image

image

Ein London-Krimi von

Edgar Wallace

Nacherzählt von

Alex Barclay

Das Silberne Dreieck
und
Der dritte Zufall

image

ISBN 978-3-03864-902-1

ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch

Das Silberne Dreieck
und
Der dritte Zufall

1. KapitelTote reden nicht

2. KapitelDer erste Zufall

3. KapitelDas Gebetbuch

4. KapitelGonsalez tappt im Dunkeln

5. KapitelDer zweite Zufall

6. KapitelLady Belvinne

7. KapitelDer Kopf der Bande

8. KapitelBesuch nach Mitternacht

9. KapitelDer dritte Zufall

1. Kapitel

Tote reden nicht

Robert Yenford schlug den Kragen seines Regenmantels hoch. Er stand an der Ecke Ifield Road und Cathcart Road in einer dunklen Häusernische. Er fröstelte, und er dachte daran, dass er vielleicht besser Scotland Yard angerufen hätte. Jetzt war es dazu zu spät. Jetzt blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als vorsichtig zu sein und sich nicht blicken zu lassen, denn auf der anderen Seite der Ifield Road, an der alten Steinmauer des Brompton-Friedhofs, würde wahrscheinlich noch vor Mitternacht ein Verbrechen verübt werden.

Robert Yenford war kein Kriminalbeamter und auch kein Detektiv. Er besaß nicht einmal eine Waffe, mit der er sich notfalls hätte verteidigen können, und wenn er es sich genau überlegte, dann hätte er sich diese Geschichte lieber für seinen nächsten Kriminalroman ausgedacht. Das war er nämlich, ein junger und äußerst talentierter Schriftsteller, dem die Kritiker eine große Zukunft voraussagten.

Im Frühling war sein Erstlingswerk erschienen. WENN TOTE REDEN, das war der Titel, und Robert Yenford hätte nicht einmal im Traum gedacht, dass seine erfundene Welt Wirklichkeit werden könnte.

Drüben, hinter der alten moosbewachsenen Steinmauer, war alles still. Tote reden eben doch nicht, dachte Robert Yenford, und der Gedanke amüsierte ihn.

Er hauchte in seine kalten Hände, und der feuchtkalte Wind, der von der Themse her durch die Straßen und Gassen Chelseas strich, wehte ihm den Atem in Wolken vom Mund. Es war November. Es schien, als ob sich London in der Kälte duckte wie ein frierendes Tier. Der Winter stand vor der Tür.

Bei dem kleinen schmiedeeisernen Tor, das in den Friedhof führte, stand ein schwarzer, unscheinbarer Vauxhall, dem Nummernschild nach in Lewisham zugelassen. Das Licht einer Straßenlaterne, die über dem Hintereingang des Friedhofes brannte, glänzte auf dem schwarzen Lack und auf dem Chrom des Autos, in dem eine Frau hinter dem Steuer saß.

Die Frau wartete schon fast eine halbe Stunde. Auf wen sie wartete, wusste Robert Yenford nicht. Eigentlich wusste er überhaupt nichts, außer, dass irgendetwas nicht stimmte.

Er war der Frau hierher gefolgt. Sein eigenes Auto, ein kleiner Austin, an dem der Rost nagte, hatte er am Redcliffe Square geparkt, zwei Straßen weiter. Robert Yenford hatte schon auf dem Weg kreuz und quer durch London, Westminster und Chelsea gefroren, denn in seinem Austin funktionierte unter anderem auch die Heizung nicht.

Robert blickte auf die Uhr, ein Geschenk seines Vaters, Oberst Yenford. Achtzehn Minuten vor Mitternacht war es. Die Frau schien zu früh hier angekommen zu sein. Seit elf Uhr dreißig wartete sie. Auf der schmalen Straße war kein Verkehr. Von der Finborough Road herüber kamen manchmal Geräusche, Autos, die langsam durch den Nebel glitten, ein Bus, der an einer Station anhielt und nach einer Weile weiterfuhr.

Nebelschwaden krochen durch das kahle Geäst der mächtigen alten Bäume, die über die Friedhofsmauer ragten. Zwischen den Ästen hindurch konnte Robert das große Marmorkreuz sehen und die Kuppel der Kapelle, die sich in der Mitte des Friedhofes befand. Am Kreuz lief glänzendes Wasser herunter, obwohl es seit Tagen nicht mehr geregnet hatte. Wie Blut.

