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ISBN 978-3-492-97440-0
Februar 2017
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2005
Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: F1online/ Image Source
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Wir widmen dieses Buch einem deutschen Beamten, ohne dessen Einsicht und Mut es nie hätte geschrieben werden können.
Im Gedenken an Oma, die am 2. Juli 2004 im Alter von 96 Jahren in Izmir gestorben ist.
Wir bedanken uns bei all jenen, die uns immer wieder in der Überzeugung bestärkt haben, daß es richtig und nötig ist, dieses Buch fertig zu schreiben. Es ist schade, kennzeichnet aber die Situation, daß wir keinen hier beim Namen nennen dürfen.
Inci Y. schilderte ihre Erinnerungen dem deutschen Journalisten Jochen Faust. Die Autorin hat mit Sorgfalt darauf geachtet, daß der Text ihre Erzählung originalgetreu wiedergibt.
Alle Namen im Buch sind geändert. Inci Y. ist das Pseudonym der Autorin.
Nach zwei Tagen fahre ich nach Tokat. Hikmet holt mich mit dem Auto am Busbahnhof ab.
»Wo sind die Kinder? Bring᾿ mich sofort zu ihnen.«
»Sie sind im Dorf.«
»Hättest du sie nicht gleich mitbringen können?«
»Steig jetzt ein! Du wirst schon sehen.«
Ich kann die Falle, in die er mich lockt, förmlich riechen. Eine Möglichkeit, ihr auszuweichen, sehe ich nicht. Hikmet hat mich in der Hand. Er hat die Kinder.
Wir fahren zu Opas Haus. Im Wohnzimmer hat sich das ganze Dorf versammelt. Fassungslos muß ich sehen, wie Menschen sich ändern können. Früher wurde ich von jedem fröhlich begrüßt, heute schlägt mir blanker Haß entgegen. Alle reden auf einmal: »Du hast eine schwere Sünde begangen.« »Du bist eine schlechte Mutter.« »Du erziehst die Kinder zur Sünde und Schande.« »Du wirst Hikmet wieder heiraten.« »Du bleibst hier.« »Du nimmst den Kindern den Vater nicht weg.« Ich stehe vor einem selbsternannten Tribunal. Das ist türkische Inquisition.
Hikmet verläßt das Zimmer, Sila läuft in diesem Moment auf mich zu, fällt mir um den Hals und flüstert mir ins Ohr:
»Mama, geh nicht in den Kuhstall. Papa und Onkel Cesur haben Fesseln vorbereitet. Sie wollen dich schlagen.«
Von draußen ruft einer zur Tür herein: »Inci, Hikmet wartet auf dich.«
»Ich bleibe hier im Zimmer. Er soll kommen.«
Hikmet schickt Onkel Cesur mit einem Blatt Papier zu mir. Ich soll es unterschreiben. Ohne es zu lesen, zerreiße ich den Zettel und werfe die Schnipsel in die Luft.
»Was soll das? Hikmet weiß, daß ich nie im Leben etwas unterschreiben werde, gleich, was es ist. Ich will jetzt auf der Stelle mit meinen Kindern zurück nach Izmir fahren.«
Ich bedauere, meine Anwältin nicht vor meiner Abfahrt gefragt zu haben, ob ein Abkommen unter Zwang überhaupt Gültigkeit hat. Heute weiß ich, daß es weder in der Türkei noch in Deutschland der Fall ist.
Nun kommt Hikmet ins Wohnzimmer. Er legt ein neues Blatt Papier auf den Tisch. »So, das unterschreibst du jetzt.«
Ich lese ein Geständnis, so wie mein Exmann es sich vorstellt: »Ich bin eine Nutte und möchte nicht, daß meine Tochter auch eine Nutte wird. Deshalb verzichte ich auf das Sorgerecht für meine Tochter Sila und übertrage es meinem Mann Hikmet.« Es geht ihm nur um sie – keine Silbe von unserem Sohn Umut.
Ich schüttele den Kopf: »Von der Unterschrift träumst du wohl.« Vor seinen Augen zerreiße ich auch dieses Papier. Er stürzt sich auf mich. Zum ersten und einzigen Mal schlägt er mich. Er trifft mich mit voller Wucht mitten ins Gesicht, dann boxt er mich in den Bauch. Ich falle zu Boden, schmecke mein Blut. Er will auf mich eintreten. Verwandte halten ihn zurück. Einer der Alten brüllt:
»Warum machen wir es uns so schwer? Nehmen wir einfach das Gewehr und erschießen sie. Wenn irgend jemand kommt und Fragen stellt, sagen wir einfach, sie war niemals hier.«
Totenstille. Das ist kein Scherz. Es ist blutiger Ernst. Von solchen Hinrichtungen widerspenstiger Frauen habe ich immer wieder gehört. Das Jagdgewehr, ich sehe es, es hängt an der Wand gegenüber.
1970 werde ich in einer mittelgroßen Stadt in Deutschland geboren. Mit eineinhalb Jahren setzen mich meine Eltern in Begleitung einer wildfremden Frau in ein Flugzeug nach Ankara. Diese Frau kennt nur meinen Namen und den von Oma, die mich am Flughafen abholen will. Ich soll bei Oma in der Türkei aufwachsen.
Bis heute halte ich es für möglich, daß ich dabei das Opfer einer Verwechslung geworden bin.
Mutter erzählt, ich hätte damals schon alleine stehen können, hätte halblange braune Haare gehabt, sei völlig gesund gewesen. Sie habe mich unmittelbar vor dem Abflug sogar noch einmal fotografieren lassen, die Bilder seien allerdings verschwunden.
Oma versichert dagegen immer wieder, ich hätte in einem Korb gelegen, als sie mich am Flughafen in Empfang genommen hat. Sie sei überzeugt, daß ich noch nicht stehen konnte und völlig kahl gewesen sei. Außerdem seien meine Hände verbrüht gewesen. Unmittelbar vor meiner Abreise sei heißes Wasser drübergelaufen, habe die Frau, die mich nach Ankara mitnahm, gesagt.
Bis zuletzt blieb Oma bei ihrer Version. Sie war sechsundneunzig Jahre und bei völliger geistiger Gesundheit, als sie im Juli 2004 starb.
