Aus dem Amerikanischen von Michael Krug

Impressum

Die Originalausgabe Extinction Age (The Extinction Cycle, #3)

erschien 2015 im Verlag CreateSpace Independent Publishing.

Copyright © 2015 by Nicholas Sansbury Smith

Copyright © dieser Ausgabe 2017 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-499-7

www.Festa-Verlag.de

»Die Welt hatte so viele Zeitalter erlebt: das Zeitalter der Aufklärung, der Reformation, der Vernunft. Jetzt, endlich, das Zeitalter der Begierde. Und danach: ein Ende der Zeitalter – vielleicht ein Ende für alles.«

– Clive Barker, Das nicht-menschliche Stadium

1

7. Mai 2015

New York City

In den Tunneln unter Manhattan roch es nach Tod, aber Master Sergeant Reed Beckham ignorierte den Gestank von Verwesung, der in der feuchten Luft hing. Verletzt, erschüttert und nur noch mit seiner Handfeuerwaffe ausgestattet galt sein volles Augenmerk der Aufgabe, seine Männer am Leben zu halten.

Er zog sein Halstuch hoch, um die Nase zu bedecken, dann stürmte er um eine weitere Ecke, folgte den Geräuschen von klappernder Ausrüstung und angestrengter Atmung durch die unterirdische Welt der Kanalisation. Licht tänzelte über das grünstichige Blickfeld seiner Nachtsichtbrille und verzerrte sich in der Dunkelheit auf gespenstische Weise. Die mit Graffiti bedeckten Wände schienen näher zu kommen, als er rannte, und die Underground-Kunstwerke verkrümmten sich, als befände er sich in einem Spiegelkabinett am Jahrmarkt.

Atme!, befahl sich Beckham. Atme!

Er ignorierte das Brennen in seinen Lungenflügeln und konzentrierte sich auf die sechs Helme, die sich vor ihm auf und ab bewegten. Die loyalen Soldaten waren ihm in die Tunnel gefolgt, um den Brandbomben und den Abartigen zu entgehen, doch Beckham fürchtete, er könnte für diese tapferen Männer das Unvermeidliche damit lediglich hinausgezögert haben.

»Bleibt in Bewegung!«, brüllte Staff Sergeant Chow. Der Sondereinsatzspezialist der Delta Force drehte sich um und winkte Beckham nach vorn.

Ein unmenschlicher Schrei ertönte, verstärkt durch die beengten Raumverhältnisse. Gleich darauf folgte das rasante Klicken von Gelenken, als die Abartigen auf den Standort von Team Ghost zusteuerten.

Beckham streifte eine Wand und warf einen Blick über die Schulter. Die Kreaturen blieben in den Schatten. Die bleiche Haut über ihrem verseuchten Fleisch schimmerte im Mondlicht, das durch halb offene Kanaldeckel einfiel. Sie krabbelten horizontal die Wände entlang, gerade nah genug, um Beckhams Mannschaft im Blickfeld zu behalten.

Die Monster waren zu perfekten Raubtieren mutiert, die in fast völliger Finsternis sehen konnten, deren Wunden aufsehenerregend schnell heilten und die sich wie Insekten bewegten. Dr. Kate Lovato nannte es Evolution. Beckham nannte es natürliche Auslese. Und mit jeder verstreichenden Sekunde wurden die Abartigen stärker, während die menschliche Bevölkerung schwand.

Beckham war von Anfang an involviert gewesen, schon damals in Gebäude 8, aus dem das Virus, das Menschen in Monster verwandelte, ursprünglich entkommen war. Und dennoch, der Anblick der Abartigen erfüllte ihn immer noch mit nackter Angst. Adrenalin befeuerte seinen Kreislauf wie ein schnell wirkendes Aufputschmittel, während er rannte.

Die Kreaturen stellten ihn auf die Probe. Sie loteten aus, wie weit sie sich nähern konnten, bevor Team Ghost das Feuer eröffnete. Beckham reagierte mit einem Schuss aus seiner 10-Millimeter-Pistole. Splitter und Staub spritzten von einer Wand. Diese Warnung würde ihnen höchstens ein, zwei kostbare Minuten erkaufen.

Ein plötzliches Beben durchlief rumorend den Tunnel. Betonfragmente stürzten von der Decke und überschütteten das Team mit Geröll. Die Jets überflogen Manhattan ein zweites Mal und warfen Brandbomben auf die Innenstadt ab.

Beckham dachte an seine Waffenbrüder, an Timothy und Jake, und hoffte inständig, sie würden es alle aus der Todeszone geschafft haben. Rasch schüttelte er den Gedanken ab, als er durch eine Wolke aus Staub und Asche preschte und mit einer Hand das Gesicht abschirmte. Er watete durch knöcheltiefes Abwasser, drehte sich alle 30 Meter um und feuerte einen Schuss ab.

Eine aufgeregte Stimme drang durch das Chaos.

»Wohin?«

»Nach links!«, ertönte eine zweite Stimme.

»Nach rechts!«, brüllte gleich darauf jemand anders.

Beckham konnte die Verzweigung vor sich kaum ausmachen. Niemand von ihnen hatte eine Ahnung, wo sie sich befanden oder wohin sie sollten. Das Betreten der Tunnel war ein letzter Ausweg gewesen. Im Augenblick, tief unter den Straßen, bestand Beckhams einziger Plan darin, in Bewegung zu bleiben.

»Links! Geht nach links!«, rief er in dem Moment, als ein zweiter Hagel dumpfer Aufschläge die Straßen über ihnen traf. Die Explosionen erfolgten diesmal näher, und das Beben in ihrem Gefolge ließ Beckham gegen eine Wand krachen. Er stützte sich mit dem Ellbogen ab und wirbelte herum, feuerte auf drei Abartige, die über die Decke angesaust kamen. Zwei davon zogen sich in die Dunkelheit zurück, aber die dritte und größte Kreatur ließ sich von der Decke fallen und landete auf allen vier muskulösen Gliedmaßen im Wasser.

Beckham schoss erneut und rannte weiter. Als er um die nächste Ecke bog, befand sich sein Team 15 Meter weiter. Timbos massige Gestalt zeichnete sich in der Dunkelheit ab.

»Komm schon!«, stieß der Ranger schnaufend hervor.

»Bin gleich da!«, gab Beckham zwischen zwei rasselnden Atemstößen zurück. In seinem Ohrstöpsel knisterte es, als er sich beeilte, zu den anderen aufzuschließen.

»Haben Sie einen Plan?«, fragte Lieutenant Colonel Jensen mit bewusster Betonung auf dem letzten Wort.

Beckham konnte nicht lügen. Er versuchte immer noch, sich einen Plan B einfallen zu lassen. Bisher rannten sie nur durch das Labyrinth der Tunnel, was nicht sonderlich gut funktionierte.