Robert Yenford schüttelte sich. Solcherlei Gedanken trugen nicht dazu bei, ihm die Situation in der er sich befand, angenehmer zu machen. Er fror erbärmlich, und ein nagendes Gefühl von Unsicherheit quälte ihn, obwohl er nicht wusste, wovor er sich hätte fürchten müssen. Die Frau im Vauxhall hatte ihn nicht bemerkt. Und sonst war niemand da.

Oder doch?

Robert blickte sich suchend um. In einer schmalen Häuserlücke entdeckte er eine Katze, die geduckt dem Bordsteinrand entlangschlich und stehenblieb. Ihre lauernden Augen leuchteten grünlich. Für eine Weile rührte sie sich nicht. Dann schlich sie lautlos weiter und verschwand hinter einigen Mülltonnen.

Die Minuten bis Mitternacht wollten nicht vergehen. Robert Yenford blickte mindestens ein halbes Dutzend Mal auf seine Uhr, aber dann zuckte er zusammen, als mit lautem Klang plötzlich eine Glocke anschlug. Zwölfmal in gleichmäßigem Abstand verhallte das Echo der Schläge in der nebeligen Finsternis. Die Frau im Vauxhall rührte sich. Für einen Moment glaubte Robert, schwach ihr Gesicht schimmern zu sehen. Er kannte dieses Gesicht. Seit Monaten erschien es ihm in seinen Träumen. Ein hübsches, schmales Gesicht mit dunklen warmen Augen.

Robert war so tief in seinen Gedanken versunken, dass er die Limousine nicht bemerkte, die so leise die Ifield Road herunterfuhr, dass es aussah, als würde ein lautloser dunkler Schatten an der alten Friedhofsmauer entlangkriechen.

Er zuckte zusammen, als ihn für eine Sekunde der Lichtkegel des Suchscheinwerfers streifte, der auf dem Autodach montiert war. Er trat hastig einen Schritt zurück, bis er mit dem Rücken gegen den rauen Mauerverputz stieß. Die Limousine glitt langsam an ihm vorbei. Im Inneren war es so dunkel, dass er nicht sehen konnte, wer darin saß, und dass sich zwei Köpfe nach ihm umdrehten.

Im Geiste notierte Yenford sich die Nummer. ZHP39 L. L für Langley. Die Limousine war ein ausländisches Modell, wahrscheinlich ein deutscher Mercedes. Als sie an dem geparkten Vauxhall vorbeiglitt, wurde sie noch langsamer. Im Vauxhall ging die Innenleuchte an. Dreimal hintereinander und nur ganz kurz. Ein Haltesignal? Doch die Limousine beschleunigte abrupt, der Motor heulte auf, die Scheinwerfer erloschen. Mit quietschenden Reifen schlitterte der Wagen in die Fawcett Street hinein und war im nächsten Moment nicht mehr zu sehen.

Robert Yenford rührte sich nicht. Angespannt schaute er zum Vauxhall hinüber. Dort blieb alles still. Die Innenleuchte ging nicht mehr an. Minuten verstrichen. Dann wurde der Anlasser betätigt. Der Vauxhall sprang an, und die Scheinwerfer wühlten in den Nebelschwaden, die über der Straße wallten. Langsam glitt der Vauxhall die Ifield Road hinunter bis zur großen Kreuzung an der Fulham Road. Dort, im Nebel kaum mehr zu erkennen, bog er nach links ab.

Robert Yenford verharrte eine Weile regungslos in der Häusernische, bevor er sich dazu entschloss, die Straße zu überqueren. Vor Aufregung fror er nicht mehr; obwohl er sich von diesem nächtlichen Abenteuer eigentlich mehr erwartet hatte, konnte er zufrieden sein. Sein Verdacht war wenigstens bestätigt worden. Jetzt konnte er sich vielleicht an Scotland Yard wenden, an Inspector Philander Dearborn, der ihm so oft mit gutem Rat zur Seite gestanden hatte, wenn er für seinen Roman Informationen über Spurensicherung und besondere Aufklärungsarbeiten brauchte.