Eine Möglichkeit, wie es zu einer Verwechslung gekommen sein könnte, wäre in der Darstellung von Oma begründet. Sie erzählte, sie habe mich auf dem Flughafen zum vereinbarten Zeitpunkt erwartet, ich sei aber nicht angekommen. Zwei Tage lang habe sie mich ausrufen lassen, ehe dann plötzlich eine Frau erschien, ihr einen Korb in die Hand drückte, in dem ich lag und sagte: »Das ist Inci.«
Wenn das stimmt, könnten – mit zwei Tagen Abstand – tatsächlich zwei Mädchen Namens Inci in Ankara angekommen und bei den falschen Abholern gelandet sein.
Gegen eine Verwechslung spricht, daß ich meinen drei Geschwistern ähnlich sehe, was allerdings auch mit unserem typisch türkischen Aussehen zu erklären wäre.
Für mich wäre es ein Trost, wenn ich wüßte, daß Mutter in Wirklichkeit nicht meine Mutter ist.
In meiner allerersten Erinnerung taucht unser Haus in Ankara auf. Ich sitze in einer Ecke, ein Stück Brot in der Hand. Das Haus – eines jener üblichen einstöckigen türkischen Altbauten aus der Vorbetonzeit – liegt am Fuß eines Hügels, über den sich ein Neubauviertel erstreckt.
Eine halbhohe, weiß gestrichene Steinmauer umgibt unser Grundstück. Durch ein grün gestrichenes Tor gelangt man in den Garten. Rechts ein Brunnen mit Seil und Eimer. Links die Betten von Opa Hasan und Onkel Halil, dem jüngsten Sohn meiner Großeltern. Beide Männer schlafen im Sommer im Freien unter einem Eukalyptusbaum.
In dessen Schatten steht das Haus. Ockerfarbene Wände, gemauert aus Steinen der Umgebung, zwei Fenster, eine Tür, rotes Ziegeldach. Zwei Zimmer auf sechzig Quadratmetern. Außer einem Küchenschrank gibt es keine Möbel. Matratzen, bedeckt mit bunten Teppichen, liegen nah an den Wänden. Sie dienen als Sessel und Betten, je nach Tageszeit. Gegessen wird auf dem Boden.
In dem einem Zimmer leben Onkel Halil und Tante Fatma mit ihren drei Kindern Sevcan, Filiz und Kemal. Ich schlafe bei Oma und Opa im zweiten Zimmer, in dem auch gekocht wird. Deshalb kann bei uns geheizt werden, im anderen Raum dagegen nicht. In meinem ersten Winter in Ankara erkältet sich Filiz und stirbt. Jahrelang terrorisiert mich Tante Fatma mit der Behauptung, ich sei schuld am Tod ihrer Tochter.
Oma ist eine starke Frau. Sie beherrscht das Haus. Wenn es Probleme gibt, ist es sie, die nachdenkt. Sie findet immer und für jeden eine Lösung. Was sie sagt, wird gemacht.
Opa arbeitet in einem Krankenhaus in der Stadt, Onkel Halil als Hausmeister an der Universität von Ankara. Oma geht putzen. Oft nimmt sie mich mit. Für mich sind das Festtage. Ich darf bei ihr sein, und ich bekomme andere Wohnungen und Büros zu sehen. Meine Neugier ist fast nicht zu stillen.
Für Liebe und Zärtlichkeit gibt es bei uns keinen Raum. Das liegt nicht nur daran, daß meine Großeltern zu müde sind, wenn sie von der Arbeit heimkommen. Der Austausch von Zärtlichkeiten ist in unserer Familie nicht üblich. Die Kinder lernen es nicht kennen, also können sie es ihrerseits nicht weitergeben, wenn sie eigene Kinder haben.
Das hat Oma schon so erlebt. Folglich nimmt sie mich als Kind nicht ein einziges Mal in den Arm. Selbst ich umarme meine Kinder bis heute nicht. Dabei liebe ich sie von Herzen.
Mit zwölf wurde meine Oma zwangsverheiratet. Mit einem Fünfzigjährigen. Nachdem sie zwei Kinder mit ihm hat, heiratet er eine zweite Frau. Das war seinerzeit in der Türkei noch möglich. Oma findet sich damit nicht ab, verläßt ihn – mit den Kindern. Sie war damals eine großgewachsene, schlanke und bildhübsche Frau mit naturblonden Haaren, einem glatten, weißen Gesicht, grünen Augen. In meiner Kindheit ist sie immer noch eine attraktive Erscheinung, obwohl sie weit über Sechzig ist. Trotz oder gerade wegen ihrer weißen Haare. Gemeinsam mit Opa hat sie – außer Onkel Halil – drei Töchter. Ayse, die zweitälteste, ist meine Mutter.
Oma ist Türkin, Opa Kurde. Ein stockkonservativer Kurde. Frauen gelten in seinem Weltbild nichts, Kinder noch weniger. Kinder müssen ruhig bleiben, dürfen Erwachsene keinesfalls stören, müssen ihnen immer »Respekt erweisen«, wie es bei uns heißt. Wer weint, muß sofort wieder still sein. Weinen wäre respektlos. Wir haben ruhig zu spielen. Ich weine deshalb nie.
Schnell finde ich heraus, daß Opa und Onkel ziemlich faul sind. Wenn sie von der Arbeit heimkommen, legen sie sich auf ihre Betten – im Sommer im Freien, im Winter in der Enge des Hauses – und lassen sich von den Frauen bedienen.
Mit Opa haben wir Kinder kaum Kontakt. Versucht wirklich einmal eines, ihn anzusprechen, bringt er es mit einer barschen Handbewegung zum Schweigen. Mit Kindern zu reden, ist unter seiner Würde.
Selbst Tante Fatma – immerhin seine Schwiegertochter – geht es nicht anders. Opa zwingt sie sogar, den Yasmak, den Halbschleier, zu tragen, wenn er im Haus ist. Dabei ist sie schon zwanzig Jahre alt und Mutter von drei Kindern. Mit fünfzehn war auch sie verheiratet worden, ohne Onkel Halil vorher einmal gesehen zu haben.
Weder meine Tante noch Oma dürfen ein Kind umarmen, wenn Opa dabei ist. Das wäre ihm gegenüber respektlos. Warum, weiß niemand zu sagen, es ist Tradition.
Fast täglich ist Onkel Halil betrunken. Er hat sich zu dieser Zeit aber noch unter Kontrolle. Erst nach Opas Tod wird er zum krankhaften Alkoholiker. Wir haben noch eine Gnadenfrist.