»Wir werden Gegenwehr leisten müssen, um uns die Abartigen vom Hals zu schaffen!«, brüllte Beckham schließlich. »Munitionszählung!«

Nach und nach kamen die Antworten über die Funkverbindung. Zu siebt brachten sie nur noch eine Handvoll Magazine für ihre Primärwaffen und ein paar Splittergranaten auf. Mehrere seiner Männer hatten lediglich ihre Handfeuerwaffen übrig.

Beckham starrte durch das Nachtsichtgerät in die grüne Leere des Tunnels, während er sich ihre Möglichkeiten durch den Kopf gehen ließ. Es war nicht das erste Mal, dass er mit dem Rücken zur Wand stand. In Fort Bragg hatten Horn und er nur noch ihre Messer gehabt, bevor Chow mit der Kavallerie aufgekreuzt war. Allerdings würde diesmal niemand auftauchen, um sie zu retten. Team Ghost war auf sich allein gestellt.

Ein kehliges Krächzen hallte durch den Gang. Zwei weitere Stimmen antworteten auf den Ruf. Die bösartigen Schreie erschütterten seine Sinne. Beckham untersuchte seine Splitterschutzweste auf irgendetwas Nützliches, irgendetwas, das ihnen etwas mehr Zeit erkaufen konnte, um zu fliehen. Zwei Rauchgranaten hingen neben seiner letzten verbliebenen M67-Granate.

Aus schierer Verzweiflung griff er sich eine davon und warf sie, so weit er konnte. Mit einem leisen Platschen landete sie ungefähr 30 Meter entfernt im Abwasser. Gleich darauf zischte Rauch aus der Granate.

»Ich bin unmittelbar hinter euch«, meldete Beckham in sein Mini-Mikrofon. Die Decke erzitterte und rumorte, als die Jets das Gebiet ein drittes Mal überflogen und seine Stimme übertönten.

Das Oberkommando nahm die Abartigen schwer unter Beschuss. Nachdem die Kreaturen vom Ersten Zug aus ihren Verstecken gelockt worden waren, hatte General Kennor vermutlich befohlen, jeden verfügbaren Piloten aufsteigen zu lassen. Die Jungs von der fliegenden Truppe überschütteten New York mit Höllenfeuer und Tod. Beckham knirschte mit den Zähnen – Kennor hatte ihn, seine Männer und Tausende andere Soldaten als Köder benutzt.

Ein Betonsplitter streifte Beckhams Arm und riss ihn aus seinen Gedanken. Ein zweiter Brocken prallte so heftig von seinem Helm ab, dass er aus dem Gleichgewicht geschleudert wurde. Er sank auf ein Knie und hob die Pistole in Richtung des Rauchs an. Mondschein, der durch einen offenen Kanaldeckel einfiel, tauchte ihn in Licht. Er klappte seine Nachtsichtbrille hoch und spähte mit zusammengekniffenen Augen in den Rauch.

»Bewegung!«, rief Timbo.

»Ich komme nach!«, brüllte Beckham zurück. Er blieb in seiner Position und hielt weiter Ausschau nach den Monstern. Die wirbelnde Wolke breitete sich rasch durch den Tunnel aus. Beckhams Herz pochte heftig, während er wartete. Sekunden verstrichen. Fünf. Zehn. Die Schritte seines Teams platschten durch das Wasser, wurden allmählich leiser.

Ein Aufblitzen von Bewegung zeichnete sich hinter dem Rauchvorhang ab. Die Gestalt eines riesigen Abartigen verharrte am Rand der Barriere. Die Kreatur legte den Kopf schief, und ihre gelben Augen blinzelten rasant, als sie nach Beckham suchte.

Der Elitesoldat feuerte reflexartig – sein Abzugsfinger reagierte mit drei Schüssen auf den Anflug von Angst. Die Kugeln schlugen in den verschwitzten Brustkorb des massiven Abartigen ein, rissen ihn hin und her. Das Monster brüllte auf und sprang an die Wand.

Beckham feuerte zwei weitere Schüsse ab. Ein Projektil streifte den Kopf des Ungetüms, riss ihm ein Ohr ab und sprengte einen Splitter des Schädels ab, was das Monster lediglich in Raserei versetzte. Es krabbelte über die Ziegelsteine, verringerte den Abstand zwischen sich und Beckham. Mittlerweile konnte er es riechen. Der saure Gestank von fauligem Obst überlagerte sogar den ekelhaften Mief des Abwassers.

»Was zum Teufel treibst du denn so la…«, setzte Chow über die Funkverbindung an, doch seine Worte wurden von Beckhams Schüssen abgeschnitten. Wieder und wieder feuerte er, aber die dicken Muskelstränge des Monsters schienen die Kugeln förmlich zu absorbieren. In den Pausen zwischen den Schüssen hallten das schrille Kreischen und das Knacken von Gelenken anderer Abartiger durch den Tunnel.

Beckham wusste, was als Nächstes kommen würde.

Erschöpfung hatte seine Sinne beeinträchtigt. Er hätte wissen müssen, dass der Rauch ihre Flucht nicht decken würde – und dass seine Kugeln die Kreaturen nicht aufhalten konnten. Ohne nachzudenken, griff er nach seiner letzten Granate, zog mit den Zähnen den Stift heraus und schleuderte den Sprengkörper jenem Ungeheuer von einem Abartigen entgegen, das sich nur noch 15 Meter entfernt befand.

»Splittergranate!«, brüllte Beckham.

Er wollte sich gerade zur Flucht wenden, als ihn ein fleischiger Körper erfasste und mit dem Rücken voran ins Wasser stieß. Es blieb keine Zeit zum Reagieren, keine Zeit, um nach Hilfe zu rufen oder den Umstand zu verfluchen, dass er den anderen Abartigen nicht bemerkt hatte. Die zweite Kreatur hatte ihm durch den Kanaleinstieg über ihm aufgelauert. Beckham hatte nur den Bruchteil einer Sekunde, um den Kopf wegzureißen und dem Maul seines Angreifers so zu entgehen.

Das Monster presste seine Klaue gegen Beckhams Brust, drückte ihn unter die Oberfläche des widerlichen Wassers. Sterne explodierten vor seinen Augen, als er darum kämpfte, wieder aufzutauchen. Plötzlich ereilte ihn eine Erkenntnis: Er hatte noch vier, vielleicht fünf Sekunden, bis die Granate detonieren würde. Die Zeit wurde in seinem Kopf heruntergezählt, während er sich zur Wehr setzte.

Fünf Sekunden.

Beckham schlang eine Hand um den dicken Hals der Kreatur, während er mit der anderen nach seiner Pistole tastete, sie dann aber leer zurückzog – er hatte die Waffe irgendwo im Matsch verloren.

Eine weitere Sekunde verstrich. Beckham geriet in Panik, da er wusste, dass er sich definitiv im Vernichtungsradius der Granate befand. In einem letzten, verzweifelten Versuch, dem Monster zu entkommen, griff er nach seinem Messer. Er rammte die Klinge in den offenen Mund des Abartigen. Zähne splitterten, als er die Spitze mit einem feuchten Schmatzlaut ins Gehirn der Kreatur trieb.

