Der Kuss des Skorpions

 

Harald-Hans-Joachim Rech

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Diese Geschichte ist vollkommen wahr, weil ich sie von Anfang bis Ende erfunden habe.

(Boris Vian - franz.Künstler)

 

Impressum


ISBN: 9783961182978

© 2017 by andersseitig.de


Covergestaltung: Erhard Coch

Digitalisierung: Erhard Coch

 

andersseitig Verlag

Helgolandstraße 2

01097 Dresden

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Kapitel 1

Akkon

„Nun Bruder Tiganaux, welche Botschaft ist so bedeutend, dass ihr außer Atem zu mir in die Burg geeilt kommt?“

„Herr, verzeiht mein ungestümes Benehmen, es mag ungebührlich erscheinen, aber die Wachen auf den Außentürmen haben Staubwolken ausgemacht – draußen in der Wüste.“

„Das ist nichts Ungewöhnliches um diese Jahreszeit – es sind die Sandteufel, sagen die Mameluken. Wir wissen doch um den Ursprung dieser Erscheinung in der Wüste, Bruder Tiganaux.“

„Sehr wohl ehrwürdiger Templermeister, auch ich weiß um diese Dinge, jeder unserer Brüder hat solches schon erlebt. Aber dieses Mal ist es anders – die Staubwolken, es sind vier an der Zahl, bewegen sich gleichmäßig und unaufhaltsam auf Akkon zu – es sind die Mameluken unter ihrem neuen Führer Al-Maliku Al-Ashraf Chalil. Seit Monaten berichten unsere Kundschafter von gewaltigen Heerscharen, die sich von Kairo aus vorbei an Damaskus auf Akkon zu bewegen. Wenn dies zutrifft – Herr …“

„Bruder Tiganaux, wir sind Brüder im Herrn, Ritter des Glaubens und erprobte Kämpfer. Nicht umsonst steht unsere Burg seid mehr als zweihundert Jahren im Heiligen Land. Würde Gott der Allmächtige uns seinen Schutz versagen, wäre es nicht der Wille des Heiligen Vaters im Himmel, dass wir die Heiligen Stätten der Christenheit schützen und bewahren, es hätte niemals auch nur einen Kreuzzug gegeben und unseren Tempelherren-Orden würde es gleichfalls nicht geben. Bruder Tiganaux, es ist Gottes Wille, alles geschieht in seinem Namen, wir alle stehen unter seinem göttlichen Schutz und brauchen uns nicht zu fürchten, noch zu zagen oder Not leiden.“

„Herr, ihr habt wohl gesprochen, wir alle befinden uns allein in Gottes Hand. Um mein Leben und Seelenheil ist mir nicht bange, wir stehen für eine gerechte Sache und werden alle unser Gutes tun und sind bereit zu sterben, wenn es Gott anheim gefällt uns abzurufen. Doch Herr, bedenkt die vielen Frauen, Kinder und Alten, die sich in Akkon befinden. Wäre es nicht besser sie aus der Stadt …“

„Bruder Tiganaux, Akkon ist uneinnehmbar. Seine Mauern sind so gewaltig, dass selbst unser Vater im Himmel wohlgefällig auf unser Werk schaut. Der Hafen und unsere Flotte gewähren uns sichere Versorgung mit Fußvolk, Reiterei, Verpflegung – eben alles, was eine Stadt und Festung benötigt. Selbst wenn es so kommt, dass Sultan Al Maliku Akkon uns einschließt und belagert, was würde das für einen Sinn machen? Wir haben alles in der Stadt und auf den Schiffen – die Mameluken müssen sich über lange Anmarschwege durch die Wüste versorgen. Vor hundert Jahren belagerten unsere Kreuzesbrüder Akkon und wurden dabei selbst von Sultan Saladin eingeschlossen – und Bruder Tiganaux – wer hat letztlich doch mit Gottes Hilfe gesiegt? Die Kreuzfahrer. Sollte euch im kommenden Kampfe Mutlosigkeit heimsuchen, so werdet euch dieser großen Tat bewusst und Gottes Kraft wird euch durchströmen. Ich danke euch für eure Nachricht Bruder Tiganaux. Bittet den Großkomtur zu mir, ich möchte mit ihm nochmals die Verteidigungsfähigkeit Akkons besprechen. – Ach, Bruder Tiganaux, seht zu, dass sich keine Unruhe unter den Menschen ausbreitet. Wir sind hier so sicher wie im Himmel. Der Herr prüft uns, das ist eine Erfahrung, die alle Menschen im Laufe ihres Lebens machen. Seid ohne Sorge Bruder Tiganaux und geht mit Gott!“

„Danke Herr, ihr habt einem fragenden Menschen neuen Mut eingehaucht. Durch euren Mund spricht der Herr im Himmel zu mir – in semper vives Herr…“

Tiganaux verließ das Gemach des Tempelmeisters Guillaume de Beaujeu, der gleichzeitig den obersten Posten des Ordens inne hatte und den Titel eines Großmeisters trug. Die Schritte seiner Kettennetzstiefel erzeugten auf dem steinernen Boden des Ganges ein klackend scharrendes Geräusch, das mit jedem Meter, den Bruder Tiganaux sich vom Brüderhaus des Tempelmeisters entfernte, an Intensität verlor, bis es schließlich nicht mehr wahrnehmbar war.

