Obert, Michael Chatwins Guru und ich

PIPER

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Für die Rastlosen unter Euch, die Fliehenden und Suchenden

ISBN 978-3-492-97721-0

Februar 2017

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2009

Fotos: Michael Obert

Karte: cartomedia, Karlsruhe

Litho: Lorenz & Zeller, Inning a.A.

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Covermotiv: Annette Hauschild/Ostkreuz

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Und ich nannte das »Augenbrot«.

Walter Benjamin

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BERLIN

Dass ich los muss, aufbrechen, ihn suchen – sofort. Ich wusste es im Moment, als ich erwachte und in tiefster Dunkelheit die Augen aufschlug, ohne eine entfernte Ahnung davon zu haben, wo ich mich befand. Ein kaum hörbares Summen vibrierte im Raum, wie von einem Falter, der sich aus seiner Puppe befreite, die staubigen Flügel straffte und sie ganz in der Nähe meines Ohrs zum ersten Mal vibrieren ließ. Das Geräusch riss ab, ich sah verschwommen ein Fenster, Licht fiel herein, streifte mich und erlosch wieder, während jemand langsam, sehr langsam an meinen Linsen drehte, bis meine Netzhäute ein scharfes Bild empfingen. Vor dem Fenster erkannte ich kahle Zweige, die sich vom Nachthimmel abhoben: ein Baum, die Buche, die Buche in meinem Hinterhof – ich lag in meinem Bett, zu Hause.

Die Uhr zeigte kurz vor vier, Ostermontag, Tag der Auferstehung. Ich schob das Leintuch beiseite und stieg aus dem Bett. Es war eine ganz selbstverständliche Bewegung, und dennoch schien etwas Besonderes in ihr mitzuschwingen, das versponnene Netz eines Plans, der sich mir nur ansatzweise erschloss. Würde es dort, wo ich hinreiste, regnerisch sein? Windig oder kalt? War das wichtig? Ich packte, wie ich immer packte, mechanisch, wie in Trance, stopfte die üblichen Sachen in meinen Seesack, der seinen Platz neben dem Schrank hatte, ohne jemals ganz ausgepackt zu werden, ließ die Verschlüsse zuschnappen, nahm die Bücher aus dem Regal – seine Bücher –, verstaute sie in der Außentasche und sah meine Papiere durch; dann schor ich meinen Kopf, schnitt Finger- und Fußnägel, duschte den Schlaf von der Haut, ließ alles Unnötige zurück und trat hinaus auf die Straße.

Als ich die kalte Nachtluft einsog, verspürte ich etwas wie Erleichterung. Ein Reinigungs-wagen bog um die Ecke, zwischen den Rädern schrubbten runde Bürsten über den Gehweg. Über den Fassaden ragten steile, dunkle Dächer einer tief hängenden Wolkendecke entgegen, die tagelang keinen Sonnenstrahl durchlassen würde. Und dann regnete es. Die ersten Tropfen zersprangen auf dem Asphalt wie Glaskugeln. Im Sommer hätte sich der Regen in einen trügerischen Dunst verwandelt, um aus dem Innersten der Straße eine schmerzhafte Euphorie aufsteigen zu lassen. So jedoch lag im gespannten Zittern der kleinen Perlen, die hier und da in der Nacht glitzerten, lediglich eine Ahnung von den kreisenden Zyklen der Dinge, von Anfängen und Enden, die sich immerzu wiederholten und sich gegenseitig jagten, bis sie nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren.

Dieses Mal würde es ein Anfang sein, eine Geburt – meine Geburt.

Meine Schritte beschleunigten sich, ich gehe, ah, wie gut das tut, dass ich gehe, Ampeln blinken orangerot, der eisige Wind weht Müll über verwaiste Kreuzungen, einem U-Bahn-Schacht entströmt der schale Geruch von Schweiß und schlechtem Atem, von Menschenmassen mit hängenden Mundwinkeln. Ich bin unterwegs, es regnet, es ist Nacht; mit einem Mal überkam mich das überwältigende Gefühl, der einzige Mensch in dieser großen Dunkelheit zu sein. Im Osten, am Ende der Häuserfluchten, schien ein bleigrauer Streifen am Himmel auf. Ich lief ihm entgegen, den halb vollen Seesack geschultert, an der Schwelle zwischen Nacht und Tag, einem Übergang, an dem alles geschehen konnte.

 

Der Frau hinter dem Schalter am Ostbahnhof standen die Strapazen der Ostermast ins Gesicht geschrieben. Aufgetriebene Backen pressten ihre Lippen zu einem rot bemalten Vogelmund zusammen, ihr sonst akkurat frisiertes Haar war um den Scheitel verklebt. Sie trug eine hellblaue Bluse und ein seidenrotes Halstuch, die Schulterpartien ihrer dunklen Jacke waren mit etwas bestäubt, das aussah wie zerriebene Haferflocken.

»Wohin?«, fragte sie gequält, als ich vor sie trat.

Ja, wohin eigentlich? Streng genommen konnte ich mir nicht einmal eine Fahrt mit der S-Bahn leisten. Ich hatte ein Jahr lang über eine Reise zum Popocatépetl geschrieben, über meine Begegnung mit den Bauern, die am Fuß dieses aktiven mexikanischen Vulkans leben und in ihren Träumen mit der Naturgewalt kommunizieren – ein Buch, das am Ende niemand drucken wollte. Ich war völlig abgebrannt, meine Beziehung zerbrochen, meine Wohnung löste einen Hustenreiz aus, sobald ich sie betrat, und auf meinem Schreibtisch stapelten sich unerledigte Aufträge für schlecht bezahlte Reportagen.

Mein Leben lag wieder einmal in Scherben, und das Reisen, dieses ewige Herumziehen, so schien mir, war verantwortlich dafür. Doch anstatt zu arbeiten, eine annehmbare Wohnung zu finden und wieder auf die Beine zu kommen, wollte ich mir nun eine Fahrkarte kaufen, um einen steinalten Briten zu suchen, von dem ich nicht wusste, ob er sich dort aufhielt, wo ich ihn vermutete, ob er überhaupt noch am Leben war, ob ich –

»Wohin?«, knurrte die Bahnfrau.

»Nach Griechenland«, hörte ich mich sagen.