Zwischen den aufgedunsenen Lippen des Monsters drang ein gurgelndes Krächzen hervor, dann erschlaffte es. Das tote Gewicht sackte über Beckham zusammen und drückte ihn erneut unter Wasser. Gedämpft hörte er eine Stimme, als er sich zurück nach oben kämpfte.

»Beckham! Halt durch! Ich kom…«

Die Worte gingen in der Explosion unter. Splitter zischten durch den Tunnel und schlugen ins Gewebe des Kadavers auf Beckham ein. Auch Beckhams ungeschützte rechte Schulter bekam ein Fragment ab. Er zuckte angesichts des heißen Blitzes zusammen, der seinen rechten Arm schlagartig taub werden ließ. Zu Boden gedrückt musste er hilflos mit ansehen, wie sich Risse über die Decke ausbreiteten. Brocken fielen von dem Geflecht der Sprünge ins faulige Wasser.

Beckham wand sich unter dem toten Abartigen hin und her, aber sein rechter Arm war für nichts mehr zu gebrauchen. Der Kadaver hatte ihn zwar vor der Explosion gerettet, nun jedoch drohte er ihn ertrinken zu lassen.

Rot flutete Beckhams Sicht, und eine Erinnerung an die Nacht, die er mit Kate verbracht hatte, driftete in seine Gedanken. Die Erinnerung löste sich in Bildern von Gebäude 8 und den Mitgliedern von Team Ghost auf, die es damals nicht mehr aus der Anlage geschafft hatten.

Sein Gedächtnis nagte an seinem Verstand, während seine Lunge nach Sauerstoff schrie. Nach und nach verdrängte Finsternis das Rot. Mittlerweile war sein gesamter Körper taub. So taub, dass er kaum mitbekam, wie das Gewicht des Abartigen von ihm rollte. Jäh riss er die Augen auf, als ihn jemand an der Splitterschutzweste packte und aus dem Wasser hievte.

Eine Stimme, verzerrt von dem dumpfen Klang in Beckhams Ohren, rief seinen Namen.

»Beckham! Hörst du mich, Mann?«

»Ja«, brachte Beckham mühsam hervor. Er lebte zwar noch, aber er wusste, dass er in übler Verfassung war. Seine Schulter brannte, als hätte jemand Batteriesäure darüber ausgeschüttet, seine Lunge fühlte sich an, als wäre sie gequetscht worden. Er kniff die Augen zusammen, um sich auf das über ihm schwebende Gesicht zu konzentrieren.

Finger schnippten vor Beckhams Augen. Langsam sah er wieder klar und erblickte Chow, der ihn von oben bis unten nach Verletzungen absuchte.

Beckham sog tief die Luft ein, die nach versengtem Fleisch und dem fauligen Wasser roch. Magensäure brannte in seiner Kehle. Er fuhr sich mit der Zunge über schleimige Zähne und spuckte in den Dreck aus.

»Alles in Ordnung?«, fragte eine andere Stimme.

Beckham konnte durch das Rauschen von Blut in seinen Ohren kaum etwas hören. Einige Minuten lang saß er einfach nur da. Langsam wurde die Welt um ihn herum wieder normal.

»Wir müssen weiter«, meldete sich eine neue Stimme zu Wort.

Beckham klappte seine Nachtsichtbrille wieder nach unten. Rauch und Staub wirbelten hinter Chow, Jensen und Timbo durch den Tunnel. Beckham drehte sich herum und erblickte Jinx, Ryan und Valdez, die den Bereich hinter ihnen sicherten.

»Alles gut, Mann?«, fragte Chow.

»Alles, außer meiner rechten Schulter«, antwortete Beckham. »Bin von einem Granatsplitter getroffen worden.«

»Helft ihm auf!«, befahl Chow. »Und seid vorsichtig.«

Beckham verzog gequält das Gesicht, als sich Timbo bückte, ihn unter den Achseln packte und auf die Beine hievte. Die anderen Männer bildeten einen Kreis um ihn wie eine Legion von Rittern, die einen gefallenen Krieger beschützt.

»Sie sind schon ein verrückter Mistkerl«, befand Jensen, als er das Ausmaß der Zerstörung betrachtete.

»Musste sie aufhalten«, erwiderte Beckham.

»Ja«, sagte Jensen. »Sieht so aus, als hätten Sie das getan.«

»Vorläufig«, schränkte Beckham ein. Er übte Druck auf seine Wunde aus und suchte den sich verflüchtigenden Rauch ein weiteres Mal nach Anzeichen auf Bewegung ab. Nichts rührte sich. Die Abartigen waren in verstreute Brocken zersprengt worden.

»Lasst uns weitergehen«, sagte Beckham. Ihm war zwar etwas schwindlig, aber sie mussten in Bewegung bleiben.

»Warte, Mann. Lass mich einen Blick auf deine Schulter werfen«, schlug Chow vor.

»Die kann warten«, entgegnete Beckham. »Gibt mir jemand eine Waffe? Meine hab ich bei der Explosion verloren.«

Jensen reichte ihm einen Revolver. Beckham klappte die Trommel des Colt .45 auf und zählte die sechs Hohlspitzgeschosse.

»Das ist mein Schätzchen«, erklärte Jensen. »Ich will sie wieder zurück.«

Obwohl das Nachtsichtgerät die Augen des Mannes verdeckte, wusste Beckham, dass der Lieutenant Colonel ihn abwägend musterte. An Jensens Stelle hätte er dasselbe getan.

»Mir nach«, sagte Beckham. Er ließ seinen Männern keine Chance zum Protestieren. Kurz entschlossen schritt er durch die Gruppe und führte sie weg von dem Gemetzel, während ihm noch Blut von der Schulter tropfte.

Ein in seinen Ohren widerhallendes Klingeln folgte ihm durch die Tunnel. In dem stinkenden, feuchten Labyrinth von Abwasser- und Niederschlagsabflusskanälen verlor er jedes Zeitgefühl.

Der nächste Korridor weitete sich und mündete gekrümmt in einen größeren Durchgang mit Backsteinplattformen zu beiden Seiten. Beckham sprang auf den rechten Sims und lief dicht entlang der Wand weiter, froh darüber, aus der Scheiße draußen zu sein. Jensen und Jinx eilten die linke Plattform entlang, Timbo folgte knapp hinter ihnen.

Beckham presste die Hand auf seine Wunde. Falls er es aus diesem Labyrinth schaffte, würde er genäht werden müssen und einige starke Antibiotika brauchen, um eine Blutvergiftung zu verhindern. Die Verletzung brannte höllisch vor lauter Bakterien, die bereits in seinen Kreislauf gelangt waren.

»Siehst du was?«, fragte Chow.

