeflitzt. Daraus schloss sie, dass Merle mit Emma Gassi gegangen war.

Mit einem Blick ins Wohnzimmer stellte sie erleichtert fest, dass sie gestern wirklich noch eine Menge Zeugs weggeschafft hatte. Die meisten Sachen hatte sie für die Leute vom Sozialkaufhaus hingestellt. Und das war viel. Lilly war eben frei von jeglicher Sammlerlust. In der Kiste, die sie mitnehmen wollte, waren bislang nur ihre liebste Engelsfigur, sechs sehr hübsche zusammenpassende Weingläser und eine Jugendstillampe gelandet.

Mit Grauen fiel ihr Blick auf das untere Fach von Bellas Wohnzimmerschrank, in dem sie, wie sie wusste, Hunderte ungeordneter Fotos aufbewahrte. Natürlich hätte sie die Erinnerungen einfach auf Nimmerwiedersehen in einem blauen Müllsack verschwinden lassen und nur das Foto von Bella im roten Wallegewand mitnehmen können, aber das hätte sie doch pietätlos gefunden. Zumindest ein paar Kinderfotos von sich und welche, auf denen sie mit Bella abgebildet war, wollte sie sich aus dem Chaos heraussuchen.

Lustlos zog sie diverse Kisten hervor. Immerhin hatte Bella die Fotos in Behältnisse und nicht einfach in die Schublade gestopft. Lilly überlegte, ob sie sich Kiste für Kiste durch das Leben ihrer Mutter arbeiten sollte, aber als sie gleich aus der ersten ein nagelneues Passfoto von ihr und ein Babyfoto von sich hervorzog, wusste sie, dass sie in den Kisten keine Vorsortierung nach Jahren zu erwarten hatte. Genervt schloss Lilly die Augen, weil ihr ein solches Durcheinander zuwider war. Kurz entschlossen kippte sie den Inhalt der Kisten auf dem Boden aus.

Nach einem Stoßseufzer ließ sie ihren Blick über den Fotoberg schweifen, doch dann griff sie beherzt zu. Bella in jungen Jahren. Eine blonde Schönheit mit wasserblauen Augen. Um diese hellen Augen hatte Lilly ihre Mutter stets beneidet, denn sie selbst besaß braune Augen, die ihrer Ansicht nach so gar nicht zu ihrem hellblonden Haar passten. Mit dieser Meinung stand sie allerdings ziemlich allein. Ob Freundinnen oder Männer, alle hatten sich nahezu entzückt über ihre wunderschönen Augen geäußert. Lilly hatte das irgendwann akzeptiert und sah darin einen Gruß ihres italienischen Vaters, der ja keinen Schimmer hatte, dass im hohen Norden eine Blondine mit seinen Augen herumlief. »Habe ich diese Bernsteinaugen von meinem Vater geerbt?«, hatte sie Bella manchmal gefragt. Wie immer, wenn es sich um ihren Erzeuger gehandelt hatte, war ihre eloquente Mama plötzlich sehr einsilbig geworden. »Möglich. Es ist lange her. Wie soll ich mich denn daran erinnern?« Nur ein einziges Mal hatte Lilly sie gefragt, ob sie vielleicht ein Foto von ihm hätte, denn Bella hatte schon seit jeher versucht, alles mit ihrer Kamera festzuhalten.

»Habe ich nicht!«, hatte sie unwirsch erwidert.

Lilly blickte noch einmal in das ausgeräumte Fach und sie stellte fest, dass sie etwas übersehen hatte. Verdrossen zog sie eine kleine Holzkiste mit Intarsien-Schnitzerei aus der hinteren Ecke hervor.

»Nicht noch mehr Fotos«, stöhnte sie genervt und wollte die Kiste öffnen, um den Inhalt auf den Haufen zu schütten, doch das funktionierte nicht. Lilly stutzte. Wieso hatte ihre Chaotenmutter eine Kiste verschlossen, obwohl sie manchmal selbst ihre Haustür nachts offen ließ, weil sie das Abschließen vergaß? Ein Schatz, dachte sie belustigt, nahm die kleine Holzkiste zur Hand und schüttelte sie, aber darin klapperte nichts, was auf Schmuck oder wertvolle Münzen hindeutete.