Der feste Klang meiner Stimme überraschte mich. Ich wiederholte das Wort, um mich zu vergewissern, dass ich es selbst ausgesprochen hatte, und dann lachte ich laut und rief: »Nach Griechenland! Nach Griechenland!«

Die Bahnfrau warf einen verunsicherten Blick in die leere Schalterhalle; dann zwinkerte sie mir verschwörerisch zu und flüsterte: »Mit dem Flugzeug wären Sie in zwei, drei Stunden dort.«

Ich dachte daran, dass er den ganzen Weg zu Fuß gegangen war, dass seine Wanderung mehr als ein Jahr gedauert hatte. Ich konnte unmöglich das Flugzeug nehmen, nein, fliegen kam nicht infrage. Die Frau seufzte und begann, ihre Tastatur zu bearbeiten. Zerriebene Haferflocken lösten sich aus ihrem Haar und rieselten auf ihre Schultern. Schweiß perlte auf ihrer Stirn.

»10 Uhr 46«, sagte sie. »Ankunft in Athen um 5 Uhr 19, morgen früh, nein, nicht morgen, übermorgen.«

Ich schob ihr meine Kreditkarte hin, während sie versuchte, den Fahrpreis zu ermitteln.

»Der Computer findet das Teilstück für Serbien und Mazedonien nicht«, behauptete sie nach einer Weile. »Ich kann Ihnen leider keine Fahrkarte ausstellen.«

»Und jetzt?«

Sie überlegte kurz.

»In zwanzig Minuten fährt ein Zug nach Wien«, sagte sie schließlich und schenkte mir ein strahlendes Lächeln. »Das ist zumindest schon mal Ihre Richtung.«

Der Zug fuhr mit einem Ruck an, wenig später explodierten die Lichter des Ostbahnhofs in den Regenschlieren am Fenster, ein regelrechtes Feuerwerk über einem Geflecht glänzender Schienenstränge, die sich wieder und wieder teilten, um sich in der Dunkelheit zu verlieren. Wer sich nicht gut fühlt, sollte eine Reise unternehmen. Ganz plötzlich. Ohne jemandem davon zu erzählen. Einfach ein paar Sachen in den Seesack stopfen und in einen Zug steigen, -irgendwohin. Beim Gedanken an den gleichförmigen Gesang der Züge, die mich über den Balkan nach Griechenland tragen würden, spürte ich ein Kribbeln unter den Rippenbögen. Die Luft roch auf einmal nach fremden Ländern, nach abgeschiedenen Orten und stillen Winkeln, nach dem Meer.

Liegt die Kraft einer Reise nicht darin, dass sie das Leben reinigt? Dass sie unnötigen Ballast zerstäubt und den Kopf klar und leicht macht? Ich brauchte nichts weiter zu tun, als mich dem Schaukeln dieses Zugs hinzugeben, mich forttragen zu lassen, hinaus aus dieser Stadt, nach Osten, immer weiter nach Osten. Ich atmete auf, streckte mich und betrachtete die Lichtblumen, die draußen über die Fassaden flirrten, Lilien, Anemonen, Hibiskusblüten aus irisierendem Licht – und dann stellten sich mir Fragen wie diese: Knallst du jetzt völlig durch?

Vor dem Zugfenster verschwammen auf einmal die Straßen. Ein dichter Nebel legte sich auf meine Augen, meine Lider sanken herab, und ich tauchte in eine Blindheit ein, die nicht schwarz war, sondern von einem rauschenden Weiß, eine gleißende Finsternis, die mich zu Tode erschreckt hatte, als sie mich zum ersten Mal ereilte. Jetzt tastete ich routiniert nach der Außentasche meines Seesacks, fand darin die Thermosflasche, öffnete sie, tränkte mit dem warmen Sud zwei kleine Mullkompressen und legte sie auf meine geschlossenen Lider. Als ich die Flasche zurücksteckte, streifte meine Hand die beiden Bücher. Ich zog sie blind heraus und strich über ihren Leineneinband, und plötzlich kam es mir vor, als wäre ich auf meine Reise zugesteuert, seit ich diese Bücher zum ersten Mal in die Hand genommen hatte. In Zentralamerika. Vor fast zwanzig Jahren.

Unter den Kompressen legte sich eine angenehme Wärme um meine Augäpfel, und die weiße Welt hinter meinen Lidern verlor etwas von ihrer schmerzenden Intensität, während der abgegriffene Leineneinband der Bücher die erste jähe Abreise meines Lebens in mir heraufbeschwor: ein exzellent bezahlter Jungmanager, der einer steilen Karriere in der sogenannten freien Wirtschaft entgegensieht, bis er eines Tages unzufrieden und gelangweilt seinen Job kündigt, um sich in einem Flugzeug nach Zentralamerika wiederzufinden – am Beginn einer Reise, die zwei Jahre dauern und von Mexiko hinunter nach Feuerland führen wird, in ein neues Leben.

Die Augenkompressen begannen zu wirken. Ganz allmählich schienen die Flavonoide durch meine Hornhaut direkt in mein Gehirn zu dringen, und ich sah deutlich vor mir, wie ich die beiden Bücher, die in meinem Schoß lagen, damals im Tausch gegen zwei Graham Greenes von einem Rucksackreisenden bekommen hatte. Am selben Abend versetzte mich der britische Autor aus meiner Hängematte am Ufer des Atitlán-Sees im Hochland von Guatemala auf einen Lastkahn auf dem winterlichen Rhein bei Köln, in die Wälder und Auen des Ungarischen Tieflands, zu den Wölfen Transsilvaniens. Im Dezember 1933 hatte dieser Brite seine Insel auf einem Dampfschiff verlassen, weil er Tapetenwechsel brauchte, wie er schrieb, und war mit dem ersten Band der Oden von Horaz im Rucksack quer durch Europa gewandert, von Rotterdam nach Konstantinopel.

Die Flavonoide entfalteten jetzt ihre volle Wirkung. Jedes Mal staunte ich von Neuem über das Wunder, das sich nun hinter meinen Lidern ereignete, über den Schatten, der sich zögernd ausbreitete, als schöbe sich eine Wolke vor die gleißende Sonne, bis ich von einem wohltuend leeren Schwarz umhüllt war. Meine Schultern sanken herab. Mein Gesicht entspannte sich. Mein Kopf überließ sich auf der Rückenlehne den Bewegungen des Zuges, der mich aus Berlin hinaustrug, aus meiner Stadt, die ich nicht sehen konnte. Stattdessen erinnerte ich mich daran, wie sich in der Hängematte am Ufer des Atitlán-Sees mein Puls beschleunigt hatte, während ich die Beschreibungen des Briten verschlang. Ich war damals nur wenige Jahre älter gewesen als er zum Zeitpunkt seines Aufbruchs und hatte ebenfalls gerade mit einem staubtrockenen Leben Schluss gemacht, selbst jedoch nie ein poetischeres Wort zu Papier gebracht als »Gewinn- und Verlustrechnung«. Und nun schien in diesen Zeilen, im Klang dieser klaren, von einer Poesie der Straße durchdrungenen Sprache eine Art von Zukunft auf, wie ich sie mir in den ersten Wochen meiner Lateinamerikareise nicht vorzustellen wagte.