»Scheint alles klar zu sein«, gab Beckham zurück.

Es fehlte jede Spur von den Abartigen oder sonstigen Bedrohungen im Tunnel. Zum ersten Mal seit Stunden konnte Beckham das Plätschern rinnenden Wassers wahrnehmen. Das Klingeln in seinen Ohren von der Granatenexplosion war noch immer dabei, nachzulassen, aber zumindest hatte die Air Force endlich ihr Bombardement eingestellt.

Während sich das Team den Weg vorwärts bahnte, schwoll das Rinnsal zu einem steten Strom an. Aus der Ferne drang das Rauschen von Wasserfällen zu ihnen. Die Grüntöne gingen in Dunkelheit über, das Ende des Tunnels verwandelte sich zum schwarzen Eingang einer Höhle. Beckham verlangsamte die Schritte, als er sich einem Schmutzwasserfall näherte, der sich über den Rand in den weitläufigen Raum ergoss.

Er bildete mit einer Hand eine Faust, dann zeigte er auf seine Augen und anschließend auf den Abgrund. Jensen und Timbo bestätigten mit einem Nicken, dass sie verstanden hatten, und gingen auf der linken Plattform in geduckter Haltung in Stellung.

»Lass mich dich verbinden«, flüsterte Chow. Er zwängte sich an Beckham vorbei und kauerte sich vor ihm hin. »Wie fühlst du dich, Mann?«

»Mir ist schwindlig«, antwortete Beckham. Ein vereinzelter Stern trieb quer über sein Blickfeld.

»Du hast einiges an Blut verloren«, sagte Chow. Er griff in seinen Rucksack und holte einen kleinen Erste-Hilfe-Kasten daraus hervor. Dann beugte er sich näher und klappte seine Nachtsichtbrille hoch, nutzte das spärliche Licht aus dem Tunnel hinter ihnen, um etwas zu erkennen.

»Sieht tief aus«, merkte Chow an.

»Fühlt sich auch so an …« Beckham schüttelte den Kopf. Flüchtig erhaschte er einen Blick auf Timbo, der näher zum Rand des Abgrunds schlich.

Chow schnitt ein Stück von Beckhams Hemd weg und behandelte die Wunde mit einem Antiseptikum. Das kalte Gel brannte bis tief in die Schulter und Beckham knirschte mit den Zähnen. Er schloss die Augen und wartete, bis sich die Schmerzen legten. Chow brachte einen Verband über der Verletzung an.

»Das sollte die Blutung stoppen«, sagte er. »Aber wir müssen …«

Timbos Stimme ertönte über die Sprechverbindung und schnitt Chow das Wort ab.

»Heilige … heilige SCHEISSE!«

Abrupt schlug Beckham die Augen auf. Der Ranger kauerte am Ende der linken Plattform und spähte über die Seite. Plötzlich taumelte er vom Rand weg, plumpste auf den Hintern und robbte mit den dicken Armen rückwärts davon weg.

»Kontakt?«, fragte Beckham, dessen Herzschlag sich jäh beschleunigte. Er löste sich von Chow und näherte sich langsam dem Rand des Tunnels.

Timbo antwortete nicht sofort. Seine japsenden Atemzüge knisterten über den Funkkanal, während er weiter zurückrobbte.

»Was um alles in der Welt hast du gesehen?«, bohrte Beckham nach.

»Ich … ich …« Das Entsetzen in Timbos Stimme ließ Beckham innehalten. Er hatte noch nie einen Mann gehört, der so verängstigt geklungen hatte.

Gefolgt von Chow rückte Beckham näher zum Rand vor. Zusammen kauerten sie sich hin und blickten über die Seite. Ein Moment verstrich, eine Sekunde, in der die Zeit stillzustehen schien. Das Bild, das Beckham sah, wollte sich nicht verarbeiten lassen. Es musste eine optische Täuschung sein, ein Trugbild. Eine Illusion, die ihm sein überanstrengtes Hirn vorgaukelte. Oder zumindest wünschte Beckham inständig, es wäre so.

Aber es war keine Illusion.

Es war real.

Ein halbes Dutzend weiterer Tunnel mündete in eine zentrale Kammer und nährte unten einen Abwassertümpel. Die Wände und die Decke des riesigen Raumes waren von Hunderten menschlichen Gefangenen bedeckt, die Körper mit dicken, netzartigen Ranken fixiert, die sich wie aufgeblähte Venen kreuz und quer über ihre Haut erstreckten. Einige Opfer waren bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, anderen fehlten Gliedmaßen.

Abartige krochen mit gekrümmten Rücken über die Wände, hafteten mit ihren Klauen und den haarähnlichen Fasern, die Kates Team entdeckt hatte, an den Ziegelsteinen. Eine der Kreaturen krallte sich gerade durch den klebrigen Film, der einen bewusstlosen Mann bedeckte. Jäh öffneten sich seine Lider, als sich das Monster auf seinen Bauch stürzte und sich in sein Fleisch wühlte. Er schrie auf, doch seine Stimme verlor sich rasch im Tosen der Wasserfälle.

»Verschwinden wir«, flüsterte Chow.

Beckham schluckte schwer, brachte keine Erwiderung zustande. Als er vom Rand zurückwich, bemerkte er eine an der Wand zu seiner Rechten fixierte Frau. Ihr Blick begegnete dem seinen, und sie streckte sich mit einer zitternden Hand nach ihm.

»Bitte. Bitte helfen Sie mir«, flüsterte sie mit bebenden Lippen.

Beckham hob einen Finger an den Mund, aber es war bereits zu spät. Ihr Tuscheln hatte die Aufmerksamkeit einer Kreatur in ihrer Nähe erregt. Das Monster stimmte einen schrillen Schrei an, der Beckhams Herz einen Schlag aussetzen ließ. Das Klicken von Gelenken und das Kratzen von Klauen folgte, als sich die erwachten Abartigen rührten und die Dunkelheit absuchten.

»Wir müssen weg«, drängte Chow. »Sofort, Mann!«

Schritte pochten über die Plattformen, als das Team hastig den Rückzug antrat. Beckham jedoch zögerte. Sein Blick wanderte von der Gefangenen zu den über die Decke rasenden Abartigen.

»Bitte!«, flehte die Frau. »Bitte lassen Sie mich nicht zurück!«

Beckham warf einen Blick über die Schulter. Die anderen Männer befanden sich auf halbem Weg den Tunnel hinab. Nur Chow war geblieben.

»Komm endlich!«, forderte ihn sein Kamerad auf und winkte fieberhaft.

»Nein«, widersprach Beckham. »Hilf mir.« Er würde niemanden zurücklassen. Erst recht niemanden, der sich in Reichweite befand.