Ich bin ein nahezu stummes Kind, ich erinnere mich nicht, in meiner Kindheit jemals geredet zu haben. Weder zu Hause noch später in der Schule. Meist sitze ich in einer Ecke, allein, verängstigt, völlig in mich zurückgezogen. Wenn ich nicht in der Ecke sitze, hänge ich an Omas Rockzipfel. Spricht mich jemand an, verstecke ich mich hinter ihr. Ich will dem vorbeugen, daß mich jemand berührt oder gar küßt.
Ich schlafe zusammen mit Oma in einem Bett, befestige mich manchmal mit einer Sicherheitsnadel an ihrem Pyjama, habe panische Angst, sie könne ohne mich weggehen. Noch heute friere ich, wenn ich mich an die Lieblosigkeit, Gefühlskälte und Brutalität erinnere, die in diesem Haus herrschten. In den beiden winzigen Räumen, in denen zuletzt neun Menschen lebten.
Eines Tages – ich bin vier, fünf Jahre alt – nimmt Oma mich mit zu einem leerstehenden Haus am Stadtrand von Ankara. Dort befinden sich zwei Männer und eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm. Mißtrauisch luge ich hinter Omas Rock hervor. Die Frau ist blond, schlank, hübsch. Sie hat ein schneeweißes Gesicht, es sieht aus, als könnte es weich wie Samt sein. Als ich die Frau erblicke, überkommt mich ein eigenartiges Gefühl, das ich nicht deuten kann. Ich fühle mich von ihr angezogen, kann aber nicht zu ihr gehen.
Wir laufen rund ums Haus und besichtigen alle Räume. Mir wird klar, daß der Mann und die Frau das Haus kaufen wollen, mit dem Eigentümer verhandeln und Oma zu Rate gezogen haben. Ich finde den Handel uninteressant. Für mich hat er noch keine Bedeutung.
Wie hätte ich ahnen sollen, daß ich gerade zum ersten Mal Mutter, Papa und meiner Schwester Eda gegenüberstehe? Daß ich Vater, Mutter, Geschwister habe – niemand hat je mit mir darüber geredet. Wie sollte ich wissen, wer sie sind? Wonach hätte ich Sehnsucht haben sollen? In mein Leben gehören Oma, Opa und die anderen, mit denen ich zusammenlebe.
Wenig später ziehen Oma, Opa und ich in das neue Haus, Onkel Halil bleibt mit seiner Familie in dem alten zurück. Unser jetziges Domizil liegt am Fuß der Berge, die Ankara umgeben. Bis vom Zentrum fährt man etwa eine Stunde mit dem Auto. Es ist ein altes Haus und schaut aus wie das, aus dem wir ausgezogen sind. Aber es ist wesentlich größer. Eine Steinmauer umfriedet das Grundstück, das mehr als doppelt so groß ist wie unser bisheriges. Tritt man durch das schmiedeeiserne Tor ein – es ist dreiflügelig und grün gestrichen –, steht man vor dem Brunnen unter dem obligatorischen Eukalyptusbaum.
Hinter dem Haus schließt sich ein großer Obstgarten an, in dem Zitronen-, Apfel- und Kirschbäume wachsen. Den Eingang schützt ein Windfang mit vielen Fenstern. Öffnet man die Haustür, steht man direkt in dem Wohnbereich, der hinten mit der offenen Küche und dem Bad abschließt. Rechts hat man zwei Zimmer abgeteilt – in dem einem wohnt Oma mit mir, im anderen schläft Opa. Links befindet sich ein ständig verschlossener Raum. Wie ich später erfahre, bewahren meine Eltern dort Einrichtungsgegenstände auf, die sie aus Deutschland mitgebracht haben.
Es beginnt die glücklichste Zeit meiner Kindheit. Wenn ich an dieses Haus denke, habe ich schöne Gefühle. Für mich ist es ein Sinnbild der Ruhe. Auch mit Opas Eigenarten habe ich mich arrangiert. Er spricht mich nach wie vor nicht direkt an. Wenn ich mich an den Frühstückstisch setze, sagte er an mir vorbei zu Oma: »Bring᾿ dem Kind eine Jacke!«, »Gib ihm Tee!« Dies ist zu einem Ritual geworden, das ich sehr liebe. Er nimmt mich wahr, obwohl er mich scheinbar ignoriert. Wir sitzen zusammen, trinken Tee, essen Kekse mit Butter. Oma und Opa rauchen eine Zigarette. Im Winter brennt das Feuer im Kohleofen. Es ist warm. Es ist schön.
Mutter und Papa wohnen mit meiner Schwester Eda in Deutschland. Als Mutter erneut schwanger wird, schicken sie auch Eda in die Türkei. Sie ist gerade zwei Jahre alt. Es ist heute noch üblich, daß viele Gastarbeiter ihre Kinder bei den Verwandten »parken«, die in der Türkei bleiben. So hält man die Kosten niedrig. Ein Kind in Deutschland aufzuziehen ist teuerer als in der Türkei.
Mutter hat Eda bei Peri untergebracht. Peri ist die Tochter von Sultan, Mutters älterer Schwester. Verheiratet ist meine etwa fünfundzwanzigjährige Cousine mit meinem Lieblingsonkel Cem. Das macht sie gleichzeitig zu meiner Tante. Derartige Familienverhältnisse sind heute noch durchaus üblich in der Türkei. Peri und Cem wohnen auch in Ankara, aber in einem anderen Stadtteil, etwa zwei Stunden mit dem Auto entfernt. Deshalb sehe ich sie nur selten.
Aber all das erfahre ich erst später nach Opas Tod, als ich mit Oma zu meiner Familie nach Deutschland fahre. Jetzt, mit sechs Jahren, weiß ich immer noch nicht, daß ich Eltern und sogar eine Schwester habe.
Als Peri eines Tages mit Eda zu Besuch kommt, spielt sich eine schreckliche Szene ab, die mir heute noch vor Augen steht: Als sie sich verabschieden wollen, schreit Eda – hoch, schrill und voller Angst:
»Nein, Nein! Eda will dableiben! Eda will dableiben!«
Sie klammert sich mit aller Kraft an Oma, die bis zum Auto mitgeht, wo sie sich mit sanfter Gewalt von ihr löst und beruhigend auf sie einredet.
Ich kann sie auf dem ganzen Weg durch den Garten schreien hören, bis das Auto fort ist. Oma kommt ins Haus, setzt sich hin und weint.
Später, beim traditionellen Gegenbesuch, hänge ich wie immer an Omas Rockzipfel. Eda sitzt stocksteif und kerzengerade auf dem Stuhl, bewegungslos, die Hände auf die Beine gelegt. Die ganze Zeit über starrt sie mit gesenktem Kopf auf die Cousine – mit Angst, aber auch brennendem Haß in den Augen.