Robert blieb fast das Herz stehen, als plötzlich die Katze schrie. Sie stand drüben in der Häusernische auf dem vorstehenden Sims eines Fensters, mit einem Buckel und hochgestelltem Schwanz. Nun fauchte sie zu ihm herüber, als ob sie ihn davon abhalten wollte, dorthin zu gehen, wo der Vauxhall gestanden hatte.

Robert Yenford zögerte einen Moment. Dann ging er weiter an der Friedhofsmauer entlang. Dort, wo der Vauxhall geparkt gewesen war, gab es nichts zu sehen außer einem frischen Ölfleck auf dem Asphalt. Robert sah sich um, und jetzt bemerkte er die Gestalt im Torbogen, der in den Friedhof führte. Die Gestalt bewegte sich nicht. Schwarz stand sie vor einigen alten Grabsteinen, die schwach zu erkennen waren. Ihr Gesicht schimmerte fahl, wie das eines Toten. Robert merkte, wie ihm trotz der unangenehmen Kälte der Schweiß ausbrach. Er wollte zurückweichen, wollte davonlaufen, aber er war wie gelähmt. Die Gestalt bewegte sich und stürzte auf ihn zu. Robert Yenford hob beide Hände zur Abwehr, als der blanke Stahl einer Messerklinge aufblitzte.

Aaron Bean war an diesem Dienstag wie jeden Morgen früh auf den Beinen. Lange bevor der Tag graute, braute er sich am rußgeschwärzten Herd seiner kleinen Küche einen Kaffee und aß von dem Brot, das vom Abend zuvor übrig geblieben war. Das Brot war so hart, dass er die Brocken in den Kaffee tunken musste, denn Aaron Bean hatte seit Jahren keine Zähne mehr.

Er war Totengräber von Beruf. Ein Ausgestoßener der Gesellschaft, mit dem niemand etwas zu tun haben wollte und der von niemandem Mitgefühl erwarten konnte.

Seit er zurückdenken konnte, hatte er mit Pickel und Schaufel Löcher gegraben, in denen Tote ihre letzte Ruhe fanden. Ewige Ruhe. Und Frieden, in einer Zeit, in der überall auf dieser Welt Krieg herrschte, Terror, Tod und Verderben.

Aaron Bean wohnte in der Mansarde eines Hinterhauses, ganz in der Nähe seines Arbeitsplatzes, dem Brompton-Friedhof. Es war kalt in seiner Bude unter dem Dach. Er hätte zwar heizen können, aber Holz war teuer, und er fand nicht die Zeit, selbst in den Wald zu gehen und Holz zusammenzutragen. So benutzte er den Herd nur, um Kaffee zu brauen oder eine dürftige Mahlzeit zuzubereiten, meistens Büchsenbohnen und Speck, nur am Sonntag mal ein Ei, eine Scheibe Wurst, oder gar ein Stück Schweinefleisch.

Sonntage waren besondere Tage für Aaron Bean. Am Sonntag starben zwar auch Leute, aber die wurden dann erst am Dienstag begraben, es sei denn in heißen Sommermonaten, wenn die Gefahr schneller Verwesung bestand. Dann kam es schon mal vor, dass ein Verstorbener vom Sonntag schon am Montag bestattet wurde, aus hygienischen Gründen, und Bean musste dann am Sonntag das Grab ausheben.

An diesem Dienstagmorgen war es ein Mann namens Wilkins, der endlich seinen ewigen Frieden finden sollte. Den Vornamen hatte Aaron Bean vergessen. Er machte sich ohnehin nichts aus Vornamen, nicht einmal aus seinem eigenen. Wenn er mit sich selbst im fleckigen Rasierspiegel ein paar Worte wechselte, nannte er sich nur Bean. »Bean, du hast einen ehrbaren Beruf, auch wenn das die eingebildete Gesellschaft nicht so sieht«, sagte er zum Beispiel an diesem Morgen nach dem Frühstück. »Für die feinen Pinkel bist du ein Stück Dreck bis zum Tag, an dem du ihnen ein Grab schaufeln musst.« Sein Spiegelbild gab ihm keine Antwort, da es mit ihm einig war.