Der Großmeister und Tempelherr Guillaume de Beaujeu war allein in seinen Räumen, deren Fenster ihm den Blick nach Osten über Akkon erlaubten. Die hellroten Dächer der Häuser bildeten einen anmutigen Kontrast zum leuchtend hellen Weiß der Häuser, zwischen die eingestreut die traditionellen Lehmziegelbauten der heimischen Bevölkerung, die Häuser der Händler und Basaristen lagen. Eine bunte Vielfalt quirlenden Lebens, gottgefällig, ob Christen oder Muslime, letztlich beteten sie alle nur zu diesem einen Gott. Im klaren Licht des Tages, es war der Mai des Jahres 1291, konnte der Großmeister Guillaume de Beaujeu nicht nur über die Dächer und Häuser von Akkon blicken, er gewahrte auch die mächtigen Wehrtürme der Stadtmauer, wie es sie in den Ländern der Levante kein zweites Mal gab. Selbst die Mauern und Türme von Aigues Mortes und Carcassonne konnten es mit der Schutzmauer von Akkon nicht aufnehmen. Doch beließen es die Kreuzfahrer nicht bei einer Mauer, sie errichteten zusätzlich den inneren Schutzring, der gleichfalls mit mächtigen Mauern und Türmen sehr wehrhaft gerüstet war. Hinter diesem inneren Schutzring lag Akkon mit seinen Tausend Winkeln und Ecken, die eine hinreichende Verteidigung der Stadt im Straßenkampf zuließen und dem Angreifer schwere Verluste zufügen würde, sollte er es denn tatsächlich schaffen den inneren Schutzring zu überwinden und in das Gewirr der Gassen und Straßen einzudringen. Aus den Berichten ihrer Tempelbrüder von der ersten Belagerung und Einnahme Akkons durch die Kreuzfahrer wusste Guillaume de Beaujeu von der Gefährlichkeit eines solchen Vorhabens und dem Blutzoll, den eine derartige Attacke vom Angreifer fordern würde. Guillaume de Beaujeu war jedoch Realist genug um zu erkennen, dass er mit seinen Ritterbrüdern und den an ihrer Seite stehenden Rittern der anderen Orden Akkon auf Dauer nicht würde halten können, sollte es denn zu einer Belagerung durch die Mameluken kommen. Der Seeweg ins Heilige Land nach Akkon, in die Bucht von Haifa, war lang und voller Gefahren, was nicht nur an den Unwägbarkeiten des Meeres und der Winde lag; auch Piraten lauerten zwischen den zahlreichen Inseln auf die schwer beladenen Schiffe der Kreuzfahrer, die ihnen zwar von der Bewaffnung her überlegen waren, durch ihre Beladung jedoch den Vorteil ihrer Schnelligkeit gegen die kleineren wendigen Schiffe der Piraten verloren. Deshalb riskierte keiner der Kapitäne eine Einzelfahrt, sondern schloss sich stets einem Verband von mindestens zehn Galeeren an. Von Venedig und Genua aus segelten die Schiffe bis Zypern, wo sie sich nach und nach zu einem Großverband zusammen fanden. Von dort nahm die Flotte dann den Weg nach Akkon. Wenn alles gut ging, erreichte die Armada nach einem Monat den sicheren Hafen der Stadt. Da es den Mameluken sowohl an Schiffen wie auch an seemännischer Erfahrung fehlte, bedurfte es zur Sicherung der Hafenanlagen keiner besonderen militärischen Anstrengung. Die Kreuzfahrerschiffe konnten nach belieben ein- und auslaufen, ohne sich dadurch irgendwelchen Gefahren auszusetzen. Was Guillaume de Beaujeu Sorgen bereitete war die lange Wartezeit, die zwischen den Lieferungen lag. Alles hatte seinen Preis, und sowohl die Kapitäne wie auch die Eigner der Schiffe wussten um die Gefährlichkeit der Mission. Ihren Einsatz ließen sie sich mit reichlich Gold bezahlen. Wenn die Mameluken in dieser Zeit ihren Angriff starten würden, könnte die Stadt durchaus in eine schwierige Lage geraten, darüber war sich Guillaume de Beaujeu im Klaren. Würde Akkon fallen, wäre das Heilige Land endgültig verloren, daran war nicht zu zweifeln. Zweihundert Jahre Tempelritter, zweihundert Jahre Kampf um das Heilige Land, zweihundert Jahre Dienst in Demut und im Zeichen des Kreuzes – alles wäre verloren. Die Mameluken würden die Heiligen Stätten erobern, die Christen vernichten und die Andersgläubigen versklaven oder vertreiben. Es waren Fehler begangen worden, Versäumnisse im politischen wie militärischen Bereich, die lange vor Guillaume ihren Anfang nahmen, in einer Zeit, als sich ein kleines Häuflein edler französischer Ritter dazu bekannte, den Schutz der Pilger und Reisenden im Heiligen Land zu gewähren. Guillaume de Beaujeu atmete tief aus, und ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Fast zwanzig Jahre stand er nun als Großmeister und Tempelherr dem Orden vor. Zwanzig Jahre vergangen wie im Fluge, eine lange Zeit und doch nicht einmal ein Wimpernschlag im Zeitgeschehen der Unendlichkeit. Viel war geschehen in all diesen Jahren, und doch haben es alle Anstrengungen nicht vermocht, dass Christen und Muslime in Frieden und Gläubigkeit miteinander ihr Auskommen fanden, im Gegenteil. Der Hass auf beiden Seiten steigerte sich von Jahr zu Jahr, die Übergriffe gegen die Andersgläubigen nahm erschreckende Ausmaße an und entlud sich immer öfters in fürchterlichen Exzessen, die zahllose Todesopfer auf beiden Seiten forderten.

Welch edle Ziele sie doch verfolgten, damals, als sich Hugo von Payns, Gottfried von Saint-Omer, Andreas von Montbard, Gundomar, Gudfried, Roland, Payen de Montdidier, Gottfried Bisol und Archibald von Saint-Amand zusammen fanden und jenen legendären Eid ablegten, der Jahre später zur Gründung des ersten geistlichen Ritterordens in der Geschichte des Rittertums führte.

„Arme Ritterschaft Christi und des salomonischen Tempels zu Jerusalem“ sprach Guillaume de Beaujeu leise zu sich selbst,“ wären wir doch nur diesem Anspruch treu geblieben.

Pauperes commilitones Christi templique Salomonici Hierosalemitanis

Wo sind die Ideale von einst geblieben, die Ideale des adligen Rittertums, die sich mit denen der Mönche vereinten, ein einzigartiger Vorgang, denn beide Stände waren bis dahin streng getrennt. Durch diese "Eheschließung" wurde die geistliche Ritterorganisation zum ersten Ritterorden und zur militärischen Eliteeinheit im Heiligen Land. Damit war ein Schritt vollzogen, der nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte, wollte man nicht den päpstlichen Bann, die Exkommunikation und die Verachtung der Welt auf sich ziehen. Jerusalem wurde ihre erste Heimat und kein geringerer als König Balduin bot ihnen einen Flügel seines Palastes als Quartier an, der sich an jenem Ort befand, wo der Tempel Salomons gestanden haben soll. Auf seinen Grundmauern errichteten die Christen die Basilika St. Maria, welche später durch den Sassanidenherrscher zerstört wurde. Er ließ die prachtvolle Al-Aqsa Moschee errichten, die nach der Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer nicht der Zerstörung zum Opfer fiel, was einen Sinneswandel bei den Muslimen bewirkte. Nun war man durchaus bereit die Kreuzfahrer im Heiligen Land zu dulden, was den Einheimischen jeden Glaubens viele Vorteile verschaffte. Das änderte sich jedoch, als die Tempelritter, so nannten sie sich nach jener bedeutungsvollen Entscheidung König Balduins, begannen die Moschee zur Festung auszubauen. Guillaume de Beaujeus Blicke glitten über die Webteppiche an den Wänden, die Wandmalereien, die Gesichter der Großmeister, die verklärten Darstellungen der Erfolge des Ordens – fast nur militärische – die Niederlagen wurden als Prüfungen Gottes verstanden, und er suchte nach Erklärungen, nach Antworten auf die eine existenzielle Frage, was wird aus dem Land und dem Orden? Der Großmeister wandte seinen Kopf zur Seeseite und ließ seine Blicke über das tiefblaue Meer schweifen, auf dem die weißen Segel der Schiffe wie Schwäne leuchteten. Fischer, Händler, Schiffbauer, Handwerker, Menschen aus Akkon, die im Vertrauen auf Gott und die Tempelritter ihrem gewohnten Tagwerk nachgingen und sich in die Dinge des Lebens einfügten so gut sie es vermochten. Von der See her wehte ein angenehmer Wind, der nicht nur den Einwohnern Akkons Erfrischung bescherte, sondern auch das martialische Gemäuer der Eisenburg durchlüftete. Auf seinem Weg über die Bucht von Haifa nahm der Wind die Aromen unzähliger Orangenblüten in sich auf, deren süßer Duft die Sinne geradezu betörte. Guillaume de Beaujeu sah die Bäume an den Hängen Haifas in leuchtendem Glanz, fast konnte er sie mit seinen Händen berühren – so nah schienen sie ihm, und doch waren sie so unerreichbar weit entfernt wie die Sterne am nächtlichen Himmel. Noch vor wenigen Monaten lagerten seine Brüder während ihrer Patrouillen zwischen den Orangenbäumen; jetzt grasten dort die Pferde der Mameluken, erhoben sich die Spitzzelte ihrer Gegner. Die Pilger wollten sie schützen, die auf ihren beschwerlichen und gefährlichen Wanderungen durch bergige Regionen von Jaffa über Ramla nach Jerusalem kamen, ihnen Schutz boten vor Überfällen, da der Großteil der Kreuzfahrerheere nach Europa zurückgekehrt war. Papst Innozenz II. bestätigte ihre Organisation und unterstellte sie direkt seiner Autorität. Dadurch wurden wir unangreifbar – ja – wir wurden zu einem Staat im Staate, mit uneingeschränkten Befugnissen – und Möglichkeiten, die wir zu unserem eigenen Vorteil nutzten.