Ohne weiteres Zögern eilte Chow zurück zu ihm. »Du bist verdammt noch mal verrückt.«

»Halt mich am Gürtel fest«, gab Beckham ungerührt zurück. Er zog sein Messer und kauerte sich hin, benutzte die Klinge, um die klebrigen Ranken wegzuschneiden, die über die Füße und Beine der Frau verliefen. Kaum hatte er die untere Körperhälfte befreit, schlitzte er durch das Geflecht über ihrem Bauch und ihrer Brust. Ihr Körper sackte nach vorn, aber Chow packte sie, bevor sie ins Wasser fallen konnte. Er zog sie in Sicherheit, und sie brach in ihrem CBRN-Anzug auf dem Boden zusammen. Als sich Beckham bückte, um ihr zu helfen, sah er unter dem zerrissenen Anzug tiefe Schnitte an ihren Beinen.

»Das wird schon wieder«, versicherte ihr Beckham und hoffte, damit nicht zu lügen. Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf die Meute, die über die Decke und die Wände anstürmte. Mittlerweile befanden sie sich nah, nur noch Sekunden entfernt.

»Beckham, Chow, wo zum Teufel stecken Sie beide?«, verlangte Jensen über den Funkkanal zu erfahren.

»Sind unterwegs«, gab Beckham zurück. Er griff sich die zwei Granaten von Chows Splitterschutzweste und überlegte, was er tun sollte. Für die Entscheidung brauchte er nur den Bruchteil einer Sekunde. Wenn er die verstümmelten Gefangenen schon nicht retten konnte, dann würde er zumindest sicherstellen, dass sie nicht länger leiden mussten.

»Schaff sie weg von hier«, sagte Beckham. »Ich komme sofort nach.«

Chow sah ihn an und nickte. Die Frau stöhnte vor Schmerzen, als er sich bückte und ihr aufhalf.

Beckham klemmte sich die Granaten in eine Armbeuge und feuerte einige gut gezielte Schüsse mit dem Revolver ab, um seinem Kameraden ein paar Sekunden zu verschaffen. Als die Abartigen auseinanderstoben, steckte er sich die Waffe unter den Gürtel und zog mit den Zähnen den Stift aus einer der Granaten. Mit dem heilen Arm schleuderte er sie durch die Luft und beobachtete, wie sie am Geflecht eines Gefangenen kleben blieb. Dann zog er den Stift der zweiten Granate und warf sie über die Schulter zurück, als er losrannte, um wie schon so viele Male vor den Monstern zu flüchten.

Dampf umgab Dr. Kate Lovato in der Duschkabine.

»Es ist heiß«, klagte Jenny in der Kabine nebenan.

»Braucht ihr Hilfe, Mädels?«, erkundigte sich Kate.

»Nein«, antwortete Tasha, Jennys beschützerische ältere Schwester. »Wir machen das schon.«

Kate holte tief Luft und trat unter die Brause. Sie hob eine Hand ans Gesicht und wischte das klebrige Blut von ihrer Haut. Einen Moment lang verfärbte sich das Wasser zu ihren Füßen rötlich, bevor es wirbelnd in den Abfluss strömte.

Unter dem warmen Wasserstrahl kam das Grauen der vergangenen drei Wochen in ihr hoch. Alles, was sie verloren hatte. Alle, die sie verloren hatte. Alles stürzte gebündelt auf sie herab. Schuldgefühle zerfraßen sie, als sie wie betäubt dort stand – doch tief in ihrem Innersten verspürte sie auch Erleichterung. Immerhin atmete sie noch, lebte noch – und ein Teil von ihr glaubte, dass auch Beckham noch lebte.

Das musste Kate einfach glauben. Hoffnung war das Einzige, was sie noch dazu anspornte, weiterzuarbeiten. Die Überlebenden von Plum Island dachten, sie könnte Wunder wirken, aber Kate wusste es besser – vor allem jetzt. Nachdem sie eine Stunde lang den aus aller Welt eintrudelnden Funkübertragungen gelauscht hatte, wusste sie, dass wirklich nur noch ein echtes Wunder die menschliche Rasse retten konnte.

Ihre erste Biowaffe hatte bis auf einen geringen Prozentsatz alle mit dem Blutervirus Infizierten ausgelöscht. Da sie überzeugt war, dass es unmöglich wäre, eine Behandlung für die überlebenden Abartigen zu entwickeln, galt ihr Augenmerk nun der Konstruktion einer weiteren Waffe, die diese Kreaturen restlos vernichten würde, bevor es zu spät wäre. Zweifellos würden noch weitere Millionen sterben, bevor alles vorbei wäre. Und letztlich konnte sie nur hoffen, dass die Menschen die Oberhand behalten würden.

Kate drehte den Wasserhahn ab, griff sich ein Handtuch und trat aus der Dusche. Tasha und Jenny saßen bereits in Handtücher gehüllt auf einer Bank. Kate griff nach dem Seesack, den sie aus ihrer Unterkunft geholt hatte. Sie zog saubere Kleidung für die Mädchen daraus hervor, dann wandte sie sich ab, um sich selbst anzuziehen.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte sie, als sie fertig war. »Euer Papa ist unterwegs zurück.«

Die Augen der beiden Schwestern leuchteten auf. Trotz all der Gräuel, die sie mit ansehen mussten, schimmerte noch Licht darin. So wie Kate besaßen sie nach wie vor Hoffnung.

Sie ergriff je eine Hand der Mädchen und führte sie hinaus in den Gang. Der Gestank von frischem Tod hing in der Luft. Rote Flecken bedeckten den Teppich, auf dem so viele ihrer Kollegen gestorben waren. Kate erstarrte, als sie an die letzten Augenblicke ihrer Forschungsassistentin Cindy zurückdachte. Sie hatten einander nicht besonders gemocht, und am Ende hatte Cindy beschlossen, sich zu verstecken, anstatt mit Kate und den anderen zu gehen. Diese Entscheidung hatte die junge Frau das Leben gekostet.

Kate schluckte und setzte den Weg fort, wich einem Paar blutiger Schuhe und einem kleinen Haufen Patronenhülsen aus.

»Geht einfach weiter«, forderte sie die Mädchen auf. »Schaut nicht nach unten, okay?«

»Doktor«, sagte ein Wachmann der Sanitätstruppe, der am Ende des Flurs auf sie wartete. Kurz erinnerten Kate seine jugendlichen Züge an Jackson, den Marine, der ihnen vor wenigen Stunden das Leben gerettet und dadurch das eigene verloren hatte.

»Wartet!«, rief eine andere Stimme von hinten.

Ellis eilte den Korridor entlang. Sein zurückgegeltes pechschwarzes Haar glänzte im Licht der LED-Leuchtkörper. »Ihr wolltet doch nicht etwa ohne mich los, oder?«

Kate schüttelte den Kopf. »Nein, aber wir müssen uns beeilen.«

»Gehen wir«, meldete sich der Soldat zu Wort. Mit einer Hand öffnete er die Tür, mit der anderen hob er sein Gewehr an und schob die Mündung hinaus ins Mondlicht. »Dicht zusammenbleiben!«, befahl er.