Er seifte sein Gesicht ein und schabte sich die Bartstoppeln von der faltigen Haut. Die Möglichkeit, dass dieser Tag für ihn ein glücklicher werden würde, erschien ihm nicht schlecht. Wann immer er nämlich die Prozedur des Rasierens ohne Schramme durchstand, folgte eine mehr oder weniger lange Glückssträhne. »Gerecht ist die Welt trotz allem Unglück, Bean«, sagte er, jetzt etwas freundlicher. Er kämmte sein schütteres Grauhaar mit den Fingern, setzte seine Wollmütze auf und zog den alten schwarzen Mantel an, den er von einer Witwe als kleine Aufmerksamkeit erhalten hatte. Von den meisten erhielt er nichts. Die da kamen, vergossen ihre Tränen und verschwanden wieder.

Und das war gut so. Tote waren ihm angenehmer als Hinterbliebene. Hinterbliebene erinnerten ihn zu oft an Geier, die schon beim Totenmahl darauf aus waren, den anderen Erbberechtigten vom Teller zu klauen.

Es war sieben Uhr am Morgen, als Aaron Bean die Holztreppe hinunterging und im Erdgeschoß der alten Louise Postgate begegnete, der Vermieterin. Und wie jeden Morgen sagte sie: »Früh auf den Beinen, Bean.« Und er antwortete jeweils: »Die Toten warten nicht gerne, Gnädigste.« Und dann fragte sie ihn sofort, wer es denn heute Morgen war.

»Wilkins«, erwiderte er.

»Wilkins?«

»Niemand von Rang und Namen, Gnädigste.«

»Oh«, sagte Louise Postgate dann und ermahnte ihn, dass in neun Tagen die Miete fällig war. In neun Tagen. Der Teufel soll sie holen, dachte Aaron Bean, schloss die Haustür auf und trat in die Kälte hinaus.

Es war noch immer dunkel. Vor neun Uhr würde es nicht richtig hell werden. Nicht zu dieser Jahreszeit. Von seinem Haus aus hatte Bean nur zwei Straßen zu überqueren, dann war er an der Ifield Road. Er benutzte nie den Haupteingang zum Friedhof. Er hatte nicht einmal einen Schlüssel zum großen Tor. Eine Regel der Friedhofsverwaltung. Totengräber benützen den Hintereingang. Nicht einmal den Lieferanteneingang, durch den die Särge zum Leichenschauhaus gelangten und die Blumen und die Kränze in den Friedhof gebracht wurden.

Um zehn Uhr war die Beerdigung. Pünktlich, damit das Grab bis zum Mittag zu war und er nach getaner Arbeit eine Stunde Zeit fand, seinen kargen Lunch zu verdauen. Danach hatte er nämlich dazu keine Zeit mehr, denn drüben im Ostteil, dort, wo sich die ältesten Gräber befanden, musste Raum für neue geschaffen werden. Zwei wollte er noch an diesem Tag ausheben, nämlich das fünfzigjährige Doppelgrab von Mr. und Mrs. Rudgers, um die sich schon seit zwanzig Jahren keine Verwandten mehr gekümmert hatten. Viel von ihnen wird ohnehin nicht übrig geblieben sein, dachte Bean, ein oder zwei Goldzähne vielleicht, die er, so verlangte es die Vorschrift, der Friedhofsverhaltung übergeben musste, was er, wenn er schon mal eine kleine Glückssträhne hatte, nicht tun würde. Als er das kleine hintere Tor erreichte, griff er tief in seine Hosentasche und suchte nach dem Schlüssel. Es befand sich viel zu viel Kram darin; ein altes Taschenmesser, eine Schnur, eine ausgehöhlte Kastanie, die ihm ein taubstummes Kind aus der Nachbarschaft als Glücksbringer geschenkt hatte. Brotkrumen für die Friedhofskrähe, die er Snowflake nannte, und den Schlüssel, mit dem er das Hintertor seit über dreißig Jahren am Morgen aufschloss und am Abend wieder zusperrte.

An diesem Morgen musste er feststellen, dass er den Schlüssel nicht benötigte. Das Tor war zwar zu, aber nicht abgeschlossen. Seltsam, dachte er. Wie konnte das Hintertor offen sein, wenn er es doch am Abend mit seinem Schlüssel zugesperrt hatte. Außer ihm hatte nur noch Crutch einen Schlüssel, sein Gehilfe, der einen Klumpfuß hatte und an Schwachsinn litt. Aber Crutch war gestern Abend, wie übrigens jeden Abend, vor ihm weggegangen.

