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www.piper.de

ISBN 978-3-492-97623-7

überarbeitete und erweiterte Neuausgabe

März 2017

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2005 und 2017

Karte: cartomedia, Karlsruhe

Coverkonzeption: Büro Hamburg

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaasbuchgestaltung.de

Coverabbildungen: Neil Farrin/Robert Harding/Laif

(Traditionelles Weihnachtskrippen-Festivalin Krakau)

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

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An meine lieben und widerspenstigen Landsleute. Anstelle eines Vorworts

Die Lage ist prekär, aber auch vielversprechend. Seit unser Land sich von den Kommunisten befreit hat und von da an die zivilisierte Welt mit seiner Gegenwart beglückt, interessiert man sich ganz besonders in Westeuropa für uns, ja, hier und da hat man den neuesten Entwicklungen zum Trotz an uns sogar Gefallen gefunden. Nach dem Tiefseetauchen vor den Seychellen, dem Bungee-Jumping im Grand Canyon sind jetzt unsere slawischen Landschaften und Städte dran. Polen ist aus unerfindlichen Gründen trendy geworden und will daher gut präsentiert und gelobt werden.

Eine gute Nachricht? Ganz sicher sogar. Bedauer­licherweise gibt es auf der Welt kein Land, das man nur loben kann. Frankreich nicht und Amerika schon gar nicht, selbst am Fürstentum Monaco gibt es etwas auszusetzen. Und wir? Wir sind wahrlich nicht Monaco, auch wenn kein Tag vergeht, an dem wir uns das nicht wünschen.

Allein bei unseren deutschen Nachbarn war man lange der Meinung, dass die Schwaben die besten Autos der Welt bauen, während die Polen Meister in der Kunst waren, sich diese illegal anzueignen. Ganz zu schweigen von unseren letzten politischen Kapriolen.

Wir selbst beschweren uns ja auch immer wieder, dass wir das eigene Land nicht mit dem nötigen Ernst behandeln, sodass es bei uns von Zeit zu Zeit so aussieht wie auf dem Umschlagmotiv dieser Gebrauchsanweisung. Gleichzeitig müssen wir uns den Vorwurf gefallen lassen, dass wir zu gern in die Rolle des Märtyrers ver­fallen, um die Verantwortung abzuwälzen, die auf uns lastet.

Wollen wir all das bestreiten? Natürlich nicht. Sind wir darüber unglücklich? Gewiss. Aber Rechtfertigungen bringen uns nicht weiter. Es ist ja schon schwer genug, einem Westeuropäer beizubringen, warum jeder Zweite von uns einen Schnurrbart trägt. Geschweige denn, warum wir im Herbst wie eine Horde Yetis in den Wald stürmen, um Jagd auf Pilze zu machen, als wären es zumindest Austern.

Wenn also wir, meine lieben, widerspenstigen Landsleute, wirklich etwas für unser Land tun wollen, dann sollten wir zeigen, dass wir eine Nation mit Potenzial sind. Und dieses erkennt man am besten daran, wie viel Selbstkritik wir ertragen können. Denn die Zweifel an unserem Land kann nur das ausmerzen, was sie ver­ursacht hat: Polen selbst, oder Pologne, oder wie man unsere Heimat da draußen sonst zu nennen pflegt.

Und während ihr, meine lieben und widerspenstigen Landsleute, in Anbetracht des soeben Behaupteten nachdenklich die Stirn runzelt, schreitet dieses Büchlein zur Tat und geht mit gutem Beispiel voran.

Keine Angst vor der slawischen Seele

Wenn Sie einen Reiseführer über Polen aufschlagen, stoßen Sie auf eine große Anzahl nützlicher Hinweise. Gleich am Anfang erfahren Sie in der Regel, dass Polen knapp 40 Millionen Einwohner hat und diese Zahl seit 20 Jahren konstant ist. Ein Stück weiter werden die Danziger Fassaden und Krakaus Kneipen abgehandelt. Kein Reiseführer kommt ohne die Erwähnung des ersten polnischen Papstes oder des Friedensnobelpreisträgers Lech Wałęsa aus. Dann folgt eine ellenlange Aufzählung von Sehenswürdigkeiten, die es »nur in Polen« gibt, eine lange Liste polnischer Künstler, die man in der ganzen Welt kennt oder zumindest kennen sollte.