Ich bin mir sicher, daß Peri sie schlägt. Eda bedeutet mir damals noch nichts – ich kenne ja nicht einmal das Wort »Schwester«. Also fühle ich mich nicht sonderlich betroffen.
Nach einem Jahr holte Mutter Eda wieder nach Deutschland zurück, ich bleibe in Ankara bei Oma.
Die vielen Verwandtenbesuche bei uns sind mir eigentlich lästig. Sie stören die Ruhe des Hauses. Meist spiele ich dann bei Nachbarskindern, bis sie fort sind. Lediglich meinen Lieblingsonkel Cem sehe ich wirklich gern kommen.
Viel interessanter finde ich es, wenn wir unsererseits auf Besuch fahren. Dadurch, daß wir eine große Familie sind, bekomme viel von der Türkei zu sehen; wir haben Verwandte in Erzurum, Samsun, Istanbul und Izmir. Wie es die Gastfreundschaft verlangt, nehmen sie uns stets freundlich auf.
Diese Freundlichkeit und Aufmerksamkeit gefällt mir.
Mit Hatun, einem Mädchen aus der Nachbarschaft, stehe ich vor dem grünen Tor, dem Eingang zu unserem Garten.
»Hast du Angst vor Gott?« fragt sie.
Da ich ja nicht rede, schüttele ich statt einer Antwort den Kopf.
»Hast du überhaupt schon einmal etwas von Gott gehört?«
Ich zucke mit den Schultern.
»Unser Vater redet gleich mit uns über Gott und lehrt uns beten. Komm doch mit«, fordert sie mich auf.
Ich folge ihr.
Es ist spannend. Ich höre dem Vater zu, beobachte die Familie beim Gebet und fange an, mich für Religion zu interessieren. Doch Hatuns Familie sind Alevi, Gläubige, die einer besonderen Richtung des Islam anhängen.
Oma hat mir gesagt, wir seien Sunniten, folglich will ich meinen eigenen Glauben kennenlernen. Ab jetzt suche ich jede Gelegenheit, soviel wie möglich darüber zu erfahren.
Oma betet als einzige in unserer Familie, sie wird mein erstes Vorbild. Ich binde ein Kopftuch um und knie mich stumm neben sie, wiederhole ihre Gebete in Gedanken.
Genauso halte ich es von jetzt an auch mit der Nachbarsfamilie, wenn ich bei ihnen bin. Ich möchte schon wissen, wie bei den Alevi gebetet wird. Zwischen ihrer und Omas Art kann ich allerdings keinen wesentlichen Unterschied feststellen.
Es gibt religiöse Sendungen im Fernsehen. Leider verstehe ich nur wenig von den Inhalten, weil mir jede Grundlage fehlt. Weiter komme ich mit meinem Selbstunterricht nicht. Das ändert sich erst in der Schule.
Mit sechs ist es so weit. Meine Haare hängen kurz und dünn herunter. Oma, Onkel Halil und Sevcan, Tante Fatmas älteste Tochter, nehmen mich an die Hand und bringen mich in die erste Klasse unserer Grundschule. Ich kann jeden, der mich anspricht, nur anlächeln, bringe kein Wort heraus.
Während der gesamten Schulzeit bekomme ich vom Unterricht nur wenig mit. Meist sitze ich in mich gekehrt da, male Bilder. Häuser, Seen, Landschaften, Porträts. Die einzigen Fächer, in denen ich mitarbeite, sind Malen und Religion.
Niemanden bekümmert mein Desinteresse. Keiner der Beteiligten – weder zu Hause noch in der Schule – weckt mein Interesse für diese Dinge. Nicht einmal Oma. Niemanden in meiner Familie stört es, wenn ein Mädchen nicht mitarbeitet. Es genügt, wenn wir unberührt als Jungfrau in die Ehe gehen und dem Mann, den unsere Eltern ausgesucht haben, nicht widersprechen.
Oma und Mutter sind Analphabeten, Opa ist es auch. Am Ende jedes Schuljahrs erkauft Oma meine Versetzung mit Geschenken. Als mich meine Eltern mit elf Jahren nach Deutschland holen, hatte ich auf diese Art in der Türkei zwar die fünfte Klasse der Grundschule absolviert, dabei aber nicht einmal richtig lesen und schreiben gelernt. Wahrscheinlich hatte ich gerade das Niveau einer Zweitkläßlerin erreicht. Grammatik ist heute noch ein Fremdwort für mich, von Mathematik, Erdkunde und all den anderen Fächern habe ich nichts mitbekommen.
Kaum bin ich zu Hause, fliegen die Schulsachen in die Ecke. Keiner fragt, ob ich Hausaufgaben aufhabe und sie auch mache. Ich genieße grenzenlose Freiheit, darf draußen spielen, wann und wo immer ich will. Omas einzige Bedingung: Ich muß zum Essen und Schlafen daheim sein. Spielsachen gibt᾿s keine. Also mache ich sie mir selbst, bastele Puppen aus Holz und Stoffresten, male im Garten Bilder auf die Erde, baue Burgen, Häuser, ganze Dörfer aus Sand.
Oft gehe ich raus, streife mit Nachbarskindern durch die Wiesen, Felder und Berge der Umgebung. Wie selbstverständlich entwickelt sich ein unzertrennliches Trio: Suna, Bervin und ich.
Sunas Vater ist Türke, arbeitet in gehobener Position und wurde vom Schwarzen Meer nach Ankara versetzt. In unseren Augen kommt sie also aus einer wohlhabenden Familie. Sie ist groß, blond und hat helle Augen. Bervin stammt aus einer kurdischen Familie, die – wie wir – in einfachsten Verhältnissen lebt. Sie ist klein, drahtig, hat die typisch dunkle Haut anatolischer Frauen, rabenschwarze volle Haare und tiefdunkle Augen. Wir beide verstehen uns besonders gut. Vielleicht deshalb, weil auch sie nur das Nötigste redet.
Suna ist die einzige von uns, die spricht – folglich wird sie schnell unsere Anführerin. Wenn Suna entschieden hat, wohin wir gehen, folgen wir ihr wortlos wie Schatten, unternehmen, was sie vorschlägt.
Außer einem Ball haben wir kein Spielzeug. Also spielen wir mit der Natur. Wir fangen Frösche und Kaulquappen im Bach, suchen uns Steine, mit denen man Hände und Gesicht rot anmalen kann und durchstreifen die Umgebung. Diese Streifzüge führen uns bis auf den Gipfel eines hohen Berges, zu dessen Fuß wir allein schon kilometerweit zu laufen haben.