Seither war ich auf Wanderschaft. Seither, so schien mir jetzt hinter meinen Augenkompressen im Zug nach Wien, war die Reise, die mich vor ein paar Stunden im Schlaf überrascht hatte, für mich vorbestimmt, die Suche nach dem Patriarchen der schreibenden Nomaden, dem Vorbild einer ganzen Generation angloamerikanischer Reiseschriftsteller, allen voran Bruce Chatwin, in dessen Biografie es heißt, dass er den Autor meiner beiden Bücher als seinen »letzten Guru« verehrt hatte. Ah, ich spürte es ganz deutlich: Seit jener Nacht am Atitlán-See war ich unterwegs zum Herodot des 20. Jahrhunderts – zu Sir Patrick Leigh Fermor.

 

»Sie fahren nach Wien?«

Die Stimme war hoch wie die einer Frau, der Tonfall jedoch eindeutig männlich. Ich ließ vorsichtig die Augäpfel hinter meinen Lidern kreisen; dann nahm ich die Kompressen ab. Mir gegenüber saß ein Mann in einem makellos gebügelten blauen Hemd mit schmalen Streifen. Silberne Knöpfe hielten seine Manschetten zusammen. Seine zierlichen Handgelenke standen in starkem Kontrast zu seinen wurstigen Fingern, die Nagelbetten an den Daumen waren aufgekratzt.

»Sie fahren nach Wien?«, wiederholte er mit seiner Fistelstimme; sein Gesicht sah aus wie poliert.

»Nach Griechenland.«

»Sicher verzeihen Sie mir meine Neugier«, sagte er mit einem glatten Lächeln, »aber warum fliegen Sie nicht?«

Ich tat so, als hätte ich ihn nicht gehört.

»Sie unternehmen also keine Geschäftsreise«, folgerte der Mann aus meinem Schweigen und ließ seinen Blick an mir hinunterwandern. »Sie sind auf der Flucht, stimmt’s?«

Er war Anfang fünfzig, roch nach süßem Rasierwasser und stellte sich mir mit dem Namen Sieder vor, Wirtschaftsprüfer aus Dresden, auf dem Rückweg von einem Familienbesuch in Berlin.

»Sind Sie auf der Flucht?«, bohrte er weiter.

»Auf der Suche.«

»Ich möchte nicht indiskret sein«, behauptete er, »aber darf ich fragen, wen oder was Sie suchen?«

Ich gab mir einen Ruck und sagte es ihm.

»Ihren unbestimmten Angaben entnehme ich, dass Sie nicht wissen, wo genau sich dieser Brite aufhält?«

Es gab noch mehr, was ich nicht wusste. Zum Beispiel, ob ich mich mit einem Wirtschaftsprüfer aus Dresden über meine Reisepläne unterhalten wollte. Zumal diese recht vage waren. Aber vielleicht klärten sich die Dinge etwas, wenn ich sie in Worte fasste.

»Zu Fuß von Rotterdam nach Konstantinopel?«, rief Sieder aus, als er von Fermors Wanderung erfuhr. »Neunzehnhundertdreiunddreißig?«

»Dass ich ein Reisender wurde und anfing zu schreiben, verdanke ich seinen Büchern«, sagte ich leise und zeigte ihm die beiden Bände. »Und dann hörte ich, dass Patrick Leigh Fermor noch am Leben sei!«

Sieders Augen weiteten sich ungläubig, während sein Wirtschaftsprüfergehirn mühelos eine einfache Rechenaufgabe löste: »Ihr Brite muss fast hundert Jahre alt sein!«

Der Gedanke, ich könnte Fermor – Sir Patrick Leigh Fermor – noch persönlich kennenlernen, hatte mir keine Ruhe gelassen. Ich machte die Verlegerin seiner deutschen Ausgaben in Zürich ausfindig. Als sie mir am Telefon bestätigte, dass Fermor tatsächlich noch lebte, redete ich auf sie ein, sie solle doch bitte den Kontakt herstellen. Ich müsse Fermor unbedingt treffen, unbedingt, beschwor ich sie, und als sie mich nach dem Grund fragte, faselte ich etwas von Seelenverwandtschaft.

»Ihr Seelenverwandter empfängt so gut wie nie Besuch«, hatte die Verlegerin erwidert. »Aber schreiben Sie ihm doch einen Brief, und schicken Sie ihn mir, ich leite ihn weiter in die Mani.«

Im Zug trat einen Moment lang Stille ein. Draußen in der Dunkelheit ging eine Reihenhaussiedlung in ein Gewerbegebiet über. Supermarktketten und Baumärkte ragten wie trutzige Inseln aus leeren, regennassen Asphaltflächen, die an überfrorene Seen erinnerten.

»Sie haben ihm geschrieben?«, fragte Sieder, als ich nicht weitersprach.

»Natürlich!«

»Er erwartet Sie also?«

»Nicht direkt.«

»Er hat Sie abblitzen lassen?«

Ich hatte Fermor geschrieben, ein Treffen mit ihm sei außerordentlich wichtig für mich. Die möglichen Peinlichkeiten eines solchen Briefes hoffte ich zu vermeiden, indem ich meinem Englisch einen geschliffenen Ton verlieh, der Fermor gefallen würde. Ich zählte einige meiner Reisen und Bücher auf, brachte ein slight presentiment of a congeniality of souls zum Ausdruck und schickte den Brief mit dem Gefühl ab, der alte Herr werde mir postwendend zurückschreiben.

Monate vergingen, ohne dass eine Antwort kam.

Ich beendete mein mexikanisches Buch und vergaß Fermor wieder. Bis ich mitten in der Nacht erwachte und meine Sachen packte. Ein halbes Jahr nachdem ich den Brief abgeschickt hatte.