Zum Schluss wird alles mit ein paar Anekdoten aus dem Leben berühmter Frauen und Männer, die in unserem Slawenland das Glück hatten auf die Welt zu kommen, und einem Hinweis auf das Volkstanzensemble »Mazowsze« abgerundet. Am Ende wissen Sie alles, nur nicht eines: Wie ist Polen, wie sind die Polen wirklich? Bedauerlicherweise lernt man kein Land auf der Welt durch einen Reiseführer kennen. Das geschieht nur durch die Überraschungen, die das Land während der Reise für einen bereithält. Auf Polen trifft das ganz besonders zu. Sie werden verblüfft sein, wie schön Krakau und Danzig sind und wie heftig Warschau sich in die freie Marktwirtschaft verliebt hat. Wie kurz die Miniröcke der Polinnen sein können und wie lang die priesterlichen Kutten. Zweifellos wird man Ihnen in unserem Land auch beibringen, warum die erste Strophe der Nationalhymne »Noch ist Polen nicht verloren« lautet und die Polen so glühende Patrioten sind. Kein anderer Staat in Europa verschwand schließlich während der letzten 200 Jahre so oft von der Landkarte Europas, um später an einem anderen Ort wieder aufzutauchen.

Und dann das Wichtigste: Sie werden auf Ihrer Reise mit der slawischen Seele Bekanntschaft machen. Über die Polen kann man alles behaupten, und alles wird stimmen. Sie sind passionierte Neinsager, leidenschaftliche Dichter, geborene Schwätzer, finden kinderlose Ehen suspekt und hören dennoch auf die Priester, die gar keinen Nachwuchs haben dürfen. Sie werden am Ende sogar das laxe Verhältnis der Polen zu Grenzen und Autoritäten besser begreifen – und sie vielleicht sogar ein wenig dafür bewundern. Wie zum Beispiel die tapfere Schwester von Frédéric Chopin, die einst das Herz ihres berühmten Bruders in einem Einmachglas von Paris über mehrere Grenzen unter ihrem Rock zurück in die Heimat geschmuggelt hat. Sie können es heute in der Warschauer Kirche des Heiligen Kreuzes bewundern.

Dieses Büchlein hat es sich zur Aufgabe gemacht, Sie auf all das einzustimmen. Aber selbst wenn es 1000 Seiten hätte, eines wird es unmöglich schaffen: eine echte Reise ersetzen. Doch es ist schon viel gewonnen, wenn es Ihre Neugier auf das Land an der Weichsel weckt. Denn eines ist sicher: Es sind immer die Neugierigen gewesen, die sich in Polen am wohlsten gefühlt haben.

Looping beim Landeanflug

Heute ist es keine große Angelegenheit, die polnische Staatsgrenze zu überschreiten. Seit dem EU-Beitritt ist sie wie alle Grenzen in der EU unsichtbar geworden, und sogar heute, in den turbulenten Zeiten, gibt es nach wie vor keine Grenzkontrollen. Lediglich ein paar aufgelassene Zollhäuser erinnern hier und dort noch daran, wie abenteuerlich es früher war, eine Grenze Richtung Osten zu überschreiten. Insbesondere vor 1989, als das Land noch hinter dem »Eisernen Vorhang« lag, war jeder polnische Grenzübergang ein Hindernis, das man nur dann halbwegs unversehrt überwinden konnte, wenn man mit geradezu diabolischer Gerissenheit gesegnet war. Aus diesen Zeiten ist in den Köpfen zahlreicher Polen ein Verhaltenskodex erhalten geblieben, an den Sie sich heute zwar nicht mehr halten müssen, den man aber einem ahnungslosen Westeuropäer wegen seines geschichtlichen Unterhaltungswertes nicht vorenthalten darf:

  1. Beim Anblick rot-weißer Schranken schnell ein Glas Wodka kippen. Niemals jedoch mehr als drei.
  2. Den Grenzbeamten keinesfalls als Erster ansprechen. Geschweige denn lächeln. Kein Grenzbeamter glaubt, dass Ihre Freundlichkeit aufrichtig ist. Und damit hat er auch recht.
  3. Erlaubt ist lediglich eine sachliche Unterhaltung über die Pferdestärke und den Benzinverbrauch des Autos (falls frei von Schmuggelgut). Der Grenzbeamte ist immer ein Autofanatiker, auch wenn er auf einem Flughafen arbeitet. Äußern Sie die Informationen jedoch zurückhaltend. Schnelles Sprechen wird Ihnen umgehend als Nervosität ausgelegt.
  4. Schmiergeld oder Geschenke bereithalten.

Grundsätzlich haben Sie heutzutage vier Möglichkeiten, Polen zu erreichen: per Auto, Flugzeug, Bahn und Schiff. Ganz selten gibt es sogar eine fünfte Möglichkeit. Während eines besonders kalten Winters war die Ostsee in alten Zeiten mit einer derart dicken Eisschicht bedeckt, dass man zu Fuß von Schweden nach Polen gelangte. Augenzeugen erzählten sich von Wirtshäusern, die auf dem Eis errichtet wurden, damit der müde Wanderer sich aufwärmen und eine Mahlzeit zu sich nehmen konnte. Das war vor über 500 Jahren und noch eine Weile vor der Klimaerwärmung. Daher sollten wir uns zunächst der beliebtesten Art, Polen zu erreichen, zuwenden: der Autofahrt.

Der Zustand der polnischen Straßen galt lange als nicht besonders gut. Doch seit dem Beitritt zur EU wurde die Infrastruktur kontinuierlich ausgebaut, wodurch die polnischen Autofahrer in den Genuss von etwas kamen, das sie bis dahin nur vom Hörensagen kannten: modernen Autobahnen. Heute, also im Jahr 2017, braucht man vom südlichsten Punkt des Landes bis zum nördlichsten (eine Strecke von fast siebenhundert Kilometern) nicht länger als sieben Stunden. Vor 1989 waren es über 15. Von Wien nach Warschau fährt man mit dem Auto ungefähr sieben Stunden, früher mindestens zehn. Von Berlin nach Warschau sind es sogar nur sechs. Und das alles fast zur Gänze auf Autobahnen, die noch dazu mit modernen Raststationen ausgestattet sind, wo einem kein aufdringliches Personal den Autoschlüssel aus der Hand reißt, um ihn nach dem Tanken gegen ein entsprechendes Trinkgeld zurückzugeben.

Auch zahlreiche Bahnstrecken wurden in der letzten Zeit an europäische Standards angeglichen. Ein Zug von Krakau nach Warschau braucht heute für die Strecke von etwa 300 Kilometern knappe zweieinhalb Stunden. (Schritt für Schritt werden leider auch die Fahrpreise an die EU-Standards angeglichen, sind aber im­mer noch billiger als in Deutschland oder dem übrigen Westeuropa). Da die Qualität der polnischen Bahn »PKP« (Polskie Koleje Państwowe) oder der Fluggesellschaft »LOT« (Polskie Linie Lotnicze) sich nicht nennenswert von den westlichen Kollegen unterscheidet, ist es konstruktiver, jene Gerüchte zu entkräften, die über Jahre darüber verbreitet wurden. Es wird zum Beispiel immer noch behauptet, dass der Waggon der polnischen Bahn, in dem sich am meisten erleben lässt, der Speisewagen ist. Zu Zeiten des Kommunismus führte er gewöhnlich nur Essig, Mineralwasser und gelangweiltes Personal mit. Zu Zeiten des Kapitalismus ist er angeblich hoffnungslos überfüllt, und die Kellner ähneln aus einem unerfindlichen Grund jenem Mann, der in »Liebesgrüße aus Moskau« fast James Bond zur Strecke gebracht hätte. Der Service der Bahnkellner soll laut Gerücht derart professionell sein, dass ihre Dienstleistungen sowohl das Servieren eines Bigos, eines Sauerkrauteintopfs mit Schweinefleisch, als auch den Geldumtausch nach aktuellem Wechselkurs umfassen. In Wahrheit unterscheidet sich der polnische Speisewagen von – sagen wir – einem italienischen bestenfalls durch die Vorhänge. (Sie sind nicht aus Seide.) Die Speisekarte jedoch kann sich sehen lassen, die Preise auch – und was den Kellner angeht, so mag er aussehen, wie er will, er knöpft einem das Trinkgeld so charmant ab, dass man sich gern noch ein zweites Bier bestellt.