»Ich dachte, die Insel wäre gesichert«, sagte Kate und umfasste die Hände der Mädchen ein wenig fester.

»Ist sie auch, Ma’am, aber Major Smith will keinerlei Risiken eingehen.«

Nur als Umrisse erkennbare Wachen bemannten ein Maschinengewehr schweren Kalibers, und ein Industriescheinwerfer war hinter einem Wall aus Sandsäcken in der Mitte des sechseckförmigen Stützpunkts aufgestellt worden. Der Strahl schwenkte über den Weg und anschließend weiter an den Horizont, erhellte Rauchschwaden, die vom glimmenden Wrack des Chinook Helikopters auf dem Rollfeld aufstiegen. Kate starrte im Vorbeigehen auf das ausgebrannte Metallgerippe und fragte sich, wie genau die Abartigen, die der Hubschrauber befördert hatte, entkommen sein mochten. Sie hatte sich von Anfang an dagegen ausgesprochen, lebende Testobjekte auf die Insel zu holen, doch es erfüllte sie mit keinerlei Genugtuung, recht behalten zu haben.

Wochenlang war Plum Island vor dem Grauen verschont geblieben, das über den gesamten Erdball wütete. Nun sah der Stützpunkt wie ein Kriegsgebiet aus. Am Himmel bahnten sich zwei blinkende rote Punkte den Weg auf die Insel zu, und Kate hörte das entfernte Wummern von Helikopterrotoren.

Ein statisches Knistern drang aus dem Funkgerät an der Weste ihres Begleitsoldaten. »Echo 2 und 3 im Anflug. Alle Sanitätsmannschaften auf dem Rollfeld melden«, sagte eine weibliche Stimme.

Der Wachmann setzte den Weg fort, als hätte er den Funkspruch nicht gehört, Kate jedoch blieb stehen. Sie kauerte sich vor die Mädchen und zeigte zum Himmel.

»Seid ihr bereit, euren Papa wiederzusehen?«, fragte sie.

»Ist Papa in einem von denen da?«, gab Jenny so leise zurück, dass ihre Stimme kaum einem Flüstern glich.

»Ja, er kommt jetzt zurück.«

»Kommt Reed auch zurück?«, wollte Tasha wissen.

Kate kämpfte gegen die wachsende Beklommenheit an, die in ihr aufstieg, und erwiderte: »Noch nicht, Liebes. Noch nicht.«

2

General Richard Kennor eilte auf dem Weg zur Kommandozentrale durch einen unterirdischen Tunnel. Die Sonne würde erst in einigen Stunden aufgehen, aber ein Großteil seines Stabs war bereits wach. Nach den erschöpften Gesichtern zu urteilen, hatten einige seiner Leute überhaupt nicht geschlafen. Er selbst fiel in dieselbe Kategorie, und man merkte es ihm an. Seine Bewegungen waren träge, seine Augen vor Müdigkeit verquollen. Die Wirkung des Koffeins hatte sich bereits vor Stunden verflüchtigt, und er wurde nur noch von reinem Adrenalin angetrieben. Schlaf in Kriegszeiten glich den ersten Monaten mit einem Baby: Man kam nur kurz und unregelmäßig dazu, wenn überhaupt.

Eine Entourage folgte dem Vier-Sterne-General auf dem Weg durch den überfüllten Gang. Der tief unter dem Luftwaffenstützpunkt Offutt gelegene Bunker war derselbe Ort, an den der ehemalige Präsident George W. Bush nach den Anschlägen vom 11. September gebracht worden war. Nun diente er als vorübergehende Heimat für über 200 Personen aus allen Winkeln der Nation, vom Kongressabgeordneten bis hin zu Navy Seals. Sogar ein Nachrichtensprecher von CNN, dem es gelungen war, sich beim politischen Stab eines Senators einzuschleichen, befand sich darunter. Als die Evakuierungen vor Wochen begonnen hatten, war es dem Chaos und reinem Glück zu verdanken gewesen, dass diese wenigen Menschen überlebt hatten.

Unterwegs beobachtete Kennor den Fluss des Personenverkehrs. In den meisten Fällen handelte es sich um Menschen, die als wichtig galten – Menschen, bei denen die Regierung der Ansicht gewesen war, sie sollten ein apokalyptisches Ereignis überleben. Kennor hingegen hätte ohne Weiteres auf zwei Drittel davon verzichten können. Er brauchte militärisches Personal, Männer und Frauen, die wussten, wie man einen Krieg führte. Zum Glück hatte ihm Präsident Mitchell, sobald er in sein Amt vereidigt worden war, einen Blankoscheck für den Krieg gegen die Abartigen ausgestellt.

Kennor mochte den neuen Präsidenten nicht, und das nicht nur wegen seiner Parteizugehörigkeit. Der ehemalige amtierende Senatspräsident war schwach, und das betrachtete Kennor als größten Fehler einer Führungspersönlichkeit. Die chaotischen ersten Wochen des Ausbruchs hatten bewiesen, dass Mitchells Zeit im Kongress ihn nicht dafür qualifizierte, ein Land zu führen, schon gar nicht in Kriegszeiten. Seine einzigen guten Eigenschaften waren, dass er in seinem Bunker in Cheyenne Mountain blieb und die Klappe hielt, während sich Kennor um die Schwerarbeit kümmerte.

»Sir«, ertönte eine Stimme, die Kennor aus seinen Gedanken riss.

Zwei Wachmänner öffneten die Doppeltür zur Kommandozentrale und Kennor eilte hinein. Er bog durch die erste Tür links in einen kleinen Besprechungsraum. Sein persönlicher Stab – seine drei engsten Vertrauten – befand sich bereits darin. Als er eintrat, erhoben sie sich von ihren Sitzen rings um den Strategieplanungstisch und standen stramm. Ihre ernsten Mienen bildeten ein nachdrückliches Mahnmal dafür, dass die menschliche Rasse im Begriff war, den Krieg zu verlieren. Operation Liberty war katastrophal fehlgeschlagen.

»Rühren«, sagte Kennor, als er Platz nahm. Die meisten der Anwesenden hatten ihn fast ein Jahrzehnt lang beim Krieg gegen den Terror begleitet. Zu seiner Linken befand sich Colonel Harris, ein Mann mit zurückgegelten weißen Haaren und dazu passendem Schnurrbart. Gegenüber am Tisch saß Marsha Kramer, Lieutenant Colonel mittleren Alters mit roten Haaren und zwei Grübchen, die kaum je bei einem Lächeln zum Einsatz gelangten. Kennors ältester Freund, General George Johnson, hatte den Platz zu seiner Rechten. Sein kahler Schädel glänzte im Schein der Lichterreihe über ihnen.

Kennors Hand zitterte, als er nach einem Ordner mit dem Vermerk Vertraulich griff. Er brach das Siegel, zog ein Informationsblatt hervor und nahm sich einen Moment Zeit, um den Blick über seinen Stab wandern zu lassen.