Bean ging langsam den Kiesweg zwischen den Gräberreihen und den dichten dunklen Hecken hinauf. Der würzige Geruch der Friedhofsbäume tat ihm gut. Hier fühlte er sich zu Hause, und er konnte sich gar nicht vorstellen, dass es Leute gab, die sich an solcher Stätte nicht wohl fühlten oder sogar aus Angst einen großen Umweg um Friedhöfe machten. Hier herrschte ewiger Friede. Hier herrschte Stille. Mit über sechstausend Toten, die alle ein gutnachbarliches Verhältnis hatten, war hier, mitten in London, ein Paradies.

Bei all diesen wunderbaren Gedanken stahl sich ein Lächeln in Aaron Beans zerfurchtes Gesicht. Manchmal, in der Stunde nach Mitternacht, tanzten vielleicht die Geister einen munteren Reigen, aber sonst war nie wirklich etwas los.

Bean bückte sich hier und dort, entfernte eine welke Blume aus den Steckvasen im Gras, registrierte im Geiste ein Grab, das unordentlich aussah und der Verwaltung oder dem Obergärtner gemeldet werden musste.

Auf dem großen Platz, wo das riesige Kreuz in den Nebel ragte, fütterte er Snowflake, eine große, wohlgenährte Krähe mit blauschwarzem Gefieder. Snowflake kam jeden Morgen zu ihm, begrüßte ihn mit einem krächzenden Ruf, hüpfte neben ihm her und pickte währenddessen die Brotkrumen aus dem frisch gemähten Rasen.

Der alte Totengräber ging durch die Hintertür in die Aufbahrungshalle und ließ frische Luft herein. Das Ewige Licht flackerte ein bisschen, aber solange er hier war, war es nur einmal ausgegangen, und zwar aus reiner Fahrlässigkeit. Crutch hatte vergessen, Öl nachzugießen.

Im Geräteschuppen nahm er einen Besen zur Hand und kehrte die feuchten Herbstblätter von den Stufen, die zum Portal hinauf führten. Um neun Uhr würde er die Pforte öffnen und die Leute hereinlassen, die noch einen letzten Blick in das Gesicht des Toten werfen wollten. Dazu gab es einen extra Schieber im Sargdeckel. Auf Verlangen konnte der Sarg auch offen gelassen werden, aber die Verwandten von Wilkins, der von einem Auto überfahren und ziemlich übel zugerichtet worden war, hatten darauf keinen Wert gelegt.

Bean bemerkte, dass im Wärterhaus neben dem Haupteingang zum Friedhof ein Licht angezündet wurde. Ridgely war aufgewacht. Sein Hund schnüffelte an den beiden Säulen bei der Pforte herum und pinkelte auch schon dagegen. Widerlich, dachte Bean. Als Pförtner hätte Ridgely dem Hund schon längst Respekt vor dem Friedhof beibringen müssen. Das wäre das Mindeste gewesen, was die Friedhofsverwaltung von ihm hätte erwarten können.

Ridgely kam aus dem Haus und streckte sich gähnend. Ein ordinärer Mensch, ohne Manieren, genau wie sein Hund. Er öffnete die große Pforte. Dann kam er den breiten Kiesweg entlang, spuckte zum Grab eines Dichters und Denkers hinüber, der seinerzeit ziemlich berühmt gewesen war, und kam die Treppe hinauf.

»Feiner Morgen, wie«, sagte er und rieb seine Hände. »Was ist heute mit dem dort?« Er zeigte zum Sarg auf dem Katafalk hinüber, auf dessen Deckel ein Bouquet aus weißen Nelken, Gladiolen, Astern und gelben Rosen lag. Am Kopfende des Sarges waren die Kränze zur Schau gestellt, mit den schönen glänzenden Schleifen, auf denen in Goldbuchstaben allerlei Sprüche aufgedruckt waren. Besonders einer stach ins Auge, und der hieß: »Wo Du hingehst, folge ich Dir bald.« Darunter zwei Buchstaben. Wahrscheinlich die Anfangsbuchstaben eines Namens. Wilkins Freundin oder so. Irgendjemand, der ihn vermisste.

»Was soll mit dem schon sein«, sagte. Bean. »Heh, dein Hund pinkelt gegen die Steine.«

»Na und? Tut er doch jeden Morgen.« Ridgely lachte. »Wie viele kommen, was glaubst du?«