»Vor ein paar Stunden also«, sagte ich und versuchte zu lächeln. »Und jetzt bin ich unterwegs nach Griechenland.«

»Sie haben seine Antwort nicht abgewartet?«, fragte Sieder fassungslos. »Sie sind aus dem Bett gestiegen und einfach abgereist? Sie haben nicht einmal seine Adresse?«

Ich hatte einen Nebensatz. Von Fermors Züricher Verlegerin. Hatte sie nicht erwähnt, sie wolle meinen Brief in die Mani weiterleiten? Bedeutete das nicht, dass Fermor in der Mani lebte? Die Mani ist eine Gegend auf dem südlichen Peloponnes. Eine von Tälern und Schluchten zerschnittene, karge Region, wo Bauern in Häusern wohnen, die wie Wehrtürme aussehen. Bis vor Kurzem soll dort noch Blutrache praktiziert worden sein.

Das wusste ich. Mehr nicht.

Sieder sah mich an, als halte er mich für einen Verrückten, einen Zwangsneurotiker, der wegen eines Hirngespinstes quer durch Europa reisen wollte. Er wendete seinen Blick ab und betrachtete sich eine Weile im Zugfenster, und plötzlich sagte er: »Ich muss zugeben, dass ich Sie ein wenig beneide.«

Ich verstand nicht, was er meinte.

»Ich muss meinen Urlaub sechs Monate im Voraus einreichen«, sagte er leise. »Wenn ich einfach in einen Zug steige und wegfahre, bin ich draußen.«

Er erhob sich, murmelte, er brauche jetzt einen starken Kaffee, und ging den Gang hinunter in Richtung Bordrestaurant.

Die Häuser einer Vorstadt blieben zurück, und der Zug trug mich hinaus in ein leicht gewelltes Land. Ein Traktor gravierte rätselhafte Hieroglyphen in die Felder, Krähenschwärme trieben dahin, eine fahle Sonne erhob sich über den Morgendunst. Die Nacht war vorbei.

 

Kurz vor der Einfahrt nach Dresden entschuldigte sich eine männliche Stimme über Lautsprecher für die Verspätung von drei Minuten, die wegen Bauarbeiten entstanden sei, und wiederholte die Ansage in einem haarsträubenden Englisch. Wenig später fuhr der Zug über die Elbe, und das Ensemble der Dresdner Kirchtürme erhob sich über der Stadt. Sieder, der Wirtschaftsprüfer, kam im letzten Moment aus dem Bordrestaurant zurück. Seine Neugier mir gegenüber schien verflogen. Er nahm Mantel und Tasche und verabschiedete sich, ohne mich anzusehen. Gleich darauf hastete er an meinem Fenster vorbei, den Blick so fest auf den Boden geheftet, als verliefen dort unsichtbare Linien, die ihn einem vorbestimmten Ziel zuführten.

Aus der großen Bahnhofshalle drangen Geräusche wie von Atemschläuchen herein. Ich sah auf ein Plakat mit der Aufschrift: Hatten Sie so viel Norwegen in Thüringen vermutet? Das Foto zeigte einen nachkolorierten See, der sich zwischen bewaldete Steilhänge grub und mit etwas Phantasie tatsächlich an einen Fjord erinnerte. Die Landschaft wirkte anziehend auf mich, unversehrt, friedlich. Doch der Verweis auf Norwegen irritierte mich.

Der Zug fuhr los, und ich wusste nicht, welches Land mir mehr leidtat: Thüringen, weil es nichts Typischeres zu bieten hatte als »so viel Norwegen«. Oder Norwegen, weil es ungefragt auf eine Fjordlandschaft reduziert wurde. Als das Plakat meinem Blick entschwand, musste ich an Neil Armstrong denken, der auf den Mond kommt und die Landschaft dort mit dem Grand Canyon vergleicht. Ob er nach seiner Rückkehr zur Erde den Grand Canyon besucht hat, um sich dort an den Mond zu erinnern?

Wenig später fuhr ich durch die Welt von SV Eintracht Dobritz, Modezentrum Kress und SB Möbel Boss, vorbei an den Ruinen der Dresdner Malzwerke, an überwucherten Brachflächen und graffitibesprühten Vorstadtbahnhöfen. In Schrebergärten wehten Fahnen über exakt gezogenen Radieschenbeeten und liebevoll arrangierten Naturkulissen aus dem Baumarkt, während in den Dörfern zwischen Einschusslöchern aus dem Zweiten Weltkrieg der Putz von den Fassaden bröckelte. Wurmstich. Kahle Eichen. Aussiedlerhöfe mit Schweinemassen. Zwei Ruderer in schwarzweißen Trikots kämpften sich die Elbe hinauf, begleitet von einem knallroten Motorboot.

Bald säumten Schilfwände und Trauerweiden die Ufer, darüber erhoben sich Felsformationen wie Türme, die durch Brücken miteinander verbunden waren. Hoch oben sah ich die Silhouetten von Spaziergängern. Fuhr ich durch das Elbsandsteingebirge? Durch das Erz- oder das Fichtelgebirge? Ich wusste es nicht. Ich kannte mich in der Sahara aus, am Oberlauf des Amazonas, in Indien und der Mongolei. Überall, nur nicht in Deutschland.

Der Zug wurde langsamer, und zwei tschechische Grenzpolizisten kontrollierten meinen Pass.

»Wohin?«

»Nach Griechenland.«

Sie sahen sich an und lachten. Schubleichter pflügten die Elbe hinauf, einer Reihe orangeroter Bojen folgend. Kleine Fähren setzten über den Fluss, weiße Stämme hochgewachsener Birken schimmerten wie gebleichte Knochen aus dem Wald. Bad Schandau … Schmilka-Hirschmühle … Schöna. Vor der Kulisse bemooster Riesen stand ein einsames Holzhaus, ein Schild über der Tür zeigte ein rotes Herz mit der Aufschrift Mary. Knospen und Blüten – die Bäume erwachten. Wie mochte es dort draußen riechen?