Ich bin etwa neun Jahre alt, als Opa krank wird. Er liegt zwei Monate zu Hause im Bett, nicht im Krankenhaus. Der Arzt besucht ihn nur dreimal. Es geht ihm immer schlechter. Eines Tages fängt er an, Blut zu spucken. Wenig später ist er gestorben.
Ich kann das alles nur bruchstückhaft zusammenfügen. Ich weiß noch, daß ich in sein Zimmer gehe und weine – das einzige Mal während meiner Kindheit. Dann wird er im Garten aufgebahrt und gewaschen. Ich darf nicht mehr ins Haus und streune den ganzen Tag durch die Berge und Wälder.
Und noch eines erkenne ich: Oma ist eigentlich ganz froh, daß er gestorben ist. Sie muß ihn unendlich gehaßt haben. Ich kann nicht genau sagen, wie ich zu dieser Ansicht gekommen bin. Ich spüre es an ihrem Verhalten. Oma und ich erkennen gegenseitig unsere Gefühle, ohne darüber zu reden.
»Das ist dein Papa und das deine Mutter.« Oma stellt mir den Mann und die Frau vor, die das Haus gekauft haben, in dem wir jetzt wohnen. Sie sind zu Opas Beerdigung nach Ankara gekommen.
Das sind also meine Eltern, schießt es mir durch den Kopf.
Natürlich habe ich mittlerweile begriffen, daß auch ich einen Vater und eine Mutter haben muß. Aber gefragt habe ich niemanden. Allmählich verschwindet mein Mißtrauen, denn Vater und Mutter behandeln mich sehr freundlich. Ich erfahre, daß Eda meine Schwester ist. Das elektrisiert mich. Schade, daß sie in Deutschland wohnt und nicht mitgekommen ist. Jetzt, wo ich weiß, wer sie ist, würde ich sie gern näher kennenlernen.
Dieser Wunsch geht schneller in Erfüllung, als ich glauben konnte, denn meine Eltern laden Oma und mich ein, mit nach Deutschland zu fahren. Ich habe drei Monate Ferien. Etwa zwei Monate davon sollen wir bei ihnen verbringen.
Ali, mein ältester Bruder, und Eda erwarten uns hinter der gläsernen Ausgangstür am Flughafen. Eda zerrt ganz aufgeregt an der Perlenkette, die sie um den Hals trägt. Vor Freude, mich kennenzulernen, hüpft sie von einem Fuß auf den anderen. Plötzlich zerreißt die Schnur, die Perlen rollen in alle Himmelsrichtungen. Ich weiß gar nicht, warum sie sich so aufregt. Ich habe Omas Rockzipfel fest im Griff und beobachte die Szene uninteressiert. In Eda erkenne ich das kleine Mädchen wieder, das in Ankara bei Peri so gelitten hat.
Bei dieser Reise, mit neun Jahren, lerne ich also Vater und Mutter kennen.
Aber meine Mutter ist Oma, mein Vater war Opa. Die Eltern sind fremde Leute. Im Grunde genommen sind sie es bis heute geblieben.
Mutter redet viel – im Gegensatz zu Oma. Zwangsläufig muß ich jetzt auch mit dem Sprechen anfangen. Besser gesagt, ich muß es lernen. Hat mich früher jemand etwas gefragt, habe ich gelächelt, höchstens mit einem Nicken, Kopfschütteln oder Achselzucken geantwortet. Jetzt muß ich etwas sagen. Meine ersten Sprechversuche sind entsprechend deprimierend. Nicht einen einzigen Satz bringe ich fließend heraus, stottere heillos – zu meinem und zum Entsetzen meiner Eltern.
Heute frage ich mich oft, warum ich in den ersten neun Jahren meines Lebens nicht geredet habe. Wahrscheinlich, weil niemand dies wirklich von mir erwartet hat. Oma ist wortkarg. Meist genügt ein Wink, ein Blick, eine Kopfbewegung, um mir zu sagen, was sie will. Wenn sie überhaupt redet, dann klar, deutlich und kurz, so daß ich sie auf Anhieb verstehe. Sie verlangt keine Antwort. Den Freunden reichte meine Körpersprache. In der Schule wurde ich sowieso nicht gefordert. Erst jetzt, unter Mutters Wortschwall, besteht für mich die Notwendigkeit, selbst etwas zur Konversation beizutragen. Das ist bei unserem Besuch in Deutschland eigentlich mein einziges Problem.
Ansonsten genieße ich es, jeden Tag etwas Neues zu sehen. Vor allem lerne ich Eda näher kennen und begreife allmählich, daß ich eine Schwester und einen Bruder habe.
Welch wunderschönes Gefühl, warum habe ich darauf so lange warten müssen?
Das trifft auch auf Ali zu, meinen Halbbruder, den Mutter mit in die Ehe brachte. Er ist fünfzehn, sechs Jahre älter als ich. Ahmed, sein jüngerer Bruder, lebt in Izmir bei seinem Vater. Mutter hat ihn nie akzeptiert.
Die ganze Familie geht oft miteinander spazieren, kauft ein. Immer wieder sind wir unterwegs, besuchen Verwandte. Das Reisen gefällt mir, ich sehe viel von Deutschland.
Einer meiner Verwandten schenkt mir eine Puppe. Die erste meines Lebens. Sie hat ein rosarotes Kleid an. Ich hab᾿ mich vom ersten Moment an in sie verliebt. Wir werden unzertrennlich. Ich trage sie ständig im Arm bei mir. Egal, wohin ich gehe.
Gastfreundschaft hat Tradition in der Türkei, ist unabdingbare Pflicht. Egal, ob in der Türkei, in Deutschland oder wo sonst immer auf der Welt. Sie gilt dem Fremden wie dem Familienangehörigen. Zu wem wir auch kommen – Onkel, Cousin, Schwager oder Schwägerin –, wir werden mit offenen Armen empfangen und aufs beste bewirtet.
Wie die Gastfreundschaft gehört bei der Heimkehr von einer Reise das Mitbringen von Geschenken zur türkischen Tradition. So haben auch wir nach unserer Rückkehr aus Deutschland für viele etwas dabei. Oma schickt mich zu meiner Lehrerin, der wir einen Regenschirm gekauft haben.