Was die restlichen Waggons angeht, so geht man mit ihnen nicht gerade zimperlich um. Es wurde einmal sogar behauptet, dass man im Winter in den Waggons knöcheltief durch den Schnee stapfen müsse. Im Sommer hingegen dürfe man sich angeblich keinesfalls in den letzten Waggon setzen, da er gelegentlich schon mal während der Fahrt verloren ginge. Die polnische Bahn, die verständlicherweise pikiert auf diese Schreckens­meldungen reagiert hat und keine Mühen scheut, wenn die Ehre ihres Namens auf dem Spiel steht, ging diesen bösartigen Verleumdungen auf den Grund: Für das Gerücht mit dem knöcheltiefen Schnee sei ein Neapolitaner verantwortlich, der im Jahrhundertwinter 1997 durch Polen gereist sei und sich so lange an seinem Fenster zu schaffen gemacht habe, bis es sich nicht mehr schließen ließ. Das Gerücht von dem verlorenen letzten Waggon geht auf einen Schulausflug verwöhnter amerikanischer Teenager zurück, die ihre Erlebnisse im Sommer 1996 nach ihrer Rückkehr in die USA derart intensiv verbreiteten, dass ihre Geschichten irgendwann sogar in polnischen Zeitungen landeten.

Nicht viel besser ist es auch den polnischen Flug­linien ergangen. Allerdings waren in ihrem Fall weder ungeschickte Ausländer noch bösartige Landsleute beteiligt. Vor 1989 bestand die polnische Flotte aus russischen Tupolew- und Iljuschin-Maschinen, die bereits einen schlechten Ruf besaßen, noch bevor man sie erbaut hatte. (In den Siebzigerjahren hieß sogar ein beliebtes Kinderspiel auf den Straßen Warschaus »Tupolew«. Es war eine Art »Schwarzer Peter«, bei dem der Verlierer auf den Namen Tupolew getauft wurde und sich flach auf den Boden legen musste.)

Manche der silbernen Vögel russischer Bauart waren in einem so jammervollen Zustand, dass sich angeblich sogar Ingenieur Andrej Tupolew selbst weigerte, an Bord seiner eigenen Erfindung zu gehen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und nachdem sie endlich eine Tupolew hatten untersuchen können, kamen einige amerikanische Fachleute zu dem verblüffenden Ergebnis, dass die russischen Silbervögel regelrechte Wunderwerke an Robustheit waren. Zumal wenn man bedachte, wie selten sie gewartet und wie oft sie über das Limit ausgereizt wurden. Keine Boeing oder McDonnell Douglas hätte eine solch rüde Behandlung überstanden. Oder, wie es ein Pilot der polnischen Luftlinien einmal ausgedrückt hat: »Die Tupolews waren für den Kommunismus gebaut worden. Die Boeings können nur im Kapitalismus überleben.«