Ich verschlief Prag und wurde erst wach, als mich ein lautes Rascheln aufschreckte. Wo war ich? Dunkelblaue Polstersitze, automatische Türen, darüber in leuchtenden Lettern: WC. Im Zug. Du sitzt im Zug. Du bist unterwegs zu Patrick Leigh Fermor. Das Rascheln kam von den Mülltüten, die zwei Männer durch den Gang schleiften. Ich fragte mich gerade, woher der Geruch von Maiglöckchen kommen mochte, da versetzte er mich jäh ins mexikanische Hochland. Am Popocatépetl hatte es genauso gerochen. Monatelang war ich zu Fuß durch die Falten dieses Vulkans gestreift, bis er mein Leben mit einem Schlag veränderte. Mein mexikanisches Erlebnis – ja, nennen wir es vorerst ruhig so –, mein mexikanisches Erlebnis hatte mich an die letzte Grenze geführt, an den äußersten Rand des Daseins und schließlich in eine Zeit voller Schatten und Zweifel und Grübelei, in der alles, woran ich geglaubt und was ich geliebt hatte, allmählich zerbrach und mühsam wieder zusammengesetzt und an seinen Platz gestellt oder verworfen werden musste. Am Ende dieses Geduldspiels haftete dem Reisen ein Makel an. Das leuchtende Gefäß hatte dunkle Flecken und Risse bekommen. Es war, als hätte mich das, was mir am wichtigsten gewesen war – die Stille der Wüste, der Gesang der Wälder, das Dröhnen der Meere, tropische Regenschauer, einsame Nächte auf einem Fluss, einer Straße –, als hätte mich all dies auf gemeinste Art und Weise verraten, indem es sich aus meinem Leben stahl, ohne Abschied, schonungslos, kalt. Und die Verlassenheit, die zurückblieb, dieser finstere Raum im Innern meiner Existenz, überzeugte mich immer nachhaltiger davon, dass es jenseits des Horizonts nichts mehr für mich gab. Nichts mehr. Damals fing das mit meinen Augen an.

 

… draußen die dunkle Kalligrafie aufgeforsteter Fichten, Hasen, die über Felder hoppeln, Rotwild, Reiher, Auer-, Birk- und Haselhühner … die rauchenden Öfen auf den Balkonen in Svitavy und die Fabrik, die bei Zakaz wie ein verendeter Saurier in der Talsohle liegt … zwischen rostigen Gerippen und verwitterten Schloten reiten Kinder auf glänzend weißen Schwänen … das mag ich am Reisen, genau das: nicht sehen, was andere schon gesehen haben, auch nicht sehen, was du sehen willst, sondern mehr als das, was du sehen kannst

… leck meinen Augapfel, Göttin, auf meinem dickflorigen Teppich aus Marrakesch … sing, heb deinen Arm zum Gruß, und sing, ah, wie schön dein Gesang ist, wie schön die Welt … sing, damit ich in meiner Zelle tanzen kann, mit meinen Schatten, auf Zehenspitzen, zu deinem Lied, in dem alles Bewegung ist, alles Straße, alles Horizont, alles Wind und Regen, draußen … wo es keine Tschechen gibt – die Dörfer, die Gärten und Fußballplätze sind verlassen, Tristesse der Gleise, Tristesse des Asphalts … nein, das stimmt nicht, da ist eine Frau, die gebückt mit einem rostigen Wagen die Saat ausbringt, zwei Reiter galoppieren über eine Wiese, Fahrradfahrer in gelbschwarzen Trikots, ein Angler, der in Gummikleidung bis zur Hüfte in einem Bach steht … man muss sie nur suchen, die Bewohner … im »Kaufland« zwischen Ariel und Jacobs Krönung … im Theater der Grausamkeit, wo sie an ihren Fingern saugen wie an den Brustwarzen der Zeit oder mit vernähten Lippen rufen: I’m so happy, I’m so happy, unfortunately

… verstehst du? … nein? … angenommen, du findest Fermors Haus, ich meine, wir gehen doch davon aus, dass er ein Haus in der Mani besitzt, angenommen also, dieses Haus existiert, und du findest es tatsächlich … und immerzu regnet es, ah, dieser Regen, graue Fäden, die sich zwischen den Äckern und dem kontrastlosen Himmel aufspannen und erbarmungslos die Kirschblüten von den Zweigen reißen … bald bin ich da, mein Lieber, bald lernst du dich kennen … in Blansko … in Adamavo … in Brno reißt der Dauerregen ab, die Sonne bricht für einen Moment durch die Wolken, und der Zug füllt sich mit Reisenden, die sich auf Tschechisch unterhalten – heitere Zischlaute und hohle Os aus dem Alphabet der Gerüche … aus einer Zukunft, in der aus Tintenklecksen Landschaften entstehen.

»Die Beschaffenheit eines Notizbuchs ist die halbe Miete!« … Chatwin hat das einmal zu dir gesagt, erinnerst du dich? … zu Hause in deinen Aufzeichnungen nachschlagen, wie das damals gewesen ist, an der Bar des Old Alice Inn in der Todd Street in Alice Springs, dir noch einmal in Erinnerung rufen, wie Bruce in Kakishorts und leichten Wanderstiefeln seinen Montblanc-Füllfederhalter beiseitelegte und über den schwarzen Wachstucheinband seines Notizbuchs strich … wie er »Carnets moleskines, die echten, Mike!« zu dir sagte und einen verächtlichen Blick auf dein Ringbuch aus dem Supermarkt warf … wie in Bˇreclav alle aus dem Zug springen, auf ihre Fahrräder steigen und zwischen gestapelten Eichenstämmen und Fliederbüschen verschwinden … so ist es immer: Vor der Grenze leeren sich die Züge, dahinter füllen sie sich wieder … und dann hinein nach Österreich, in ein unverändert flaches Land, die gleichen Seen, die gleichen Felder und Birken, und dennoch hat man den Eindruck, in einer ganz anderen Gegend zu sein … in Bernhardsthal und Rabensburg, Dürnkrut, Stillfried, Süßenbrunn … ein wenig zu gepflegt, ein wenig zu bieder, zu schön … in Österreich, haha, da scheint die Sonne, da blühen die Gärten, da ist der Holunder dem tschechischen um Wochen voraus … Pappeln, Buchen, Eichen – alles treibt, alles strebt zum Licht.

»Wohin?«

»Nach Griechenland.«

»Dann beten Sie schon mal, beten Sie, dass Sie Ihren Fermor nicht finden … er ist Brite, zweiundneunzig Jahre alt, seine Zeit kostbar, a difficult man to know, you know?«

Und du kommst unangemeldet, ein Unbekannter.

WIEN

Im Jahr 1933 erblickt eine Reihe berühmter Persönlichkeiten das Licht der Welt: Jean-Paul Belmondo, Philip Roth, Susan Sontag, Yoko Ono, der japanische Kaiser Akihito und der irakische Präsident Talabani, Willie Nelson, Cees Nooteboom, Roman Polanski, der deutsche Serienmörder Joachim Kroll. Agatha Christie schreibt fleißig an ihrem Mord im Orient-Express, André Kertész veröffentlicht seine elektrisierenden Distorsions, Célines Voyage au bout de la nuit erscheint in deutscher Sprache. Die ersten Fernschreiber nehmen ihre Dienste auf, Bernadette Soubirous wird heiliggesprochen, in Chiasso der Schweizerische Bocciaverband gegründet, und in einer Talfurche des nordschottischen Glen More macht ein See von sich reden, weil dort ein Meeresungeheuer gesichtet worden ist.