„Wir haben uns selbst verraten, unseren Ehrenkodex, den Eid gebrochen – Brüder im Geiste – wir haben der Versuchung nicht widerstanden – Akkon wird fallen, und wir haben für diese Schuld zu bezahlen,“ murmelte der Großmeister bedrückt.

Macht – ja – das war es, die Verlockung niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen, außer Gott dem Herrn allein – alles war abgesegnet durch Rom, durch die heilige römische Kirche. Der Orden dehnte seinen Machtzuwachs und den Machtbereich aus, er wurde von der Steuer befreit und durfte selbst Steuern erheben, das Geldgeschäft, der Geldverleih – offiziell verboten, blühte unter den Templern auf und entwickelte sich zur Hauptbetätigung des Ordens, der letztlich Tausende Besitztümer in ganz Europa unterhielt, die von fünfzehntausend Verwaltern kontrolliert wurden.

Die Einnahmen aus diesen Komtureien und Gütern wurden jahrein jahraus ins Heilige Land geschafft, in die Schatzkammern und Tresore der Tempelritter, eine ungeheure Menge an Gold, Silber und Juwelen. Was war aus dem Orden, was war aus den Ritterbrüdern von einst geworden. Macht- und besitzbesessene Geldverleiher, Habsucht und Gier zum Inhalt ihres Kampfes geworden, Gold und Geld hatten sie verdorben, langsam aber unaufhaltsam, in ganz kleinen Schritten und jetzt, zweihundert Jahre später, stand das Ende bevor. Guillaume de Beaujeu war der Großmeister, seinen Anweisungen mussten alle Bewohner der Stadt Akkon einschließlich der Ritterbrüder Folge leisten. Er musste Vorkehrungen treffen, die Schatzkammern und Tresore durften nicht dem Feind überlassen werden. Die angesammelten Reichtümer würden sie für einen Neubeginn im Abendland dringend benötigen, sie galt es zu retten, das Schicksal der Menschen und sein eigenes lagen in Gottes Hand. Kräftiges Klopfen an der schweren Pforte zum Brüderhaus löste den Großmeister aus seiner Nachdenklichkeit. Knarrend drehten sich die eisernen Scharniere, die Tür öffnete sich nach innen und herein trat der Großkomtur des Ordens, der Ritterbruder Valjean de Bruys, ein Mann von großer Erfahrung, der mit Guillaume de Beaujeu vor zwanzig Jahren ins Heilige Land kam, mit all den Idealen und guten Absichten, zu denen sich die Ritterbrüder bei ihrem Eintritt in den Orden bekannten. Zwanzig lange Jahre forderten ihren Tribut an Leib und Seele. Schau einem Menschen in das Gesicht und du weißt um seine Seele. Valjean de Bruys, trotz seines fortgeschrittenen Alters strahlte er immer noch jene Begeisterung der ersten Tage aus, als sie den Mantel der Tempelritter aus der Hand des Großmeisters empfingen. Damals waren sie nur Ritterbrüder wie alle anderen auch. Valjean de Bruys und Guillaume de Beaujeu schafften den Aufstieg in der Hierarchie des Ordens in höchste Positionen, was sie in eine euphorische Aufbruchstimmung versetzte. Sie kannten sich schon aus ihrer Jugendzeit und waren mehr als nur gute Freunde, sie waren sich zugetan wie Brüder, in deren Brust ein gemeinsames Herz schlägt, in denen eine gemeinsame Seele wohnt.

„Valjean, guter Freund, schön dass du meinem Wunsch gefolgt bist. Es tut in diesen Zeiten gut in ein aufrichtiges Gesicht zu blicken …“

Die Männer umarmten sich, schauten einander in die Augen und schwiegen eine Weile.

„Bruder Tiganaux richtete mir aus, dass du die Stadtbefestigung …“

„Valjean – treuer und guter Freund, was würden wir nur ohne dich beginnen? Wenn Akkon standhält, dann ist das auch dein großer Verdienst. Du hast mit Gottes Hilfe ein Bollwerk geschaffen, wie es kein zweites Mal auf dieser Welt zu finden ist. Wir alle haben großes Vertrauen in dich und deine Baukunst …“

Valjean de Bruys lächelte, wobei er die Hände wie zum Gebet faltete.