»Fangen wir an, Harris«, sagte Kennor.

Der Colonel stand auf und nahm steife Haltung an. »Vor Ihnen, General, liegt der Erstbericht von Operation Liberty. Wir haben in jeder größeren Stadt schwere Verluste erlitten. Die Abartigen haben fast jede vorgerückte Einsatzbasis überrannt, die wir errichtet haben. New York ist verloren. Ebenso Chicago. Minneapolis. St. Louis. Nashville. Atlanta. Es ist ein heilloses Chaos, Sir.«

Kennor schüttelte den Kopf. Er war voll ins Fettnäpfchen getreten. Tausende Soldaten aus jedem Zweig des Militärs waren tot, weil er den Rat von Lieutenant Colonel Jensen und Dr. Kate Lovato ignoriert hatte. Die Städte, die er so verzweifelt hatte retten wollen, lagen in Trümmern, weil er die falsche Entscheidung gefällt hatte.

»Die guten Neuigkeiten sind, dass die Air Force die Abartigen mit Brandbomben schwer getroffen hat. Die Bodenmannschaften haben sie aus ihren Löchern gelockt, und die fliegende Truppe hat sie zu Asche verbrannt. Laut vorläufigen Berichten haben wir eine beträchtliche Anzahl erledigt.«

»Haben wir irgendeine Vorstellung davon, wie viele noch übrig sind?«

»Mehrere Kundschafterteams sind unterwegs, und es werden in diesem Augenblick Satellitenbilder ausgewertet«, antwortete Harris.

»Ich will Zahlen!«, herrschte ihn Kennor an. »Handfeste Zahlen!«

»Ja, Sir«, erwiderte Harris und kritzelte eine Notiz auf seinen Block.

»Was ist mit Überlebenden? Wissen wir, wie viele Menschen da draußen noch übrig sind?«, warf Kramer ein.

Harris’ kurzes Zögern genügte, um Kennor wissen zu lassen, dass es nicht gut aussah.

»Ich fürchte, auch darüber haben wir keine stichhaltigen Zahlen«, sagte Harris.

»Dann geben Sie mir wenigstens Schätzungen«, erwiderte Kennor.

Harris zog eine Augenbraue hoch und erklärte in sachlichem Tonfall: »Ausrottung, Sir. Wir sind mit der nahezu vollständigen Auslöschung der menschlichen Rasse konfrontiert, wenn wir die Abartigen nicht innerhalb des nächsten Monats aufhalten.«

»Wollen Sie damit sagen, dass die Abartigen innerhalb eines Monats den Großteil der Weltbevölkerung getötet haben?«, hakte Kennor nach.

»Haargenau das will er damit sagen«, meldete sich Kramer zu Wort. »Bei allem Respekt, Sir, diese Kreaturen sind keine hirnlosen Zombies. Wir haben sie von Anfang an sträflich unterschätzt. Wenn wir diesen Krieg gewinnen wollen, müssen wir unsere Taktik ändern.«

Kennor schüttelte den Kopf. »New York City beweist, dass man diese Dinger töten kann. Man lockt sie raus, dann bombt man sie ins Nirwana.«

»Womit rauslocken, Sir? Mit weiteren Marines?«, warf Kramer ein. In ihrer herausfordernden Frage schwang Zorn mit. Unter normalen Umständen hätte Kennor sie wegen Aufsässigkeit zurechtgewiesen, aber die Dinge hatten sich geändert.

Als Pitbullterrier des amerikanischen Militärs – ein Spitzname, den Kennor immer gehasst hatte – hatte er während des Kriegs gegen den Terror unzählige Missionen beaufsichtigt. Die Abartigen hatten sich als wesentlich schwieriger zu vernichten erwiesen. Mittlerweile kämpften die Dschihadisten gegen denselben Feind wie er, und die Ironie daran war für ihn schwer zu verdauen. Die Welt hatte sich praktisch über Nacht verändert. Und wie schon so viele Male zuvor hatten die Umstände ehemalige Feinde in Verbündete verwandelt.

Der Moment der Anspannung dauerte noch kurz an, dann verging er. Kennor war nicht bereit, eine Niederlage einzugestehen oder den Rückzug anzutreten, aber er wandelte auf einem schmalen Grat. Die Frustration seines Stabs ging über bloße Erschöpfung hinaus. Allmählich verloren alle das Vertrauen in seine Führungskompetenz. Er hatte miterlebt, wie andere Befehlshaber demselben Stolperstein zum Opfer gefallen waren, doch er hatte nicht vor, einer von ihnen zu werden. Er mochte Fehler begangen haben, aber es war noch nicht zu spät, um das Blatt in diesem Krieg zu wenden.

Kennor schaute zu dem untypisch stillen Johnson. Der Mann war immer eine Stimme der Vernunft gewesen. Im Augenblick brauchte Kennor diese Stimme mehr denn je zuvor.

»Was meinen Sie, General?«, fragte Kennor.

Johnson wechselte einen Blick mit Kramer und Harris. Nach einer kurzen Pause antwortete er: »Ich denke, wir müssen uns unsere nächsten Schritte sorgfältig überlegen. Da so viel in der Waagschale liegt, können wir uns keine weitere Operation Liberty leisten.«

Johnson räusperte sich, als wolle er noch mehr hinzufügen. Kennor musterte ihn und erkannte, dass Johnson tatsächlich noch nicht fertig war. Durch die Gesten des Generals konnte er förmlich sehen, wie sich die Rädchen im Hirn des Mannes drehten. Zuerst verschränkte er die dicken Arme vor der Brust, dann zwirbelte er seinen Schnurrbart auf einer Seite und schließlich spannte er die Kieferpartie an. Kennor war nicht dafür gewappnet, was als Nächstes kam.

»Es ist an der Zeit für einen Rückzug«, erklärte Johnson mit todernster Stimme. »Wir müssen unsere Truppen vollständig aus den Städten abziehen. Und nur einige wenige Kundschafterteams zurücklassen.«

»Dem stimme ich zu«, stellte sich Kramer auf seine Seite. »Es ist an der Zeit, der Wissenschaft eine weitere Chance zu geben. Vielleicht müssen wir Dr. Lovato und ihrem Team noch eine Gelegenheit einräumen, die Abartigen zu vernichten.«

Kennor massierte sich die runzlige Stirn. »Rückzug«, murmelte er. »Ich hätte nie gedacht, dass ich dieses Wort mal von jemandem aus meiner Mannschaft hören würde.«

»Sir, unser Militär ist nicht bloß angeschlagen. Es ist praktisch aufgerieben worden«, erklärte Harris. »Wir sind in jedem Gebiet hoffnungslos unterbesetzt. Ich bin nicht sicher, ob …«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn. Die Tür schwang auf, und ein junger Corporal namens Van betrat den Raum. Ein Schweißtropfen löste sich von seinem zurückweichenden Haaransatz.