Auch in den Vereinigten Staaten tut sich 1933 einiges: Das amerikanische Bundesamt für Gefängnisse sucht dringend einen entlegenen Hochsicherheitstrakt für Schwerkriminelle und bekommt die Felseninsel Alcatraz zugeteilt. Neun Millionen Amerikaner haben bei der Bankenkrise der Great Depression ihre Ersparnisse verloren, fünfzehn Millionen keine Arbeit. Der Mittlere Westen wird von Dürren geplagt, Sandstürme verheeren das Land. Franklin Delano Roosevelt wird Präsident und nimmt diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion auf.

Gründe für diese Annäherung gibt es genug. 1933 droht die Welt aus den Fugen zu geraten. In Palästina kommt es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Briten und Arabern, die das sofortige Ende der jüdischen Einwanderung verlangen. Japan tritt aus dem Völkerbund aus. Deutschland ebenfalls. Hitler wird Reichskanzler. Die NSDAP zählt fast anderthalb Millionen Mitglieder. Der Reichstag steht in Flammen. Auf dem Berliner Opernplatz verbrennt das »zersetzende Schrifttum« von marxistischen, pazifistischen und jüdischen Autoren. Jüdische Geschäfte, Anwaltskanzleien und Arztpraxen werden boykottiert. In Dachau entsteht ein Konzentrationslager. Die Gestapo verhaftet Hannah Arendt, Bertolt Brecht flieht ins dänische Skovbostrand und Anne Frank mit ihrer Familie nach Amsterdam, während ein achtzehnjähriger Brite an der holländischen Küste von Bord eines Schiffes geht, um sich in entgegengesetzter Richtung auf den Weg zu machen. Er hat sich in den Kopf gesetzt, quer durch Europa zu wandern, nach Konstantinopel, in ein »drachengrünes«, »schlangenverwunschenes« Byzanz. Sein Name ist Patrick Leigh Fermor.

Wie er im Dezember 1933 über die gefrorenen Felder stapft, könnte er genauso gut ein wandernder Scholar des späten Mittelalters sein, auf dem Weg zu einer entlegenen Universität. Seine politische Einstellung wird er später als naiv und gedankenlos moderat bezeichnen und in der Beschreibung seiner Reise niemals vorgeben, gewusst zu haben, was er nicht wissen konnte. Im niederrheinischen Städtchen Goch sieht der junge Fermor mit Unbehagen zu, wie SA-Männer in ihren Reithosen und steifen braunen Bergmützen, die Kinnriemen geschlossen wie bei Motorradfahrern, durch die Straßen marschieren. Später in dieser Nacht trifft er sie in einem Wirtshaus wieder. Ohne ihre grässlichen Mützen erscheinen sie ihm nicht mehr so martialisch. Eingenebelt in Zigarrenrauch und den Duft von Sauerkraut werden ihre Volkslieder allmählich leiser, die oberen Stimmen verweben sich, der Gesang klingt weicher, harmonischer, schreibt Fermor, wie Liebeserklärungen an die Wälder und Wiesen von Westfalen, lange, sehnsüchtige Seufzer, in Noten gesetzt … bezaubernd … unmöglich, sich bei so viel Schönheit vorzustellen, dass dieselben Sänger üble Schläger waren, dass sie jüdische Schaufenster zertrümmerten und in nächtlichen Feuern Bücher verbrannten.

In einer eisigen Nacht Anfang 1934 erreicht Fermor Wien. Mit einer Handvoll Eier, die ihm ein Bauernmädchen geschenkt hat, aber ohne einen Groschen in der Tasche. Er hofft auf die vier Pfundnoten, die er sich jeden Monat von daheim nachsenden lässt und die ihn im britischen Konsulat erwarten sollen. Bei seiner Ankunft in Wien streichen Suchscheinwerfer über die Dächer. Gewehrschüsse und Geschützfeuer grollen durch die Straßen. Was Fermor für einen Putsch der Nazis hält, die seit einiger Zeit auch Österreich in Aufruhr versetzen, stellt sich als Aufmarsch der Armee gegen demonstrierende Sozialdemokraten heraus. Unruhen, die am selben Morgen in Linz begonnen haben und bei denen Hunderte erschossen werden.

In dieser frostklirrenden Nacht landet Fermor in einem Hospiz der Heilsarmee, wo er, in Gesellschaft eines Trupps von Vagabunden, deren Kleider flatterten wie die Mäntel von Vogelscheuchen, ein Feldbett in einem riesigen Schlafsaal zugeteilt bekommt. Der Geruch ungewaschener Körper hängt in der Luft. Männer mit wallenden Bärten und irrem Blick wickeln Lappen von ihren zerschundenen Füßen und drücken Zigarettenstummel in Blechdosen aus. Ein Alter hält sich seinen Schuh ans Ohr, um mit strahlendem Gesicht daran zu lauschen wie an einer Muschel. Stimmen schwellen an und verebben in einem Kichern oder Flüstern, in diesem Schiff einer kahlen, klaren Kathedrale – einer Kathedrale, so fernab von allem, dass es ebenso gut ein Unterseeboot oder der Salon eines Luftschiffes hätte sein können.

 

Ich selbst wohnte im Wombat’s, in der Mariahilfer Straße. In der weiß gefliesten Lobby des Hostels standen schwarze Kunstledersofas zwischen Möbeln aus Teak, Billardtischen und Automaten, aus denen man sich für sechs Euro ein Handtuch und für acht ein Wombat’s-T-Shirt ziehen konnte. An Computern riefen junge Gäste ihre E-Mails ab, führten Reisetagebücher im Internet, luden digitale Fotos hoch und verschickten sie online statt Postkarten.

Am Bahnhof hatte ich mich nach einer günstigen Unterkunft erkundigt, denn es war ein sonniger Tag, der erste in diesem Jahr, und ich wollte ihn nicht im Zug verbringen. Die junge Australierin an der Rezeption des Wombat’s lächelte freundlich, gab mir eine Chipkarte als Zimmerschlüssel und wies mich auf die Ohrenstöpsel hin, die man bei ihr kaufen konnte. Ich nahm in Plastikfolie eingeschweißtes Bettzeug entgegen, fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock und folgte einem langen Flur mit blau gestrichenen Wänden und Linoleumboden. Es roch nach Desinfektionsmitteln.