»Mehr bin ich euch nicht wert?« herrscht sie mich an und blickt auf meine Puppe, die ich wie immer unter dem Arm halte.
»Die kannst du mal meiner Tochter geben und sie damit spielen lassen«, fordert sie.
Sie will meine Puppe, das einzige, was wirklich mir allein gehört – unvorstellbar, denke ich, starr vor Schreck. Sie nimmt sie mir aus dem Arm.
»Du kannst sie dir in ein paar Tagen wieder abholen«, wiegelt die Lehrerin meine Proteste ab.
Sie hat sie mir nie wiedergegeben.
Am selben Abend werde ich sehr krank. Teilnahmslos liege ich im Bett. Einmal, zweimal ist auch ein Arzt da. Tagelang kann ich nichts essen und trinken. Oma ruft meine Eltern an, weil sie glaubt, ich würde sterben. Sie kommen nicht. Mutter ist hochschwanger.
Jeden Tag gibt mir der Vater einer meiner Freundinnen aus der Nachbarschaft eine Spritze. Langsam werde ich wieder gesund. Keiner weiß, was mir wirklich gefehlt hat.
Nur wenig später erfahre ich, daß ich eine neue Schwester habe: Songül ist geboren.
Während der letzten Ferientage komme ich auf die Idee, mit den Nachbarskindern in die Moschee zu gehen.
Der Imam unterrichtet uns. Wir lernen die fünf Regeln kennen, die das Leben eines jeden gläubigen Muslims bestimmen: die Suren des Korans in arabischer Schrift lesen können, Spenden und Almosen geben, beten, fasten – und als höchstes Ziel die Hadsch, die Pilgerreise zu den heiligen Stätten des Islam.
Mit der Zeit lernen wir, die arabischen Schriftzeichen zu lesen, können die vorgeschriebenen Gebete auswendig aufsagen, den Koran im Original lesen. Allerdings beschränken sich unsere Arabischkenntnisse auf die rein phonetische Wiedergabe der Texte. Ich kann heute noch fließend Arabisch lesen – benötige aber die türkischen Übersetzungen, um den Inhalt zu verstehen. Selbstverständlich besitze ich neben einer wertvollen Originalausgabe des Koran – Oma hat sie mir geschenkt – auch eine in türkisch.
Seit ich bei den Nachbarskindern zum ersten Mal den Lehren des Koran begegnet bin, betrachte ich mich als gläubige Muslimin. Niemand hat mich je dazu gezwungen.
Die Monate allein mit Oma im Haus meiner Eltern sind eine wunderschöne Zeit – die schönste meiner Kindheit. Was immer schön ist, währt auch nur kurz.
Eines Tages erwartet uns eine böse Überraschung: Onkel Halil sitzt im Gefängnis. Wegen einer politischen Affäre. Als Hausmeister an der Uni hat er sich in Studentenproteste eingemischt. Keiner hält es für nötig, mir mehr zu sagen – ich bin ja Kind, zudem ein Mädchen. Interesse an Politik weckt niemand in mir, also kümmere ich mich auch nicht darum. Soviel bekomme ich trotzdem mit: Onkel Halil wird im Gefängnis geschlagen, gefoltert, ehe er es nach zwei Wochen wieder verlassen kann. Der Arbeitsplatz ist verloren.
Weder der Onkel noch Tante Fatma verdienen jetzt noch Geld. Das einzige Familieneinkommen besteht aus Omas Rente und dem Unterhalt für mich, den Papa monatlich schickt. Beide Haushalte müssen jetzt damit auskommen. Oma verkauft nach und nach die Einrichtung – wir müssen ja das Allernötigste zu essen haben. Suna, die ja aus wohlhabendem Haus kommt, steckt mir mehr als einmal etwas zu.
An allen Ecken wird gespart. Deshalb ziehen Oma und ich zu Onkel Halil. Das Haus meiner Eltern lassen wir leer stehen, Mutter will nicht, daß es vermietet wird. Onkel Halil wohnt mittlerweile in einem ähnlichen Altbau, nur ist hier alles noch viel kleiner. Im Garten steht immerhin eine Handwasserpumpe; statt Brunnen und Eimer.
Seine Familie ist inzwischen gewachsen: Nach Sevcan und Kemal hat Tante Fatma eine Tochter bekommen, die sie in Gedenken an ihr verstorbenes Kind wieder Filiz nannte. Dann folgte noch Hasan, das Nesthäkchen. Mit Oma und mir drängen sich acht Personen auf engstem Raum.
Sevcan, mit elf die Älteste, ist noch kleiner als ich – und sieht sehr türkisch aus: braune Haut, schwarze Haare, kleine und dunkle Augen. Am schönsten ist es, sie singen zu hören. Sie hat eine wunderbare Stimme. Und eine blühende Phantasie. Sie tratscht ständig über alles und alle. Vor allem mit der Tante steht sie oft stundenlang in der Küche. Die beiden machen ohne Ausnahme jeden nieder – Nachbarn, Freunde, Klassenkameraden, Verwandte. Keiner kann sich vor ihnen sicher fühlen. Onkel haßt dieses »Blabla«, wie er es nennt. Wenn er merkt, daß sie wieder in der Küche die Köpfe zusammenstecken, gibt᾿s Krach.
Kemal ist acht und eher ruhig, unauffällig. Aber wenn er mal den Mund aufmacht, lügt er. Ich habe nie wieder jemanden erlebt, der so unverfroren die Unwahrheit sagt wie er – außer Mutter. Und er spielt gut Fußball, ist jeden Tag draußen auf der Straße bei den Jungs. Um seine Hausaufgaben kümmert er sich nie – das stört auch bei ihm keinen.
Filiz ist etwa sieben und die intelligenteste der vier Geschwister. Ihrem Verhalten und Benehmen merkt man an, daß sie etwas Besonderes in dieser Familie darstellt. Selten höre ich sie reden. Sie ist klein und ruhig – still wie ich. Aber sie weint wegen der kleinsten Kleinigkeit – ich nie. Obwohl wir wegen unserer Schweigsamkeit nur wenig Kontakt miteinander haben, ist Filiz die einzige, die ich liebe wie eine Schwester.
Der vierjährige Hasan gilt nicht nur bei uns als ein Wunder der Natur. Als Sechsmonatskind hat er ohne Brutkasten überlebt, ist aber extrem klein geblieben. Ein Meter dreißig – auf mehr bringt er es nicht. Onkel Halil hat ihm Opas Namen gegeben. Er hat das Pech, immer die Sachen anziehen zu müssen, aus denen die Großen herausgewachsen sind. So hat er Kemals Schuhe aufzutragen. Weil sie ihm viel zu groß sind, stopft er sie mit Zeitung aus und läuft damit herum wie ein Clown im Zirkus. Ich habe ihn nie anders laufen sehen. Er lacht immer, ist stets fröhlich, egal, was passiert.