„Zuviel der Ehre Bruder Guillaume, wir alle haben getan was möglich war – jetzt liegt unser künftiges Schicksal allein in Gottes Hand … was die Befestigungen betrifft, die Mauern, Türme und Schanzen, sie sind in allerbester Ordnung, wie du feststellen wirst. Es gibt nichts auszusetzen – du weißt sehr gut, wie genau ich alles nehme und die Bauarbeiter mich deswegen oftmals verwünschen. Wenn du bereit bist, dann können wir uns auf den Weg machen …“

„Komm ans Fenster lieber Bruder – schau – wie lieblich und friedlich sie scheint, diese Welt in ihren wunderschönen Farben. Sie ist erfüllt vom Duft des Lebens … und irgendwo da oben ist Gott der Herr und blickt auf sein Werk … ist es wirklich noch sein Werk – Valjean? Liebt er seine Kinder noch – oder hat er sich abgewandt und überlässt sie nun ihrem Schicksal? Ist es Bestimmung, dass wir einander töten … unseren Nächsten …was ist aus uns geworden Valjean?“

„Bruder Guillaume, zermartere dir nicht das Herz. Du hast dir nichts vorzuwerfen, alles ist gut getan und mit Gottes Beistand werden wir auch diese Zeit überstehen. Jesus hat am Ölberg auch gezweifelt, er wusste was ihn erwartete und blieb dennoch standhaft. Wir sollten Vertrauen haben in uns und auf Gott …lieber Guillaume … nun lasse uns gehen – die Mauern und Türme von Akkon werden dir gefallen.“

„Vielleicht sehe ich alles zu düster – vielleicht kommt alles ganz anders – König Heinrich hat uns Reiter und Fußvolk zugesagt, wir warten jeden Tag auf die Ankunft der Verstärkung. Möglicherweise sind die Botschaften der Späher übertrieben oder sogar gefälscht. Fünfhunderttausend Soldaten soll der Sultan Al-Malik unter seinem Befehl haben, tapfere Kämpfer, die bis zum Tod das Schwert schwingen …“

„Die Märchen des Orients – eine amüsante Eigenschaft der Einheimischen – sie neigen zur Übertreibung, sie ist Teil ihres Wesens und sie machen gerne Gebrauch davon. Ihre Tapferkeit in Ehren, aber aus einem Schwertarm werden deshalb nicht zehn. Wenn dem so wäre, würden wir in Jerusalem residieren statt uns in Akkon wie Maulwürfe eingraben. Lassen wir die Dinge auf uns zukommen Bruder Guillaume, hinter den Mauern von Akkon sind wir sicher … komm – und mache ein fröhliches Gesicht“ rief Valjean de Bruys lachend, „du bist Großmeister, Tempelherr und Feldherr in einem und – du bist das Oberhaupt von Akkon. Die Menschen schauen zu dir auf – sie vertrauen dir und deinem Wort …“

„Sie sollten mehr auf Gott vertrauen, nicht so sehr auf … du hast recht Bruder Valjean, Schluss mit den dunklen Gedanken – das Licht der Sonne wird unseren Geist, so Gott will, erhellen …“ lachte Guillaume de Beaujeu nun gleichfalls und verließ an der Seite seines Freundes und Kampfgefährten den Brüdersaal im seeseitig gelegenen Komplex der Eisenburg, die nicht einmal vom Teufel selbst eingenommen werden konnte, davon waren nicht nur Guillaume de Beaujeu und Valjean de Bruys überzeugt. Ihr Weg führte sie durch Kreuzgänge, durch Arkaden, durch ein Labyrinth von Gängen, Galerien und Hallen, vorbei an Kammern und Räumlichkeiten, in denen sich die Vorräte, Waffen und Dokumente der Templer befanden. Truhen gestapelt und voll bis zum Deckel, jede einzelne, sorgfältig und akribisch vermerkt ihr Inhalt, festgehalten auf einer Schiefertafel oder einer Papierrolle, welche in einem speziellen Behältnis verschlossen lag. Im Inneren der Festung, nur über weitere Brücken und Galerien zu erreichen, lagen die Tresore und Schatzkammern des Ordens, in denen die Reichtümer aus Jahrhunderten ihrer eifrige Tätigkeit im Namen des Herrn – später dann im Namen des Geldes gehortet wurden. Auf Schritt und Tritt hielten handverlesene und eigens ausgebildete Ritterbrüder Wache, auf dass keiner Person der unerlaubte Zutritt möglich wäre. Allein der Tressler, der Finanzverwalter des Ordens, durfte allein oder in Begleitung eines weiteren Großritters die Tresore und Schatzkammern betreten, was immer dann der Fall war, wenn die Schiffe weitere Geld- und Goldladungen aus dem fernen Europa nach Jerusalem schafften. Diese Zeit war vorbei, Jerusalem seit langem verloren, die Schätze zeitig geborgen und mittels zahlreicher Schiffe nach Akkon geschafft, wo sie zunächst in die Eisenburg eingelagert wurden, um einer weiteren Verwendung, deren Zweck noch nicht feststand, zugeführt zu werden. Guillaume verharrte einen Augenblick vor dem Zugang zu einer der Schatzkammern, hinter deren schwerer massiver Eisentür genug Gold und Geld geborgen lag, um allen Einwohnern Akkons für alle Zeiten ein fürstliches Leben zu ermöglichen. Valjean de Bruys verlangsamte seinen Schritt und blickte gleichfalls auf die dunkle Eisenpforte, die in ihrer massigen Schweigsamkeit verharrte als wäre sie mit den gewaltigen Quadern des Mauerwerks auf ewig verwachsen.

„Wofür das alles – Bruder Valjean, war das der Auftrag des Herrn an uns, irdische Reichtümer zu scheffeln?“

„Lieber Freund, Guillaume … wir könnten nichts ausrichten in diesem Land, nicht das Geringste, würden wir nicht über Gold und Geldmittel verfügen, um unsere Ziele zu erreichen. Vom Papst haben wir nichts zu erwarten, also sind wir gehalten, überlegt und besonnen zu handeln und zu unserem Wohle und dem der Menschen im Heiligen Land und in Akkon … die Schätze sind sicher hier, nicht einmal der …“

„Das haben unsere Brüder damals auch von Jerusalem gesagt …es fehlte nur ein viertel Tag, nur ein viertel Tag und die Ayyubiden hätten uns sämtlichen Goldbesitzes beraubt – das ist die Wirklichkeit lieber Freund … mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass draußen in der Wüste vor den Mauern von Akkon Sultan Al Maliku mit Hunderttausenden Soldaten aufmarschiert und wir in diesem Steinberg auf Truhen und Säcken voller Gold und Juwelen sitzen … wenigstens konnte ich den französischen König überzeugen, dass es besser wäre die Einnahmen aus unseren Komtureien in Europa erst einmal vor Ort zu belassen. Dort sind sie besser, sicherer aufbewahrt. Wir müssen den Schatz wegschaffen, heraus aus der Burg, auf die Schiffe und dann nach Zypern … zunächst. Von dort weiter auf direktem Weg ins französische Mutterland, nach Aigues Mortes. Du lieber Valjean, mein Freund, wirst diese verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren, ich habe bereits mit dem Tressler Barnard von Aix-Regue gesprochen. Er sieht die Dinge ebenso. Heute Abend versammeln wir uns im Brüderhaus, alle Führer des Ordens. Die Sache duldet keinen Aufschub mehr. In zwei Tagen erwarten wir die nächsten Schiffe – fünfzehn an der Zahl … es werden die letzten sein, die nach Akkon kommen. Zwei Tage Valjean – die müssen genügen um alles aus den Kammern und Tresoren zum Hafen zu schaffen. Uns bleibt keine andere Wahl …“

„Beim Vater im Himmel – lieber Guillaume … so habe ich dich noch niemals sprechen gehört. Weißt du was deine Worte bedeuten - du gibst Akkon verloren …“

„Wir sind verloren – lieber Valjean – schon lange, wir wollten es nur nicht sehen, nicht hören. Die Pilger schützen, den Armen und Kranken ein Obdach und Pflege gewähren … die Regeln des Benedikt von Nursia, danach wollten wir leben und handeln Valjean … wir haben es geschworen,“ stieß Guillaume die letzten Worte wütend hervor und schlug mit der behandschuhten Faust auf den Rand einer Wassertonne, wie sie zu Dutzenden in den Gängen der Burg standen. Es gab einen unheilvollen Ton, der sich wie das dumpfe Brüllen eines wilden Tieres über den Gang ausbreitete, von Wänden und Decken Besitz ergriff, um dann wie eine Welle in den offenen Trakt der Galerie überzuschwappen.