In diesem Augenblick flog die Haustür auf, Emma schoss auf sie zu, stoppte inmitten der Fotos und schüttelte sich kräftig. Offenbar waren die beiden an der Elbe gewesen, beziehungsweise der Hund auch in der Elbe. Jetzt waren die oberen Fotos nass und Lillys Lust, sie zu sortieren, schwand noch mehr.

»Willst du Brötchen?«, fragte Merle noch sichtlich verschnupft wegen ihres kleinen Streits am Morgen.

»Schau mal, was ist das?« Lilly hielt der Freundin die verschlossene Kiste hin.

Merle schüttelte den Kasten und zuckte die Achseln. »Eine Schatzkiste?«

»Tja, das habe ich auch zuerst gehofft, aber ich befürchte, da sind auch nur Fotos drin. Sehr ungewöhnlich für meine Mutter. Sie hat nie was abgeschlossen. Wahrscheinlich wird es keinen Schlüssel mehr geben, oder er wird zumindest unauffindbar sein«, seufzte Lilly.

»Ach, was weiß ich«, brummte Merle. »Magst du jetzt ein Brötchen oder nicht?«

»Schon, aber was soll ich mit der Kiste machen?«

Merle verdrehte die Augen, verschwand in der Küche und kehrte mit einem Messer in der Hand zurück.

Lilly verstand nicht sofort, was das sollte, doch als Merle sich die Kiste griff und mit dem Messer am Schloss herumstocherte, war ihr klar, was sie vorhatte.

»Danke und lass uns uns wieder vertragen«, schlug Lilly vor, als Merle ihr die geöffnete Kiste reichte.

»Tut mir leid«, entgegnete Merle. »Aber ich rege mich nun mal höllisch auf, wenn du die Liebe immer nur auf Verstandesebene abhandelst.«

Lilly antwortete nicht, sondern hob den Deckel der Kiste hoch. Wie erwartet befanden sich lediglich Fotos darin.

Lustlos nahm sie eines zur Hand. Es zeigte Bella offenbar mit einer Freundin auf einem Boot. Leider konnte man ihre Gesichter nicht wirklich erkennen, weil das Bild verwackelt war. Auf den weiteren Fotos war Bella nicht mehr mit ihrer Freundin abgebildet, sondern mit einem gut aussehenden jungen Mann. Er hatte dunkle Locken, ein kantiges Gesicht mit einem ausgeprägten Kinn und einer sehr großen Nase, und er war leicht gebräunt. Lilly brauchte nicht viel Fantasie, um zu schließen, dass es sich um einen Südeuropäer handelte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als Merle ein weiteres Foto mit dem verliebten Paar hervorholte und ausrief: »Da war ich früher mit meinen Eltern ein paar Mal in den Sommerferien.« Sie deutete auf die imposante Kirche im Hintergrund.

»Und wo ist das?«, fragte Lilly, obgleich sie bereits ahnte, in welchem Land das Foto geschossen worden war.

»Das ist der Duomo von Como«, lachte sie. »Aber die beiden sind ja mächtig verknallt. Guck mal, wie sie ihn anhimmelt. Und er guckt so gierig, als würde er sie auf der Stelle vernaschen wollen.«

Lilly nahm ein weiteres Foto zur Hand. Wieder eines mit Bella und ihrem italienischen Begleiter. »Ob das mein Vater ist?«, sinnierte sie laut.