»General Kennor, Sir. Wir haben gerade dringende Neuigkeiten erhalten«, verkündete er. Mit einem Blick zum Stab des Generals zögerte Van.

»Schießen Sie los, junger Mann«, forderte Kennor ihn auf.

»Der Raven Rock Bergkomplex.« Ein Blinzeln lang verstummte der Corporal, dann gab er bekannt: »Die … die Anlage ist überrannt worden.«

Kennor verlagerte auf dem Stuhl das Gewicht, um Van genauer zu betrachten. »Wie meinen Sie das, überrannt? Das ist eine der sichersten Anlagen im ganzen Land. Verdammt, das ist der alternative gemeinsame Befehlsstand und Ausweichsitz für das Pentagon. Da unten sind mehrere Hundert Leute eingebunkert, darunter der UN-Botschafter und die Außenministerin.«

»Es tut mir leid, Sir«, entschuldigte sich Van. »Die Abartigen haben einen Weg ins Tunnelsystem gefunden und die dort stationierten Streitkräfte überwältigt.«

»Mein Gott!«, entfuhr es Kramer.

Stille senkte sich über den kleinen Besprechungsraum. Der Verlust von Raven Rock stellte mehr als einen weiteren Nagel im Sarg dar – er bewies, dass kein Ort auf dem Planeten mehr sicher war. Kennor ließ den Blick über sein Team wandern. Alle wirkten ausgelaugt und angespannt, alle gleichermaßen niedergeschlagen.

»Van, ich möchte, dass Sie eine Such- und Rettungsmission arrangieren. Falls dort noch jemand lebt, holen Sie diejenigen um Himmels willen raus.«

Van nickte. »Ja, Sir.«

Kennor stand auf, schob seinen Stuhl unter den Tisch und sah Harris an. Plötzlich fühlte er sich ebenso schwach wie Präsident Mitchell, aber wenigstens war Kennor nicht dumm. Sein Stab hatte ihn davon überzeugt, dass ihnen nur noch eine Option zur Verfügung stand, und der Untergang von Raven Rock hatte bewiesen, dass sie damit richtiglagen.

»Ich will einen koordinierten, taktischen Rückzug«, verkündete Kennor.

»Sie erteilen den Befehl zum Rückzug?«, fragte Harris nach.

Kurz verstummte Kennor, denn die Worte brannten ihm in der Kehle. »Ja. Ordnen Sie einen vollständigen Rückzug aus jeder Stadt an«, bestätigte er. »Holen Sie unsere Männer und Frauen dort raus und schaffen Sie sie nach Hause.«

Da es sonst nichts zu sagen gab, wandte sich Kennor von seinem Stab ab und verließ hastig den Raum. In einem unerwarteten Anflug von Wut knallte er die Tür hinter sich zu, als er zum ersten Mal in seiner Laufbahn den Rückzug antrat.

Beckham blieb gerade genug Zeit, um in rasendem Lauf um die nächste Ecke in Deckung zu flüchten, bevor die zweite Granate detonierte. Die ohrenbetäubende Explosion erschütterte den Tunnel heftig. Steinsplitter regneten von der Decke. Er schloss die Augen und rannte durch den Geröllhagel, sprach in Gedanken ein Gebet für die unschuldigen, in jenem Bau verlorenen Leben. Tief in seinem Herzen wusste er, dass er das Richtige getan hatte. Niemand sollte je so leiden müssen.

Und zumindest irgendjemanden hatten sie gerettet. In einer Zeit, in der jedes einzelne Leben zählte, wertete er das als Sieg. Vor ihm trug Chow die Frau um die nächste Biegung und verschwand mit ihr außer Sicht. Beckham blieb stehen, drehte sich um und überprüfte den Eingang zu jener Gruft. Eine dichte Rauchwolke trieb dort, wo die Granate explodiert war. Steinbrocken füllten den Tunnel aus. Er hob den Revolver an und wartete darauf, dass sich der Rauch verzog.

Über dem nach wie vor anhaltenden Klingeln in seinen Ohren vernahm er Geheul. Als sich der Schleier lichtete, sah er die Quelle des Geräuschs – eine klauenbewehrte Hand ragte aus dem Schutthaufen hervor. Sie krümmte sich und erschlaffte nach einem letzten Zucken.

Um ganz sicherzugehen, verharrte Beckham noch einige Sekunden, ehe er weiterrannte. Sein Team wartete an einer Abzweigung. Timbo stand vornübergebeugt, die Hände auf den Knien, und keuchte heftig. Jinx hielt in der Mitte des Korridors Wache. Er schwenkte seine Beretta M9 langsam hin und her, während er die anderen Tunnel nach Feinden absuchte.

»Valdez, du bist mit Jinx für die Sicherheit zuständig«, ordnete Beckham an. »Alle anderen, entspannt euch kurz.« Er selbst kauerte sich neben Chow, der damit beschäftigt war, die Verletzungen an den Beinen der Frau zu verarzten.

»Wie geht es ihr?«, fragte Beckham.

»Sie ist geschwächt. Aber sie wird’s überleben.«

Der Elitesoldat brachte einen weiteren Verband an und schaute auf. »Was sollen wir tun, Mann? Wir können nicht ewig hier unten rumrennen.«

Bevor Beckham etwas erwidern konnte, stieß die Frau ein lang gezogenes Stöhnen aus.

»Schon gut«, beruhigte Chow sie. »Das kommt alles wieder in Ordnung.«

Blinzelnd versuchte sie, sich erst auf Chow, dann auf Beckham zu konzentrieren.

bildeten Kates Lippen.

Der Strahl eines Scheinwerfers richtete sich auf die träge über die Piste kriechende Rauchwand. Die Soldaten schwenkten das Licht hin und her, um den dichten Schleier zu durchdringen. Im grellen Schein sah Kate, wie zwei Dutzend Männer über den Asphalt stapften.

Sie drückte die Hände der Mädchen fester, als die Männer mit niedergeschlagen hängenden, behelmten Köpfen aus dem Qualm hervorkamen. Getrocknetes Blut und Asche verkrusteten ihre Uniformen.

Einer der Männer überragte die anderen deutlich. Sie wusste auf Anhieb, dass es sich um Horn handelte. Er lief los, als er sie hinter den Betonabsperrungen stehen sah.

»Tasha! Jenny!«, rief er und beschleunigte die Schritte.

»Daddy!«, quiekten die Mädchen aufgeregt. Kate löste den Griff um die Hände der Geschwister und ließ sie ihrem Vater entgegenrennen. Horn hob sie beide hoch und drückte sie innig an sich. Heiße Tränen ließen Kates Sicht verschwimmen, als sie die Szene beobachtete. Eine Tragödie hatte die Tür für ein Wunder geöffnet, und erneut wurde ein Vater mit seinen Töchtern wiedervereint.