„Zweiundsiebzig Regeln – das ist längst Vergangenheit. Heute sind es beinahe siebenhundert – siebenhundert Anweisungen, wie wir unser Ordensleben zu leben und unsere Gemeinschaft zu erhalten haben … wir haben uns selbst stranguliert – wir ersticken – Al Maliku hält bereits das Ende des Stricks in seinen Händen … statt den Bedürftigen beizustehen, den Schutzsuchenden, den Armen, haben wir uns zu Geldhändlern gemacht, zu sehr vermögenden Geldhändlern, die sogar von den Muslimen aufgesucht werden, wenn sie Kredit benötigen … das ist unser wahres Gesicht … in diesen Tagen. Wir kämpfen ums eigene Überleben und um den unermesslichen Reichtum, den der Orden seit der Zeit seines Entstehens anhäufte.“

Valjean de Bruys war von den Worten seines Freundes derart überrascht und gleichzeitig betroffen, dass er zu nichts weiter in der Lage war als stumm zu stehen und Guillaume aus fragenden blauen Augen anzuschauen, in denen sich die Wehmut einer noch entfernt lauernden Traurigkeit manifestierte, welche langsam, sehr langsam aber unaufhaltsam von Valjeans Herz und seiner Seele Besitz ergriff.

„Die Spitäler werden geräumt, die transportfähigen Kranken auf die Schiffe gebracht, Frauen und Kinder … wenn Akkon fallen sollte, erwartet sie ein fürchterliches Schicksal. Ich möchte nicht gezwungen sein, Frauen und Kinder töten zu müssen, um sie vor den Schrecken der Mameluken zu bewahren. Stellt Listen zusammen, die Namen, die Familien – wer bleiben will entscheidet das auf eigene Verantwortung … es findet nur eine bescheidene Anzahl auf den Schiffen einen Platz – wir dürfen sie nicht überladen, sonst ist alles verloren … das werden wir heute Abend ausführlich mit den anderen besprechen, und jetzt lasse mich deine Wunderwerke der Verteidigung erblicken, die Akkon gegen jeden Angriff schützen sollen.“

Guillaume stupste seinem Freund sachte die Faust in die Seite und lächelte ihn an.

„Nun ist es an dir gute Miene zu machen Valjean - wo bleibt dein fröhliches Gesicht guter Freund? Schau nur, selbst die Sonne schenkt uns ihre Wärme …“

„Wir gehen mit Zuversicht in die kommende Zeit – Bruder Guillaume, wer Akkon erobern will, bezahlt dafür mit seinem Leben … das ist auch Al Maliku und seinen Truppen gewiss. Du hast recht Guillaume – er muss alles über weite Strecken beibringen, das bindet große Teile seines Heeres. Könnten wir uns diesen Umstand zu Nutze machen … durch Ausfälle oder Anlandungen von Truppen, um ihn im Rücken zu fassen …“

„Die Festungsmauern Valjean – über unsere Strategie reden wir in der Zusammenkunft heute Abend …“

Der Großmeister und sein Großkomtur verließen den Sicherungsbereich der Schatzkammern und Tresore, durchmaßen zügig die große Wandelhalle, durch deren Fensterbögen das klare Licht der Frühlingssonne seine Strahlen warf und die roten Ziegel der Wände, Decken und Säulen zum Leuchten brachte. Mit den nächsten Schritten erreichten sie das Osttor der Burg, das sich wie ein riesiges steinernes Maul öffnete, als wollte es alles um sich herum in einem Biss verschlingen. Die Wachen standen in Gruppen zu beiden Seiten und beobachteten aufmerksam und gewissenhaft das Treiben vor der Burg auf dem Vorplatz, der im Laufe der Jahre zu einem Sammelplatz von Händlern, Handwerkern und Seeleuten wurde, denn der direkte Weg vom Hafen führte vorbei an der Burg über den Vorplatz. Der Zugang in die Stadt selbst unterlag gleichfalls der Aufsicht der Ritterbrüder, denn man wollte auf jeden Fall verhindern, dass feindliche Späher oder Kundschafter in Akkon eindrangen.

Von einem zum anderen Augenblick war es mit der beschaulichen Stille, die Guillaume und Valjean im Brüdersaal genossen, vorbei. Ein Sammelsurium aus tausend verschiedenen Tönen, Klängen und Geräuschen erzeugte eine Lärmwolke, die sich wie eine Glocke über Guillaume und Valjean stülpte und ein weiteres Unterhalten fast unmöglich machte.

Valjean kannte Akkon wie sein Kettenhemd und wusste um die weniger aufregenden Gassen und Straßen, wo sie zum einen leichtfüßiger ausschreiten – zum anderen ihr Gespräch über die Befestigungen weiterführen konnten. Dazu mussten sie die Medina, die Altstadt Akkons, umgehen, in denen die Händler und Basaristen jeglichen Glaubens und aller bekannten Rassen eifrig und unbekümmert ihren Geschäften nachgingen. Ein nicht enden wollender Strom von Geräuschen und Gerüchen quoll aus dem Gewirr der Gassen und Straßen, aus denen ein aufmerksamer Lauscher das Lachen, Schwatzen und Rufen der Menschen heraushören konnte. Die Bewohner Akkons schien es in keiner Weise zu beeindrucken, dass draußen vor der Stadt die Mameluken aufmarschierten mit der Absicht, Akkon zu erobern. Akkon in ihren Besitz zu bringen versuchten schon andere Heerführer – und zogen letztlich doch ab, weil die Stadt selbst durch monatelange Belagerung nicht zu bezwingen war. Das Herz Akkons war sein Hafen, über den die Stadt mit dem Blut des Lebens versorgt wurde. Wozu sich unnötig aufregen, sich Gedanken machen? Die Mameluken werden sich die Zähne ausbeißen an den Mauern und Festungstürmen, die mit Wurfmaschinen und Katapulten gerüstet waren. Außerdem standen mehr als zehntausend gut ausgebildete Ritterbrüder und Kreuzfahrer unter dem Befehl des Großmeisters, dazu noch zweitausend Reiter, die sich in zahlreichen Gefechten ihre Ehren verdienten. Und die Bewohner von Akkon – sie gingen nicht nur ihren Geschäften nach, sondern würden im Ernstfall dem Großmeister zur Verteidigung der Stadt anheim gestellt, mithin nochmals fünftausend kampffähige Männer, die sich mit den Gewohnheiten der Wüstenvölker, der Mameluken und Ayyubiden bestens auskannten. Und die Muslime, Tausend Menschen an der Zahl, sie teilten die Freuden und Leiden aller Menschen in der Stadt, sie hatten nur einen Wunsch, dass die gegnerischen Lager in Frieden und Eintracht zueinander finden. Ein Krieg um Akkon würde letztlich nur einen Sieger kennen – den Tod. Und ob die Mameluken ihre Glaubensbrüder und Schwestern in Akkon im Falle eines Falles schonen würden, das stand in der Tat in den Sternen. Nach der Passage des Inneren Sicherungsrings nahe dem Tor der Verdammten – hier wurden Verurteilte hindurch zum Richtplatz geführt, erreichten der Großmeister und sein Großkomtur das weniger üppig bebaute Stadtareal zwischen den Verteidigungsringen, das zum Teil von den Bauern, den berittenen Brüdern und den Spitalsbediensteten genutzt wurde.