Links und rechts reihten sich verschlossene Zimmertüren aneinander. Ich öffnete eine davon mit meiner Chipkarte und betrat einen hellen Raum: drei doppelstöckige Betten, sechs Schließfächer, groß genug für einen Tagesrucksack, unter einer Fensterreihe standen zwei Plastikstühle an einem Klapptisch, im Badezimmer gab es eine Toilette, eine Dusche, ein Waschbecken und sechs Kleiderhaken – alles blitzsauber, alles gut gemeint, aber recht künstlich, dafür abwaschbar und natürlich rauchfrei, ein standardisiertes Gruppenzimmer für 18 Euro die Nacht, in einem Ambiente zwischen Pub, Club-Lounge, Krankenhaus und Massentierhaltung.

In einem der Betten lag Robin aus Montreal und las Stephen Kings Grüne Meile. Der schlaksige Jurastudent war seit Monaten in Europa unterwegs. Berlin hatte ihm besonders gut gefallen, statt der vorgesehenen fünf Tage war er zwei Wochen geblieben.

»Das Wombat’s dort ist Spitzenklasse«, freute er sich und klappte Die grüne Meile zu. »Klasse Essen, klasse Partys, super Livemusik, tolle Frauen – du kommst kaum mehr raus, um dir Berlin anzusehen. Wombat’s, yeah!«

Der Wombat ist ein australisches Beuteltier, das aussieht wie ein geschrumpfter Braunbär mit Hamsterkopf. Er gräbt lange Gänge in die Erde und zieht sich zurück, sobald etwas sein Misstrauen erregt. Den Großteil des Sommers verbirgt er sich vor der Hitze in seinem dunklen Verlies. Der Wombat ist kein Entdecker, sondern ein Gefangener.

»Wombat’s, yeah!«, wiederholte Robin und pfiff durch die Zähne.

 

Ich fuhr ein paar Stationen mit der Straßenbahn, um mir das Hospiz der Heilsarmee anzusehen, wo Fermor gewohnt hatte, in der Kolonitzgasse im dritten Bezirk, zwischen den Laderampen des Zollhauses, an den rußigen Bögen der Hochbahn. Trotz der exakten Beschreibung in Fermors Buch hatte ich Mühe, das Haus zu finden. Aus dem einst verrufenen Viertel war eine begehrte Wohngegend geworden. Durch die oberen Fenster gepflegter Häuser sah ich auf mit üppigem Stuck verzierte Zimmerdecken. Aus einer der Wohnungen drangen Violinenklänge – eine Sonate von Bartók? Nirgendwo lag Müll wie zur Zeit Fermors. Die Hochbahn existierte noch, von den Laderampen keine Spur.

»Alles abgerissen, alles neu und modern«, sagte ein Rentner, den ich auf der Straße nach dem Hospiz fragte.

Er unterstrich jedes Wort, indem er die metallbeschlagene Spitze seines Spazierstocks in den Asphalt rammte. Als ich ihm die Lagebeschreibung des Hospizes aus Fermors Buch vorlas, erhöhte er die Schlagzahl.

»Werden Sie nicht mehr finden«, sagte er in einem Anflug von Nostalgie, obwohl er sich nicht an ein Hospiz erinnerte. »Alles weg, alles neu und modern, verstehen Sie?«

Eine Frau auf Krücken kam vorbei. Ihr Haar schimmerte rosa. Sie trug eine silbern glänzende Daunenjacke und erzählte mir von einem Hospiz jenseits der Gleise in der Oberen Viaduktgasse. Es sei vor langer Zeit abgerissen worden, welche Hausnummer es gehabt hatte, wusste sie nicht mehr. Niemand im Viertel konnte mir etwas Genaues sagen. Es schien aussichtslos – doch dann fand ich das alte Zollhaus aus Fermors Beschreibungen.

Das halb zerfallene Gebäude lag verlassen an den Gleisen. Der Hof diente als Abstellplatz für mobile Toiletten. Von der verrußten Fassade baumelten Stromleitungen, die Fensterscheiben waren zersprungen, daneben hing ein verrostetes Blechschild mit der kaum mehr lesbaren Aufschrift Vorsicht Verschub. Die linke Seite des Zollhauses war weggerissen, an ihrer Stelle erhob sich ein monströses Gebäude aus Glas und Beton, von Bauzäunen umgeben und noch nicht bezogen. Es schien, als habe Fermors Schlafstätte dem zukünftigen Unternehmenssitz einer internationalen Zahlungsfirma weichen müssen.

Seltsam bewegt stand ich zwischen dem Neubau und der Ruine, trat ein paar Schritte zurück und betrachtete ihre Architektur wie ein Gemälde. Ich hielt Fermors aufgeschlagenes Buch in der Hand und stand mit einem Bein in seiner, mit dem anderen in meiner Gegenwart. Für einen Moment verschwamm meine Sicht, und ich fürchtete einen meiner Schübe. Stattdessen breitete sich eine eigenartige Wärme um meinen Bauchnabel aus, die Luft nahm ein blasses Violett an, und mit einem Mal hatte ich das Gefühl, es bestünde eine Verbindung zwischen meiner Reise und den beiden Gebäuden, die in stiller Gemeinschaft vor mir schlummerten, ohne dass ich sagen konnte, wie diese Verbindung aussehen mochte. Gedankenverloren drehte ich mich um – und stieß mit einer Frau zusammen.

Die Wärme um meinen Bauchnabel verpuffte, die Frau wich erschrocken zurück, krümmte sich wie unter Schmerzen und erbrach sich vor meine Füße. Sie roch nach Schnaps und war so betrunken, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte.

»Mann … arrrgh … schleeeecht«, würgte sie, übergab sich erneut und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.

Der Pudel, den sie an einer Leine hinter sich herzog, leckte ihr Erbrochenes auf. Es sah aus, als erweise er ihr diesen kleinen Dienst aus einer Art Schuldgefühl heraus, vielleicht weil sie immer seine Exkremente aufsammelte. Ich reichte der Frau ein Papiertaschentuch – in stiller Dankbarkeit für diese Reminiszenz an die rüde Vergangenheit des Viertels; dann trat ich den Rückweg ins Wombat’s an.