An diese Maxime erinnerte man sich zehn Jahre später. Das kapitalistische Polen begann damit, kapitalistisches Hightech in Gebrauch zu nehmen. Sollten Sie also demnächst den Warschauer oder Krakauer Flug­hafen anfliegen, werden Sie in einer funkelnagelneuen Boeing sitzen. Durch das Ersetzen aller Tupolew und Iljuschin durch westliche Silbervögel sind die polnischen Fluglinien von den geschmähtesten zu den modernsten Europas aufgestiegen. Sogar die Maschinen der Lufthansa oder American Airlines sind im Schnitt um einige Jahre älter. Und was das Können der polnischen Piloten angeht, gibt es einen klaren Qualitätsbeweis: Einmal im Jahr nämlich schlägt das polnische Patriotenherz höher, wenn die polnischen Piloten wieder einmal bei den Weltmeisterschaften im Präzisionsfliegen einen Platz auf dem Siegertreppchen errungen haben. Natürlich werden diese Heldentaten in kleinen Cessnas vollbracht. Die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Flugzeug beim Landeanflug auf Warschau eine doppelte Schraube vollführt, um bravourös vor dem Tower zu landen, ist allerdings sehr gering.

Nur nicht anhalten

Über kaum ein Verkehrsmittel ist in Westeuropa mehr doziert worden als über das Auto. Genauer gesagt über das, was ihm alles zustoßen kann, wenn ein paar Polen in der Nähe sind. Es dürfte in Deutschland oder Österreich kaum noch Menschen geben, die nicht schon mal den Witz »Besuchen Sie Polen – Ihr Auto ist schon dort« gehört hätten. Die Zeitungen, die sich mit fetten Schlagzeilen dem Thema »Entführung deutscher Edellimousinen« widmen, haben den deutschen Bürger zum Anfang des 21. Jahrhunderts in ein tiefes Trauma gestürzt. Die germanische Seele erzitterte damals beim bloßen Auftauchen eines Schnurrbartträgers, der in Ostblock­klamotten steckte und unter der Jacke etwas trug, das sich als ein Vierkantschlüssel hätte entpuppen können.

Für den immer noch ängstlichen westlichen Auto­besitzer empfiehlt es sich daher, seinen Wagen auf einem bewachten Parkplatz abzustellen. Eine Stunde kostet zwischen 50 Cent und einem Euro. In den meisten Fällen ist übertriebene Vorsicht jedoch fehl am Platz. Das wird dem ängstlichen westlichen Touristen spätestens dann klar, wenn er zwei Meter weiter auf einem unbewachten Parkplatz eine Limousine stehen sieht, gegen die seine eigene nur der Hauch eines Autos ist.

Die wahren Gefahren aber lauern nicht auf Parkplätzen, sondern auf den Straßen. Zwar sind die Verkehrsregeln in Polen weitgehend dieselben wie in West­europa, aber es gibt da ein paar Abweichungen, die Sie verinnerlichen sollten. Zum einen dürfen Sie sich nicht wundern, wenn Ihr Vordermann an einer roten Ampel rechts abbiegt. Diese Regelung wurde direkt aus Amerika übernommen, wobei nicht entschieden ist, ob das aus Sympathie gegenüber den Vereinigten Staaten geschah oder aus praktischen Gründen. Eine für polnische Autofahrer lästige Neuheit ist die Einführung des Kreisverkehrs, der unter den Kommunisten weitgehend unbekannt war. Und da Polen gerne von einem Extrem ins andere fallen, hat man sie während der letzten Jahre in derart enormer Zahl gebaut, dass Sie vor allem in Warschau auf Straßenzüge treffen, wo es Ihnen vor lauter Kreisverkehr schwindlig werden wird.

Bei dieser Kreisverkehr-Regelung handelt es sich um ein Entgegenkommen gegenüber dem polnischen Auto­lenker, dessen erklärte Philosophie lautet: »Ich fahre lieber eine Stunde im Kreis herum, bevor ich mein Vehikel auch nur einmal anhalte.« Sie sollten sich auch darauf einstellen, dass Ampeln und Zebrastreifen gelegentlich symbolische Funktion haben. Ein Hindernis waren lange hingegen die Straßen selbst, genauer gesagt der Zustand des Straßenbelags. Noch vor zehn Jahren standen die Chancen, ein überdimensionales Schlagloch zu erwischen, besser als gut. Insbesondere in Warschau und auf vielen Landstraßen musste man seinerzeit mehr auf den Asphalt als auf die Natur ringsumher achten.