Der Firmariearzt Bouduin le Blanche, im Range eines Meisterbruders, leitete die beiden Spitäler, in denen nun – da die Stadt zusätzlich durch Flüchtlinge beansprucht wurde, auch die Hospitaliterbrüder – auch Johanniter genannt, ihre Arbeit verrichteten. Die Lage der Spitäler ward aus organisatorischen Gründen, vor allem aber wegen der Hygiene außerhalb des Innenstadtbereiches gewählt, um Ansteckungen und Seuchen zu vermeiden, in jener Zeit Gefahren, die allgegenwärtig waren und die Gesundheit der Menschen bedrohten. Schon manche Stadt, ja ganze Landstriche, wurden durch Seuchen, von denen die Pest am verheerendsten wütete, entvölkert. Die Ritterbrüder sprachen gelegentlich über diese Möglichkeit, und es wurde alles in ihrer Macht stehende getan, um den Ausbruch von ansteckenden Krankheiten zu verhindern. Der Gesundheitskontrolle, besonders der Neuankömmlinge, kam daher eine große Bedeutung zu. Mit Blick auf die aus allen Nähten platzende Stadt, ließ der Großspittler zusätzlich zu den beiden Spitälern zwischen den Verteidigungsringen, ein drittes Aufnahmelager im Hafenbereich einrichten. Kein Ankömmling durfte die Stadt unbemerkt betreten und musste eine eingehende Untersuchung über sich ergehen lassen. Zuweilen überkam Bouduin le Blanche eine Wehmut, die nicht von dieser Welt zu sein schien. In diesen Augenblicken erinnerte er sich an seine Zeit in Jerusalem, wo er als junge Arzt in Diensten der Johanniter-Brüder stand und sein Handwerk von Grund auf lernte. Vierzig Jahre lag das nun schon zurück, vierzig lange Jahre. Er war jetzt sechzig Jahre alt, eine Kapazität auf dem Gebiet der Medizin in all ihren variantenreichen Facetten. Und er erinnerte sich jenes Ayyubiden Hakim, eines muslimischen Arztes, der ihn die wirkliche Erkenntnis von den Krankheiten und dem menschlichen Körper und – von der Seele lehrte. Er wohnte Leibesöffnungen bei, sah in das Innere eines Menschen und assistierte Abn Il Fahjd bei schwierigen Operationen. Dieser Mann war sein großer Lehrmeister und allen Ärzten aus dem Abendland, die Bouduin le Blanche bekannt waren, in all seinem Tun überlegen, weil er den Menschen in seiner Gesamtheit sah, und viele Erkrankungen in direktem Zusammenhang auf ein Ungleichgewicht der Seele sah. Wir könnten alle so viel voneinander lernen, stattdessen führen wir Krieg und bringen uns gegenseitig um. Guillaume und Valjean gelangten an den rückwärtigen Zugang zum Turm der Gräfin von Blois, eines mächtigen Vierkantgebildes, das wie aus einem Block heraus gehauen die gewaltige Festungsmauer um mehr als zehn Meter überragte.

Im Inneren des Turms führte eine doppelläufige Schneckentreppe sowohl auf die einzelnen Söllerplattformen, bis hinauf in die Krone, die durch einen massiven Zinnenkranz gedeckt war. Im gesamten Turm wimmelte es von Ritterbrüdern, Sergeanten und Knappen, die beinahe täglich Verteidigungsstrategien einübten und auf ihre Sinnhaftigkeit prüften, eine Maßnahme, welche in letzter Konsequenz über Sieg oder Tod entscheiden könnte. Sie wollten vorbereitet sein auf den großen Sturm, der ihnen und Akkon bevorstand, denn er würde kommen, schon bald, daran ließen die durch die Wüste heranmarschierenden Mamelukentruppen nicht den geringsten Zweifel. Guillaume und Valjean betraten die Turmplatte durch eine dicke eisenbeschlagene Tür, die sich nur zur Seite in einen Mauerspalt schieben ließ, die besondere Raffinesse eines Tischlers, der diese Technik angeblich in Asien lernte, am Hof des chinesischen Khans. Mit zwei Handgriffen konnte ein einzelner Mann die Tür im Augenblick aus der Mauernische ziehen und durch betätigen nur eines Hebels auf der anderen Seite der Turmwand in einer dafür vorgesehenen Mauernische verriegeln. Die Tür saß dermaßen genau in den Fugen, dass selbst die zehn kräftigsten Männer der Turmbesatzung das Portal nicht aus der Verankerung schlagen konnten. Zur Sicherung der Verteidigungsanlagen ordnete Guillaume de Beaujeu im Laufe der Zeit den Austausch aller Tore in den Türmen und auf den Turmplattformen an, um sie durch die massiven Schutzportale zu ersetzen. Guillaume und Valjean schwiegen und ließen das was sie sahen auf sich einwirken. Es hätte auch keiner besonderen Worte bedurft um zu erklären, was sich auf Akkon zubewegte. Die vier Marschsäulen des Mamelukenheeres wirbelten weithin sichtbare Staubwolken auf, die der Seewind wie einen rötlich gelben Schleier über die endlose Weite der Wüste trieb, wo er sich irgendwo in den bergigen Regionen des Jordanlandes verlor. Die Streitmacht Al Malikus schien nicht von besonderer Eile getrieben, noch bereitete sie sich erkennbar auf einen Angriff vor. Nach dem Marsch durch die Wüste würden sich die Mameluken fürs Erste damit begnügen, sich in den Orangen- und Olivenbaumhainen niederzulassen, um sich dort der notwendigen Erfrischung hinzugeben. Guillaume wie auch Valjean rechneten frühestens in der Mitte des Mai mit dem Sturm der Mameluken, Erfahrungswerte aus vielen Jahren, und das gegnerische Heer machte keine Anstalten von dieser Gewohnheit abzugehen. Die Ritterbrüder könnten durchaus von einer gesicherten Position abwartend auf die Formierung der feindlichen Streitmacht blicken, wären da nicht diese riesenhaften Maschinen in ihrem Gefolge, die allein durch ihr Angst einflößendes Erscheinungsbild für Unruhe unter den Waffenträgern sorgten. Katapulte und Wurfmaschinen in einer Größe, wie sie weder Guillaume noch Valjean je zuvor sahen.