Die Familie von Onkel Halil gibt Oma und mir das Gefühl, daß sie uns in diesem Haus als Fremdkörper empfindet, mit denen sie das Wenige, das sie zum Überleben hat, auch noch teilen muß. Daß dieses Wenige von Omas Geld bezahlt wird, scheint niemand zu realisieren.
Nach unserem Umzug fühle ich mich allein. Zwei Kilometer liegen auf einmal zwischen mir, meinen Freundinnen und meinen Spielgefährten. Alle sind schlagartig unerreichbar.
Die schönen Zeiten sind vorbei.
Mein einziger Lichtblick ist Gümüs, Onkel Halils Hund. Ein mittelgroßer, struppiger Rüde, der alle Formen und Farben des Mischlings in sich vereint. Er begrüßt mich stets freundlich, er ist der einzige, der mir seine Liebe ganz offen zeigt.
Das Haus versinkt im Chaos. Jeder macht, was er will. Wir Kinder müssen zu zweit in einem Bett schlafen. Die Wäsche quillt in einem heillosen Durcheinander aus den Schränken, so, wie sie achtlos hineingestopft wurde. In der Küche stapelt sich das schmutzige Geschirr, lockt dicke Schmeißfliegen an. Zu allem Überfluß hält Onkel Halil im Keller zehn bis fünfzehn Brieftauben, die dem Gestank im ganzen Haus noch eine ganz besondere Note hinzufügen.
Der Onkel ist meist schon am frühen Morgen betrunken, verlangt, daß ihm Tante Fatma Tag und Nacht zur Verfügung steht. Sie muß ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen. Wenn er sich aufs Bett legt und die Zeit mit Nichtstun und Trinken totschlägt, muß sie bei ihm sitzen bleiben, sich mit ihm unterhalten.
Im Grunde ist sie froh darüber. Mit dem Haushalt kommt sie überhaupt nicht zurecht. Sie hat keinen Blick für die dringend erforderlichen Dinge. Die gesamte Hausarbeit haben ausnahmslos wir Kinder zu erledigen. Ab und zu kochen – das ist das einzige, was sie beiträgt. Anschließend sitzt sie wieder beim Onkel. Nach einiger Weile fangen die beiden gewöhnlich Streit an. Wenn er dann genug Raki im Bauch hat, verprügelt er sie – und auch uns.
Damit wenigstens etwas Geld verdient wird, eröffnet Onkel Halil einen Obst- und Gemüseladen. Das bedeutet für Sevcan, Kemal und mich, daß wir arbeiten müssen. Mein Onkel und meine Tante gebärden sich als Chef und Chefin, sie schauen gelassen zu. Oma hilft ebenfalls so gut sie noch kann. Mit ihren neunundsiebzig Jahren ist sie zu alt geworden, um unter diesen Umständen noch für Ordnung zu sorgen. Ihre Kraft ist verbraucht.
Wir dürfen nie weinen. Die Erwachsenen lachen uns aus, wenn wir hinfallen oder uns auf andere Weise verletzen. Trösten oder gar Streicheln gibt es nicht – nur Spott und Hohn. Also weine ich nie vor anderen – egal, wie weh ich mir getan habe, egal, welche Schmerzen ich aushalten muß.
Einmal tolle ich mit grünen Gummisandalen im Garten herum. Dabei trete ich mir einen rostigen Nagel durch den Fuß – er schaut oben zum Spann heraus. Obwohl ich vor Schmerzen fast irrsinnig werde, gebe ich keinen Laut von mir, verstecke mich in einer Ecke, ziehe den Nagel selbst raus.
Zusammengekauert warte ich darauf, bis ich mit dem Schmerz zurechtkomme. Erst dann gehe wieder ins Haus. Niemand hat etwas mitbekommen.
Unterricht gibt᾿s in drei Schichten, weil die Schule für die vielen Kinder in unserem Stadtteil viel zu klein ist. Ich bin der zweiten Schicht zugeteilt worden. Sie fängt um fünfzehn Uhr an und endet am Abend um neunzehn Uhr.
Generell gibt uns Tante Fatma nichts zu essen mit. Oft gibt es kein Brot, auch kein Gas, um selbst irgend etwas zu kochen. Nichts ist da. Dann müssen wir das Haus hungrig verlassen und haben auch für die Pausen nichts dabei.
Eines Abends komme ich richtig ausgehungert heim. Wieder einmal haben wir den ganzen Tag nichts zu essen bekommen. Auf dem Gasherd kocht Suppe in einem Dampftopf. Ich kann nicht verstehen, warum das Essen noch nicht fertig sein soll. Die Tante sitzt wieder mal faul beim Onkel.
Ich gehe in die Küche, versuche den Dampftopf zu öffnen, um zu sehen, ob es noch lange dauert. Mit einem lauten Knall fliegt der Deckel an die Decke, die Suppe scheint zu explodieren, sie spritzt durch die ganze Küche. Auch auf meine Arme, wodurch ich mich schrecklich verbrühe.
Es ist dunkel in der Küche, weil wir keinen Strom haben, wie es damals noch in vielen Haushalten war. Tante Fatma und Sevcan stürzen herein, um zu sehen, was passiert ist. Eine von ihnen dreht die Gasflamme ab. Ich verschränke die Arme, laufe aus dem Haus und verstecke mich. In der Dunkelheit bemerkt keiner, was mir passiert ist. Ich stöhne laut, wimmere vor Schmerzen, weine aber nicht.
Sevcan findet mich schließlich, sagt, das Essen sei fertig. Als sie mich stöhnen hört, fragt sie, was los sei. Ich zeige ihr meine Arme und flehe: »Verrat Oma nichts.«
Mit unseren Kopftüchern verbinden wir die Arme. Beim Essen kann ich vor Schmerzen nicht sitzen – wir essen ja nicht am Tisch, sondern sitzen auf dem Boden. Ich gehe schließlich aus dem Zimmer, weil ich es nicht mehr aushalte. Da bemerkt Oma meine verbunden Arme. Sie macht eine fürchterliche Szene: »Was sag ich jetzt deinen Eltern, da bleiben große Narben zurück, du wirst ein Leben lang verunstaltet sein. Keiner wird dich mehr heiraten.«
Meine Arme sehen wirklich schlimm aus. Es bilden sich große Blasen. Ein Arztbesuch kommt nicht in Frage. Einen Tag brauche ich nicht zur Schule, danach muß es weitergehen, als sei nichts geschehen.