»Die Augen hast du jedenfalls von ihm. Guck doch mal, was der für Glutaugen hat«, bemerkte Merle aufgeregt. »Du hast doch immer schon daran gezweifelt, ob Bella sich nicht absichtlich unwissend gestellt hat, was deinen Erzeuger angeht. Das ist der Beweis!«

»Aber sie scheint noch nicht schwanger zu sein«, stellte Lilly mit einem prüfenden Blick auf ein Bikinibild fest. Darauf war Bella gertenschlank. So hatte Lilly ihre Mutter nie kennengelernt. Bella hatte immer eine eher barocke Figur. Sie war wirklich hübsch und ziemlich frech, dachte Lilly beim Anblick eines Bildes, auf dem Bella sich lasziv im Arm des Italieners auf einem Bootssteg rekelte und lässig ihre Zunge herausstreckte.

»Das ist ja rattenscharf«, bemerkte Merle. »Da war ich übrigens auch schon mal. Das ist der hübsche Anleger von Lenno. Ob dein Vater vom Comer See kommt? Hat sie den See jemals erwähnt?«

»Natürlich nicht. Sie hat doch nie etwas über Italien gesagt, außer dass sie das Land nicht leiden kann«, entgegnete Lilly, während sie sich in ein weiteres Foto vertiefte. Auf dem Foto posierten ihre Mutter und der Dunkelgelockte vor einer imposanten Villa.

»Das ist bestimmt so eine Prachtvilla am Comer See«, erklärte Merle begeistert. »Lass uns da hinfahren und deinen Vater suchen.«

»Bist du verrückt? Erstens bekommen wir nicht so spontan Urlaub, zweitens wissen wir doch gar nicht, ob der Typ wirklich mein Vater ist und drittens wenn, dann haben die vielleicht nur Urlaub dort gemacht, und er kommt aus Sizilien oder sonst wo.«

»Spaßbremse!«, knurrte Merle. »Aber in einem hast du leider recht. Ich habe meinen Jahresurlaub schon im März genommen …« Sie betrachtete Lilly eingehend. »Steht dir übrigens super das offene Haar!«

Lilly hatte schon gedacht, Merle würde es gar nicht mehr bemerken. Zur Bekräftigung, dass sie sich mit dem offenen Haar sehr wohlfühlte, schüttelte sie ihre lange Mähne demonstrativ, bevor sie noch einen flüchtigen Blick auf die übrigen Fotos warf, auf denen immer wieder ihre Mutter zu sehen war – und meistens mit dem Italiener. In der Hoffnung, dass Bella hinten auf einem Bild notiert hatte, wer darauf abgebildet war und wo das Foto gemacht worden war, drehte Lilly die Fotos um. Leider stand auf keinem etwas. Das hätte auch gar nicht zu Bella gepasst, Fotos ordnungsgemäß zu beschriften, dachte Lilly und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Die Fotos behalte ich, aber jetzt lass uns frühstücken und dann weitermachen. Sonst werden wir nie fertig.«

Während sie nach dem Frühstück Schublade für Schublade durchforstete, ging ihr der gut aussehende Italiener nicht aus dem Sinn. Immer wieder griff sie nach seinem Bild und betrachtete es versonnen. Je intensiver sie sich in sein Gesicht vertiefte, desto sicherer war sie, dass zwischen ihnen beiden eine unübersehbare Ähnlichkeit bestand. Bis auf die Nase, stellte sie fest.

Das meiste, was sie in den restlichen Schubladen fand, entsorgte Lilly. Was sollte sie auch mit Quittungen von alten Kretareisen, vergilbten Eintrittskarten aus aller Welt oder längst verfallenen Supermarktbonusbons? Nachdem der Schrank leer war, machte sie sich an den Schreibtisch, was auch nicht erbaulicher war. Das Einzige, was sie behielt, war ein Notizbuch, das sie Bella einmal zu Weihnachten geschenkt hatte, mit einem Engel vorne drauf. Sie hatte gehofft, dass das gegen die Zettelwirtschaft ihrer Mutter helfen könnte, und so hatte Bella auch brav angefangen, die Points ihrer Weight-Watcher-Kur zu notieren, jedenfalls die ersten drei Tage, dann folgten ihre Wünsche für das Jahr 2016. Die hatte sie wahrscheinlich zu Silvester hastig in das Büchlein gekritzelt. Als Lilly unter dem Punkt Körper las: Ich bin rundherum gesund, schossen ihr die Tränen in die Augen, die versiegten, als sie unter Familie las: Ich sage Lilly die ganze Wahrheit. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Nun hatte sie den Beweis schwarz auf weiß. Bella hatte ein Geheimnis vor ihr bewahrt, das sie ihr auf ihrem Sterbebett hatte anvertrauen wollen. Hastig steckte sie das Büchlein in die Kiste, die sie mit in ihre Wohnung nehmen wollte. Sie war noch immer nicht einmal zur Hälfte gefüllt.