In sicherem Abstand zu den Bogenschützen der Verteidiger ritten die Krieger der Mameluken gemächlich und in kleinen Gruppen am äußeren Verteidigungsring der Stadt entlang, wobei sie den Wachen und Ritterbrüdern mit bunten Stofflappen zuwinkten und mit ihren Händen in den Himmel deuteten.

„Sie sind sich ihres Sieges gewiss Bruder Valjean. Um den Zweikampf mit den Mameluken ist mir nicht bange, allein Sorgen bereiten mir jetzt diese fürchterlichen Maschinen. Damit schleudern sie Steine und Feuer über die Mauern bis weit in die Stadt hinein – ja ich bin sicher, dass sie damit auch den Hafen und die Schiffe erreichen. Die Versorgung der Stadt könnte in Gefahr geraten … wir müssen handeln … Valjean … noch heute …“

„Bruder Guillaume – wir sollten uns nicht ängstigen lassen von dem was wir sehen. Du weißt selbst, dass der Aufzug von Kriegsgerät zur Verunsicherung des Gegners beitragen soll, wir Ritterbrüder haben dies in all den Jahren unserer Anwesenheit im Heiligen Land praktiziert – die Mameluken tun nichts anderes.

„Letztlich entscheidet die Fähigkeit des Angreifers, wie er sein Kriegsgerät beherrscht, darüber und damit über den Ausgang des Kampfes. Allerdings – da muss ich dir zustimmen, sind diese Geräte in der Tat sehr beeindruckend, sie sind gewaltig – und – sie sind sehr schwerfällig. In der Nacht könnten wir durch Ausfälle diese Maschinen …“

„Bruder Valjean – wir benötigen jeden gesunden Mann zur Verteidigung – ein Angriff bei Nacht auf diese Maschinen, Al Maliku rechnet ganz sicher damit und wird entsprechend gerüstet sein … nein Valjean, wir dürfen unsere Kampfkraft nicht so leichtfertig aufs Spiel setzen …“

„Wenn sie sich auf unsere Mauern einwerfen, dann ist es für einen Gegenangriff zu spät … dann kommt niemand mehr aus Akkon heraus …“

„Die Meerseite wird von den Venezianern und Genuesen gedeckt. Ihnen zur Seite stehen die Männer aus Pisa. Wir halten die Eisenburg, die Hospitaliter sichern die Mitte Akkons – nur die Deutschen halten ihr Quartier direkt am inneren Verteidigungsring, eine kluge Entscheidung, findest du nicht?“

„Darüber habe ich mir auch Gedanken gemacht, die Wurfmaschinen der Mameluken sind auf weite Entfernungen eingerichtet, kurze Würfe in diesem Winkel würden kaum Wirkung zeigen und die eigenen Leute treffen.

„Oder das Wurfmaterial zerschellt an den Mauern der Stadt. Sie müssen alles aus den Bergen heranschaffen. Um die Verteidigungsringe zu durchbrechen, benötigen sie Berge an Steinen. Darüber vergeht viel Zeit Bruder Guillaume …“

„Zeit die uns davonläuft – sie haben Menschen im Überfluss, tagein tagaus bewegt sich ein Heer von Trägern in die Berge und zurück. Wir müssen evakuieren … der Ordensschatz muss in Sicherheit gebracht werden. Wie steht es um die Nordflanke – sind unsere eigenen Ritterbrüder bereit?“

„Tausend Brüder stehen wie eine schimmernde Wehr aus einem Guss … Guillaume, der Gegner wird einen hohen Blutzoll zahlen, wenn er uns überwinden will … ihnen zur Seite nach Osten hin decken die Hospitaliter ihre Flanke …“

„Ja – die Hospitaliter – die Brüder Johanniter – sie waren die ersten Samariter im Heiligen Land, nur Gutes tun an den Armen, Schwachen und Kranken … wir hätten so viel erreichen können, stattdessen ging es uns nur um die Macht und Einfluss – und führten blutige Gefechte gegeneinander … das hat den Kreuzfahrerstaat Heiliges Land langsam aber unaufhörlich geschwächt … und jetzt müssen wir dafür bezahlen, Bruder Valjean …“

„Sollte es zum Letzten kommen, du findest mich an deiner Seite – Bruder Guillaume, das sollte dich trösten, wir sind nicht allein – Gott ist mit uns – du wirst es sehen …“

„Auch mit den Mameluken – er ist mit allen Menschen – hätten wir doch nur ein eigenes Territorium, statt nur Komtureien und Güter; die Johanniter besitzen Rhodos – eine wunderschöne Insel … unser Abenteuer Zypern scheiterte kläglich, wir haben versagt Valjean … nun bleibt uns nur noch die Flucht. Wir werden die Evakuierung der Bevölkerung decken … wenn genügend Schiffe eintreffen … vorrangig ist die Sicherung des Ordensschatzes durchzuführen und …“

Guillaume brach den Satz ab und ließ seine Blicke über die Verteidigungsanlagen Akkons gleiten. Ein steinerner Lindwurm, der das Land zwischen Stadt und Wüste zerschnitt, wie der gezackte Kamm eines Drachens und Akkon zur Landseite hin umschloss. Die Türme der Wehranlage reckten sich wie die Zähne eines Drachen in den blauen Himmel, allzeit bereit, alles und jegliches zu zerreißen, was sich in ihre Nähe wagt. Vom Turm der Gräfin von Blois grüßte das im leichten Wind wehende Banner ihrer Landsleute, versetzt dazu erhob sich der Turm der Engländer, die Türme Königs Hugo und Heinrich II., der Turm des Heiligen Nikolaus, des Legats, der Deutschen und der des Patriarchen. Sollten sich die Angreifer frontal gegen diese Befestigungen wenden, käme es zu einem Blutbad, da waren sich sowohl Guillaume als auch Valjean sicher.