Dass Polen wie alle Slawen autobesessen sind, macht sie leider noch lange nicht zu guten Autofahrern. Die polnische Seele gerät jedes Mal in Wallung, wenn sie ein Lenkrad in der Hand hält. Allein deshalb wandern pro Jahr im Schnitt an die 4000 Seelen von der Straße direkt in den Himmel, was lange trauriger europäischer Rekord war. Für jene schockierten Amerikaner, die seit 1990 Polen besuchen, sei aber an dieser Stelle hinzugefügt, dass die vielen Kränze und Grablichter am Straßenrand oder an den Leitplanken nur symbolischen Charakter haben. Es sind keine Gräber! Auch in Polen werden die Toten ausschließlich auf Friedhöfen be­stattet.

Bis jetzt deutet nichts darauf hin, dass die Polen sich hinsichtlich neuer fahrbarer Untersätze in Zurückhaltung übten. Jedes Jahr werden rund 200 000 neue Autos gekauft, die allesamt westlicher Bauart sind. Mit dem Eintritt in die EU und der Aufhebung des Zolls kam es zusätzlich zu einer Explosion auf dem Gebrauchtwagenmarkt. Allein zwischen Mai 2004 und Dezember 2004 wurde eine Million Gebrauchtwagen importiert; ein Drittel davon war in ihren Heimatländern nicht mehr TÜV-tauglich. Inzwischen, also zehn Jahre später, hat sich die Lage auf allen Fronten beruhigt. Einerseits werden aufgrund verschärfter Einfuhrbedingungen keine Schrottkarren mehr nach Polen importiert, und, was insbesondere deutsche Bürger ganz besonders erfreuen sollte, die Anzahl der Autodiebstähle ist um 70 Prozent zurückgegangen. Polen ist somit weit hinter Italien, dem Lieblingsland aller Europäer, zurückgefallen, ganz zu schweigen von solchen Ländern wie Bulgarien und Rumänien, die ja, wie ironische Zungen behaupten, jetzt die Polen von heute sind.

Mit der steigenden Zahl von Autos haben sich jedoch zwei Dinge nicht geändert: die an Magie grenzende Fähigkeit der Slawen, Staus zu verursachen, und ihre Unzulänglichkeiten beim rückwärts Einparken. Seien Sie also nicht verwundert, wenn Sie zu einem Rückwärtseinparkmanöver ansetzen und Ihr Hintermann selber mit dem Vorderteil in die Lücke schlüpft. Er ahnte nicht, was Sie vorhatten. Und womöglich greift hier zudem eines der ältesten Gesetze der menschlichen Psyche. Zuerst kommt der technische Fortschritt, dann die Manieren.

Ein Ausländer in Polen

Da Sie nun kurz davor stehen, den Polen in ihrem eigenen Land zu begegnen, sollten Sie unbedingt ein paar essenzielle Dinge über sie wissen. Denn hier leben die Polen ihren Alltag, wohingegen Sie jetzt der Ausländer sind und es bald auch zu spüren bekommen werden. Die Polen sind nämlich sehr sensibilisiert, was den Umgang mit Ausländern angeht.

Im Westen hält man einen Ausländer in der Regel für ein dunkelhäutiges Individuum, das über einen großen Appetit auf deutsche Steuergelder und die diabolische Fähigkeit verfügt, unseren blonden Walküren den Kopf zu verdrehen. In Polen ist das andersherum. Ein Ausländer aus Westeuropa ist ein edles, großzügiges Wesen, das aus einer Welt kommt, die noch in Ordnung ist.

Das liegt am ausgeprägten Sinn für Gastfreundschaft, einem Markenzeichen des slawischen Wesens. Wenn in Polen jemand zu Ihnen dzień dobry sagt, was so viel wie guten Tag bedeutet, dann meint er es auch so.