Schließlich zog Lilly unter Bellas Schreibtisch einen kleinen Schredder hervor, den sie noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte und der ziemlich neu zu sein schien. Normalerweise pflegte Bella zu Lillys großer Empörung, Papierkram in Plastiktüten verpackt im Hausmüll zu entsorgen. Ihr kam dieses Gerät allerdings gerade recht, konnte sie sich doch auf diese Weise der vielen Notizzettel entledigen. Doch das Teil klemmte, sodass Lilly nachsehen musste, wo das Problem lag. Sie staunte nicht schlecht, als sie feststellte, dass der Behälter bis oben hin voll mit nicht zerschredderten Kontoauszügen war. Lilly musste grinsen, weil das wieder so typisch für ihre Mutter war. Sie kannte jedenfalls keinen außer ihr, der seine Kontoauszüge im Papierschredder aufbewahren würde. Während sie noch überlegte, ob sie sie ordnungsgemäß durch das Gerät schicken oder nicht nach Bellas Art in Plastiktüten in den Müll werfen sollte, blieb ihr Blick auf einem Zahlungseingang in Höhe von 1500 Euro hängen. Er stach ihr ins Auge zwischen den anderen Beträgen, bei denen es sich immer nur um Ausgaben handelte. Als sie feststellte, dass dieses Geld von einer Bank in Como überwiesen worden war, und zwar mit dem Stichwort »Unterhalt Lilly« stockte ihr der Atem. Was wollte sie noch für einen Beweis für die Tatsache, dass ihre Mutter sie in puncto Erzeuger ein Leben lang nach Strich und Faden belogen hatte? Der Überweisende war ein gewisser Notario Bruno. Hektisch blätterte Lilly die übrigen Kontoauszüge durch und stellte zu ihrem Entsetzen fest, dass in den vergangenen fünf Jahren, aus denen diese Auszüge stammten, an jedem Ersten des Monats eine Überweisung in dieser Höhe auf Bellas Konto eingegangen war. Und das schien mit wenigen Ausnahmen der einzige Eingang auf Bellas Konto zu sein. Wenn ihre Kunden sie nicht bar bezahlt hatten, dann musste Bella wohl allein von diesem Geld gelebt haben. Lilly wurde kotzübel bei dem Gedanken, dass ihre Mutter womöglich ein Leben lang Unterhalt für sie bekommen und sie davon keinen Cent gesehen hatte. Im Gegenteil, manchmal war Bella am Ende des Monats so klamm gewesen, dass Lilly ihr sogar noch etwas zugesteckt hatte. Auch die Beerdigung hatte sie von ihrem Ersparten bezahlt. Lilly saß eine ganze Zeit lang wie betäubt vor dem blöden Schredder und konnte nicht fassen, was sie da soeben entdeckt hatte.

»Lilly, was ist denn mit dir passiert?«, hörte sie Merle von ferne fragen. Lilly zuckte erschrocken zusammen. Wortlos reichte sie ihr die Kontoauszüge, die sie auf einen Stapel gelegt hatte.

»Das gibt es doch wohl nicht. Und das sind ja nicht nur Peanuts, was er da monatlich abgedrückt hat. Warum hat sie dir das bloß verschwiegen?«

Lilly zuckte die Achseln, denn sie wollte partout nicht glauben, dass ihre Mutter ihr alles nur verheimlicht hatte, um sich ihr Geld einzustecken.

In diesem Augenblick bekam Lilly eine Nachricht von Alex.