Zehntausende Männer würden ihr Leben verlieren, ihr Blut im staubigen Grund der Wüste verrinnen, namenlos die meisten, der Tod für Viele, Ruhm und Ehre für Wenige. Zum Hafen hin endete die Mauer in der geschützten Bucht, sodass es unmöglich war von der Landseite her die Wehranlage zu umgehen, um trockenen Fußes nach Akkon zu gelangen. Zudem trotzte wie ein riesiger steinerner Berg die Eisenburg an der Nahtstelle zwischen Wehrmauer und Hafenwasser, ein alles versperrender Zyklop, der auch durch Wurfmaschinen nicht zu bezwingen war. Die Verteidiger besaßen gleichfalls Katapulte und Wurfmaschinen, doch war ihre Reichweite den Kolossen der Mameluken hoffnungslos unterlegen. Ihr Einsatz würde erst Sinn machen, wenn sich die Truppen Al Malikus in treffsicherer Reichweite der Bogenschützen befanden. Um freies Wurffeld zu haben, ließ der Großmeister an einigen Stellen der Stadt Häuser abreißen und die Katapulte dort aufbauen. Bevor die Mameluken anrückten, übten die Ritterbrüder den Einsatz der Maschinen und beobachteten ihre Zielgenauigkeit. Danach wurden ihnen die endgültigen Plätze zugewiesen. Alle brennbaren Lagerwaren mussten aus den Speichern entfernt und in unterirdische Stollen und Gänge eingebracht werden. Eine brennende Stadt würde zum einen die Verteidigung erschweren, wenn nicht sogar unmöglich machen, zum anderen ob des dann herrschenden Infernos in unentwirrbare Raserei stürzen. In jedem Haus war genügend Wasser zu halten, wegen möglicher Löschungen von Bränden und zum eigenen Lebenserhalt. Die Kinder und Frauen der Familien sollten sich bei einem Angriff in die befestigten Lagerhäusern zur Meerseite begeben, weit genug entfernt von jeglicher Bedrohung durch Wurfmaschinen und Katapulte. Guillaume sog die milde Frühlingsluft wie ein Erstickender ein, als wäre es das letzte Mal, dass er diese unschuldige duftgeschwängerte Frühlingsluft genießen würde.

Auf den Türmen und den Verteidigungsringen herrschte reges Treiben, ein Kommen und Gehen, ein Beobachten und Ausschauhalten nach den feindlichen Heeren und dem, was sie möglicherweise im Schilde führten oder zu tun beabsichtigten.

„Valjean – gehen wir die Türme und Mauern ab, wir wollen sicher gehen, dass alles zum Besten steht und wir alles getan haben, um vor der Welt und Gott zu bestehen …“

Valjean nickte wortlos und lächelte sanft, dann folgte er seinem Freund und Großmeister Guillaume über die Stufen hinab auf die Galerie der äußeren Verteidigungsmauer, die irgendwo im Norden im Meer zu versinken schien. Es gab während des Kontrollganges kaum nennenswerte Beanstandungen durch den Großmeister, die Ritterbrüder wussten um den Ernst der Lage und hatten schon aus diesem Grund ein höchstes Interesse an den besten Vorkehrungen zur Verteidigung der Stadt. Den Bürgern von Akkon war das Betreten der Wehranlage nur im akuten Verteidigungsfall gestattet, im Falle eines Angriffs. Ansonsten behielten sich die Ritterbrüder die Aufsicht und Verfügung über die Schutzmauern vor. Ungeachtet der sichtbaren Bedrohung ließen sich die Bürger der Stadt nicht von selbiger übermäßig beeindrucken. Sie vertrauten auf die Befestigung, die Ritterbrüder und den zum Meer hin offenen Hafen, der ihnen sowohl als Versorgungseinrichtung wie auch als mögliche letzte Fluchtmöglichkeit offen stand. Sollten die Mameluken versuchen in Akkon einzudringen, würden sie sich blutige Köpfe holen, davon waren die Einwohner Akkons fest überzeugt. Der geschäftige Lärm aus der Altstadt, den Gassen und Straßen Akkons floss, getragen vom Wind des Meeres, wie ein Wellenkamm über den inneren und äußeren Verteidigungsring, um sich im Wüstenland jenseits der Mauern zu verlieren. Guillaume und Valjean verharrten auf dem äußeren Mauerring in der Nähe des genuesischen Quartiers, von sie die Möglichkeit hatten, von der Mauerkrone über Leitern hinab zu steigen, nicht gerade bequem, aber so brauchten sie nicht die gesamte Strecke bis zu einem der Wehrtürme zurück zu gehen. Die Freunde durchquerten das Areal zwischen den Verteidigungsanlagen und gelangten an einen Durchlass in der inneren Wehranlage, der gerade Raum genug bot, um einen gebückt gehenden Mann ohne Waffen und Rüstung passieren zu lassen. Guillaume spürte die Bewegung unter seinen Stiefeln, dachte sich aber nichts weiter dabei, und als er sich nach seinem Freund Valjean umsah, konnte er ihn nirgends entdecken. Statt dessen erblickten seine Augen einen mächtigen Quader, der den vor Augenblicken noch offenen Durchlass so dicht verschloss, dass nicht einmal der Wind des Meeres fähig war sich hindurch zu zwängen.

„Valjean – wo bist du – guter Freund ...“, rief Guillaume überrascht vom plötzlichen Verschwinden seines Ritterbruders.

„Warum rufst du so laut? Ich bin doch da – schaue dich um – ich stehe hinter dir …“ lachte Valjean und klopfte sich übermütig auf den Schenkel. „Diese Überraschung ist mir gelungen, findest du nicht … eine bauliche Besonderheit, welche die griechischen Baumeister gerne anwandten, um ihre Städte und Burgen gegen die Angriffe der Perser zu schützen. Die Griechen übernahmen diese Kunst des Blindgangs von den Ägyptern. Dort schützten die Baumeister der Pharaonen die Gräber und Pyramiden vor Grabräubern, indem sie derartige Irrgänge einbauten.

„Wie du siehst, hat der Mechanismus nichts von seiner Wirksamkeit verloren … komm – wir sehen uns in den Quartieren um, bevor wir auf dem inneren Ring nach Norden zu unseren Brüdern gehen.“

„Du bist ein Genius Valjean – dein Geist darf nicht verloren gehen – du wirst die Stadt verlassen, wenn es … ich kann mir keinen besseren Hüter des Ordensschatzes denken, als dich mein Freund …“

„Guillaume – mein Platz ist hier, bei unseren Brüdern und den Menschen in Akkon. Gebe diesen Auftrag getrost an Ritterbruder Thibaud Gaudin weiter, er ist erfahren im Umgang mit den Galeeren, kennt das Meer wie seinen Mantel und weiß um die besten Verstecke auf Zypern und in Aigues Mortes, wenn es denn … aber dazu wird es nicht kommen, mein Freund …“

„Deine Zuversicht ist dir von Gott gegeben, niemand anderes könnte solche Worte sprechen im Angesicht dessen, was draußen vor den Toren Akkons vor sich geht. – Du hast recht – noch ist es nicht soweit und wenn wir alle alles geben, dann können wir diesen Kampf mit Gottes Hilfe doch noch siegreich entscheiden …“

„Folge mir Guillaume, zu den Genuesern, ich möchte dir etwas zeigen …“