Zum Glück sind nur wenige Spuren zurückgeblieben.
Sevcan und ich haben dem Onkel Zigaretten geklaut, stehen eines Abends im Garten und rauchen.
»Inci, ich habe mich in einen Jungen aus unserer Straße verliebt«, gesteht Sevcan. Sie ist ja zwei Jahre älter als ich. »Das ist das schönste Gefühl der Welt. Wenn ich ihn sehe, kribbelt es im Bauch und im ganzen Körper.«
Gebannt höre ich zu. Zum ersten Mal bekomme ich eine Ahnung von diesem einzigartigen, unbeschreiblichen Gefühl. Das finde ich ungeheuer aufregend, und ich beschließe, mich auf der Stelle zu verlieben. Auf der Straße spielen ständig Jungen aus der Nachbarschaft Fußball. Einer fällt mir besonders auf. Er heißt Hidir, ist etwa dreizehn, vierzehn Jahre alt, hat den gleichen kahlgeschorenen Kopf wie alle. Er wohnt gegenüber von uns, bei seiner Schwester, einer Lehrerin. Vom Fenster aus kann ich beobachten, wenn er aus dem Haus kommt und zu den anderen Jungs geht.
Er kommt in Frage, ihn erwähle ich. Das macht Herzklopfen, und ist schön – aber es bleibt wirklich nur ein Spiel. Von einem richtigen Gefühl kann mit meinen neun Jahren noch keine Rede sein. Hidir lasse ich nie etwas merken. Auch der »Angebetete« von Sevcan bekommt nichts von ihrer Schwärmerei mit.
In diese Zeit fällt auch ein Ereignis, das für jedes junge Mädchen einen Einschnitt bedeutet: Meine Brust beginnt zu wachsen. Wirklich nur eine – die rechte. Da ist plötzlich dieser kleine Hügel, wenn ich ihn anfasse, tut er weh. Weil mich niemand auf diese Situation vorbereitet hat, bekomme ich panische Angst, glaube, daß etwas ganz Schlimmes mit mir passiert.
Schließlich vertraue ich mich Sevcan unter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit an. Sie sagt mir aus eigener Erfahrung, was los ist. Danach habe ich nur noch Angst, daß die linke Brust nicht wachsen würde. Noch jahrelang ist sie kleiner, und ich habe das Gefühl, verunstaltet zu sein.
Zum ganz alltäglichen Wahnsinn gehören die Prügelorgien von Onkel Halil. Wenn er betrunken ist und sich abreagieren muß, sucht er einen Anlaß, so beliebig er auch sein mag.
Einmal stehen Sevcan und ich wieder im Garten. Die Jungen spielen wie immer auf der Straße Fußball, der Onkel befindet sich in seinem Gemüseladen an der nächsten Straßenecke. Im Garten, unter dem Eukalyptusbaum, steht ein Stapel Obstkisten. Ich klettere hinauf, halte mich am Baum fest – daß die Kisten schwanken, interessiert mich nicht. Von hier aus kann ich »meinen« Hidir sehen. Die schwankenden Kisten werden zum Pferd, ich ziehe die imaginären Zügel an, gebe ihm die Sporen, ahme das Geräusch galoppierender Hufe nach.
Da kommt der Onkel zur Gartentür herein, samt Rakifahne. »Geh runter«, herrscht er mich an. Und befiehlt allen Kindern, ins Haus zu gehen. »Ihr steht jetzt alle absolut still im Wohnzimmer, wartet, bis ihr dran seid, ohne euch zu rühren«, fordert er schwankend.
Wir wissen schon, was er unter »dran sein« versteht. Es bleibt uns aber nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Kurze Zeit später kommt er rein, trinkt vor unseren Augen weiter Raki, starrt uns mit glasigem Blick an, wartet auf den ersten, der sich bewegt.
Der kleine Hasan ist ein Zappelphilipp, kann nie ruhig stehen, hält es auch jetzt als erster nicht mehr aus. Das ist der Startschuß. »Stellt euch in einer Reihe auf – wie die Orgelpfeifen!« brüllt er und wütet weiter: »Wie kommt ihr dazu, euch im Garten rumzutreiben, die Jungs zu beobachten? Mädchen dürfen so etwas nicht.« Daß auch seine beiden Buben vor ihm stehen, kann er offensichtlich nicht mehr wahrnehmen.
Er steigert sich in blinde Wut, beschimpft uns unflätig. Seine Kinder zeigen auf mich, zetern: »Nur Inci ist schuld, nur sie hat sich schlecht benommen.«
Ihn interessiert nichts mehr. Er will nichts anderes als wieder einmal seiner Wut und Ohnmacht ein Ventil verschaffen und prügeln, prügeln, prügeln. Sevcan mußte als erste die Handfläche nach vorn strecken, und er schlägt mit einem fingerstarken Eisenrohr voller Wucht zu.
Dann bin ich dran, stehe zitternd vor ihm. Oma sagt ein paar Worte auf Kurdisch, das keiner von uns versteht. Da stößt er mich quer durch den Raum zu ihr, ich darf mich neben sie setzen. Dann bekommen auch die anderen drei Onkels Eisenrohr zu spüren. Selbst die winzig kleine Hand von Hasan.
Oma kann mich beschützen, denn sie ist ja für mich verantwortlich, handelt im Auftrag meiner Eltern. Damit liegt meine Erziehung in ihrer Hand. Gewalt lehnt sie ab, steht damit aber ziemlich alleine da.
Kinder zu prügeln gehört zur »Standarderziehung« in der Türkei. Wenn Onkel Halil seine eigenen Kinder mißhandelt, kann Oma deshalb nicht einschreiten. Tante Fatma unternimmt auch nichts, sie widerspricht Onkel Halil nie.
»Inci, verschwinde aus der Küche, du gehörst nicht zu uns, wir wollen dich nicht sehen, hau ab ins Wohnzimmer«, schleudern mir meine Cousins und Cousinen entgegen, wenn ich ihnen nach solchen Prügelorgien in ihrem Schmerz folgen will. Sie hassen mich, wenn sie geschlagen werden. Dann spielen sie oft tagelang nicht mit mir. Der ganz alltägliche Terror wirkt sich so auch für mich schlimm aus.