Auf dem Domplatz fiel mir ein junger Mann in Wanderstiefeln auf, der mit einem Reiseführer in der Hand auf einen Bankautomaten zusteuerte. Das erinnerte mich daran, dass Fermor in Wien einen Brief mit vier Pfundnoten aus der Heimat erwartet hatte. Nicht weit von hier, im britischen Konsulat auf dem Platz Am Hof. Als er dort nachfragt, ist das Geld nicht eingegangen. Fermor hält sich über Wasser, indem er von Haus zu Haus zieht, sich als englischer Student ausgibt, der zu Fuß nach Konstantinopel wandert, und für zwei Schillinge amateurhafte Porträts von Opernsängerinnen und Herren mit eckig gestutzten Vollbärten zeichnet, Jägerhut mit Birkhahnfeder inklusive. Erst beim vierten Besuch des Konsulats hat Fermor Glück. Der Sekretär übergibt ihm ein mit blauen Kreidestrichen markiertes Einschreiben. Er nimmt sein Geld entgegen, lässt Wien hinter sich und wandert über die slowakische Grenze nach Bratislava, wo es ihn – als Zuschauer, nicht als Akteur – auf den Schlossberg zieht, einen verrufenen Winkel, wo jede der dicht am Hang klebenden Buden ein Hurennest ist.

Ich ging den »Graben« hinunter, vorbei an einem Denkmal für die Pest, das mit Maschendraht überhängt war, damit sich keine Tauben darauf niederlassen konnten. Die Wiener Fußgängerzonen sahen genauso aus wie die Berliner Fußgängerzonen und alle anderen europäischen Fußgängerzonen, austauschbare Betonkulissen mit Fast-Food-Ketten und Sushi-Restaurants, den üblichen Brunnen, unbequemen Sitzbänken und einbetonierten Bäumchen, mit Boutiquen und Kaufhäusern, deren Schaufenster – von Anthropologen gestaltet, die dafür bezahlt wurden, unser Einkaufsverhalten zu studieren – überladen waren mit den immergleichen Staubsaugern, Espressomaschinen, Flachbrettbildschirmen und Akkuschraubern, mit ein und denselben Modemarken, Dessous und Trainingsanzügen – zu bezahlen in europäischer Einheitswährung.

Irgendwo hatte ich einmal gelesen, der Wille, sich in seinem Konsumverhalten vom Durchschnittsbürger zu unterscheiden, sei so etwas wie der Motor, der den Kapitalismus vorantreibe. Wenn das stimmte, hätte der Kapitalismus längst am Ende sein müssen, denn in diesen Fußgängerzonen jagten die Massen einem Individualismus vom Fließband nach, tragbaren, abgepackten Glücksversprechen mit drei Jahren Garantie. Und wie in Berlin oder Paris oder London war man auch in Wien in ständiger Hektik und Eile begriffen, es galt Zeit zu gewinnen, die man nutzte, um noch mehr Zeit zu gewinnen, als ließe sich diese anhäufen wie Geld auf einem Bankkonto, das später ausgegeben würde, im Alter vielleicht, um endlich zu leben – falls einem das verfettete Herz keinen Strich durch die Rechnung machte.

Es war schon dunkel, als ich den Platz Am Hof erreichte. Das britische Konsulat, wo Fermor sein Geld in Empfang genommen hatte, gab es nicht mehr; zumindest fand ich es nicht. Der Platz lag still und verlassen da. Die Fassaden der Bürgerpaläste waren beleuchtet, ihr Widerschein ließ die Pflastersteine in warmen Gelbtönen schimmern, aus denen sich eine Säule erhob. Hoch oben im Nachthimmel lag zu Füßen einer Marienstatue ein Drache; in seinem Hals steckte ein goldener Pfeil. Die Frau sah ich erst, als ich um die Säule herumging. Sie saß am Boden, trug eine graue Perücke und aß ein Sandwich. Ihr Spitzennachthemd war bis zu den Hüften hochgeschoben. Sie erhob sich umständlich, wühlte in einer Mülltonne und trank den Rest aus einer zerbeulten Coladose. Schließlich blieb sie vor mir stehen, sah mich mit einem durchdringenden Blick an und sagte: »Du selbst wirst es sein!«

Bevor ich fragen konnte, was sie damit meinte, rannte sie lachend davon.

Ich kehrte erst nach Mitternacht ins Wombat’s zurück. Im Zimmer herrschte völlige Finsternis. Ich machte kein Licht und tastete mich wie ein Blinder an den Schließfächern entlang und um die Plastikstühle herum, bis mein Fuß gegen eine Tasche stieß. Robin, der Jurastudent aus Montreal, schien noch unterwegs zu sein. Auch aus den anderen Betten war kein Geräusch zu hören. Es war totenstill, die Luft verbraucht, kaum zu atmen. Wie lange würde der Sauerstoff in diesem Verlies ausreichen?

»Die Höhle!«, hörte ich mich plötzlich flüstern.

Ich zitterte.

»Verzeihung?«, fragte eine Stimme aus der Dunkelheit.

»Die Höhle in Mexiko!«

»Erzähl mir davon, Pilger«, bat die Stimme.

Ich erstarrte und lauschte in die Nacht. Doch es blieb still. Es war, als sei ich für einen Moment durch den Traum eines anderen gegangen.

Auf meiner Matratze fand ich die Taschenlampe und knipste sie an. Die Betten waren leer. Nur am anderen Ende des Raums wölbte sich ein Leintuch über etwas, das aussah wie ein schlafender Körper. Ich nahm mein Augenkissen von der Heizung – ein kleines Säckchen aus feiner Dupion-Seide, gefüllt mit Amarant, Lavendel, Rosenblüten – und legte es auf meine Lider; bald darauf sank ich in einen tiefen Schlaf.

 

Die Oberlichter des Frühstücksraums waren aus Milchglas, die Wände in synthetisch wirkenden Grüntönen gehalten. Hinweisschilder in der Küche begannen mit der Feststellung: Wir sind nicht deine Mutter und endeten mit der Frage: Verstanden? Ich löste den Verschlussgummi des Lederbeutels, den ich immer bei mir trug, entnahm zwei Esslöffel des getrockneten Krautes und übergoss es mit kochendem Wasser. Während ich den Sud in einer abgedeckten Schale ziehen ließ, betrachtete ich einmal mehr das Etikett des Beutels. Es zeigte eine kleine Pflanze mit stark gezahnten Blättern und fein geäderten weißen Blüten: Euphrasia officinalis,